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Dokumentationsbrief Indonesien 5/2005 Indonesientagung des EMS 14.-16. Oktober 2005 in Stuttgart Vielfalt in Einheit Indonesiens Ethnien im Wandel

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Dokumentationsbrief Indonesien 5/2005Indonesientagung des EMS14.-16. Oktober 2005 in Stuttgart

Vielfalt in EinheitIndonesiens Ethnien im Wandel

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4 Vorwort

5 Java: Kosmische Ordnung und HarmonieProf. Dr. Kurt Tauchmann

12 Dayak: Die Gemeinschaft des LanghausesDr. Jani Kuhnt-Saptodewo

17 Minahasa: Starke Frauen und streitbare HerrscherDr. Gabriele Weichart

23 Papua: Hoffnung eines bedrohten VolkesUwe Hummel

28 Einheit in Vielfalt: Mission impossible?Alex Flor

INHALT

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Liebe Leserinnen und Leser,

„Vielfalt in Einheit - Indonesiens Ethnien im Wandel“lautete der Titel unserer diesjährigen Tagung, die im Telekomhotel Stuttgart von 14. bis 16. Oktober 2005 stattfand.

Das Land mit dem Motto Bhinneka Tunggal Ika – „in Vielfalt eins sein“ – feiert in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag als unabhängige Republik. Am 17. August 1945, in der Zeitnische zwischen der japanischen Kapi-tulation und der Rückkehr der Niederländer in ihre alte Kolonie proklamierte Sukarno die Unabhängigkeit In-donesiens. Eine neue Republik, deren Vielfalt derEthnien, der Sprachen, der Kulturen und der Religio-nen superlativen Charakter besitzt, war geboren.

60 Jahre danach stellt sich die Frage: Wurden die vie-len ethnischen Gruppen wirklich zu einer Nation? Wie leben sie heute, wie haben sie sich entwickelt? Fest steht, dass die ethnische Zugehörigkeit und die Adat, der traditionelle Kodex der Volksgruppen, weiterhin eine große Rolle im Leben der Menschen spielen. Die neue Regionalautonomie fördert sogar den Rückzug auf die eigene ethnische Gruppe. Politische Versuche der Vereinheitlichung wie die „Javanisierung“ des Lan-des oder das Transmigrationsprogramm Suhartos ha-ben eher Konflikte erzeugt. Viele ethnische Gruppen sehen sich aber auch von den heutigen demokratisch gewählten Regierungen in Jakarta vernachlässigt und um ihr Land oder einen gerechten Anteil am Ertrag aus ihren Ressourcen betrogen.

Die Tagung warf einen Blick hinter die Kulissen der ethnischen Vielfalt Indonesiens. Vier Volksgruppenwurden unter die Lupe genommen: Die Dayak auf Kalimantan, die Minahasa auf Sulawesi, die Papua in Melanesien und die Javaner als die im Land dominie-rende Ethnie. In Vorträgen und Diskussionen wurden ihre Kultur und Geschichte, Gegenwart und Zukunfts-perspektiven beleuchtet. Dabei spielten die eigenen Glaubenssysteme der indigenen Gesellschaften und

ihre Auseinandersetzung mit fremden Religionen wie dem Christentum, dem Islam oder auch dem Hindu-ismus eine große Rolle. Ein umfassender Beitrag zur Geschichte des nation building im indonesischen Staat und dem Umgang der wechselnden Regierungen mit der ethnischen Vielfalt des Landes rundete die Tagung ab.

Wir dokumentieren in diesem Heft die Vorträge der Tagung. Auf unserer Website www.ems-online.orgkönnen Sie die Dokumentation mit allen Bildern und Graphiken auch in Farbe betrachten.

Wir haben sehr positive Rückmeldungen zum zweige-teilten Format des letzten Informationsbriefs Indone-sien erhalten, in den wir neben einer Tagungsdoku-mentation auch Berichte aus unserer Arbeit aufge-nommen hatten. Wir werden diese Form von Informa-tionsbriefen im nächsten Jahr wieder aufnehmen und Ihnen im Mai 2006 ausführlich über verschiedene Ver-änderungen im EMS und in unserer Arbeit zu Indone-sien berichten, die zum Jahreswechsel anstehen.

Wir wünschen Ihnen anregende Lektüre.

Christine Grötzinger 9.11.05David Tulaar

VORWORT

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I. Geographischer Überblick

Die Landmasse Javas umfasst ca. 134.000 km² und hat heute eine Bevölkerung von ungefähr 110 Millionen Menschen. Sie ist damit ungefähr so groß wie die Bundesrepublik Deutschland südlich des Mains. Das Land wird in West-Ost-Richtung von einer Bergkette mit zahlreichen Vulkanen durchzogen. Der Vulkanis-mus bedingt den hohen Anteil an fruchtbarem Boden, wodurch die Insel eine der höchsten Bevölkerungs-

dichten der Welt von über 1.200 Menschen pro km² aufweist. Die Insel beherbergt heute als politischesZentrum den Sitz der nationalen Regierung und ihrer Institutionen. Sie wird in die drei Provinzen Jawa Barat, Jawah Tengah und Jawa Timur unterteilt, welche in kultureller Hinsicht Unterschiede aufweisen. Auf Java konzentrieren sich gegenwärtig die meisten urbanen Zentren, worunter die Hauptstadt Jakarta, Surabaya,Semarang, Bandung und Cirebon zu nennen sind.

JAVA – KOSMISCHE ORDNUNG UND HARMONIE

KULTUR UND GESCHICHTE JAVAS

Prof. Dr. Kurt Tauchmann

Dr. Kurt Tauchmann, Prof. a.D., lehrte von 1979 bis 2004 an den Instituten für Völkerkunde der UniversitätenGöttingen, Heidelberg und Köln. Sein ethnologisches Fachgebiet umfasst unter anderem Maritimität und Kul-turwandel in Südostasien.

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Die kulturellen Unterschiede zwischen den verschiede-nen Bevölkerungsgruppen markieren auch die Gren-zen der verschiedenen ethnischen Gruppen, die sich als Sundanesen, Javaner, Maduresen, Malaien bzw. Badui, eine kulturelle Minderheit, welche noch diestrukturellen Merkmale einer ehemaligen Brahmanen-elite erkennen lässt, identifizieren. Auf Java werden im Inland die Dialekte Sundanesisch (West) und Madure-sisch (Zentral und Ost) gesprochen, während an der Nordküste Malaiisch gesprochen wird. Malaiisch, Java-nisch und Balinesisch gehören zusammen mit Cha-misch (Vietnam/Kambodscha), Tagalog (Philippinen) und Malagasi (Madagaskar) zum west-malayo-polynesischen Zweig der Malayo-PolynesischenSprachgruppe, die zusammen mit Formosanisch (Tai-wan) die austronesische Sprachfamilie bilden. Austro-nesisch ist eine der größten Sprachfamilien der Welt und ist auf der Südhalbkugel der Erde von Afrika bis vor die Küste von Südamerika verbreitet.

Im Altjavanischen drückten sich Statusunterschiede in Klassensprachen aus, wobei die bhasa krama für die Elite galt und die bhasa ngoko für das Volk benutzt wurde. Die verschiedenen Sprachen Javas wurden auf verschiedenen Zeithorizonten in indischer, arabischer oder romanischer Schrift verfasst. Heute dominiert die romanische Schriftversion der Nationalsprache (Bahasa Indonesia), die auf der Basis der malaiischen Verkehrs-sprache und von Lehnwörtern aus indischen Sprachen, dem Persischen und Arabischen, dem Portugiesischen und Spanischen sowie dem Niederländischen entstan-den ist. Seit Jahren bemühen sich Malaysia und Indo-nesien um eine einheitliche Schreibweise ihres ge-

meinsamen Wortschatzes.

II. Java und die Region des Malaiischen Archipels

Java liegt am südlichen Rand des Malaiischen Archi-pels, der die gegenwärtigen Nationalstaaten Indone-sien, Malaysia, Brunei, Philippinen und die Küstenbe-reiche von Thailand, Kambodscha und Vietnam ein-schließt. Der Archipel aus ca. 30.000 Inseln, wovon die kleineren zum großen Teil unbewohnt sind, weist eine ausgeprägte Verzahnung von Land und Meer und eine assoziierte maritime Orientierung der Menschen auf. Obwohl die Javasee durch Meeresstraßen mit demIndischen Ozean verbunden ist, weist sie den Charak-ter eines Binnenmeeres auf. Dagegen prallt der Indi-sche Ozean an die südliche Küste Javas, an der es keine natürlichen Häfen gibt. Hier beginnt das Reich der mythischen Meeresgöttin Ratu Kidul, die für den Tod zahlreicher Menschen an dieser Küste verantwortlichgemacht wird.

Die frühen chinesischen Quellen bezeichneten dasChinesische Meer und den Malaiischen Archipel als Nan Hai und seine Bewohner als Yue oder Kun Lun, deren Kenntnisse in Schiffbau, Segeltechnik und mari-timen Handel sie bewunderten und nutzten. Gleichzei-tig blockierten diese Argonauten des südlichen Meeres die chinesische Expansion in den tropischen Gürtel. Die arabische Reiseliteratur nennt sie Waq oder Waq-Waq. Bei den Bewohnern des Archipels war diese Re-gion dagegen als Nusantara bekannt, das aus einer europäischen geographischen Perspektive mit Indone-sien übersetzt wurde, womit seine vermittelnde Rolle

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als Brücke zwischen China und Indien betont werden sollte.

In dem Dreieck zwischen der Malaiischen Halbinsel und den Inseln Sumatra und Ceylon formte sich an den Küsten eine Kultur heraus, die unter der Bevölke-rung einen hohen Grad an räumlicher, maritimer Mo-bilität aufwies und deshalb Jawa genannt wurde. Als Chijs/Jaos werden sie noch in der frühen portugiesi-schen Reiseliteratur bis zum Golf von Aden und dem Roten Meer erwähnt. Dagegen wird die Bevölkerung im hügligen Hinterland der Küste als Malai (Hügel, Berg) bezeichnet und formt die Malaiische Welt (Malai alam) im Raum unterhalb der Winde (dibawah angin).

III. Java und der Raum des Indischen Ozeans

Die Monsune gestalten als besonders charakteristische Merkmale diesen Raum, der mit seinen konstantenund verlässlichen Faktoren das Portal bildete, durchwelches die Menschen an den Küsten des Indischen Ozeans zueinander geführt wurden. Durch den Mon-sun wurden maritime Migrationen aus dem Malaii-schen Archipel nach Westen geleitet, die ihre Spuren auf den Malediven, in Ceylon und Südindien, der Ara-bischen Halbinsel und von der ostafrikanischen Küste bis nach Westafrika hinterlassen haben. Diese Migran-ten gingen mit der lokalen Bevölkerung Heiratsallian-zen ein, wodurch kulturelle und soziale Transformatio-nen eingeleitet wurden. Der im stetig zunehmendenmaritimen Fernhandel vollzogene Austausch von Gü-tern und Ideen trug ebenfalls dazu bei, dass sich eine transozeanische Kultur um die Ufer des Indischen Oze-ans herausformte.

Zu Beginn des ersten Millenniums sind die KonturenSüdostasiens und seiner Bewohner in der westlichen Peripherie dieses Raumes noch sehr verschwommen. Die vagen Vorstellungen wurden aus dem näher lie-genden indischen Subkontinent nach dem Westenvermittelt. Die Griechen nannten diese Region Iabadi-oi, was eine Übersetzung der SanskritbezeichnungJawa dvipa (Gerstenland) darstellte. Die Schiffe aus Ceylon, die in der Bucht von Aden vor Anker gingen, wurden Sangara genannt. Der wertvollste Teil der La-dung bestand aus Zimt und Sandelholz, die aus dem Malaiischen Archipel stammten und im Hafen von Galle in Ceylon als Stapelplatz zwischengelagert wor-den waren. Der malaiische Ursprung der Bezeichnung für Zimt wird durch das Lehnwort caisman (mal.: kayu manis) im Griechischen bestätigt.

Schon seit dem Ende des 1. Jahrhunderts schicktenHerrscher aus der südasiatischen Region Delegationennach Rom, deren erste unter Augustus Octavianusbelegt ist. Der vornehmste unter dieser Delegationwurde als raja bezeichnet und ihre Herkunft in der Region des mons Maleus an dem Fluss kali utara ange-siedelt. Diese Region deckt sich mit der malaiischen Welt zwischen Ceylon und Sumatra und da mit ihnen das topoi vom „in die falsche Richtung fallendenSchatten“ verbunden wird, können wir eine Region südlich des Äquators annehmen. Der mit diesen mari-timen Händlern verbundene Schiffstypus wurde später von den Arabern als Sumbuk/Sambuk bezeichnet,womit sich eine Anlehnung an die westaustronesische Bezeichnung Sambuko andeutet. Die Tatsache, dass das westaustronesische Lehnwort im spanischen zam-buco heimisch wurde, zeigt einmal mehr, wie stark der maritime Wortschatz des Austronesischen in westliche

Der Schiffstypus auf dem Relief am Borobudur-Tempel (9.Jhdt.)

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Sprachen Eingang gefunden hat.

Während der frühen Phase des maritimen Fernhandels bis zum 8. Jahrhundert geht die Initiative bei der An-knüpfung von Handelskontakten nach dem Westeneindeutig von Südostasien aus. Da diese westaustrone-sischen Händler zunehmend auch chinesische Luxus-güter (Keramik und Seide) als Kontingente nach dem Westen transportierten und chinesische Münzen als Zahlungsmittel benutzten, führte deren archäologi-sche Präsenz entlang der ostafrikanischen Küste zudem Trugschluss, dass es sich bei diesen Händlern um Chinesen gehandelt habe.

IV. Die kulturellen Transformationen in der Ge-schichte Javas

Java hat seine jetzige Gestalt als Insel erst nach der letzten Eiszeit vor ca. 10.000 Jahren bekommen, wäh-rend es vorher Teil einer südostasiatischen Landmasse war, welche die Region mit dem asiatischen Festland und Australien verband. Das in Wadjak auf Java gefun-dene Skelett wird dem Typus homo sapiens sapiens zugeordnet, der zwischen dem pekinensis und austra-lopiticus eingeordnet wird. Die größte und einmalige Kulturleistung im Malaiischen Archipel bestand in der frühen Überwindung der Meere in dazu geeigneten Fahrzeugen, was noch heute durch die gewaltigenVerbreitung der austronesischen Sprachfamilie, die ein Drittel des Globus bedeckt, demonstriert wird. Im Ge-gensatz zum Westen hat die Phase sesshafter Lebens-weise und assoziierten Landbaus in bewässerten Fel-dern erst vor ca. 3.000 Jahren durch die Einführungdes Reis aus der Han-Region Chinas begonnen.

1. Die Ausbreitung der Hindu-Buddha-Zivilisationauf der maritimen Seidenstrasse

Abgesehen von einzelnen kürzeren Erkundungsreisen der Phöniker gelang es dem griechischen Kapitän Hip-palos im 3.Jahrhundert unter Ausnutzung des Mon-suns, durch die Strasse von Malaka bis an die Mün-dung des Mekong im heutigen Vietnam zu gelangen. Dagegen sind die Einflüsse aus frühen Kontakten mit Südindien und Ceylon von prägender Bedeutung für die kulturellen Transformationen im gesamten Malaii-schen Archipel gewesen. Dabei begünstigten beson-ders die in westöstliche Richtung verlaufenden Winde in den Monaten Oktober bis Februar Seereisen in den Malaiischen Archipel. Die Monate September undMärz zwischen den komplementären Monsunwinden werden im Malaiischen Archipel als pancaroba be-zeichnet. In dieser Zeit gibt es zahlreiche Turbulenzen, bis sich die Winde auf ihre neue Richtung eingestellt haben. Im übertragenen Sinn gelten diese Turbulen-zen auch im personalen und gesellschaftlichen Be-reich, wo sie Umbrüche charakterisieren.

Das volksreligiöse System Javas (abangan) wird als die indigene Variante eines Bündels von Überzeugungenverstanden, die beginnend mit dem 4.Jahrhundertdurch Ideen und Institutionen aus dem Hindu-Buddha-Kontext bereichert wurden. Die damit ver-bundenen Neuerungen bedeuteten jedoch keine ab-rupte Abkehr von den indigenen Überzeugungen,sondern verbreiteten sich im Volk nur sehr langsam. Dabei fand eine Verschmelzung bestimmter Ideen mitElementen aus der indigenen Kultur statt, die in syn-kretistische Transformationen einmündete, wobei die einzelnen Elemente aus den verschiedenen Überzeu-gungssystemen nicht mehr isolierbar sind. Die Vorstel-lungen in Bezug auf die kosmische Ordnung und dasStreben nach Harmonie dienten zwar den weltlichen Eliten der Einwanderer zur sakralen Legitimierung ihrer Macht, sind aber dennoch im Volksglauben tief ver-wurzelt worden. Die frühesten Hindukulte (Vaishnava) sind dem Brahmanismus zuzuordnen und wurdenspäter durch Shivaismus (Shiva/Vishnu) und Tantris-mus (Linga-Voni) ergänzt, während sich in Zentraljava(und Sumatra/Sri Vijaya) der Buddhismus durchsetzte, der schließlich vom Islam abgelöst wurde. Auf dem zeitlichen Horizont des 10. Jahrhunderts ist für Java ein Nebeneinander von Abangan, Vaishnava, Shivaismus, Tantrismus, Buddhismus und Islam sichtbar, derenAnhänger jedoch Überzeugungen (kepercayaan) jen-seits theologischer Doktrin teilen.

Die Konzepte von Harmonie (Ordnung) und Konflikt (Chaos) werden in der Umgangssprache Javas mit den Adjektiven aman und kajau benannt. Dabei besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen menschlichen Handlungen und kosmischer Ordnung. Menschliches Fehlverhalten ruft Naturkatastrophen und Epidemien hervor, die das kosmische Gleichgewicht stören. In der menschlichen Gesellschaft wie im Kosmos besteht als Garant der Ordnung eine Hierarchie der Wesen und Dinge, die den Platz des Einzelnen im Gesamtgefüge bestimmt. Dieser Platz wird durch Geburt, Rang, Ge-schlecht und Lebensalter festgelegt. Somit kennt in der Mikrosphäre der Familie jedes Individuum seinen ihm zugewiesenen Platz. Innerhalb der Sozialisation wird das Streben nach Harmonie idealtypisch bis an die Grenze der Selbstaufgabe verlangt, womit Konflik-ten vorgebeugt werden soll. Damit können Individuen oder Gruppen schließlich in eine ausweglose Situation gelangen, die besonders im Falle des Gesichtsverlustes durch amuk (Amok) gesühnt wird, wobei die gesamte Gemeinschaft eine Mitschuld an dem Unheil trägt.

Diese Vorstellungen zur kosmischen Ordnung und das damit verbundene Streben nach Harmonie sind im Gebiet des inneren Hochlandes von Java mit seinen frühen hindu-buddhistischen Zentren noch am stärks-ten festzustellen und haben sich mit dem zurückge-

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henden Einfluss dieser Überzeugungen und dem Auf-kommen neuer Formen des Zusammenlebens in den in der Moderne entstandenen urbanen Zentren relati-viert. Mit der Idee der kosmischen Ordnung und der in ihr waltenden Balance wurden auch die Vorstellungen eines irdischen Paradieses verbunden, das in einem spezifischen Konzept von Landschaft eingebettet war, in der die einzelnen Elemente in idealer Proportionzueinander standen (sanskrit: sari, mal.: seri). Diewichtigsten der insgesamt 25 Elemente sind Wasser, Erde, Feuer. Luft und Raum. In neu erschlossenen Ge-bieten wurde deshalb das proportional gleiche Ver-hältnis von Wasser und Erde abgewogen und wenn dieses nicht adäquat war, ein anderes Siedlungsgebiet gesucht. In diesem Zusammenhang sollte jedoch auch eine in Ostasien weit verbreitete Humorale Pathologie erwähnt werden, die Gegenstände, individuelle Zu-stände und soziale Situationen in die Kategorien heiß und kalt einordnet. Dabei sind kalte Gegenstände und Zustände erstrebenswert, heiße dagegen als unheilvoll zu meiden. Von diesen Vorstellungen wird noch heute das Verhalten der Javaner im Alltag bestimmt.

2. Die politische Geschichte der Hindu-Buddha-Phase

Wir können davon ausgehen das die Insel Java vordem 4. Jahrhundert eine Bevölkerung von maximal 5 Millionen Menschen beherbergte, die in einer Reihe von tribalen Gesellschaften organisiert waren. In der Folgezeit soll ein legendäres Reich Taruma an derNordküste von Java bestanden haben, dessen Existenz und Ausdehnung jedoch noch nicht archäologischgesichert ist, weil bisher in den lokal begrenzten Herr-schaften Hinweise der Bindung an ein Zentrum fehlen.

Seit dem Ende des 3.Jahrhundert brachten Händler aus Südindien und Ceylon hindu-buddhistisches Gedan-kengut nach Sumatra und Java. Zu Beginn des8.Jahrhunderts sind Einwanderungen aus Tenassarim am Ostufer des Golfs von Bengalen belegt, deren Trä-ger als Chin/Mon bzw. Thai identifiziert wurden. Zu diesem Zeitpunkt bestand auf dem Dieng Plateau in Zentraljava bereits das Reich Mataram unter einem Herrscher aus der Sanjaya Dynastie. Im Laufe des8.Jahrhunderts brachten die Einwanderer Zentraljava und einen Teil Westjavas unter ihre Kontrolle und lie-ßen im Kedu Tal zu Beginn des 9. Jahrhunderts unter der Dynastie der Sailendras („Herren der Berge“) den buddhistischen Tempel von Borobudur und das Hin-du-Heiligtum Prambanan errichten. Durch eine von den Sailendras und dem Herrscherhaus von Sri Vijaya eingefädelte dynastische Heirat stellten ihre Prinzen seit dem 9.Jahrhundert auch die Herrscher dieses mari-timen Reiches im Malaiischen Archipel.

Unter dem Herrscher Sindok (929-947) driftete das Zentrum der Macht des Mataram-Reiches aus bisher nicht geklärten Ursachen nach Ostjava, wobei derHindu-Buddha- Kontext an Bedeutung verlor. Gleich-zeitig gewannen die Einnahmen aus dem Fernhandel zunehmende Bedeutung, wodurch sich der Wettbe-werb mit Sri Vijaya um die Kontrolle des Gewürzhan-dels aus den Molukken verschärfte und es zu kriegeri-schen Auseinandersetzungen kam. Über die folgenden Herrscher des Reiches Mataram ist wenig bekannt.Unter ihnen ist Air Langa hervorzuheben, der sich in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts um die Kulturdes Reiches und den Ausbau von Institutionen des Rechts und der staatlichen Verwaltung verdient ge-macht hat. In jener Zeit blühte die in Kawi, einer aus dem Sanskrit abgeleiteten Schrift abgefasste Literatur. Mit dem Tode Air Langas zerfiel jedoch das Reich und der westliche Distrikt trat unter der Bezeichnung Kediri die Nachfolge an. Im 13. Jahrhundert etablierte sich das Reich Singosari, das im Jahre 1293 den Einfall ei-nes mongolischen Expeditionsheeres abwehrte. Singo-sari wurde zu Beginn des 14. Jahrhunderts von Maja-pahit abgelöst. Dieses Reich wurde unter dem Herr-scher Hayam Wuruk zu einem Imperium geformt und erstreckte sich über die meisten Inseln der gegenwär-tigen Republik Indonesien. Es erlebte unter seinem ersten Minister Gadjah Mada einen gewaltigen kultu-rellen Aufschwung.

3. Die Ausbreitung des Islam in Java

Nach bisheriger Ansicht wird der Einfluss des Islam als eine weitere Bereicherung des kulturellen Synkretismus frühestens am Ende des 14. Jahrhunderts an der Nord-küste Javas unter der Aristokratie spürbar. Gegenwärtig häufen sich allerdings die Hinweise, dass dieser Einfluss wesentlich früher anzusetzen ist und bereits im 10.Jahrhundert evident ist. Allerdings hat es weiterer 400 Jahre bedurft, bevor die Bevölkerung des Inlandes von Java davon durchdrungen wurde. Die frühe Phase der Verbreitung des Islam ging von verschiedenen Bruder-schaften des Sufi-Ordens aus, die ursprünglich aus dem persisch-arabischen Raum stammten, sich jedoch bereits seit dem 1o. Jahrhundert durch Zwischenheira-ten mit Fischergruppen an der Westküste von Südin-dien (Mukkuvar/Tikar) vermischt hatten. Die von ihnen nach Südostasien getragenen Glaubensinhalte desIslam waren durch die vorangegangene Assimilationan andere kulturelle Systeme und die aus ihnen abge-leiteten Bedürfnisse geprägt.

Die arabische Bezeichnung Adjam wurde seit demBeginn der Islamischen Periode für alle Gebiete außer-halb der Arabischen Halbinsel benutzt. Dagegen wur-de die Bezeichnung Kmr („Mond“) für alles Fremde und in einem engeren Sinn für „Mondleute“ verwen-det. Es war eine Bezeichnung für Madagaskar und

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darauf geht auch die ethno-linguistische KategorieKhmer zurück. Während der Anfangsphase des Ein-dringens wies der Islam im malaiischen Archipel noch starke Züge einer schiitischen Ausprägung auf, in wel-cher Elemente zoroastrischer Überzeugungen integ-riert waren, wie der Sonnenkult und das Ritual zum Neujahr (Newruz). Der Islam breitete sich zuerst in Mataram aus und erfasste schließlich die gesamte Insel Java. Mit der Konversion des Fürsten von Majapahitwurde dieser Prozess formal gebilligt, wobei sich ein Teil des Hofstaates abspaltete und nach Bali emigrier-te. Durch das verstärkte Wirken jemenitischer Wach-habiten bekam der indonesische Islam seit dem 14. Jahrhundert eine eher sunnitische Ausprägung, diesich später auch auf die anderen Inseln übertrug und bis in die Gegenwart fortgesetzt hat. In dieser Zeitwurde Indonesien zur größten islamischen Nationaußerhalb der Arabischen Halbinsel und fester Be-standteil des globalen Netzwerkes der Dar ul-Islam. Als die Portugiesen und Spanier im frühen 16. Jahrhundertin den Indischen Ozean vordrangen, trafen sie auf den koordinierten Widerstand der muslimischen Händler in den von diesen kontrollierten Stapelplätzen an allenKüsten des indio-asiatischen Raumes.

4. Das Vordringen europäischer Handelskompanien

Das Zeitalter der „Entdeckung“ Indiens stellte eineunfreiwillige Fortsetzung der Reconquista auf der Iberi-schen Halbinsel dar. Mit der Ausweitung des kapitalis-tischen Systems auf Südostasien trat ein weiteres glo-bales Netzwerk hinzu, welches mit den bereits anwe-senden in einen Wettbewerb um den Handel mit Ge-würzen trat. Im Gegensatz zu den bereits anwesenden Arabern, Portugiesen und Spaniern strebte die VOCder Niederlande ein ausschließliches Monopol im Ge-würzhandel an. Darüber hinaus wollte sie auch die Produktion unter ihre Kontrolle bringen und unter-band alle Versuche der lokalen Bevölkerung, sich an dem Gewürzboom zu beteiligen. Auf diese Weise zer-störte die VOC die lokalen Handelsnetzwerke undnahm der lokalen Bevölkerung die Chance, Exportpro-dukte für den freien Markt anzubauen. Die Produktion von Gewürzen wurde aus Profitgier ins Unermessliche gesteigert, was zu einem Preisverfall in Europa führte und die VOC in den Konkurs trieb.

5. Die Kronkolonie Niederländisch Indien

Nach dem Konkurs der VOC wurde Indonesien eine Kronkolonie der Niederlande. Gravierende Maßnah-men betrafen die Enteignung großer Landflächen vor allem in Sumatra und Java, die zur Staatsdomäne er-klärt wurden. Auf ihnen wurden künftig vor allemlandwirtschaftliche Exportgüter wie Kaffee, Zucker und Tabak angebaut. Die javanische Bevölkerung wurde zusätzlich zu den zu leistenden Diensten für ihre Fürs-

ten verpflichtet, unentgeltliche Dienste („Heeresdiens-te“) auf den staatlichen Domänen zu verrichten. Die Enteignung der wertvollsten Flächen ließ den javani-schen Bauern nicht genügend Anbaufläche für ihre Eigenversorgung und führte zusammen mit dem Ent-zug von Arbeitskräften für die ihnen verbliebenen Fel-der zur Verarmung der bäuerlichen Bevölkerung und zu gewaltigen Hungersnöten, die zu Revolten undeinem Aufstand unter dem Prinzen Diponegoro führ-ten. Diese Missstände wurden von dem Assistant Resi-dent Douwesdecker unter dem Pseudonym Multatuli im Parlament von Den Haag gebrandmarkt.

6. Die Gründung der Republik Indonesien

Im Jahre 1942 wurde Niederländisch Indien von den Japanern besetzt und 1945 begann der Befreiungs-kampf der Indonesier auf Java unter der Führung von Sukarno und Hatta. Am 17. August 1945 wurde die Republik Indonesien proklamiert. Daraufhin versuchten die Niederlande ihre Kolonie durch ein Expeditions-heer zurück zu erobern. Unter dem Druck internatio-naler Organisationen kam jedoch 1949 ein Vertrag zustande und Sukarno trat das Amt des Staatspräsi-denten an. Seine 20jährige Regierungszeit war durch das Bemühen geprägt, die gewonnene Unabhängig-keit durch eine Anlehnung an blockfreie Länder zu stärken und die gespaltene Nation zusammen zu füh-ren. Diese Ziele versuchte er durch eine geschickteHeiratspolitik und direkte Einflussnahme auf die For-mung der Nationalsprache Bahasa Indonesia zu errei-chen.

Im Jahre 1965 putschte Oberst Suharto, um einer an-geblichen kommunistischen Machtübernahme vorzu-beugen. Unter seiner Herrschaft gab es zwar einen gewissen ökonomischen Aufschwung, der jedoch von der Begünstigung der eigenen Familienmitglieder und einer Ausweitung der Vetternwirtschaft begleitet war. Auf dem Höhepunkt der ökonomischen Krise in Süd-ostasien wurde Suharto 1998 nach einer 33 Jahre dau-ernden Herrschaft zum Rücktritt gezwungen unddurch den Vizepräsidenten Habibi ersetzt. Dieser war um eine Liberalisierung zentralistischer Politik undWirtschaft durch die Stärkung lokaler Autonomie be-müht. Mit seiner Zustimmung zu freien Wahlen ebne-te er auch den Weg von Osttimor in dessen Unabhän-gigkeit. Durch den erbitterten Widerstand der nationa-listischen Offiziere und die ihm nachgesagte Nähe zu Sukarno entmutigt, trat Habibi schließlich zurück.Nach der anschließend angesetzten Neuwahl wurde Wahid Abdul Rahman (Gusdur) vom Parlament zum Staatspräsidenten gewählt. Nach unbewiesenen Kor-ruptionsvorwürfen wurde Gusdur abgesetzt und durch die Vizepräsidentin Megawati Sukarnoputri, eine Toch-ter Suhartos, ersetzt. Im Jahre 2004 gewann Susilo Bambang Yudhoyono die erste direkte Wahl zum

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Staatspräsidenten. Er handelte unter der Zusage einerAmnestie und einer erweiterten Autonomie mit derBefreiungsbewegung Acehs (GAM) einen Vertrag zur nationalen Konsolidierung aus.

7. Auswirkungen der Globalisierung

Aus Java als dem kulturellen, politischen und ökonomi-schen Zentrum der Republik werden die zaghaften Bemühungen um eine Demokratisierung auf der nati-onalen Ebene im Rahmen der Regionalautonomie ge-steuert. Der nach wie vor in einer feudalen Struktur verharrende Agrarsektor hat hier bereits an Bedeutung verloren und in den urbanen Zentren wird der Sektor der Dienstleistungen stark ausgebaut. Die industrielle Entwicklung ist dagegen durch das Fehlen ausländi-scher Investitionen bescheiden. Besonders die weiter-verarbeitende Holzindustrie leidet unter illegalemHolzeinschlag und hat gleichzeitig um faire Preise für ihre Fertigprodukte zu kämpfen Der stetig wachsende Bedarf an Nahrungsmitteln (vor allem Fisch und Mee-resprodukte) in China, Taiwan und Japan hat innerhalb illegaler Aktivitäten zu einer Überbeanspruchung der Meeresressourcen geführt und zerstört durch Dyna-mitfischerei die Korallengebiete, welche für viele Sek-toren der Wirtschaft von großer Bedeutung sind. Die aus der Suharto-Ära stammende gewaltige Staatsver-schuldung Indonesiens hat zusammen mit dem ge-stiegenen Energiebedarf, für den keine adäquatenInvestitionen getätigt wurden, eine neue ökonomischeKrise eingeleitet. Seit dem letzten Jahr muss Indone-sien Erdöl importieren, das in US-Dollars bezahlt wer-den muss, während die Devisen unbedingt für die Reduzierung der Staatsschulden benötigt werden. Um weitere Kredite von der Weltbank zu erhalten, wurde Indonesien verpflichtet, seine Subventionierung desBenzins schrittweise abzubauen. Gleichzeitig sind da-mit notwendige Ausgleichszahlungen des Staates an Familien mit geringem Einkommen für die steigenden Transportkosten verbunden. Um seine Kreditwürdig-keit zu erhalten, lehnt Indonesien einen Schuldenerlassab, was zu einer Verstärkung sozialer Spannungenbeiträgt.

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Einleitung

Die Dayak waren früher berühmt (bzw. berüchtigt) für ihre Kopfjagd und galten deswegen als ‘primitiv’. Die Bezeichnung dayak besitzt bisher dementsprechend allgemein die Konnotation, „primitiv zu sein“. DasWort dayak bedeutet ursprünglich „Binnenländer“.Daher wollten viele Angehörige der indigenen Bevöl-kerung in Kalimantan sich selbst nicht als dayak be-zeichnen. Die meisten Dayak-Ethnien sind Anhänger ihrer indigenen Religion oder Christen. Die indigene

Religion - allgemein wird sie auch als Animismus be-zeichnet – ist bis heute nicht offiziell als eigenständige Religion anerkannt.

Die indigenen Religionen gelten als kepercayaan,'Glaube' und nicht als agama, 'Religion'. Nach der Un-abhängigkeitserklärung Indonesiens gab es mehrereVersuche von Seiten der Ethnien, indigene Religionen als agama anerkennen zu lassen. Die Regierung stellt allerdings Bedingungen, um die indigenen Religionen anerkennen zu können. Die Bedingungen umfassenunter anderem das Vorhandensein von kitab suci, ‘hei-

DAYAK: DIE GEMEINSCHAFT DES LANGHAUSES

KULTUR UND GESCHICHTE DER DAYAK

Dr. Jani Kuhnt-Saptodewo

Dr. Jani Kuhnt-Saptodewo ist Kuratorin für Insulares Südostasien am Museum für Völkerkunde Wien. Ihre Dissertationberuhte auf einer Feldforschung in Mittelkalimantan, ebenso wie ihr preisgekrönter Film „Fluss des geliehenen Lebens“ über die Totenrituale der Ngaju-Dayak, den sie neben ihrem Vortrag auf der Tagung zeigte.

Das Dorf Tumbang Malahui am Beringai

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ligen Schriften’ bzw. den Nachweis eines kanonischen Schrifttums, das die Priestergesänge, Ritualanleitun-gen, religiöse Verhaltensregeln und Mythen umfasst; ein Gotteshaus bzw. einen Tempel; ein Gesangbuch, das kanonisierte Gesänge enthält und einen Gottes-dienst bzw. ein gemeinsames Beten einmal in der Wo-che. Außer diesen Bedingungen müssen die Anhänger einer indigenen Religion auch nachweisen, dass sie an einen Gott glauben und sich formell einer der Weltre-ligionen unterordnen.

Der Anschluss der indigenen Religionen an eine der Weltreligionen wird von der Regierung als Lösungdafür angesehen, sich verfassungskonform zu verhal-ten, da die Verfassung nur Weltreligionen als mono-theistisch einstuft und die indigen Anschauungen da-mit formal als monotheistisch eingliedert. Darüberhinaus entspricht dies auch dem Staatsprinzip, das seit der Staatsgründung von der Regierung angestrebtwird: „Einheit in der Vielfalt“, wobei die Betonungmehr auf der Einheit liegt - sowohl auf der politischen als auch auf der sozialen Ebene.

Alle indigenen Religionen Indonesiens, die von derRepublik anerkannt wurden, haben sich dem Hinduis-mus zugeordnet. Sie erklären damit, dass ihre Religionund Kultur bereits seit dem vierten Jahrhundert. n. Chr. vom Hinduismus beeinflusst wurden. In der Tat sind sie jedoch wenig mit dem indischen Hinduismus verwandt. Im Jahr 1980 gab ihnen die Regierung die offizielle Anerkennung innerhalb der Hindu-Religion,sie heißen Agama Hindu-Kaharingan. Kaharinganheißt ‘von selbst wachsen’, bzw. ‘von alleine leben’. Seither versuchten die einheimischen Akteure auf Ka-

limantan, die verstreuten indigenen Gruppen dieses Glaubens unter dem Oberbegriff Dayak zu vereinen.Heutzutage gewinnen die Dayak dadurch immer mehr Selbstidentifikation und Selbstwertgefühl, so dass der Begriff dayak für sie fast wertfrei geworden ist.

Das Alltagsleben im Langhaus der Ngaju-Dayak

Die Ngaju leben an den Oberläufen der Flüsse Barito, Kahayan, Kapuas, Katingan und Mentaya. Die Ngaju sind eine der größten Dayak-Ethnien, ihre Bevölkerungumfasst ca. 1,2 Millionen Menschen.

Die meisten Dorfbewohner in Mittelkalimantan sind Subsistenzbauern, die ihre Felder in der umliegendenUmgebung haben. Fast in jedem alten Dorf steht ein betang oder Langhaus, das ursprünglich als erstes in diesem Dorf gebaut wurde. In einem betang leben etwa 10 bis 15 Familien. Diese Familien haben jeweils ein Zimmer bzw. ein Appartement, bilik oder bilekgenannt. Im bilik leben manchmal zwei oder drei Ge-nerationen einer Familie. Wenn die Familie zu groß wird, baut sie für sich ein anderes Haus in der Nähe des Langhauses, meistens am Flussufer.

Auch wenn es so aussieht, als lebten die Menschen im Langhaus wie in einer Kommune, ist dieser Eindruckfalsch. Die Familien im betang verbringen den Alltag sehr „individualistisch“, sie teilen nichts miteinander. In der gemeinsamen Küche wird darauf geachtet, dass jeder nur seinen eigenen Bedarf abdeckt. Jede Familie hat zum Beispiel ihr Holz zum Kochen und ihre eige-nen Gewürze. Niemand benutzt etwas von anderen. Wenn Gäste kommen, dann wird eine Familie beauf-tragt, für die Gäste zu kochen. Gäste, die die Verhält-nisse kennen, besorgen etwas für sich und benutzen die gemeinsame Küche zum Kochen.

Die Ngaju verbringen die Tage selten im betang. Fast alle – außer alten Leuten – gehen nach Sonnenauf-gang zu ihren Feldern, 5 bis 10 km vom Dorf entfernt. Oft übernachten sie auch dort, wo sie auf den Felderneine Hütte gebaut haben. Zum Dorf kommen sie in Falle einer Zeremonie oder zu einer Dorfbesprechungzurück. Wenn sie nicht auf dem Feld übernachten,kommen sie allerdings vor Sonnenuntergang zurück und verbringen die Abende im betang. Dort gibt es eine Halle, wo sie abends sitzen, gemeinsam plaudern, musizieren oder tanzen.

Die Religion

In den traditionellen Gemeinschaften ist das soziale Leben eng mit der Religion verbunden. Die indigene Religion wird daher als gelebte Religion bezeichnet.

Aufbau eines Langhauses

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Die Ngaju bildeten in den 70er Jahren einen Großen Rat und schlossen sich formell der Hindureligion an, die in ihrer balinesischen Ausprägung bereits aner-kannt war. Dem Großen Rat des Hindu-Kaharingan-Glaubens, Majelis Besar Agama Hindu-Kaharingan, ist es nach mehreren Anläufen und unter großen An-strengungen gelungen, 1980 die offizielle Anerken-nung durch das Religionsministerium in Jakarta zuerhalten. Seither ist der Große Rat der Agama Hindu-Kaharingan dabei, die Rituale mit den dazugehörigenPriestergesängen sowie die Mythen in der Gemein-sprache und in der Sakralsprache der Ngaju niederzu-schreiben, um so aus einer auf mündlicher Tradition beruhenden Lokalreligion eine regionale, dem An-spruch nach sogar überregionale Buchreligion zu ent-wickeln. Dies ist ein Prozess, der noch andauert.

Das wichtigste Buch bei den Kaharingan, das auf diese Weise entstand, heißt Panaturan, das die Schöp-fungsmythen von der Entstehung der Welt und der Menschen enthält. Sie werden während des Toten-festes vorgetragen. Diese Schöpfungsmythen gelten als heilig und genaue Kenntnis davon war bisher den Priestern vorbehalten. Durch die Forderung der Regie-rung nach kitab suci, ‘heiligen Schriften’, waren die Priester zum ersten Mal gewillt, ihr Wissen der Öffent-lichkeit preiszugeben. Dies ist eine sehr interessante Entwicklung, denn das priesterliche Wissen war bis dahin geheim und seine Niederschrift verboten. Man war davon überzeugt, dies würde von den Oberwelt-wesen mit dem Tod bestraft werden. Durch das Nie-derschreiben sind die Mythen jetzt auch der Allge-meinheit zugänglich, wobei im Panaturan nur einekurze Zusammenfassung der Schöpfungsmythen inGemeinsprache wiedergegeben wird. Dies war einVersuch der Priester, so ihre sakrale Stellung zu behal-ten.

Anfang 1996 kam ein neues Panaturan, eine ‘heiligeSchrift’ heraus, die von zwei jungen Priestern ge-schrieben wurde. Sie haben die Schöpfungsmythenvon verschiedenen Priestern gesammelt, die einzelnen Versionen diskutiert und zu einer Übereinstimmunggebracht. Im Unterschied zu der älteren Version ist jetzt alles in der Sakralsprache geschrieben und die Schöpfungsmythen werden bis ins Detail beschrieben.Die Sakralsprache fungiert wie ein Mantra, ein Zauber-spruch. Sie besteht aus formelhaften metaphorischen Ausdrücken, die die Priester während ihre Lehre lernen müssen. Die Kenntnis der Bedeutung dieser formelhaf-ten Ausdrücke ist den Priestern vorbehalten. In der alten Version brachten die Priester in der Gemeinspra-che nur eine kurze Zusammenfassung der Schöp-fungsmythen heraus, der gesamte Verlauf der Zere-monien wurde nicht niedergeschrieben. In der neuen Version ist der Verlauf der Zeremonien Satz für Satz in der Sakralsprache mit den gesamten formelhaften

Ausdrücken abgedruckt. Ein Laie könnte somit eine Zeremonie veranstalten, indem er den Text vorliest.Das heißt aber noch nicht, dass er die Bedeutung der formelhaften Ausdrücke auch kennt, das heißt ob der telische Aspekt des Rituals erreicht wird, ist eine andere Frage. Die Veröffentlichung des neuen Panaturan er-zeugt bei den älteren Priestern Unmut, da sie befürch-ten, ihre Machtstellung zu verlieren. Andererseitskönnte die Veröffentlichung zur Herausbildung einer Kaharingan-Theologie beitragen.

Nach Informationen des Großen Rats des Hindu-Kaharingan-Glaubens haben sich mehrere Dayak-Ethnien der Lehre des neuen Panaturan angeschlossenund wollen zur Vereinheitlichung der indigenen Glau-bensvorstellungen beitragen. Der Große Rat steht jetzt vor der Aufgabe, aus den lokalen und regionalen Vari-anten zu einer überregionalen verbindlichen Kanoni-sierung in Glaubensfragen zu gelangen.

Nach der Anerkennung der Kaharingan-Religion wur-de 1986 ein Theologisches Institut (Sekolah Tinggi Agama Hindu Kaharingan Tampung Penyang) in der Provinzhauptstadt Mittelkalimantans Palangkarayagegründet. Hier werden Leute ausgebildet, die später Priester oder Dozenten werden sollen. Sie bekommen Unterricht im Hinduismus indischer Version und bali-nesischer Ausprägung. Die Kaharingan-Version wird nur von einem Basir namens Tian Agan und dem Vor-sitzenden des Großen Rates, Lewis, unterrichtet. Die anderen Dozenten sind Balinesen und Dayak, die in Denpasar (Bali) im Theologischen Institut UniversitasHindu Dharma Indonesia wiederum in der indischen und balinesischen Ausprägung des Hinduismus ausge-bildet wurden. So bekommen die Dayak noch wenig Gelegenheit, ihre eigene Theologie zu studieren und zu reflektieren.

In den Schulen in Kalimantan wird neuerdings auch die Hindu-Kaharingan-Religion unterrichtet, aber die Lehrer verfügen noch nicht über Lehrbücher. Als ichfragte, was sie denn konkret unterrichten, antworteten sie, die Hindu Dharma-Religion (die offizielle balinesi-sche Ausprägung). Nur bei ganz unterschiedlichen Aspekten bringen sie ihre eigene Version mit hinein1.

Das Leben mit anderen Religionen

Die Geschicke des Dorfes werden bei den Ngaju-Dayak nach dem Adat-Recht, also dem traditionellenBrauch geregelt. Adat wird als Gewohnheitsrecht ver-standen, wobei der Mikrokosmos als die Widerspiege-lung der Ordnung des Makrokosmos angesehen wird.

1 Zum Beispiel schreibt die Kaharingan-Religion die Sekundärbestattung vor, bei der die Knochen nach der Verwesung des Fleisches gewaschen und im Knochenhaus aufbewahrt werden. In der balinesischen Religionwird eine Leichenverbrennung veranstaltet.

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Die Adat-Überlieferungen stehen aber nicht immer in Übereinstimmung mit dem christlichen bzw. islami-schen Glauben, so dass sich die Christen und Musli-men meist aus dem Dorfrecht ausschließen.

Wenn ein Angehöriger dieser Kultur also zu einer an-deren Religion übertritt, kann das Irritationen im sozia-len Leben mit sich bringen. Solche Menschen beteili-gen sich nicht mehr am Leben der Dorfgemeinschaft.Beim Übertritt zu einer anderen Religion – zum Bei-spiel zum Christentum - wird oft von ihnen verlangt, dass sie ihre pusaka (ihre Familienerbstücke) in den Fluss werfen, d.h. die Ausdrucksformen und Symbole einer alten Tradition aufgeben. Wenn sie zum Islam übertreten, können sie nicht mehr mit den Kaharin-gan-Leuten in einem Dorf zusammen wohnen, da diese ja Schweinezucht betreiben. So bilden sie ihre eigenen islamischen Dörfer.

Auf der anderen Seite können sich die Anhänger ande-rer Religionen bei bestimmten rituellen Anlässen nicht aus der Gemeinschaft ausschließen, wie folgendesBeispiel zeigt: Das größte Fest im Dorf ist das Toten-fest, um die Seelen der Verstorbenen in die Oberwelt zu geleiten. Dieses Fest wird in jedem Dorf etwa alle fünf Jahre veranstaltet und kostet die Teilnehmer viel Geld. Nicht selten stürzen sie sich in Schulden oder müssen dafür ihr Hab und Gut verkaufen. Die Kaha-ringan-Gläubigen müssen dieses Fest veranstalten, weil ein Toter, der nicht in die Oberwelt geleitet wird, in der Dorfgemeinschaft herumirrt, ziellos weiterlebt und zu keinem ewigen Leben gelangen kann. Es ist also die Pflicht der Betroffenen, für ihre Eltern und Verwandtendieses Fest zu veranstalten; das heißt der Übertritt zu einer anderen Religion alleine ist noch keine Lösung, es sei denn, man überredet die Eltern, sich auch zum

Christentum zu bekennen. Ein Christ, der für seineEltern das Totenfest mitveranstalten muss, muss am rituellen Dorfleben für eine Zeit von etwa vier Mona-ten teilhaben und die Taburegelungen beachten.

Vor der Unabhängigkeit Indonesiens mussten die Nga-ju entweder Christen oder Muslime sein, um eineSchule besuchen zu können. Nach der Unabhängigkeit Indonesiens konnten sie ungeachtet der religiösenZugehörigkeit die Schule besuchen. Doch konnten sie sich nach wie vor nicht zu ihrer Religion bekennen, da diese offiziell ja nicht anerkannt war. Als 1965 im Ge-folge des Putsches vom 30. September das Militärgegen die Kommunisten vorging, musste sich in der Folgezeit jeder zu irgendeiner Religion bekennen, ‘A-theismus’ wurde nicht mehr geduldet.

Ein Dayak-Abgeordneter sagte zu mir: „Kami memangsudah merdeka, tapi belum bebas“ (‘Wir sind in der Tat schon unabhängig, aber noch nicht frei’). Er spiel-te auf die Tatsache an, dass Gebildete, Politiker, Beam-te immer noch keine Zukunft haben, wenn sie sich zum Kaharingan-Glauben bekennen. Hochschulabsol-venten haben nur eine Chance auf die Anstellung als Beamte, wenn sie entweder Muslime oder Christen sind. So sind im Dorf nur diejenigen Kaharingan-Anhänger, die als Bauern, als Waldarbeiter oder als Priester arbeiten. Die anderen lassen sich taufen, so-bald sie sich eine Anstellung in der Stadt erhoffen. Ihr Identitätsgefühl hat sich zwar mittlerweile verstärkt, aber sie sehen immer noch keine Perspektive, wenn sie sich zu ihrem indigenen Glauben bekennen. So gibt es bisher keine Kaharingan-Leute in einer Machtposition. Die traditionsbewusste Dayak-Elite, auch Gouverneure (wie Tjilik Riwut2), die die Bestrebungen zur Anerken-nung der angestammten Religion unterstützten, waren alle entweder Christen oder Muslime.

Das Leben im nationalen Gefüge

Auch in der Politik findet man selten Dayak in einer Schlüsselrolle. In der Suharto-Ära wurden Gouverneure von der Zentralregierung eingesetzt. In Westkaliman-tan wurde aber unter Suharto kein einziger DayakGouverneur, in Mittelkalimantan erst 1984. Aber auch auf der nationalen Ebene hat kein Dayak eine Position im Kabinett, beim Militär oder anderen großen Institu-tionen inne. Hier zeigt sich wiederum die Vetternwirt-schaft und das schlechte Management der Regierung der Neuen Ordnung.

Jacques Bertrand, ein Politikwissenschaftler der Univer-sität Toronto, gibt in seinem 2004 herausgegebenenBuch „Nationalism and Ethnic Conflict in Indonesia“, den Ausschluss ethnischer Gruppen aus der politischen

2 Tjilik Riwut war Gouverneur der Provinz Mittelkalimantan von 1957 bis 1967.

Sandung (Knochenhaus) in Tumbang Malahui

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Repräsentation als wichtigsten Grund für ethnischeKonflikte an. Während der Neuen Ordnung verteilteder Suharto- Clan Holzeinschlagskonzessionen undKonzessionen für Goldminen unter sich und den Ge-nerälen. Die Konzessionen reduzierten die den Dayak zur Verfügung stehenden Landressourcen deutlich,denn sie betrafen oft ihre Gebiete, die sie dann nicht mehr betreten konnten.3

In der Neuen Ordnung Suhartos wurde der Begriff „national“ instrumentalisiert. Im Namen des „Nationa-len“ wurden die Rechte und die Existenz der indige-nen Völker missachtet, politische Repression betriebenund die Religionen politisiert. Die Ignoranz gegenüber Gewohnheitsrechten und der Lebensweise der jeweili-gen einheimischen Bevölkerung spiegelt ein generelles Zivilisationsverständnis wider, das „Zivilisation“ mit„technischem Fortschritt“ gleichsetzt. Die zentral ge-steuerte regionale Entwicklungsplanung verfolgte ent-sprechend diesem Zivilisationsverständnis das Ziel, die verschiedenen indigenen Völker Indonesiens mit dem technologischen Fortschritt zu „beglücken“, ob siedies nun wollten oder nicht. Diese negative Haltung der Regierung zur „Rückständigkeit“ der lokalen Be-völkerung wird auch von der Mehrheit der Zuwande-rer in bevölkerungsschwache Regionen „importiert“.

Die Einstellung erschwert verständlicherweise das Zu-sammenleben der ethnischen Gruppen, wie wir bei den ethnisch motivierten Ausschreitungen von Dayakgegen Maduresen zwischen 1996 und 2001 beobach-ten konnten. Denn die Zuwanderer, die sich überlegen fühlen, sehen keinen Grund, sich der lokalen Bevölke-rung anzupassen. Dementsprechend stellen – um nur ein Beispiel zu nennen – die traditionellen Haustiere der Dayak wie Schweine und Hunde eine Konfliktursa-che dar, da diese Tiere bei den Muslimen als unrein (haram) gelten.

Die heutige indonesische Regierung hat nun dieChance, den Begriff „national“ neu zu definieren und dadurch den demokratischen Prozess voranzutreiben. Die Interpretation des Mottos „Einheit in Vielfalt“ sollte mehr Wert auf die Vielfalt legen und nicht wie bisher auf die Einheit, das heißt die Schaffung einer homo-genen Nation. Darunter ist bisher die Javanisierungverstanden worden, denn für Javaner sind die Völker der Außeninseln in der Entwicklung zurückgebliebeneKinder, ihre Kultur- und Lebensweise wird als primitiv und rückständig abqualifiziert.

Indonesien muss sich zu seiner Multikulturalität und seinem Multiethnizimus bekennen. Nur wenn die ver-schiedenartigen Kulturen und Religionen Indonesiens mit Respekt und Anerkennung behandelt werden, gibt

3 Zum Beispiel gehört in Westkalimantan in Ketapang in der Nähe von Pontianak 94% des Waldes der Holzindustrie.

es Hoffnung, dass sich die ethnischen und religiösen Konflikte immer besser lösen lassen.

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Pingkan und Matindas: Eine Minahasa-Geschichte

An der Nordwestspitze der Insel Celebes, dem heuti-gen Sulawesi, in einem kleinen Dorf bei Tanawankgoim Gebiet der Tombulu, das in der heute als Minahasa bezeichneten Region liegt, lebte vor langer Zeit ein Ehepaar namens Pingkan und Matindas. Sie warenzwar nicht wohlhabend, aber dennoch glücklich und zufrieden mit ihrem Dasein, da sie einander sehr lieb-ten und wann immer möglich beisammen waren. So bemerkten die anderen Dorfbewohner mit Erstaunen und Bewunderung, dass Pingkan mit unermüdlichem Fleiß und Seite an Seite mit ihrem Mann die Gärten und Felder bestellte, anstatt tagsüber im Dorf zu blei-ben, wie viele andere Frauen dies taten. Nur zum Fi-schen konnte Pingkan ihren Mann nicht begleiten, da diese Tätigkeit nach traditionellem Verständnis den Männern vorbehalten blieb. Um die manchmal mehre-re Tage dauernde Trennung etwas zu erleichtern,schnitzte Matindas eine kleine Skulptur als Abbild sei-ner Frau, die er überallhin mitnehmen konnte.

Eines Tages jedoch war das Meer besonders unruhig und die Wellen so hoch, dass das Fischerboot kenterte.Matindas und seine Freunde konnten sich zwarschwimmend an Land retten, aber die Holzstatue war verloren. Sie trieb mit der Strömung das Ufer entlangbis ins benachbarte Reich des Raja von Bolaang Mon-gondow, wo sie von einem Fischer aufgelesen wurde. Dieser war von ihrer Schönheit so beeindruckt, dass er sie zum Raja brachte, der sofort beschloss, das lebende Vorbild für die Skulptur zu suchen und zur Frau zu nehmen.

Als das Vorhaben des Raja Pingkan u. Matindas zu Ohren kam, verließen sie ihr Dorf und suchten Zu-flucht in dem an der Südostküste liegenden Bezirk von Kema, im Grenzgebiet der Tonsea und Tolour. Der Raja ließ jedoch nicht locker, und schließlich spürten seine Gefolgsleute die neu gewählte Unterkunft des Ehepaares auf. Während Matindas sich versteckte,

empfing Pingkan den Raja, wobei sie sich eine Listausgedacht hatte.

Der Raja wollte am liebsten gleich zur Sache kommenund bat Pingkan um ihre Hand. Diese wusste, dass sie den Wunsch des Raja nicht einfach ungestraft ableh-nen konnte und gab vor, in ihn einzuwilligen – aber unter der Bedingung, dass sie zuerst nach dem lokalen Brauch gemeinsam Betel kauen würden. Die Zutaten dafür, Arecanüsse und Betelblätter, sollte der Raja ei-genhändig vom Baum pflücken. Von der Schönheit und dem Charme Pingkans bezaubert, willigte er in dieses Unternehmen ein. Dafür sollte er auch dasprächtige fürstliche Gewand ablegen und gegen Ma-tindas’ Hose und Hemd tauschen. Als der Raja den Baum erkletterte, trat Matindas, nun als Raja verklei-det, hervor. Pingkan befahl den Soldaten, den ver-meintlichen Matindas auf dem Baum zu töten. Diese ließen sich täuschen und führten den Befehl aus. Der Betrug blieb jedoch nicht lange unentdeckt, und Ping-kan und Matindas mussten wieder die Flucht ergrei-fen. Dieser Anlass war der Anfang eines lange andau-ernden Krieges gegen Bolaang-Mongondow. Schließ-lich schlossen sich die bis dahin aufgesplitterten be-nachbarten Ethnien Tontemboan, Tombulu, Tonsea und Tolour das erste Mal zu einem Bündnis zusam-men, um gemeinsam den Feind zu besiegen.

Kultur und Geschichte „schreiben“

Pingkan und Matindas zählen wohl zu den populärs-ten „historischen“ Persönlichkeiten in Minhasa, derenSchicksal bei Alt und Jung bekannt ist. Während mei-ner Feldforschung im Bezirk Kema wurde mir wieder-holt diese Geschichte erzählt, wobei je nach Erzähler und Situation das Schwergewicht auf unterschiedli-chen Passagen oder Handlungselementen lag. Man-ches fehlte, dafür wurde anderes hinzu gefügt. Dies war nichts Außergewöhnliches und entsprach denallgemeinen Merkmalen oraler Traditionen, in denen der Person des Erzählers ein relativ großes Maß an Flexibilität zugestanden wird. Vor allem im ländlichen

MINAHASA: STARKE FRAUEN UND STREITBARE HERRSCHER

KULTUR UND GESCHICHTE DER MINAHASA

Dr. Gabriele Weichart

Dr. Gabriele Weichart ist Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und betreibt ein Forschungs-projekt zum Thema „Nahrung und Identität in Minahasa/Nord-Sulawesi“. Nach ihrer Promotion in Völkerkunde an der Universität Wien war sie am Institut für Ethnologie der Universität Heidelberg als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig, bevor sie nach Wien zurückkehrte.

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Raum werden diese und ähnliche Geschichten auch heute noch zumeist mündlich überliefert, obwohlmittlerweile auch schriftliche Versionen vorliegen. Ihre Veröffentlichungen in Büchern und Zeitschriftenmachten die Erzählungen zwar einer breiteren Öffent-lichkeit in und außerhalb der Region zugänglich, je-doch um den Preis ihrer Fixierung und Homogenisie-rung. Durch ihre Verschriftlichung wird meist eineoffizielle und daher quasi-autoritäre Version einer Ge-schichte, meist als Synthese mehrerer Erzählvarianten, geschaffen und gelegentlich in einen breiteren histori-schen Kontext gestellt bzw. werden Details ausgeführt, die in mündlichen Erzählungen oft fehlen. So stehtzwar in der von H.M. Taulu herausgegebenen und mit 140 Seiten auch recht umfangreichen Publikation„Bintang Minahasa“ (1987) das persönliche Schicksal der Liebenden Pingkan und Matindas im Vordergrund,Beschreibungen der zeitgenössischen politischen Um-stände und Entwicklungen gewinnen jedoch im Laufe des Textes zunehmend an Bedeutung.

Dennoch werden Texte, denen mündlich überlieferte Legenden oder Mythen als Grundlage gedient haben, nur bedingt als Quellen für eine wissenschaftliche Aus-einandersetzung anerkannt und erhalten nicht dieselbe Wertigkeit wie so genannte „seriösere“ Schrift-stücke zur kulturellen Vergangenheit einer Region. In der christlich dominierten Minahasa-Region wurden daher meist die Berichte der Missionare, Kolonialbe-amten, Reisenden und ForscherInnen herangezogen. Somit war die Kultur- und Geschichtsschreibung bis Anfang des 20. Jahrhunderts fest in westlichen (zu-meist europäischen) Händen. In der Folge, und be-sonders seit der Unabhängigkeit Indonesiens nachdem Zweiten Weltkrieg, übernahmen zunehmendIndonesier – nicht zuletzt Minahasa selbst – diese Auf-gabe. Die in wissenschaftlichen Diskursen noch immer beliebten Dichotomien wie „lokal“ versus „global“und „schriftlich“ versus „oral“ verlieren in diesem Zu-sammenhang schließlich ihre klaren Abgrenzungenund lösen sich zunehmend auf. Lokale orale Traditio-nen werden verschriftlicht, und lokale Eliten schreibenGeschichtsbücher nach westlichen Standards. Den-noch, oder vielleicht gerade deshalb, bleibt weiterhin folgende zentrale Frage bestehen: Wer „schreibt“ fürwen welche Kultur/Geschichte?

Kultur- und Geschichtsschreibungen stellen notwendi-gerweise immer nur eine Auswahl dessen dar, das be-schrieben werden könnte. Vor diese Herausforderungwurde ich auch beim Verfassen des vorliegenden Auf-satzes gestellt. Ich möchte daher in den folgendenKapiteln einige Beispiele der Repräsentation heraus-greifen, die nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht son-dern meines Wissens nach auch im Selbstverständnisder lokalen Bevölkerung Beachtung verdienen. Alswesentliche Bausteine der Minahasa Kultur und/oder

Geschichte sind diese auch untrennbar mit der ethni-schen und kulturellen Identität der Minahasa Bevölke-rung verbunden.

In meinen Ausführungen greife ich sowohl auf wissen-schaftliche Texte zurück, die meist versuchen, einmöglichst „objektives“ Bild zu vermitteln, als auch auf populäre Überlieferungen, die die Frage nach derSelbstrepräsentation deutlich machen. Nicht zuletztstütze ich mich auf meine eigenen Erfahrungen als lernende und forschende Ethnologin in der Minahasa Region.

Vereint in Minahasa

Die Region Minahasa, die heute aus drei Kabupaten sowie den drei Verwaltungsstädten Manado, Bitung und Tomohon besteht, dürfte bis vor ca. 300 Jahren sowohl in politischer als auch kultureller Hinsicht alles andere als ein homogenes und geeintes Gebiet gewe-sen sein. Diese Erfahrung machten auch die Kolonial-mächte – zuerst die Portugiesen und Spanier und ab Mitte des 17. Jahrhunderts die Niederländer –, denen die Aufsplitterung der Region in kleine, häufig verfein-dete Fürsten- bzw. Häuptlingstümer ein Dorn im Auge war. Derartige Strukturen, oder auch mangelndeStrukturen, stellten ein Risiko für die Sicherheit wie auch für die Regierbarkeit des Landes dar. Die so ge-nannten „Befriedungsmaßnahmen“, die zum Beispiel lokale Fehden und Praktiken wie die Kopfjagd unter-binden sollten, aber manchmal selbst nicht besonders friedlich vor sich gingen, waren daher nicht nur im Interesse der Bevölkerung sondern mindestens ebenso im Interesse der Kolonialregierung. Der erste nach-weisliche Akt eines Zusammenschlusses zu einer ge-meinsamen politischen Handlung zwischen den Ober-häuptern der Dorfverbände (Walak) der als Landstreekvan Manado4 bezeichneten Region war 1679 eine Ver-tragsunterzeichnung. Dabei verpflichteten sich dielokalen Chiefs zur Loyalität gegenüber der VOC5, die als Gegenleistung den Schutz vor Übergriffen und Tributforderungen des Raja von Bolaang gewähren sollte. Die historische Bedeutung dieses Dokumentsliegt vor allem darin, dass es den Niederlanden den Weg zur kolonialen Herrschaft über das Gebiet vonManado öffnete.

Die Bezeichnung Minahasa, die „sich vereinigen“,„eins werden“ bedeutet, schien jedoch in niederländi-schen Aufzeichnungen erst 1789, also mehr als hun-dert Jahre später auf. Während sie sich anfänglich nur auf den als Vertretung gegenüber der Kolonialregie-

4 Als Landstreek van Manado wurde das Gebiet des gegenwärtigenMinahasa bezeichnet. Es wird angenommen, dass der Name Manado ursprünglich von der vorgelagerten Insel Manado Tua (= Altes Manado) stammt. Auch heute wird in der Alltagssprache Manado oft synonym für Minahasa verwendet.5 Vereinigte Ostindische Kompanie

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rung gebildeten Landraad der Häuptlinge bezog,schloß sie einige Jahrzehnte später als geografisch-ethnische Markierung die gesamte Region sowie deren Bevölkerung mit ein. Der politische Einigungsprozess spielte sich wohl in erster Linie zwischen den einzelnen Walak bzw. ihren Anführern ab, und ethno-linguistische Grenzen dürften dabei zumindest anfäng-lich nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben.Populärgeschichtliche Versionen beziehen sich jedoch gerade auf die Letztgenannten und vertreten dabei eine selbst in der ethnologischen Wissenschaft bis Mit-te des 20. Jahrhunderts durchaus übliche Sichtweise der Gleichstellung linguistischer und politischer Einhei-ten. Demzufolge bezeichnet man oft auch heute noch die acht verschiedenen Sprachgruppen in Minahasa als Stämme, die ihren ursprünglich autonomen Statuszu Gunsten eines größeren und nach außen hin stär-keren politischen Verbandes aufgegeben haben. Wie die lokale Geschichte von Pingkan und Matindas er-zählt, so soll die militärische Bedrohung durch das benachbarte Fürstentum Bolaang-Mongondow bereits in vorkolonialer Zeit ausschlaggebend gewesen sein für das Bündnis zwischen vier benachbarten „Stäm-men“.

Das Geschichtenrepertoire der Minahasa hat jedoch nicht nur Erklärungen für die geglückte Verbindung zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen zurHand, sondern auch solche, die Aufschluss geben über ihre ursprüngliche Aufsplitterung und Trennung. Die wohl bekannteste und am meisten zitierte Geschichte in diesem Zusammenhang kann als die Schöpfungs-mythe der Minahasa schlechthin gesehen werden. Die Hauptakteure darin sind das „Urelternpaar“ aller Mi-nahasa, nämlich Lumimuut und Toar, die in grauerVorzeit als erste Menschen in dieser Region gelebthaben sollen. Aus deren unwissentlich inzestuöserMutter-Sohn-Beziehung gingen je nach Überlieferung drei bzw. vier Kinder hervor. Als diese erwachsen wa-ren, wurde das umliegende Land, ausgerichtet nach den Himmelsrichtungen, unter ihnen aufgeteilt mitder Anweisung, dass sie und ihre Nachfahren in die-

sem Territorium leben sollten. Aufgrund der relativen Isolation hätten sich daraufhin unterschiedliche Spra-chen und Kulturen ausgebildet (Tombulu, Tontembo-an, Tonsea und ev. Tolour). Dennoch bestand ein ge-wisses Zusammengehörigkeitsgefühl, die Vorstellung einer gegenseitigen Komplementarität, die zum Bei-spiel in gemeinsamen Ritualen seinen Ausdruck fan-den. Dieser Aspekt, vor allem aber die vermeintliche genealogische Nähe, lassen die spätere Wiedervereini-gung als eine geradezu natürliche Entwicklung er-scheinen, als eine Quasi-Rückkehr in einen früheren Zustand, zu den „Wurzeln“ sozusagen. Eine derartige Geschichtsdarstellung mit dem Fokus auf Abstam-mung rechtfertigt die Bezeichnung der Sprachgrup-pen als Stämme. Der Stein von Pinawetengan, der Schauplatz der territorialen Aufteilung zwischen Lu-mimuuts Nachkommen im Gebiet von Tontemboan, gilt noch heute als Heiligtum, dessen kulturelle und spirituelle Bedeutung selbst von überzeugten Christennicht angezweifelt wird. Mittlerweile ist er auch zu einem touristischen Wahrzeichen avanciert, und ein Besuch dieses Ortes gehört zum Pflichtprogramm ei-ner Minahasa-Reise.

In den letzten Jahren hat der Bezirk noch eine weitereAttraktion dazu bekommen und zwar den so genann-ten Bukit Kasih. Dabei handelt es sich um einen nahe gelegenen Berg in der umliegenden Hügelkette, der zu einer Art „ökumenischen Pilgerstätte“ um- undausgebaut worden ist. Es handelt sich dabei in erster Linie um eine Art „Tempelanlage“, da für jede in der Provinz offiziell vertretene und anerkannte Weltreligion (agama) ein entsprechender „Tempel“ 6 in Kleinformaterrichtet worden ist. Der Besucher kann auf einem betonierten Pfad zwischen den einzelnen Stätten um-herwandern bzw. den Hügel besteigen. Die Tatsache, dass dem Christentum – im Gegensatz zu den anderen Religionen – zwei Kirchen zugestanden worden sind und eine Differenzierung zwischen Katholiken undProtestanten als notwendig und wünschenswert erach-tet worden ist, spiegelt zweifelsohne die lokalen und aktuellen gesellschaftspolitischen Prioritäten wider.Dennoch wird die offizielle Bedeutung darin gesehen,einen Ort der Begegnung und des Austausches zwi-schen Angehörigen verschiedenen Glaubens geschaf-fen zu haben, der das Verbindende über das Trennen-de stellen will. Die zugrunde liegende Einigkeit bzw. Einheit soll durch den Bezug auf die gemeinsamenWurzeln aller Minahasa vermittelt werden: Überle-bensgroße Statuen der Urahnen Toar und Lumimuut begrüßen die Besucher bei der Ankunft.

Zwar können der Legende nach nur etwa die Hälfteder in Minahasa vertretenen Sprachgruppen ihre Ab-

6 Darunter befinden sich eine römisch-katholische und eine evangeli-sche Kirche, eine Moschee sowie ein buddhistischer und ein hinduisti-scher Tempel.

Die Statuen von Toar und Lumimuut auf dem Bukit Kasih

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stammung auf ein gemeinsames Urelternpaar zurück-führen, aber in der Praxis wird dies nicht so eng gese-hen. Auch darin war die evangelische Kirche nichtunbeteiligt, die es verstand, sich lokaler Traditionen zu ihrem eigenen Vorteil zu bedienen. So wurden in den Missionsschulen Geschichten wie diejenige von Toar und Lumimuut als kulturelles Erbe aller Minahasa ge-lehrt und die Idee einer gemeinsamen, wenn auch fiktiven, Abstammung über die ursprünglichen„Stammesgrenzen“ hinaus getragen. Die Einheit Mi-nahasas wird auch heute noch, in Zeiten zunehmen-der separatistischer Bewegungen, als wertvolles Guthoch gehalten, und die Lesearten der Geschichte und Geschichten werden in diesem Sinne ausgewählt bzw. adaptiert. Bukit Kasih kann demnach nicht nur alsSinnbild für religiöse Toleranz und Gleichberechtigungverstanden werden, sondern auch – und vor allem in Verbindung mit dem nahe gelegenen Watu Pinawe-tengan - als Symbol für eine geeinte Minahasa Identi-tät.

Aksi und nasi

Ein über die Grenzen Minahasas hinaus bekanntesSprichwort lautet: „Biar kalah nasi asal jangan kalahaksi“, was sinngemäß wie folgt übersetzt werdenkann: „Es ist nicht so schlimm, keinen Reis zu haben,wenn es nur genügend Action gibt!“ Dieser Satz wird häufig und gerne zitiert und zwar vor allem von Mina-hasa selbst, wenn es darum geht, das Charakteristische ihrer Gesellschaft auf den Punkt zu bringen. Demnach nimmt aksi eine zentrale Rolle ein. Unter diesem Beg-riff werden vor allem Feste, Feiern und andere auf-wendige oder ereignisreiche soziale Veranstaltungen subsummiert, die man sich aus der Sicht vieler Mina-hasa nicht entgehen lassen sollte. Dabei geht es nicht zuletzt um sehen und gesehen werden, und viele An-wesende sind ein Zeichen für die Qualität und Bedeu-tung des Ereignisses. Diese Haltung gilt nicht nur für StadtbewohnerInnen, denn auch der ländliche Raum ist in dieser Hinsicht alles andere als „beschaulich“, und so mancher musste sich schon gute Ausreden einfallen lassen, um seinen sozialen Kalender auf ein erträgliches Maß einzuschränken. Schließlich will und darf man potentielle Gastgeber nicht beleidigen, denn wann immer es nur irgendwie möglich scheint, sollten Einladungen angenommen werden und der Gast zu-mindest für eine kurze Weile erscheinen. Dabei gilt es, im Gegensatz zu westlichen Gepflogenheiten, nicht alsausgesprochen unhöflich, nur kurze Zeit zu verweilen und sich im Anschluss an das Mittag- oder Abendessen sofort zu verabschieden.

Womit wir schon beim zweiten wichtigen Wort hier wären und zwar bei nasi. Damit wird genau genom-men der gekochte essfertige Reis bezeichnet. Da Reis mittlerweile quer durch alle Gesellschaftsschichten den

ersten Platz unter den Grundnahrungsmitteln in Mi-nahasa einnimmt7, wird der Begriff in der Umgangs-sprache oft synonym für Essen im Allgemeinen ver-wendet. Wenn zum Beispiel ein Gastgeber mit denWorten „Tambah nasi!“ („Nimm dir noch Reis!“) sei-nen Gast zum Zugreifen ermuntert, meint er tatsäch-lich sämtliche dargebotene Speisen. So ist auch das eingangs zitierte Sprichwort in einem weiteren Sinn zu verstehen. Nun darf man keineswegs glauben, dass in Minahasa Feiern und Essen zwei separate Bereichewären, die nichts miteinander zu tun hätten, und dass letzterem geringe gesellschaftliche Bedeutung zuer-kannt würde. Ganz im Gegenteil! Die Region ist nicht nur für seine lokalen Spezialitäten bekannt, sondern auch dafür, dass ihre Bewohner gerne und viel essen und dass die Idee der Gastfreundschaft untrennbar mit dem Anspruch einer dem jeweiligen Anlass und den Möglichkeiten entsprechenden großzügigen Bewir-tung verbunden ist. Dies entspricht durchaus auchdem Selbstbild der Minahasa, die das Erstaunen –manchmal auch Entsetzen – der Touristen und anderer Besucher über Quantität und Qualität von Speisen oft amüsiert beobachten und eventuell mit einem Augen-zwinkern „noch ein Schäuflein nachlegen“.8

Gilt es schon im Alltag als Qualitätskriterium, gut und reichlich zu essen, und eine leere Schüssel als Zeugnis von Armut oder extremer Nachlässigkeit, so wird die-ses Ideal bei besonderen Anlässen zur unbedingtenForderung erhoben. Von der relativ kleinen Zusam-menkunft im erweiterten Familienkreis bis zur hochof-fiziellen öffentlichen Veranstaltung mit mehreren hun-dert Teilnehmern wird dem leiblichen Wohl der Gäste höchste Priorität zugewiesen. Entscheidende Faktoren bei der Bewirtung sind einerseits der Grad der sozialen Nähe bzw. Distanz zwischen Gastgeber und Gästen, andererseits der Status des Anlasses. Während „Frem-de“ selbst bei kurzen und unangemeldeten Besuchen das Gastrecht genießen, das eine möglichst prestige-trächtige Bewirtung einschließt (Bier, Coca Cola, Kekse oder sogar eine ganze Mahlzeit), ist ein formellerRahmen erforderlich für ähnlich großzügige Darbie-tungen innerhalb der Familie und im engen Bekann-tenkreis. Selbst private Anlässe wie zum Beispiel Ge-burtstage werden daher einem relativ strengen Zere-moniell unterworfen, das für Spontaneität wenig Raum lässt. Dabei stehen weniger die tatsächlichen Bedürf-nisse der zu Feiernden (z.B. das „Geburtstagskind“) oder der einzelnen Gäste im Vordergrund als das mit „erfolgreichen“, d.h. auch investitionsträchtigen, Fes-ten einhergehende Prestige. Daher darf neben und nach dem reichlichen Mahl die musikalische „Unter-

7 Noch vor 1-2 Generationen teilte sich Reis zumindest in quantitativerHinsicht und unter der ländlichen sowie einkommensschwächerenBevölkerung seine Vormachtstellung mit einer Reihe anderer stärkeha l-tiger Produkte, wie z.B. Sago, Maniok oder Kochbananen. 8 Besonders die Aussicht, Hunde- oder Rattenfleisch auf seinem Teller serviert zu bekommen, wirkt bei so manch Reisendem als Appetitzügler.

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malung“ auf keinen Fall fehlen. Dazu bedient man sich in erster Linie der sogenannten „Discos“, d.h. riesigerVerstärkeranlagen, die nicht nur die geladenen Gäste sondern letzten Endes das ganz Dorf mit vorwiegendindonesischer Pop- und Schlagermusik unterhaltensollen.

Die heute wohl aufwendigsten Feste mit ausgepräg-tem Ritualcharakter, bei denen Privates mit Öffentli-chem vereint wird, sind Hochzeiten. Während in den Städten schon aufgrund räumlicher und organisatori-scher Notwendigkeiten anstelle einer klassischenHochzeitstafel meist auf eines der vielfältigen Angebo-te großer Restaurants und Hotels zurückgegriffenwird9, ist es für viele DorfbewohnerInnen nicht nur eine Frage des Geldes sondern auch der Ehre und Tra-ditionsverbundenheit, für den Sohn oder die Tochter eine große Hochzeit im eigenen Haus zu veranstalten. Eine Gästeliste von 200 bis 300 Personen ist bei sol-chen Anlässen keine Seltenheit. Neben anderen Auf-gaben stellen erwartungsgemäß die Vor- und Zuberei-tungen des Hochzeitsmahls große Anforderungen an die finanziellen und menschlichen Ressourcen und an die organisatorischen Fähigkeiten der Gastgeber.Schweinefleisch in verschiedenen Kochvarianten zählt nach wie vor zu den am meisten geschätzten Speisen, und die Anzahl der geschlachteten Schweine bzw. deren Gewicht ist ein entscheidender Maßstab für die Bewertung des Status des Gastgebers sowie seinerBereitschaft zur Redistribution seines Vermögens an-lässlich eines großen Festes.

Schon alleine deshalb, neben anderen Spezifika, kön-nen wir bei Hochzeiten, Taufen oder anderen ausgie-big gefeierten Anlässen trotz ihrer westlich-christlichenAusprägungen einen traditionellen Hintergrund fest-

9 Solche Hochzeitsfeiern, die vor allem in der Hauptstadt Manado aus-getragen werden, bestehen üblicherweise aus einem offiziellen unddurch Reden und Gebete stark strukturierten Empfang mit anschließen-dem Buffet. In der Regel dauert die ganze Veranstaltung nicht viel länger als zwei Stunden, was in vor allem in bemerkenswertem Gegen-satz zu den im ländlichen Raum sich über den ganzen Tag und in die Nacht hinein erstreckenden Feierlichkeiten steht.

stellen. Die Beziehung zwischen groß angelegten Fes-ten, einer an Verschwendung grenzenden Darstellung sowie dem Verbrauch von Reichtum und dem Status des Gastgebers gab es bereits in vorchristlicher Zeit. Die potlatch-artigen „Verdienstfeste“ (foso), bei denen wertvolle Objekte, wie z.B. Keramik, zerstört wurden, stellten eine ritualisierte Wiederholung einer von der Urgöttin Karema vollbrachten Opferhandlung zur Be-festigung der Erde und Erlösung der Menschen dar. Für den Gastgeber war dies eine Möglichkeit des sozia-len und spirituellen Aufstiegs, der sich bereits zu Leb-zeiten in einer Akkumulation von Prestige und einer höheren Position in der lokalen Hierarchie bemerkbarmachte und ihm nach seinem Tode den Rang eines vergöttlichten Ahnen sichern sollte.

Ostentative Demonstrationen von Besitz und Ansehenmögen vielleicht nicht gerade einem christlichen Ideal von Bescheidenheit und selbstlosem Geben entspre-chen, dennoch sind heutzutage die Kirchen und ihre Vertreter auch bei solchen Anlässen in den vorderen Reihen vertreten. Dies ist nicht weiter verwunderlich,da es kaum ein relevantes soziales Ereignis geben dürf-te, bei dem nicht der kirchliche, oder zumindest christ-liche, Beistand gesucht wird. Die Vorliebe der Minaha-sa für eine Art gelenkter Geselligkeit kommt auch den Zielen der Kirchen entgegen, die in der Gemeindear-beit, in Gebetszirkeln, aber auch in ihrem Unterhal-tungsprogramm den christlichen Glauben nachhaltig sozial verankern können. Bei den meisten dieser Ver-anstaltungen spielt auch das gemeinsame Mahl eine wichtige Rolle. Makan dan minum bersama (gemein-sam essen und trinken), die Botschaft der Gleichheit und Gemeinschaft, wird dabei als zentrales Motiv in den Vordergrund gestellt.

Individualismus in der Gemeinschaft

„Einheit“ und „Gemeinsamkeit“ sind wesentlicheThemen in der Repräsentation von Geschichte und Kultur der Minahasa und folglich auch in meinen vo-rangegangenen Ausführungen. Wir finden dieses Ideal sowohl in Mythen und wissenschaftlichen Berichten als auch in Beschreibungen des Alltags und der Festtage, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegen-wart, sowohl auf kollektiver als auch individueller Ebe-ne wieder. Die Geschichten von Lumimuut und Toar sowie von Pingkan und Matindas weisen darauf hin, dass im Falle der verschiedenen Sprachgruppen in Minahasa eine Einheit zwar genetisch und historisch bedingt sein mag, aber erst durch die bewusste Zu-sammenarbeit realisiert werden kann. Für viele Mina-hasa ist diese Erkenntnis auch heute noch wesentlicher Bestandteil ihres Alltags. Die als Mapalus bezeichneten sozialen Netzwerke zur reziproken Unterstützung ha-ben zwar in den letzten Jahrzehnten im Arbeitsumfeld etwas an Bedeutung verloren, aber bei der Organisati-

Ehrengäste beim Festmahl anlässlich einer Taufe in Waleo

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on von Festen wird noch gerne und häufig von ihnen Gebrauch gemacht. So sind selbst relativ wohlhaben-de Minahasa im Falle einer „traditionellen“ Dorfhoch-zeit auf die tatkräftige bzw. materielle Unterstützungaus ihrem sozialen Umfeld angewiesen, und die meis-ten weniger finanzkräftigen Haushalte würden ohne Zugriffsmöglichkeiten auf das Mapalus-System schon durch soziale Verpflichtungen kleineren Ausmaßes an die Grenzen ihrer Belastbarkeit stoßen.

Dennoch wäre es falsch anzunehmen, dass die Bereit-schaft zu Kooperation und kollektivem Handeln das Streben nach persönlichem Erfolg überschatten wür-de. Die Geschichte der Minahasa Gesellschaft zeigtgerade das Gegenteil auf. Die traditionellen egalitären Strukturen ließen einerseits ein relatives Gleichheit s-ideal zu, boten andererseits jedoch ehrgeizigen und fähigen Individuen die Möglichkeit eines sozialen Auf-stiegs als primus inter pares. Einrichtungen der Koloni-alzeit, wie der Verwaltungsapparat und das Schulsy s-tem, förderten derartige Entwicklungen. WestlicheBildung und Berufsfelder eröffneten neue Wege zueiner sozialen Anerkennung persönlicher Leistungen und somit zu einer erweiterten Differenzierung inner-halb der Gesellschaft.

Auch in den Minahasa-Sagen und -Mythen stehen oft einzelne Personen im Mittelpunkt und bestimmendurch ihre Handlungen das Geschick ihres Dorfes oder Region, wie auch das Beispiel von Pingkan und Matin-das zeigt. Dabei werden nicht nur „klassische“ Tugen-den wie Liebe, Treue, Fleiß und Tapferkeit belohnt und von den Lesern oder Zuhörern bewundert, sondern so manchem Helden gelingt sein Vorhaben durchSchlauheit und List, wobei die Ehrlichkeit gelegentlich auf der Strecke bleibt. So erzählt man sich, dass ein Mann namens Tumileng die ersten Reiskörner von den Göttern im Himmel gestohlen und auf die Erde zu den Menschen geschmuggelt hätte. Auch Pingkan gelang es durch List und Täuschung, sich und ihren Ehemann

vor dem Raja von Bolaang-Mongondow zu retten. Wie man sieht, sind derartige Fähigkeiten nicht nur Män-nern zugeschrieben worden, und auch im profanenLeben wird Frauen durchaus zugetraut, sich zu be-haupten und im Alltag sowie in Krisensituationen „ih-ren Mann zu stellen“. Die schöne, treue und äußerst mutige Pingkan steht in der kollektiven Erinnerung der Minahasa im Beliebtheitsgrad vor Matindas, und ihr Name an erster Stelle im Titel ist vielleicht mehr als bloß stilistische Präferenz - eine starke Frau, die auch streitbaren Herrschern die Stirn bietet.

Ausgewählte Literaturverweise

HENLEY, D. 1996. Nationalism and Regionalism in a Colonial Context. Minahasa in the Dutch East Indies.Leiden: KITLV Press. KOSEL, S. 1998. „Die zu eins gemacht wurden.“Gruppenidentitäten bei den Minahasa Nordsulawesis(Indonesien). Magisterarbeit, Universität Frankfurt.LUNDSTRÖM-BURGHOORN, W. 1981. Minahasa Civi-lization. A Tradition of Change. Göteborg: Acta Uni-versitatis Gothoburgensis.SCHEFOLD, R. (Hg.), 1995. Minahasa Past and Pre-sent. Tradition and Transition in an Outer Island Re-gion of Indonesia, Leiden: Leiden University, Research School CNWS.SCHOUTEN, M. 1998. Leadership and Social Mobilityin a Southeast Asian Society. Minahasa, 1677-1983.Leiden: KITLV Press.TAUCHMANN, K. 1968. Die Religion der Minahasa-Stämme (Nordost-Celebes/Sulawesi). Diss., UniversitätKöln.TAULU, 1987. Bintang Minahasa (Pingkan Mogodu-noiy). Jakarta: Balai Pustaka.VAN EEUWIJK, P. 1999. Diese Krankheit passt nicht zum Doktor. Medizinethnologische Untersuchungenbei den Minahasa (Nord-Sulawesi, Indonesien). Basel: Ethnologisches Seminar der Universität u. Museum der Kulturen (Basler Beiträge zur Ethnologie, Bd. 41).WEICHART, G. 2004. Minahasa Identity: A CulinaryPractice. Antropologi Indonesia, Special Volume, 55-74

Tanzgruppe in Tomohon. Kabasaran bzw. Cakalele ist ein traditionellerKriegstanz der Minahasa, der heute bei vielen Feierlichkeiten als Will-kommensgruß für die Gäste aufgeführt wird.

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“West Papua“ ist die international gängige Bezeich-nung für die östlichste, an Papua Nugini grenzendeRegion Indonesiens, dem ehemaligen Nederlands Nie-uw-Guinea. Nachdem dieses Gebiet 1963 der Republik Indonesien einverleibt wurde, hieß die neue Provinz zunächst Irian-Barat (West-Irian), später Irian Jaya und seit 2000 Papua.

Gegenwärtig ist West Papua in zwei Provinzen aufge-teilt: die Provinz Papua mit Hauptstadt Jayapura und die Provinz „Irian Jaya Barat“ (West-Irian Jaya) mitHauptstadt Manokwari. Diese im Jahre 2003 vollzoge-ne, sehr umstrittene Teilung West Papuas wurde am 11. November 2004 vom indonesischen Verfassungs-gericht für rechtmäßig erklärt, entbehrt aber bis heute einer gesetzlichen Grundlage. Die Gründung einerdritten Provinz, „Irian Jaya Tengah“ (Mittel-Irian Jaya) mit Hauptstadt Timika konnte bislang von der Bevöl-kerung verhindert werden. Seit Anfang diesen Jahres gibt es aber immer wieder Stimmen von höchster Stel-le in Jakarta, welche West Papua in bis zu fünf Provin-zen aufteilen wollen. Der Vorwand ist effizientere Ver-waltung; in Wirklichkeit geht es aber nicht um dasWohl der Papua, sondern um Ressourcen und Macht. Bei dieser „Teile-und-Herrsche-Politik“ Jakartas machen leider auch einige opportunistische indigene Papuamit.

Bevölkerung

Gegenwärtig leben 2,4 Millionen Menschen in West Papua, davon etwa 60% indigene Papua, die sich deutlich von anderen indonesischen Völkern unter-scheiden. Sie sind dunkelhäutig und kraushaarig; ein melanesisches und kein asiatisches Volk. Hinzu kom-men Siedler (pendatang) aus anderen Teilen Indone-siens. Im Jahre 1978 wurde das Gesetz zur sogenann-ten Transmigrasi erlassen, dass eine Umsiedlung vonMenschen aus den überbevölkerten Regionen Javasund Maduras u. a. nach West Papua vorsah. In den folgenden 20 Jahren wurden über 300.000 Westindo-nesier nach West Papua umgesiedelt. Neben dieser

organisierten Transmigrasi, die nach der Suharto-Ärastark abnahm und schließlich gestoppt wurde, ziehen immer noch Tausende auf eigene Initiative nach West Papua, hauptsächlich in die großen Städte. In Jayapu-ra, Sorong, Manokwari, Merauke, Biak und wahr-scheinlich auch in Timika sind Papua bereits in der Minderheit. Im Hochland ist das anders. Insgesamtliegt der Anteil der Siedler an der Bevölkerung wahr-scheinlich bei 40%. Dies kann aber nicht belegt wer-den, weil Indonesien aus angeblich noblen Motiven keine rassenspezifischen Angaben in die Statistik auf-nimmt. Nur aus den Angaben zur Religionsangehörig-keit lassen sich Rückschlüsse ziehen.10

Neuerdings kommen viele Transmigranten aus Sula-wesi, vor allem Muslime aus Makassar, aber auchchristliche Toraja. Insgesamt beherrschen die Siedler fast alle Wirtschaftsbereiche. Ich hörte auf meiner letz-ten Reise, dass sogar der Verkauf von Betelnuss (sirihdan pinang) am Straßenrand, bisher von den MamaPapua betrieben, von der Übernahme von Siedlern bedroht ist. Auch die Investitionen im Rahmen derSonderautonomie kommen überwiegend den Siedlern und nicht den indigenen Papua zugute. Die Angst vor völliger Entmündigung, dem Verlust kultureller Identi-tät, ja dem Aussterben ist bei indigenen Papua allge-genwärtig.

Geschichte

Die Papua haben, entgegen den gängigen nationalen Geschichtsdarstellungen, ein eigenes, kritisches Ver-ständnis ihrer Geschichte. Wahrscheinlich ist gerade dies, was Jakarta am allermeisten fürchtet und be-kämpft. Als der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu im Februar 2004 eine Überprüfung des Referen-dums von 1969 forderte, also des sogenannten Act of free Choice (die Papuas sagen: Act of no Choice), bei dem 1.022 Wahlmänner unter Zwang für den endgül-

10 Papua dalam Angka (Papua in Figures), 2002, Badan Pusat Statistik Provinsi Papua, Jayapura, 2003, S. 197.

PAPUA: HOFFNUNG EINES BEDROHTEN VOLKES

KULTUR UND GESCHICHTE WEST-PAPUAS

Uwe Hummel

Uwe Hummel studierte in Hamburg, Südafrika und Amsterdam Theologie. Für die Vereinigte Evangelische Mission (VEM) arbeitete er sieben Jahre lang auf Nias in Indonesien. Seit 2004 ist er Koordinator des West-Papua-Netzwerksmit Sitz in Wuppertal.

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tigen Anschluss an Indonesien stimmten, war Jakartasehr verstimmt. Regelrechte Panik entstand vor dreiMonaten, als auch noch eine Gruppe US-amerikanischer Parlamentarier den Review des Act of Free Choice verlangten. Gerüchte und Heilserwartun-gen überschlugen sich. Unter den Siedlern wuchs die Angst vor einer Vertreibung nach der „Befreiung Pa-puas“ durch die USA, die UNO oder gar durch den christlichen Westen. Das Militär nutzte wie immer die Gelegenheit, seine Position in West Papua zu verstär-ken.

Zu der bevorstehenden Erscheinung einer vom nieder-ländischen Parlament in Auftrag gegebenen, 600 Sei-ten umfassenden historischen Studie zu West Papua von Professor Pieter Drooglever soll Stabschef General Sutarto gesagt haben: „Wenn dies Buch erscheint,wird West Papua unabhängig.“. Das ist natürlich völlig übertrieben und realitätsfremd, aber es zeigt, wie viel Angst die Eliten in Jakarta vor einer Aufarbeitung der Geschichte Indonesiens der 1960er Jahre, einschließ-lich der West Papuas haben.

Durch die Geschichte der Papua zieht sich der hässli-che Faden der Fremdbestimmung. Bis ans Ende des 19. Jahrhunderts machte der Sultan von Tidore seinen Anspruch auf die Vogelkopfregion und Biak geltend. 1885 machten die Kolonialmächte Großbritannien,Deutschland und die Niederlande einfach einen Strich auf der Landkarte Neuguineas. Die westliche Hälfte wurde eine niederländische Kolonie, die zunächst von der nordmolukkischen Insel Tidore aus verwaltet wur-de. 1897 gründeten die Holländer die KolonienNoord-Nieuwguinea mit der Hauptstadt Manokwariund West-en-Zuid-Nieuwguinea mit der HauptstadtFakfak. Am 7. März 1910 hisste Kapitän F.J.P. Sachs in Hollandia an der Humboldbucht, im heutigen Jayapu-ra, die Niederländische Trikolore.

Als die Niederlande am 27. Dezember 1949 der indo-nesischen Regierung die volle Souveränität übertru-gen, gehörte West Papua nicht zum neuen Staatsge-biet. Bald danach fing Holland zum Ärgernis Jakartas an, die Autonomie West Papuas als überseeischesReichsgebiet der Niederlande vorzubereiten. 1961 durften die Papua ein eigenes Parlament, den Nieuw-Guinea Raad wählen. Parteien entstanden, darunter die Papua-Partei Parna (Nationale Partei) von Frits Kiri-hio, welche die Souveränität West Papuas anstrebte.Am 5. April 1961 wurde der Nieuw-Guinea Raad feier-lich eingesetzt. Neben der niederländischen Trikolore wehte die Morgensternflagge der Papua und durftedie Papua-Hymne, „Oh Papua, mein Land“, gesungen werden. Der Name Papua durfte gebraucht werden. Der Beamtenapparat sollte innerhalb von 10 Jahren „papoeaniseerd“ und West Papua auf die Unabhän-gigkeit vorbereitet werden.

Indonesien erwiderte mit Säbelrasseln. Brigadegeneral Suharto, der spätere Diktator, bekam den Auftrag,West Papua zu erobern. Zu mehr als Infiltrationen und Scharmützeln kam es aber nicht. Dann mischte sich der 1961 gewählte US-Präsident John F. Kennedy ein. Im Rahmen des kalten Krieges musste Indonesien, das eine starke kommunistische Partei besaß, vor der An-näherung an den Ostblock bewahrt werden. Dafürmusste Holland West Papua opfern.

Am 15. August 1962 unterschrieben die Niederlande und Indonesien das New York Agreement, welches den Übertrag West Papuas an Indonesien regelte. Die UNO-Generalversammlung nahm diese Vereinbarung einen Monat später an. Am 1. Oktober 1962 kam West Papua unter die Verwaltung der Vereinten Nati-onen und am 1. Mai 1963 wurde es der Republik In-donesien einverleibt. Die Entscheidung wurde ohne einen einzigen Papua getroffen. Allerdings gab es eine Auflage für Indonesien: Nach fünf Jahren sollten die Papua in einem Referendum bestimmen dürfen, ob sie zu Indonesien gehören oder unabhängig werden wol-len. Dieser bereits erwähnte Act of free Choice, der in dem völkerrechtlich legitimierten, aber sehr umstritte-nen endgültigen Anschluss West Papuas an Indonesien mündete, fand 1969 statt.

Kultur

An dieser Stelle sei etwas zu der Kultur West Papuas gesagt: Traditionell gibt es in West Papua drei Kultur-räume: die Küstenregionen, in denen die Menschen seit jeher vom Fischfang und den üppigen Wäldern, aber auch zum Teil vom Handel leben. Dann die stär-ker bevölkerten Hochlandregionen, wo man dem kar-gen Boden durch mühsamen Ackerbau Süßkartoffelnabgewinnt und Schweine züchtet. Und die dünnbe-siedelten Sumpfregionen zwischen dem Hochland und den Küsten, wo es halbnomadische Jäger und Samm-ler gibt.11 Die geographischen und klimatischen Be-dingungen haben unterschiedliche Charaktere ausge-prägt. Die Erschließung abgelegener Gebiete und die zunehmende Mobilität durch moderne Verkehrsmittelund die Medien konfrontiert die Papua jedoch aufs schärfste mit fremden Kultureinflüssen.

Im Ringen um den Erhalt der eigenen Identität spielt die Kultur neben der Religion bei den Papua eine ent-scheidende Rolle. Auf dem II. Papua-Kongress, der vom 21. Mai bis zum 4. Juni 2000 in Jayapura ab-gehalten wurde, befasste sich eine Kommission (Komi-si IV) besonders mit Kulturfragen. Betont wurde, dass

11 Siegfried Zöllner, in: Theodor Rathgeber (Hrsg.), Economic, Social and Cultural Rights in West-Papua, foedus-verlag, Wuppertal 2005, S. 42ff.

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die uralten Papua-Sprachen, von denen es 253 gibt12,neben der Lingua Franka, dem indonesisch-malaiischen Dialekt, besonderer Pflege bedürfen. Pa-pua-Kunst, wie etwa Holzschnitzereien, Malereien auf Baumbast, traditionelle Tänze und Musik, traditionelle Architektur, Kochkunst etc. müssen geschützt undgefördert werden. Auch die traditionellen Religionen bieten neben und in Verbindung mit dem Christen-tum und dem Islam wichtige Quellen der geistlichen Inspiration.

Unter Suharto wurde die Papua-Kultur als primitiv undrückständig eingestuft und sollten die Papuas nach javanischer Art zivilisiert werden. Hierzu wurden die sogenannten Adat-Räte (lembaga musyawarah adat)instrumentalisiert. Der Höhepunkt der Kulturverach-tung des Suharto-Regimes war die sogenannte OperasiKoteka, die am indonesischen Nationalfeiertag, den 17. August 1971, vom damaligen Gouverneur Acub Zainal durchgeführt wurde. Innerhalb eines halbenJahres sollte die gesamte Bevölkerung des Hochlandes zum Tragen von Textilkleidung verpflichtet werden. An mehreren Orten wurden riesige Pakete mit Klei-dung aus der Luft abgeworfen. Die Dani durften ihre Kreishauptstadt nicht mehr mit dem Penisköcher oder dem Netz bekleidet betreten. Da man Textilkleidung nicht kannte und sie folglich auch nicht wusch, er-krankten in kürzester Zeit sehr viele an Hautkrankhei-ten. Die „Operation Penisköcher“ scheiterte, wie so viele andere gut gemeinte, aber von kultureller Über-heblichkeit und Unwissenheit geprägte Zivilisierungs-versuche.

In den 1980er Jahren lehnte sich der Papua-Anthropologe Arnold Clemens Ap gegen die kulturelleÜberfremdung bzw. die von Indonesien betriebeneZerstörung der Kultur der Papua auf. Er dokumentierte die alten Papua-Sprachen und gründete Tanz- undMusikgruppen, die auf kreative und sehr selbstbewuss-te Weise alte Papua-Motive verarbeiteten und sozialkri-tisches Theater aufführten. Das war ein Dorn im Auge der Indonesier. Ende April 1984 wurde Arnold Ap von einer militärischen Sondereinheit kaltblütig erschossen. Den Geist von Mambesak, einer auf Ap zurückgehen-den Musik- und Theatergruppe, konnte jedoch nicht getötet werden. Ähnlich wie im süd-afrikanischenBlack Consciousness der 70er Jahre besann die Papua-Jugend sich darauf, dass ihre schwarze Haut und ihr krauses Haar besonders schön sind. Dr. Benny Giayschöpft seine Inspiration unter anderem aus der US-amerikanischen und südafrikanischen Black Theology.

12 Dirk Vlasblom, Papoea: Een geschiedenis, Mets & Schilt Amsterdam,2004.

Religionen

Fast 90% der indigenen Einwohner West Papuas sind Christen. Die größte und älteste Kirche ist die GKI di Tanah Papua, die aus der 1855 begonnenen Arbeit von deutschen und niederländischen Missionaren er-wachsen ist und heute unter einer indigenen Führung steht. Die zweitgrößte Religionsgemeinschaft ist die Römisch-Katholische Kirche, die fünf Bistümer in West Papua hat, davon ein Erzbistum in Merauke. Leider gibt es noch keinen Papua als Bischof. Überwiegend im Hochland gibt es zudem mehrere kleinere protes-tantische Kirchen, die seit den 1950er Jahren aus der Arbeit US-amerikanischer, niederländischer und austra-lischer Missionen entstanden sind. Neuerdings gibt es auch zunehmend Pfingstkirchen und charismatische Gruppierungen, die oft von westindonesischen Sied-lern geleitet und finanziert werden und im Gegensatz zu den etablierteren Kirchen, die in den letzten 10Jahren engagiert gegen die Schändung der Menschen-rechte protestiert haben, ausgesprochen unpolitischbzw. absolut jakartatreu zu sein pflegen.

In einigen Küstenregionen wie etwa Fakfak, Bintuni und der Paradiesvogelbucht gibt es schon sehr lange Papua islamischen Glaubens. Durch die Transmigrasiist in den letzten 30 Jahren die Zahl der Muslime in West Papua aber stark gestiegen. Jeder, der für das Transmigrasi-Programm in Anmerkung kommen woll-te, musste sich als Muslim ausgeben, selbst dann,wenn er Christ war. Nach erfolgreicher Übersiedlung entpuppten sich dann doch einige als Christen. Die Siedler haben es schwer, sich ihren Glaubensgeschwis-tern anzupassen. Das gilt für Christen und Muslime.Die Solidarität zwischen Papua-Muslimen und Papua-Christen ist oftmals stärker als zwischen Indigenen und Siedlern desselben Glaubens. Zurecht fordern führen-de Papua-Theologen wie Hermann Saud, SocratezYoman und Benny Giay, dass Siedler sich an die Pa-pua-Kultur anpassen und sich in die Papua-Kirchenintegrieren müssten, und nicht etwa umgekehrt. Völlig unakzeptabel ist es, dass Christen in den Streitkräften,die aus anderen Teilen Indonesiens stammen, nichtselten an brutalen Razzien in den Dörfern, an den Fol-terungen in den Gefängnissen und anderen Men-schenrechtsverletzungen teilnehmen.

Memoria Passionis Papua

Der Franziskaner und Menschenrechtler Theo van der Broek, der fast 30 Jahre lang in der Diözese von Jaya-pura gearbeitet und das Sekretariat für Gerechtigkeit und Frieden geleitet hat, hat in den Jahren nach dem Abtritt Suhartos regelmäßig Berichte über die Men-schenrechtssituation geschrieben und diese als „Me-moria passionis di Papua“ herausgegeben. Aus diesen und anderen Quellen und vor allem aus den vielen

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Berichten indigener Papua, wird deutlich, dass dieDemokratisierung der Reformasi-Ära nur kurzfristigund sehr bedingt zu einer Verbesserung der Lage der Papua geführt hat.

Im Februar 1999 besuchten 100 Repräsentanten des Papua-Volkes unter Leitung von Tom Beanal Präsident B. J. Habibi im Präsidentenpalast in Jakarta zu einem Dialog über die Zukunft West Papuas. Die Gäste über-raschten den Gastgeber mit der klaren Forderung nach Unabhängigkeit für West Papua. Der verblüffte Präsi-dent bat seine Gäste, sich das noch einmal zu überle-gen. Als das „Team 100“ nach Papua zurückkehrte, bekam es einen Heldenempfang. Dies löste eine ge-waltige Dynamik in ganz Papua aus. In kürzester Zeit entstand eine Bürgerwehr, die Satgas Papua, und er-richteten überwiegend junge Papua überall sogenann-te poskos, ein Begriff der sowohl mit Kommandopos-ten als auch mit Koordinierungsposten übersetzt wird und in diesem Fall auch beides beinhaltete. Als die poskos verboten werden sollten, wurden sie kurzer-hand als „Gebetsversammlungsstellen“ ausgegeben. Der nicht unumstrittene Ondofolo von Sentani, Theys Hiyo Eluay, ließ sich im November 1999 von seinen Anhängern zum großen Führer des Papua-Volkes aus-rufen. Am 1. Dezember 1999 ließ er in Anwesenheit von 5.000 Anhängern die Morgensternflagge, seit1961 das Symbol für ein freies Papua, hissen und das Hai Tanahku Papua singen.

In Jakarta war inzwischen der fortschrittliche Islamge-lehrte Abdurrahman Wahid Präsident geworden. Ihn beeindruckte der Freiheitswille der Papua. Er besuchte West Papua Ende 1999 und erlaubte den Namen Pa-pua (Bedeutung: kraushaarig) wieder anstelle des un-geliebten Namens Irian Jaya. Im Juni 2000 erlaubteWahid auch die Tagung des „II. Papua-Kongresses“.Die Morgensternflagge durfte als Kultursymbol neben der indonesischen Nationalfahne wehen. All dies wur-de von Wahids Nachfolgerin im Präsidentenamt, Me-gawati Sukarnoputri, wieder rückgängig gemacht. Die Morgensternflagge wurde verboten und friedlicheMenschenrechtler kamen ins Gefängnis. Papua-FührerTheys Eluay wurde im November 2001 von einer Spe-zialeinheit des Militärs ermordet.

Massive Menschenrechtsverletzungen gegenüber der Zivilbevölkerung wurden von der Nationalen Men-schenrechtskommission (Komnas HAM) untersuchtund bestätigt. Einige Fälle kamen sogar vor Gericht, aber mit wenigen Ausnahmen genossen die Angehöri-gen der Sicherheitskräfte Straflosigkeit und wurde der Verdacht einer Systematik der Menschenrechtsverlet-zungen abgewiesen. Eine 2003 erschiene Studie der Juristenfakultät der US-amerikanischen Yale University konnte zwar zahlreiche Hinweise für schwere Verbre-chen gegen die Menschlichkeit nachweisen, einen

Genozid am Volke der Papua aber nicht kategorisch belegen.13 Zuletzt setzte der neu eingerichtete, ständi-ge Menschenrechtsgerichtshof in Makassar zwei hohe Polizeioffiziere, die im Dezember 2000 einen Vergel-tungsangriff auf durch indigene Papuas bewohnteStudentenheime in Abepura befahlen und willkürliche Festnahmen, systematische Folterungen und vorsätzli-che Tötungen zu verantworten haben, auf freien Fuß, weil das Gericht sich nicht für diesen Fall zuständigsieht.

Bei den Wahlen 2004 wählten die Papuas mehrheitlich Susilo Bambang Yudhoyono zum Präsidenten. Er ver-sprach in seiner Antrittsrede vom 20. Oktober 2004 eine neue Ära der Rechtsstaatlichkeit auch für WestPapua. Er gab zu, dass die „Schwestern und Brüder“ in Aceh und Papua in Angst und Schrecken lebten. Jetzt werde seine Regierung die Konflikte auf demokratischeWeise lösen. Das gleiche betonte er auch in seiner Rede vom 16. August 2005 zum Nationalfeiertag. Der Kompromiss, auf den der Präsident setzt, ist das Ge-setz zur Sonderautonomie für West Papua, das Mega-wati nicht umgesetzt hatte. 14Allerdings scheint sogar der „kluge General“ nichts gegen das größte Problem West Papuas ausrichten zu können: Die Sicherheit s-kräfte.

Militär

Die schwerste Geißel der Papua sind die indonesischenSicherheitskräfte. Das gilt vor allem für das Militär, das sich in Papua als Retterin der Einheit der Republik pro-filieren will und massiv in illegale Geschäfte verwickelt ist. In einer rezenten Studie der Londoner Environmen-tal Investigation Agency15, wird die Beteiligung des Militärs am illegalen Handel mit dem wertvollen und unter Naturschutz stehenden Merbau-Tropenholz be-legt. Regelmäßig unternehmen Sicherheitskräfte soge-nannte penyisiran, wörtlich „Durchkämmungsaktio-nen“ oder sweepings, wobei nach Separatisten ge-sucht wird. Dabei kommen Rassismus und Menschen-verachtung gegenüber den Papua ans Tageslicht. Die Soldaten dringen in die Wohnhäuser ein, zerstören und brennen, stehlen die Süßkartoffeln und erschie-ßen die Schweine, beleidigen, vertreiben und foltern die Menschen. Öfter werden sogenannte Separatisten einfach hingerichtet, wie zum Beispiel der Pfarrer Elisa Tabuni in Mulia Puncak Jaya im November vergange-nen Jahres. Nach Angaben des Präses der Baptistenkir-

13 Indonesian Human Rights Abuses in West Papua: Application of the Law of Genocide to the History of Indonesian Control A paper pre-pared for the Indonesia Human Rights Network by the Allard K. Lowen-stein International Human Rights Clinic Yale Law School, ElizabethBrundige et al, Yale, April 2004.14 siehe die Studie: Autonomy for Papua: Opportunity or Illusion? Pa-pers presented at the conference “Autonomy for Papua – Opportunity or Illusion”, June 4th and 5th 2003, Berlin, Germany (Hrsg.: FES).15 EIA / Telapak, The Last Frontier. Illegal logging in Papua and China’s Massive Timber Theft, 2005.

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che, Pfarrer Socratez Yoman, sollen die Militärs sich diese Aktionen sogar aus den Geldern für die Sonder-autonomie bezahlen lassen.

Das Militär verdient auch kräftig an den Schutzgel-dern, die es für die Bewachung des internationalenKupfer- und Gold-Bergbauunternehmens FreeportMcMoRan in Freeport16 kassiert. Etwa 5 Millionen Dol-lar, so musste die Geschäftsführung auf der Aktionärs-versammlung 2003 zugeben, zahle das Unternehmen jährlich direkt an das Militär. Und das, obwohl Free-port sowieso schon der größte Steuerzahler Indone-siens ist.

Selbstverständlich versuchen die Sicherheitskräfte auch etwas von den zu erwartenden Gewinnen des Erdgas-geschäftes von BP in der Bintunibucht17 abzuschöpfen. BP versucht das durch eine eigene Community Based Security zu vermeiden, arbeitet aber stark mit der Poli-zei zusammen. Vieles deutet darauf hin, dass BP spä-testens ab 2007, wenn die Produktion anlaufen soll, ebenfalls in die klebrigen und undurchschaubarenGewebe der Korruption verstrickt werden wird. Die größten Opfer werden aber wieder einmal die Papua sein.

Zukunftsperspektiven

Nicht wenige Papua sehen nur noch eine Möglichkeit, als Volk in Würde und Freiheit zu leben: die Unabhän-gigkeit von Indonesien. Einige wenige wie die Kämpfer der OPM sind sogar zur Gewaltanwendung bereit.Realistisch gesehen ist dies aber keine verantwortliche Option. Militärisch haben die zum großen Teil mitPfeil und Bogen ausgerüsteten Papua-Krieger keineChance gegen das indonesische Militär. Im Gegenteil, die liefern nur eine willkommene Rechtfertigung für die weitere Militarisierung West Papuas. Viel sinnvoller ist die seit über drei Jahren eingeschlagene Strategie der Religionen eines gewaltlosen Widerstandes gegen Willkür, Entmündigung und Ausbeutung. Diese Stra-tegie, von evangelischen und katholischen Christeninitiiert, heißt „Papua, Land des Friedens“ und setzt

16 1967 schlossen der damalige indonesische Präsident Suharto und das US-amerikanische Konzern Freeport McMoRan einen Vertrag zur Förde-rung von Kupfererz und Gold auf dem 4000 Meter hohen Grasberg in der Region Timika. Es werden jährlich etwa 1,5 Milliarden Pfund Kupfer und 2,6 Millionen Unzen Gold gefördert. Die Schattenseite: Pro Tag gelangen weit über 100.000 Tonnen Abraum in das Aghawaghon-Aijkwa-Flusssystem. Über 130 Quadratkilometer Bergland und trop i-scher Regenwald, die Heimat der indigenen Amungme und Kamoro,sind dadurch zerstört worden. Das indonesische Militär zeigt starke Präsenz, um die über 100 Kilometer lange Freeport-Anlage vor Terror-anschlägen zu schützen. 17 Seit über drei Jahren bereitet BP als größter Anteilseigner am „Tang-guh LNG Project“ in West Papua die Erschließung des größten Gasfe l-des Indonesiens vor. Ab 2007/2008 sollen in der Bintuni-Bucht, an der „Kehle des Vogelkopfes“, jährlich 7,6 Millionen Tonnen Flüssiggasgefördert und nach China, Südkorea, Mexiko und den USA exportiert werden. BP wäre dann nach Freeport der größte Steuerzahler der Re-publik Indonesien.

bei der Entwicklung einer Kultur des Friedens in allen Lebensbereichen an.

Vor gut zwei Wochen sprach ich mit einem hohenBeamten des Außenministeriums in Jakarta. Ich ver-suchte ihm zu erklären, warum die meisten Papua kein Vertrauen mehr in die Politik Jakartas haben. Sie sind einfach immer wieder enttäuscht worden. Er erwider-te, dass Indonesien noch nie soviel Geld in diese Regi-on investiert habe wie in den letzten Jahren. Ich hielt dagegen, dass sich für die allermeisten Papuas nichts verbessert habe. Die Milliarden aus Jakarta fließen in die Taschen korrupter Landräte und Parlamentarier.Der Aufbau der Infrastruktur dient fast ausschließlichden Siedlern, westindonesischen Beamten und Mili-tärs. Eine gefährliche Polarisierung zwischen Indigenen und Siedlern bahnt sich an18. Die Papua fühlen sich zurecht in ihrer Existenz als Volk bedroht.

Was also würde ich der indonesischen Regierung emp-fehlen, fragte mich der hohe Regierungsbeamte. Mei-ne kurze Antwort lautete: „Einen offenen Dialog mit den anerkannten Führern West Papuas, einschließlich des Dewan Adat Papua und des Papua-Präsidiums und möglichst unter internationaler Beobachtung.“ Daskönnte, wie unlängst in Aceh, die Tür für eine gerech-tere und friedlichere Zukunft West Papuas öffnen.

18 Seit dem Ende des Bürgerkrieges in den benachbarten Molukken, also seit etwa drei Jahren gibt es auch immer wieder Anzeichen dafür, dass islamistische Laskar Jihad in Papua eindringen, Hass predigen undKämpfer ausbilden. Auch von christlicher Seite gibt es ve rgleichbares:Der ehemalige pro-indonesische Milizenführer Eurico Gutteres hat in Sorong und Timika bewiesenermaßen Männer rekrutiert, die bereitsind, gegen sogenannte Separatisten, die für die politische Unabhän-gigkeit West Papuas agieren, mit Waffengewalt vorzugehen. (FrontPembela Merah Putih / FPMP; Radar Timika, 12. November 2003).

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Der heutige Staat Indonesien umfasst die GebieteSüdostasiens, die früher unter niederländischer Koloni-alherrschaft standen. Es handelt sich dabei um eine eher „zufällige“ Zusammenlegung von Gebieten, die über keine ethnischen, kulturellen, religiösen, sprachli-chen oder gar nationalen Gemeinsamkeiten verfügten. Unter diesen Kriterien betrachtet wären Zusammen-schlüsse von Sumatra mit West-Malaysia oder von Kalimantan mit Ost-Malaysia (Sabah und Sarawak)sicher näher liegender gewesen als ein Staatsgebilde, das nach Gemeinsamkeiten zwischen Aceh und Flores, zwischen Mentawai und Surabaya sucht.

Die „Nationale Bewegung“ Indonesiens geht auf die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Damalsformierte sich zum ersten Mal eine regional übergrei-fende Freiheitsbewegung gegen die holländischenUnterdrücker. Die „nationalen“ Ziele wurden dieser Bewegung aufgepflanzt, um den Zusammenhalt zu stärken.

Ohne den Unabhängigkeitskampf und vor allem die großen Opfer, die dabei erbracht wurden, schmälern zu wollen, wage ich zu behaupten, dass der Erfolg dieses Kampf letztendlich wohl in engem Zusammen-hang mit dem Ende des 2. Weltkrieges und der da-durch entstandenen völlig neuen Weltordnung gese-hen werden muss. Eine Entwicklung, die Indonesien mit zahlreichen anderen ehemaligen Kolonien in Asien und Afrika gemeinsam hat. Viele der hier vorgetrage-nen Gedanken mögen daher in der ein oder anderen Form auch auf eine ganze Reihe anderer Staaten auf den beiden genannten Kontinenten in ähnlicher Form zutreffen. Diese Gemeinsamkeiten herauszuarbeitenund zu einer gemeinsamen politischen Kraft gegen-über den beiden Blockmächten zu formen, war übri-gens ein Leitmotiv der Einberufung der Asien-AfrikaKonferenz in Bandung, die 1955 stattfand.

Die Entstehungsgeschichte dieser jungen unabhängi-gen Staaten ist völlig verschieden zu der über Jahr-hunderte gewachsenen Genese der als „klassischeNationalstaaten“ angesehenen Staaten Mitteleuropas.

In Südostasien erfüllen wohl bestenfalls Thailand, das frühere Königreich Siam, welches als einziges Land der Region vom Kolonialismus verschont blieb, und viel-leicht mit einigen Einschränkungen das heutige Kam-bodscha als Nachfolgestaat des früheren Khmer-Reiches in Ansätzen die Charakteristika, die diesen„Nationalstaaten“ zugeschrieben werden.

Insbesondere die Staaten Insel-Südostasiens mit ihrer extrem hohen Diversität von Ethnien und Kulturenerfüllten wohl kaum ein einziges der Kriterien, um sich innerhalb kürzester Zeit – in Indonesien lagen wenigerals 10 Jahre zwischen Beginn des Pazifikkrieges bis zum endgültigen Abzug der Niederländer und der internationalen Anerkennung 1949 – zu einem Natio-nalstaat zu mausern. Einziges identitätsstiftendes Ele-ment Indonesiens in seiner Gesamtheit ist die ehema-lige Kolonisierung durch die Niederlande. Es ist viel-leicht psychologisch bedeutsam, dass dieser eine iden-titätsbestimmende Faktor keine eigene Errungenschaft, sondern Ergebnis von Jahrhunderte langer Fremdbe-stimmung war. Nicht einmal der Name „Indonesien“ist aus der eigenen Kultur, Sprache oder Geschichte gewachsen. Es war ein Brite, der Ethnologe J. Logan, der diesen Begriff 1850 prägte.

Man war Opfer derselben Unterdrücker. Aber reicht das, um eine Nation so immenser geografischer Aus-maße wie Indonesien zu begründen? Selbst diese Ge-meinsamkeit als Opfer desselben Kolonialsystems ist hinterfragbar, denn der Grad des Leidens unter den Holländern war in den verschiedenen Regionen recht unterschiedlich ausgeprägt – unter anderem in Ab-hängigkeit von der jeweiligen Intensität der Macht-ausübung, der unterschiedlichen wirtschaftlichen Be-deutung der Gebiete und nicht zuletzt der Frage, ob sich die traditionellen Führer gegen die Kolonisatoren auflehnten oder mit diesen kollaborierten. Die Koloni-algeschichte West-Javas ist eine andere als die der Mo-lukken.

Aber worin liegt eigentlich die Bedeutung von natio-naler Einheit und Identität? Besteht ein internationaler

EINHEIT IN VIELFALT: MISSION IMPOSSIBLE?

WIE WURDE DIE PANCASILA UMGESETZT, ABER AUCH MISSBRAUCHT?EIN BLICK AUF DIE KÄMPFE UND DAS ZUSAMMENWACHSEN DER VOLKSGRUPPEN IM INDONESISCHEN STAAT

Alex Flor

Alex Flor ist Mitgründer der Menschenrechtsorganisation Watch Indonesia! mit Sitz in Berlin. Der Ingenieur für Um-welttechnik arbeitet nach wie vor bei Watch Indonesia! und befasst sich hauptsächlich mit nationaler Politik und De-mokratieentwicklung in Indonesien.

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Druck dahingehend, dass nur Nationalstaaten als„richtige“ Staaten anerkannt werden? Oder gibt es möglicherweise einen Komplex seitens der unabhän-gig gewordenen Kolonien, der dazu führt, sich alsNationalstaat beweisen zu müssen? Den indonesischen Nationalismus von Sukarnos kämpferischen Slogans bis zu den andauernden Konflikten um Aceh und Pa-pua alleine damit begründen zu wollen, griffe zu kurz. Denn es gibt durchaus ganz pragmatische Gründe, die ein gewisses Maß an innerer Einheit notwendig ma-chen:

- Zum einen die Frage der Regierbarkeit. Ohne ein Mindestmaß an gemeinsamen Werten, denen sichBeamte verpflichtet fühlen, ist das Funktionieren der staatlichen Verwaltung nicht zu gewährleisten. Der gemeinsamen Sprache kommt hier ein besondererStellenwert zu. Nur ein reiches Land wie die Schweiz mag sich den Luxus von drei Nationalsprachen leisten können. Indonesien wäre wohl zweifelsohne überfor-dert gewesen, alle ca. 250 im Archipel gesprochenen Sprachen gleichberechtigt zu National- und Verwal-tungssprachen zu erheben. Ich komme darauf gleich noch einmal zurück.

- Zu große Diversität macht den Staat verwundbargegenüber Sezessionsbewegungen und Spaltungsver-suchen seitens äußerer Mächte. Indonesien erlebte in den ersten Jahren der Republik gleich mehrere solcher Versuche. Nachdem es den Niederlanden nicht gelun-gen war, ihre Kolonie nach dem 2. Weltkrieg mit Waf-fengewalt zurück zu gewinnen, versuchten sie durch die Bildung der sog. Vereinigten Staaten von Indone-sien (Republik Indonesia Serikat - RIS) mehrere nur locker miteinander verbundene Entitäten zu schaffen, die leicht untereinander auszuspielen gewesen wären.Der Versuch wurde in Indonesien als „Teile- und Herr-sche-Politik“ gewertet, mit der Folge, dass der Begriff „Föderalismus“ bis heute als Unwort gilt.

In den 50er Jahren leisteten sich auf Sumatra und Su-lawesi militante islamische Bewegungen bewaffneteKonflikte mit der Republik. Wie spätestens mit demAbschuss eines US-Militärflugzeuges als bewiesen galt, wurden diese Konflikte von der CIA unterstützt, um den linkspopulistischen Anti-Imperialisten Sukarno zu schwächen.

Sukarnos kämpferische anti-imperialistische Sloganshatten daher durchaus ihre realen Hintergründe. Die jungen Habenichtse mussten sich gegen die reichen Staaten der ersten Welt behaupten. Ein Kampf von David gegen Goliath, der nur durch einen hohen Grad an Motivation und Einigkeit zu bestehen war. Ob-gleich das Ausland seine Interessen heute mit ganz anderen Mitteln als damals wahrnimmt, erzeugt doch jede noch so kleine Äußerung eines Ausländers zu den

inneren Problemen Indonesiens noch immer Misstrau-en und sofortige Abwehrhaltung.

Wenn ich Slogans wie „Einig Vaterland von Sabang bis Merauke“ höre, stellt sich bei mir als Deutscher un-weigerlich die Assoziation mit „von der Maas bis an die Memel“ ein. Nichts wäre jedoch Verständigung und Dialog abträglicher als wenn ich meinen diesbe-züglichen Empfindungen freien Lauf ließe. Und, leise zähneknirschend, versuche ich zu akzeptieren, wel-chen ideologischen Stellenwert die Herrschaft Indone-siens über Merauke – und damit ganz Papua - hat.

Der Staatsgründer und erste Präsident Sukarno, der bisheute hohe Popularität genießt, suchte nach meiner Interpretation die Gegensätze zu überwinden, indem er (Formel-) Kompromisse suchte. Offenkundig war es damals noch kein Sakrileg, den Mangel an nationaler Identität festzustellen. Denn Sukarno sah seine wesent-liche Aufgabe nach der Unabhängigkeit im „nationbuilding“, also dem Aufbau einer Nation. Streng ge-nommen fallen etliche Maßnahmen Sukarnos, dieseiner Politik des „nation building“ zugeschriebenwerden, eigentlich unter den Begriff „state building“.Als politologischer Laie wage ich nicht zu beurteilen, ob Sukarno selbst ungenügend zwischen „Staat“ und „Nation“ unterschied oder ob diese Begriffsverwirrung einigen seiner Biographen zuzuschreiben ist.

Wie Robert Cribb treffend bemerkte, begründete sichdie Vereinigung der unterschiedlichen Regionen zu einer Nation nicht nur auf der Existenz eines gemein-samen Gegners, sondern vor allem darauf, dass ein geeintes Indonesien Fortschritt und Entwicklung ver-sprach (Robert Cribb, ‘Nation: Making Indonesia’, inDonald K. Emmerson (ed.), Indonesia Beyond Suharto: Polity, Economy, Society, Transition. Armonk, NewYork: M.E. Sharpe, 1999, pp.3-38). Daraus lässt sich ableiten, dass die Einheit nicht ein anzustrebender Endzustand, sondern vielmehr der Weg zu höherenZielen wie Fortschritt und Entwicklung sein sollte.

Erst später, spätestens nach der blutigen Machtergrei-fung Suhartos 1965, wurden der Aufbau und die Ein-heit der Nation (des Staates?) als abgeschlossen ange-sehen, und alle, die auf mangelnde Einheit des Staates (der Nation?) aufmerksam machten, galten seitdem als Feinde der Regierung, die mit Verfolgung rechnenmussten.

Freilich beschränkten sich die Kompromisse Sukarnos mitunter auf wohlklingende Worthülsen. Es mag der Versuch gewesen sein, dialektisch aus These und Anti-these eine Synthese zu schmieden. Doch wenn sich Gegensätze nicht miteinander verbinden ließen, wur-den sie unter neuen Begrifflichkeiten kurzerhand zu einer Einheit zusammengeschmiedet, die in Wirklich-

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keit keine war. Der vielleicht waghalsigste Versuch, eine solche Einheit herzustellen, war der Begriff NASA-KOM. Er stand für Nationalismus, Glaube (Agama)und Kommunismus, die drei seinerzeit dominantengesellschafts- und parteipolitischen Strömungen. Über alle ideologischen Gegensätze hinweg versuchte Su-karno diese drei Strömungen zu einem gemeinsamen Ganzen zu definieren. Ein politischer Balanceakt, der schließlich fatal scheitern sollte und in einem Blutbad endete. 1965 übernahm Suharto die Macht und Hun-derttausende, wenn nicht Millionen tatsächliche und vermeintliche Anhänger der Kommunistischen Partei (PKI) wurden ermordet.

Die Staatsphilosophie Pancasila

Bhinekka Tunggal Ika – Einheit in der Vielfalt war sozu-sagen die Mutter all der genannten Kunstbegriffe und die Staatsphilosophie Pancasila ihre Durchführungs-verordnung.

1945 ursprünglich von Präsident Sukarno formuliert, sollte die Pancasila (sanskrit: die fünf Säulen) als ge-meinsame Vision die äußerst unterschiedlichen Bevöl-kerungsgruppen Indonesiens zusammenbinden. Unter Suharto ist sie später zu einem Instrument der Gleich-schaltung geworden, dem alle gesellschaftlichenGruppen und Organisationen gesetzlich verpflichtetwaren. Die Pancasila steht für die integralistischeStaatsidee, nach der die indonesische Gesellschaft ein Kollektiv bildet, in dem das Individuum der Gemein-schaft untergeordnet ist. Gesellschaftliche Harmonie soll die politische Kultur Indonesiens bestimmen, wo-bei reale Interessenskonflikte geleugnet und dem„westlich-liberalen“ Individualismus zugerechnet wer-den.

Die fünf Säulen der Pancasila sind:

1. der Glaube an einen allmächtigen Gott,2. Humanität,3. nationale Einheit,4. auf Konsens basierende Demokratie und5. soziale Gerechtigkeit.

Da ich hier vor einem evangelischen Forum spreche, möchte ich mich exemplarisch auf die erste Säule –der Glaube an einen Gott – beschränken.

Sukarno hatte sich massiv dem Bestreben islamischer Kräfte widersetzt, die sog. Jakarta-Charter (PiagamJakarta) in die Verfassung aufzunehmen, die den Islam für alle Muslime zur verbindlichen Rechtsgrundlagegemacht hätte. Sukarno wollte nach meiner Interpre-tation die Gleichberechtigung aller Religionen, ganz im Sinne von Bhinekka Tunggal Ika. Der Glaube an

einen Gott sollte ein verbindendes Element sein. Indo-nesien sollte keine Staatsreligion haben, aber aus-drücklich auch kein säkularer Staat werden, wie es im Westen oft fälschlich ausgelegt wird.

Fünf vorhandene Religionen wurden gleichberechtigt anerkannt: Islam, protestantisches Christentum(Kristen), Katholizismus (Katolik), Buddhismus undHinduismus. Animistische Religionen von Ureinwoh-nern und nicht oder nur in marginalem Umfang in Indonesien vorhandene Religionen wie OrthodoxesChristentum, Judaismus, Zeugen Jehovas u.v.a. wur-den schlicht „vergessen“. Obgleich in der chinesisch-stämmigen Minderheit weit verbreitet, wurde auchder Konfuzianismus nicht als Religion anerkannt. Mög-licherweise, weil man den Konfuzianismus eher alseine philosophische Überzeugung statt als Religion interpretierte (ich weiß es nicht und bin für jeden Hinweis dankbar, AF). Auch zwischen den großen is-lamischen Strömungen des sunnitischen und schiiti-schen Glaubens wurde nicht unterschieden, obwohl diese – ich bin kein Theologe – nach meiner Auffas-sung mindestens so eigenständige Glaubensrichtun-gen sind wie evangelisches und katholisches Christen-tum. Aber Schiiten gab es in Indonesien nicht.

Sind die Bahai’i eine islamische Sekte oder eine eigen-ständige Religion? Unter Suharto waren sie verboten,jetzt werden sie still schweigend geduldet. Um die Ahmadiyah brennt gerade ein heftiger Streit mit tätli-chen Übergriffen, Fatwas (religiösen Urtei-len/Weisungen) usw., weil die Frage ungelöst ist, ob es sich um eine eigene Religion oder um eine islamische Sekte handelt, die gegen die konventionelle Interpre-tation des Islam verstößt, da sie einen nach Moham-med geborenen Propheten verehrt. Solche erst 60 Jahre später aufbrechenden Konflikte sind Anzeichen dafür, dass die erste Säule der Pancasila nur ein prag-matischer Formelkompromiss war, dessen religions-theoretischer Tiefgang eher zu Wünschen übrig ließ.

Unter Suharto erfuhr diese Säule der Pancasila eine weit reichende Neuinterpretation: der „Glaube anEINEN Gott“ wurde zur Verpflichtung eines jedenStaatsbürgers. Dies zielte insbesondere auf die chinesi-sche Minderheit, die zu größeren Teilen Konfuzia-nisten waren, und die Kommunisten, die fälschlicher-weise oft als „gottlose“ Atheisten dargestellt wurden. Die ursprünglich integralistische erste Säule der Panca-sila wurde so zu einer Waffe umgeschmiedet, mit der bestimmte Gruppen von der Gesellschaft ausgeschlos-sen werden konnten. Neben Indonesiern chinesischer Abstammung und vermeintlichen PKI-Anhängern,hatten spätestens mit dieser Definition auch die indi-genen Völker ein Problem am Hals, die bislang Ani-misten waren. Frau Kuhnt-Saptodewo hat in diesem Zusammenhang sehr interessante Studien gemacht,

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die beschreiben, wie und warum ein Dayak-Volk auf Kalimantan den Hinduismus annahm.

Bahasa Indonesia – ein Volk, eine Sprache

Ein sehr wichtiger Schritt zur Verwirklichung von Ein-heit in der Vielfalt und nation building auf säkularerEbene war die Einführung von Bahasa Indonesia als Nationalsprache. Der Begriff „Bahasa Indonesia“ wur-de auf dem 2. Jugendkongress von 1928 geprägt. Der Leitspruch war „Satu nusa, satu bangsa, satu bahasa!“(Ein Land, ein Volk, eine Sprache!). Eine einzige Ver-kehrssprache, die in sämtlichen Schulen gelehrt wird, in der Gesetze und Verordnungen geschrieben werden und die von nahezu sämtlichen Medien (Presse, Rund-funk, Fernsehen) verwendet wird.

Die Hunderten von lokalen Sprachen sind deswegen weder verboten noch in ihrer Existenz gefährdet. Fast überall im familiären Umfeld werden diese Lokalspra-chen nach wie vor gesprochen, z.T. auch in den ersten Schuljahren verwendet. Und zumindest die großenSprachen wie Javanisch, Sundaisch, Balinesisch, Mi-nangkabau, Batak oder Acehnesisch – um hier nur einige zu nennen - spielen nach wie vor auch im kultu-rellen Leben eine tragende Rolle. Wayang-Vorführungen in Yogyakarta werden selbstverständlich auf Javanisch abgehalten, während ein Dalang auf Bali das Mahabharata-Epos ebenso selbstverständlich auf Balinesisch inszeniert.

Die Wahl von Bahasa Indonesia als Nationalsprache war ein Glücksgriff. Eigentlich dem Malaiischen ent-lehnt, wurde diese Sprache von praktisch keinem der indonesischen Völker als Muttersprache gesprochen, aber als weit verbreitete Verkehrs- und Handelssprache von sehr vielen verstanden. Die Einführung der größ-

ten einheimischen Sprache – Javanisch – hätte die oh-nehin von vielen kleineren Völkern misstrauisch beäug-te Dominanz der Javaner zu deutlich betont und die junge Republik damit vor eine Zerreißprobe gestellt. Und Niederländisch, die ebenfalls weit verbreiteteSprache der Kolonialherren, kam wohl aus ideologi-schen Gründen nicht in Betracht.

Die Einheit in der Vielfalt der Rechtssysteme

Der Vielfalt der Kulturen und Religionen sollte auch im Rechtssystem Rechnung getragen werden. Formal gilt in Indonesien neben dem staatlichen Recht auch reli-giöses und traditionelles (Adat-) Recht. Kleinere Strei-tigkeiten im Dorf müssen nicht vor einem Amtsgericht ausgetragen werden, sondern können nach lokalem Brauch von Adat-Führern gerichtet oder geschlichtet werden. Die durch die Existenz der drei Rechtssysteme zum Ausdruck kommende Achtung vor Religion und Kultur führt freilich nicht immer zu mehr Gerechtig-keit. Bei Scheidungsangelegenheiten wird ein muslimi-scher Mann sehr wahrscheinlich das Religionsgericht anrufen, während die Frau sich ein bisschen bessere Chancen vor einem zivilen Gericht erhoffen könnte.

Die größte Ungleichheit in der vorgeblichen Gleich-wertigkeit ist jedoch das Manko der meisten traditio-nellen Rechtssysteme, dass sie nicht über kodifiziertes Recht, also geschriebene Gesetze und vor allem Ur-kunden u.dgl. verfügen. Bei der in Indonesien wohl häufigsten und elementarsten Form von Rechtsstrei-tigkeiten, dem Konflikt um Landrechte, sind traditio-nelle Gemeinschaften und insbesondere indigene Völ-ker daher den Mühlen der staatlichen Justiz meist hilf-los ausgesetzt.

Der Einflussbereich von Majapahit

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Verordnete Einheit - das Ende der Vielfalt

Während Sukarno versuchte, Unterschiede zu über-winden und Gemeinsamkeiten herzustellen, sah das Suharto-Regime diese Entwicklung offenbar als abge-schlossen an. Nation building war kein Thema mehr. Suharto versuchte eher den Eindruck zu vermitteln, die indonesische Nation habe es schon immer gegeben. Gewagte historische Verweise begründeten die territo-riale Ausdehnung Indonesiens nun mit der Ausdeh-nung des Majapahit-Reiches im 14. Jahrhundert oder im Falle von Papua mit der Ausdehnung des Sultanatesvon Tidore (siehe Karten). Zunehmend wurde der Beg-riff der nationalen Einheit auf die territoriale Einheit reduziert, während an Stelle der Einheit des Volkes die Vereinheitlichung des Volkes trat.

Wertet man Äußerungen von Politikern und Militärs inder indonesischen Presse aus, stellt sich der Eindruck ein, bei dem Konflikt um Aceh ginge es nur um die Beherrschung des Territoriums und der darauf zu fin-denden natürlichen Ressourcen. Auf das Schicksal der Menschen in Aceh, die ja insbesondere nach indonesi-scher Lesart indonesische Staatsbürger sind, wird nur selten verwiesen. Abertausende wurden zu Opfern von Repression und militärischen Auseinandersetzungen. Der Gedanke, wie man den Konflikt entschärfen könn-te, indem man den Menschen in Aceh das Gefühlvermittelt, sie seien in ihrer Andersartigkeit gleichbe-rechtigte Staatsbürger, kam nur den wenigsten. Bhi-

nekka Tunggal Ika wurde auf dem Feld erschossen.

Vereinheitlichung wurde unter Suharto systematisch in praktisch allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens vollzogen. Die Vielfalt der politischen Parteien wurde auf eine Einheitspartei und zwei zwangsvereinigteBlockflötenparteien (PDI als Zusammenschluss natio-naler und christlicher Parteien und PPP als Vereinigung der islamischen Parteien) „vereinfacht“, wie es soschön hieß. Es gab eine Einheitsgewerkschaft, einen Einheitsjournalistenverband usw. usf. – ein System,welches dem angeblich so verhassten real existierende Sozialismus in vieler Hinsicht nicht unähnlich war. Wer sich außerhalb dieser Einheitsorgane zu betätigen ver-suchte, geriet schnell unter Druck. Es drohten Gefäng-nis und deutlich Schlimmeres.

Chancengleichheit, gerechte ökonomische Verteilung usw. wurde als gegeben angesehen. Die strukturelleBenachteiligung bestimmter Gruppen, ja ganzer Völ-ker, wollte Suharto nicht sehen. Kritische Stimmen gab es nur wenige. Nicht nur aus Angst. Denn ein Spezifi-kum marginalisierter Gruppen ist ja unter anderem, dass sie Schwierigkeiten haben, sich öffentlich zu arti-kulieren. Und die wenigen Privilegierten unter ihnen, die ausreichend Zugang zu Bildung haben, werden von ihren eigenen Leuten nicht unbedingt als authen-tisch oder repräsentativ angesehen, da sie der Elite zu nahe stehen. Tatsächlich wurden einige von ihnenbegierig von der Elite aufgesogen und dienten fortan als Alibifiguren. So wenig man von einer ostdeutschen Kanzlerin auf die Berufschancen für Jugendliche in den

Der Einflussbereich des Sultanates von Tidore

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neuen Bundesländern schließen kann, so wenig konn-te man von einem prominenten Nachrichtensprecheraus Papua auf die Bildungschancen in Wamena schlie-ßen.

Der inoffizielle Maßstab, an dem sich alle zu messen hatten, waren die Verhältnisse auf Java. Aber leider sind es die Bewohner Javas (Javaner, Sundanesenusw.), die sich dessen am wenigsten bewusst sind. Sie reagieren mit völligem Unverständnis, wenn ihnenIgnoranz oder diskriminierende Ansichten vorgeworfen werden, so wie ein unaufgeklärter Mann abstreiten wird, er bevormunde seine Ehefrau. Diese Unaufge-klärtheit macht einen Interessenausgleich nicht einfa-cher.

Umgekehrt sind natürlich auch die Bewohner der ab-gelegenen Regionen nicht immer Meister der differen-zierenden Analyse. In Papua hegen viele indigene Ein-wohner Vorbehalte bis hin zu offenem Hass auf die „Javaner“, die sich dort breit machen. Dabei handelt es sich um Migranten, die teils im Rahmen von Regie-rungsprogrammen, teils auf eigene Faust nach Papua umgesiedelt sind. Nicht wenige dieser „Javaner“stammen von den Molukken oder aus Sulawesi. Ähn-lich in Aceh: über diverse Listen im Internet erhalte ich von dort in einiger Regelmäßigkeit Pamphlete mitHasstiraden auf die „Indonesisch/Javanischen Neoko-lonialisten“. Diese behandeln dann des öfteren einen aktuellen Zwischenfall, an dem ein Militärkomman-dant beteiligt war, dessen Name ihn eindeutig als Ba-tak ausweist.

Festzuhalten bleibt, dass unter Suharto der innere Zu-sammenhalt Indonesiens nicht gestärkt, sondern ge-schwächt wurde. Zahlreiche Konflikte wurden gesät, die aber erst später, nach Überwindung des repressi-ven Systems zum Ausbruch kommen sollten.

Mit seinem Verzicht auf die Fortsetzung des nationbuilding versäumte es Suharto neue identitätsschaf-fende Werte zu schaffen. Eine Zeit lang gelang es ihm durch eine scheinbar erfolgreiche Wirtschafts- undEntwicklungspolitik diesen Mangel zu übertünchen.Aber spätestens nachdem „sein“ Wirtschaftswunder 1997/1998 wie eine leere Seifenblase zerplatzte, siehtsich Indonesien einer Identitätskrise ausgesetzt. „Aufwas sollen wir als Indonesier stolz sein?“, lautet die unausgesprochene Frage.

Auf der Suche nach der verlorenen Einheit – die Ära nach Suharto

Bestimmte dubiose Gestalten wussten das Machtvaku-um und die allgemeine Orientierungslosigkeit nachSuhartos Rücktritt schnell für ihre Zwecke zu nutzen.

Sie boten neue Identifikationsmuster an, die z.T. auf ethnischen, z.T. auf religiösen und anderen Zugehö-rigkeiten basierten. Sie alle funktionierten nach dem einfachen Prinzip der Ausgrenzung: Wir gegen die anderen. Diese destruktive Identitätsfindung dürfteeine wesentliche Ursache der blutigen Auseinaderset-zungen auf den Molukken (Christen gegen Muslime), in Zentralsulawesi (dito) und in West-Kalimantan(Dayak gegen Maduresen) gewesen sein. Sie spielten eine Rolle bei den anti-chinesischen Pogromen in Ja-karta und Solo 1998, ebenso wie sie ihren Beitrag zum Erstarken radikaler religiös orientierter Gruppen (nicht nur Muslime!) und krimineller Banden (preman) leiste-ten. Nicht zuletzt spielten und spielen sie eine Rolle in den Separationskonflikten um Aceh und West-Papua.(Auf die besonderen Umstände des Konfliktes in Ost-timor möchte ich hier bewusst nicht eingehen, da dies den Rahmen sprengen würde).

Der drohende Verlust von Teilen des Staatsgebietes beschleunigte die Dynamik, und der nahe liegendeVerweis von politischen Beobachtern auf vergleichbare Entwicklungen nach dem Zerfall Jugoslawiens – DrohtIndonesien die Balkanisierung? (mea culpa! Auch ich habe so getitelt) – taten ihr übriges. Die Nationalisten reagierten mit Durchhalteparolen und erlagen derVersuchung, die Konflikte mit harter Hand lösen zuwollen, was den Unabhängigkeitsbestrebungen natür-lich nur neuen Auftrieb gab. Ein schwer zu durchbre-chender Teufelskreis.

Eine im Januar veröffentlichte Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sich nur 39% der Bevölkerung in erster Linie als Indonesier identifizieren. 49% identifizierensich in erster Linie mit ihrer lokalen, ethnischen oder religiösen Gemeinschaft (siehe Tabelle).

Karte: Der Einflussbereich des Sultanates von Tidore

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34DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/2005 WWW.EMS -ONLINE.ORG

Type of identity 1st

priority 1st

+ 2nd

pri-ority

1st

priority in Aceh and Papua

1. As Indonesian citizens 39% 24% 19%

2. As citizens of province/district15% 23% 18%

3. As part of local community/ desa 11% 11% 14%

4. As part of ethnic community 20% 20% 40%

5. As part of religious community 12% 18% 10%

from: DEMOS, Executive report, January 20, 2005, TOWARDS AN AGENDA FOR MEANINGFUL HUMAN RIGHTS-BASED DEMOCRACY

Die Identifikation mit anderen Ethnien und derenProblemen fällt schwer, wenn man sie nicht kennt. Es wird oft als Ignoranz gewertet, dass viele Menschen auf Java nicht stärker um die Nöte ihrer Landsleute in anderen Teilen des Archipels besorgt sind. Es erscheint unfassbar, dass der anzügliche Tanzstil des javanischen Dangdut Stars Inul eher die Gemüter erregte als der gleichzeitige Kriegszustand in Aceh oder dass Jakartamindestens drei Tage brauchte, um endlich zu begrei-fen, dass der Tsunami vom 26.12.2004 mehr war als nur eine weitere lokale Naturkatastrophe.

Was die gesellschaftliche und politische Elite anbe-langt, ist diese Kritik aus meiner Sicht berechtigt. An-gehörige dieser Schicht sind äußerst mobil und man sollte erwarten dürfen, dass sie zu den Gegenden, die sie bereisen, ein bestimmtes Verhältnis aufbauen konn-ten. Für die große Masse der Menschen ist jedoch jeder andere Teil Indonesiens so weit weg wie Europa oder Afrika. Für einen Bauern auf Sumatra war derKrieg auf den Molukken nicht näher als der im Irak.Und nach bestimmten Regionen befragt, kommtschnell Unsicherheit auf, ob diese zu Indonesien gehö-ren oder nicht. „Wieso braucht man nach Singapur einen Pass? Das ist doch noch Indonesien“, „Ja, ob Ternate zu Indonesien gehört oder zu den Philippinen ..., wenn du mich so fragst ..., ich bin mir nicht si-cher“, „Makassar, das ist in Malaysia. Da verdienen die Leute gut.“ Alles Zitate, die ich selbst gehört habe.

Mission impossible?

Ein Mehr an Bildung, ein Mehr an finanziellem Spiel-raum für die Mehrheit der Bevölkerung, ein Mehr an Dialog und Austausch mit Landsleuten wie mit Aus-ländern und viele Mehrs mehr sind sicher dringende

Notwendigkeiten für eine bessere Zukunft Indone-siens. Mission impossible? I don’t think so. Die schiere Fülle der Probleme und die gewaltigen Dimensionen des Landes sind – vorsichtig ausgedrückt – große Her-ausforderungen. Es gilt jedoch die positiven Aspekte zu erkennen und zu nutzen. Die trotz allem Gesagten enorme Unvoreingenommenheit und Wissbegier, die beneidenswerte Gabe, fremde und neue Einflüsse in altbewährte Traditionen einfließen zu lassen und viele andere positive Eigenschaften der Menschen in Indo-nesien sind ein nicht zu unterschätzendes Potenzial, das es nach Kräften zu fördern gilt.

Einfache Lösungen liegen sicher nicht auf der Hand. Die Suche danach war auch nicht Anliegen dieses Vor-trages. Denn bevor man nach Lösungen sucht, bedarf es einer eingehenden Problemanalyse. Vielleicht konn-te ich hierzu einen kleinen Beitrag leisten.

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Impressum

EMS-Dokumentationsbrief Nr. 5/2005: Vielfalt in Einheit. Indonesiens Ethnien im WandelIndonesientagung des EMS 14.-16.10.2005 in StuttgartHerausgegeben vom Evangelischen Missionswerk in Südwestdeutschland e.V.Redaktion: Christine Grötzinger, David TulaarVogelsangstr. 62, 70197 Stuttgart, DeutschlandTel: 0711/ 636 78 -0; Fax: 0711/ 636 78 -45Mail: [email protected]: www.ems-online.orgBankverbindung: Ev. Kreditgenossenschaft Stuttgart, Konto-Nr. 124 (BLZ 600 606 06)