Europarecht und IPR Teil Europarecht Ao. Univ.-Prof. Dr. Alina-Maria Lengauer, LL.M.

31
Europarecht und IPR Teil Europarecht Ao. Univ.-Prof. Dr. Alina-Maria Lengauer, LL.M.

Transcript of Europarecht und IPR Teil Europarecht Ao. Univ.-Prof. Dr. Alina-Maria Lengauer, LL.M.

Europarecht und IPRTeil Europarecht

Ao. Univ.-Prof. Dr. Alina-Maria Lengauer, LL.M.

2

Die Entwicklung der Europäischen Union (1)

Die historische Gestaltwerdung der Europäischen Union (EU) und der Europäischen Gemeinschaft (EG) beruht auf durch zwei Weltkriege bewirkten politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen.

1950/51: Vorschlag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS)

1957: Europäische Atomgemeinschaft (EAG) und Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)

3

Die Entwicklung der Europäischen Union (2)

1992: Vertrag von Maastricht – Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU)

2003: Vertrag von Nizza – Anpassung des organschaftlichen Gefüges der EU und EG an eine gestiegene Anzahl von Mitgliedstaaten

2007: Vertrag von Lissabon – Reformvertrag

4

Die Grundlagen der Europäischen Union

Grundlagen der Union nach dem Reformvertrag:

• Vertrag über die Europäische Union (EUV)

• Vertrag über die Arbeitsweise derEuropäischen Union (AEUV)

• Charta der Grundrechte (den Verträgen rechtlich gleichgestellt!)

5

Änderungen durch den Reformvertrag (1)

Grundlage der Union sind:

Beide Verträge sind rechtlich gleichrangig!

• EUV – grundsätzliche Bestimmungen über die verfassungsrechtlicheStruktur der Union

• AEUV – verfahrensrechtlicheAbläufe und materielle Bestimmungen

6

Änderungen durch den Reformvertrag (2)

• Art. 6 Abs. 1 EUV Charta der Grundrechte wird den Verträgen gleichgestellt

• Art. 6 Abs. 2 EUV Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention (keine Änderung am Kompetenzstand der Union!)

• Art. 2 EUV Werte der EU, die „allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind“ (Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte)

• Art. 3 EUV Ziele der EU („Staatszielbestimmung“) Konkretisierung der Ziele in Art. 7 – 17 AEUV

7

Verfassungsprinzipien der EU (1)

Verfassung:Eine auf politische Herrschaftsregulierung spezialisierte und mit einem Instrumentarium ausgestattete rechtliche Grundordnung eines Gemeinwesens.

Zweck:Begrenzung hoheitlicher Gewalt durch Verrechtlichung und somit Nachvollziehbarkeit ihrer Ausübung.

8

Verfassungsprinzipien der EU (2)• EuGH bezeichnete den EG-Vertrag (Vorgänger der

heutigen EUV/AEUV) als „grundlegende Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft“

• Es herrscht Einigkeit über folgende Elemente, dieEUV/AEUV als Verfassungsordnung der Unioncharakterisieren:– Die Verträge begründen eine autonome Rechtsordnung

neuen Typs– Die Grundfreiheiten (z.B. Warenverkehrsfreiheit) werden vom

EuGH als konstitutionalisierte Freiheitsrechte angesehen– Die Verträge werden dem zentralen Element der Machtbegrenzung gerecht

9

Autonomie des Unionsrechts (1)Elemente der Supranationalität welche die Autonomie des Unionsrechts begründen:

• Im Durchgriff auf jeden Unionsbürgerwirksame Normen

• Unabhängigkeit der EK und des EP

• Verpflichtende Gerichtsbarkeit durchden EuGH für Mitgliedstaaten undUnionsbürger

• Eigenfinanzierung der EU

10

Autonomie des Unionsrechts (2)Das Unionsrecht ist eine autonome Rechtsordnung neuen Typs was dazu führt, dass:

• Begriffe des Europarechts eigenständigauszulegen sind (keine Auslegung anhandmitgliedstaatlichen Verständnisses!)

• europarechtliche Auslegungsmethoden heranzuziehen sind (vgl. Kapitel „Auslegung

des Unionsrechts“)

• Rechtsschutz innerhalb des Systems des EUV/AEUV zu suchen ist

11

Autonomie des Unionsrechts (3)Judikatur

Grundlegende Aussagen über die Autonomie des Gemeinschaftsrechts finden sich in den Entscheidungen „Van Gend & Loos“ und „Costa/ENEL“:

„Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die bei seinem Inkrafttreten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist.“

(EuGH Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, 1253)

12

Vorrang des Unionsrechts (1)Unionsrecht gilt autonom neben dem Mitgliedstaatlichen Recht und ist von den mitgliedstaatlichen Gerichten anzuwenden.

Von den nat. Gerichten anzuwendendes Recht

Mitgliedstaat-liches Recht Unionsrecht

13

Vorrang des Unionsrechts (2)Probleme ergeben sich bei Überschneidungen und Widersprüchen in den zwei Rechtssphären.

Mitgliedstaat-liches Recht Unionsrecht

Überschneidung/Konkurrenz

14

Vorrang des Unionsrechts (3)Aus der Konkurrenz von nationalem Recht und Unionsrecht ergeben sich 2 Probleme:

• Welcher der Gebotsteile der widersprüchlichen Normen ist anzuwenden?

• Welcher der Sanktionsteile (Rechtsfolge) der widersprüchlichen Normen ist anzuwenden?

15

Der EuGH nahm im Urteil zur Rs. „Simmenthal“ Stellung zu diesen Problemkreis:

„Darüber hinaus haben nach dem Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts die Vertragsbestimmungen und die unmittelbar geltenden Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane in ihrem Verhältnis zum internen Recht der Mitgliedstaaten nicht nur zur Folge, dass alleine durch ihr Inkrafttreten jede entgegenstehende Bestimmung des geltenden staatlichen Rechts ohne weiteres unanwendbar wird, sondern auch […], dass ein wirksames Zustandekommen neuer Gesetzgebungsakte insoweit verhindert wird […].“

(EuGH Rs. C-106/77, Simmenthal, Slg. 1978, 629)

Vorrang des Unionsrechts (4)

16

Vorrang des Unionsrechts (5)Der Vorrang des Unionsrecht ist als Anwedungsvorrang ausgestaltet:

• Eine nationale Norm ist in einem konkreten Verfahren nicht anzuwenden, wenn diese einer Bestimmung des Unionsrechts widerspricht• Die nationale Norm bleibt aber weiterhin Teil der nationalen Rechtsordnung (keine Ablöse in ihrer Geltung durch Unionsrecht!)

• Anwendungsvorrang besteht gegenüber generellen Rechtsakten (Gesetz) wie gegenüber individuellen Rechtsakten (Bescheid)

17

Unmittelbare Wirkung oder Anwendbarkeit des Unionsrechts hat folgende Wirkungen:

• Das Unionsrecht kann dem Einzelnen (natürlichen oder juristischen Personen) unmittelbar Rechte verleihen

• Das Unionsrecht kann gleichermaßen dem Einzelnen unmittelbar Pflichten auferlegen

• Die Behörden der Mitgliedstaaten und der Union (Gerichte und Verwaltungsbehörden) müssen diese Ansprüche rechtmäßig vollziehen

Unmittelbare Wirkung/Anwendbarkeit des Unionsrechts (1)

18

•„Unmittelbaren Anwendbarkeit“ ist für jene Rechtsquellen zu verwenden, die unmittelbare Geltung

aufweisen und unmittelbar Rechte und Pflichten für den Einzelnen nach sich ziehen.

•„Unmittelbare Geltung“ bedeutet, dass eine Norm ab ihrer Erlassung unmittelbar und sogleich Bestandteil

der nationalen/mitgliedstaatlichen Rechtsordnung wird.• „Unmittelbare Wirkung“ bedeutet, dass der Einzelne

sich unmittelbar auf eine Norm des Unionsrechts vor einer nationalen Verwaltungsbehörde oder einem

nationalen Gericht berufen können, um aus dieser Norm Rechte abzuleiten.

Unmittelbare Wirkung/Anwendbarkeit des Unionsrechts (2)

19

Voraussetzungen für unmittelbare Anwendbarkeit von Primärrecht nach EuGH:

• Die anzuwendende Norm muss hinreichend klar und bestimmt sein – sie darf keine Unklarheiten oder Bedingungen enthalten

UND

• Ihre Durchführung bedarf keiner weiteren Rechtshandlungen der Union oder ihrer Mitgliedstaaten

Unmittelbare Wirkung/Anwendbarkeit des Unionsrechts (3)

20

Beispiele für unmittelbar anwendbares Primärrecht:

• Art. 18 AEUV: Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit

• Art. 34 AEUV: Grundfreiheit des freien Warenverkehr

• Art. 45 AEUV: Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit

• Art. 49 AEUV: Grundfreiheit der Niederlassungsfreiheit

• Art. 56 AEUV: Grundfreiheit der Dienstleistungsfreiheit

• Art. 63 AEUV: Grundfreiheit der Kapitalverkehrsfreiheit

• Art. 157 AEUV: Gebot der Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen

Unmittelbare Wirkung/Anwendbarkeit des Unionsrechts (4)

21

Unmittelbare Anwendbarkeit von Sekundärrecht:

Unmittelbare Wirkung/Anwendbarkeit des Unionsrechts (5)

Verordnung

Die Formulierung vonArt. 288 Abs. 2 AEUV lautet:

„Die Verordnung hat allgemeine Geltung. Sie istin allen ihren Teilen verbindlichund gilt unmittelbar in jedemMitgliedstaat.“

Richtlinie

Notwendige Voraussetzungenfür unmittelbar Anwendbarkeit:• Umsetzungsfrist ist abgelaufen• MS hat nicht umgesetzt• Fragliche Bestimmung ist

hinreichend klar und bestimmt• Es werden dem Einzelnen

ausschließlich Rechteverleihen

• Vertikales Verhältnis

22

Unmittelbare Anwendbarkeit von Sekundärrecht:

Unmittelbare Wirkung/Anwendbarkeit des Unionsrechts (6)

Beschlüsse

Die Formulierung vonArt. 288 Abs. 4 AEUV lautet:

„Beschlüsse sind in allen ihrenTeilen verbindlich. Sind sie anbestimmte Adressatengerichtet, so sind sie nur fürdiese verbindlich.“

Empfehlung/Stellungnahme

Die Formulierung vonArt. 288 Abs. 5 AEUV lautet:

„Die Empfehlungen undStellungnahmen sind nicht verbindlich.“

23

ARG im engeren Sinn:

Werden aus Ziel und System des EUV und AEUV gewonnen und beziehen sich auf dem Unionsrecht innewohnenden Bedürfnissen und Problemen

ARG:

Grundlegende Prinzipien die den Rechts- und Verfassungsordnungen der MS gemeinsam sind

Allgemeine RechtsgrundsätzeUngeschriebenes Primärrecht

24

• Zweck: Rechtsvereinheitlichung• Rechtsnatur: allgemeine Geltung in all ihren Teilen und unmittelbar verbindlich in allen MS

• Rs. 101/76, Scholten Honig,Slg.1977, 797

• auf objektiv bestimmte Sachverhalte anwendbar• entfaltet Rechtswirkungen für einen abstrakt umrissenen Personenkreis• Rs. 34/73, Variola, Slg. 1973, 981

• Vollzug: Mitgliedstaatliche Behörden

Die Verordnung – Art. 288 Abs. 2 AEUV

25

• Zweck: Rechtsangleichung• Rechtsnatur: Adressat sind die MS welche hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verpflichtet sind• Art. 4 Abs. 3 EUV, Rs. C-58/89, Kommission/Deutschland: Umsetzung muss durch zwingende Vorschriften erfolgen (z.B. Gesetz)

• Rs. 160/82, Kommission/Niederlande: eine bloße „Verwaltungspraxis“ genügt nicht für eine gültige Umsetzung

Die Richtlinie – Art. 288 Abs. 3 AEUV

26

Vgl. Rs. 8/81, Becker/Finanzamt Münster, Slg. 1981, 53Die Richtlinie – unmittelbare Wirksamkeit

Vertikale unmittelbareWirkung

• Die RL-Bestimmungen sindhinreichend genau undbestimmt

• es werden den Einzelnenausschließlich Rechteverliehen

• Trotz Ablauf der Frist wurdenicht umgesetzt/es wurdeschlecht umgesetzt

• Begründung: Estoppel

Horizontale unmittelbareWirkung

• Rs. C-91/92, Paola Faccini Dori• Europarechtliche Interpretation

des Staatsbegriffs ist weit: Rs. C-188/89, Foster/Britisch Gas

• RL-konforme Auslegungnationalen Rechts

• Grenzen der RL-konformenAuslegung in den nationalenAuslegungsmethoden:Rs. C-106/89, Marleasing

• Begründung: Effektivität

27

Beschluss

• In allen seinen Teilenverbindlich

• im Gegensatz zur VO besitztder Beschluss einenbeschränkten, genaubezeichnetenAdressatenkreis

EmpfehlungStellungnahme

• Sind nicht verbindlich

• Adressaten können sein: MS,Unionsorgane, natürlicheund juristische Personen

Beschluss, Empfehlung und StellungnahmeArt. 288 Abs. 4 und 5 AEUV

28

Europarechtliche Auslegungsmethoden

Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV:

„Der Gerichtshof der Europäischen Union sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge.“

Durch die Verträge wurde eine neue Rechtsgemeinschaft begründet.

Der EuGH stellt im EU-Rechtssystem das Verfassungsgericht dar (Art. 13 EUV)

29

• Das Unionsrecht ist in allen 23 Amtssprachen der Union verbindlich.

• Daher stößt man bei der Wortinterpretation schnell an Grenzen, da teilweise schon der Begriffskern in den unterschiedlichen Sprachen abweicht.

Auslegungsmethoden - Wortinterpretation

Wortinterpretation ist nicht tauglich

30

• Ausgangspunkte sind hier:– der Inhalt der Norm

– in Zusammenhang stehende Normen

– Logik

– üblicher Aufbau von Normensystemen• Die EU-Verträge sind auf dynamische Integration gerichtet Rechtsfortbildung durch EuGH• Die Auslegung orientiert sich an den Zielsetzungen der Verträge• Autonome Auslegung unionsrechtlicher Begriffe• EuGH Rs. 6/72, Europemballage; EuGH Rs. 107/83, Klopp

Auslegungsmethoden –Systematisch-logische Interpretation

31

• Die Interpretation richtet sich nach Ziel und Zweck der Norm

• Eine Ausprägung ist der Grundsatz der Effektivität• Beispiel: EuGH Rs. 6/64, Costa/ENEL:

„Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts wird auch durch Artikel 189 bestätigt; ihm zufolge ist die Verordnung ,verbindlich‘ und

,gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat‘. Diese Bestimmung, die durch nichts eingeschränkt wird, wäre ohne jede Bedeutung, wenn die Mitgliedstaaten sie durch Gesetzgebungsakte, die den gemeinschaftsrechtlichen Normen vorgingen, einseitig ihrer Wirksamkeit berauben könnten.“

• Sonderfall: unionsrechtliche Begriffsbedeutung• Grundsatz der einheitlichen Auslegung

Auslegungsmethoden – teleologische Interpretation