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1 1 FITG-Journal Zeitschrift des Förderkreises Industrie- und Technikgeschichte e.V. No.: 01-2006 Februar 2006 Industrie- und Technikgeschichte in Frankfurt und der Rhein-Main-Region Inhalt: Grußworte zum 70. Geburtstag von Prof. Dr. Wolfgang Giere · Industriegeschichte des Rhein-Main-Gebietes im 19. Jhrh. Radiosammlung Karlheinz Kratz · Die Sammlungen des FITG – Rückblick, Ausblick und Bekenntnisse eines Emeriten

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FITG-JournalZeitschrift des Förderkreises Industrie- und Technikgeschichte e.V. No.: 01-2006 Februar 2006

Industrie- und Technikgeschichte

in Frankfurt und der

Rhein-Main-Region

Inhalt: Grußworte zum 70. Geburtstag von Prof. Dr. Wolfgang Giere · Industriegeschichte des Rhein-Main-Gebietes im 19. Jhrh.

Radiosammlung Karlheinz Kratz · Die Sammlungen des FITG – Rückblick, Ausblick und Bekenntnisse eines Emeriten

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Kurze Darstellung der Industrie-

geschichte des Rhein-Main-

Gebietes im 19. Jahrhundert

Wolfgang Giere zum 70. Geburtstag

Wenn vom Rhein-Main-Gebiet gesprochenwird, verbindet man mit diesem Begriffvor allem den industriellen Ballungsraum

am Untermain. Tatsächlich wurde schon Ende des19. Jahrhunderts die Wirtschaftsregion im Groß-raum Frankfurt unter diesem Namen zusammen-gefasst, obwohl das Gebiet noch einige Jahrzehntezuvor nie ein Raum im politischen Sinne gewesenwar. In der vorindustriellen Periode glich dieLandkarte des Rhein-Main-Gebietes nämlich demoft zitierten Flickenteppich aus dem Zeitalter derKleinstaaterei: Fürstentümer, Grafschaften, Herr-schaften, Kondominate und freie Reichsstädte, al-le mit weitgehenden Befugnissen und formalerSelbstständigkeit ausgestattet, verfolgten ihre je-weils egoistischen Sonderinteressen und hinder-ten dadurch die wirtschaftliche Entfaltung dieserTerritorien.

Noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts teiltensich das Herzogtum Nassau, das GroßherzogtumHessen, die Landgrafschaft Hessen-Homburg, dasKurfürstentum Hessen, die Freie Stadt Frankfurtund das Königreich Bayern das heutige Rhein-Main-Gebiet.

Erst das Jahr 1866 brachte eine völlige Neuord-nung der bis dahin bestehenden staatlichen Ver-hältnisse. Nach dem siegreichen Krieg gegenÖsterreich annektierte Preußen das Kurfürsten-

tum Hessen, das Herzogtum Nassau, die Landgraf-schaft Hessen-Homburg sowie die Freie StadtFrankfurt und schloss diese einstmals selbststän-digen Staaten zur preußischen Provinz Hessen-Nassau zusammen.

Das Rhein-Main-Gebiet wurde jetzt nur nochvon Teilen des preußischen, großherzoglich-hes-sischen und des bayerischen Staates gebildet.Dennoch, oder vielleicht müsste man sagen, ge-rade wegen dieser erzwungenen Veränderungen,blieb die Bevölkerung dieser Region weiterhinkurhessisch, darmstädtisch-hessisch oder nassau-isch gesinnt und bis in den Bereich der Städte„Mainzer“, „Frankfurter“, „Offenbacher“ oder „Ha-nauer“, was zum Teil durch alte Rivalitäten – wiezum Beispiel im Falle der Städte Frankfurt undMainz – historisch auch gut begründet war. Diesist sicher der wesentliche Grund dafür, dass dasRhein-Main-Gebiet (ganz im Gegensatz übrigenszu der rheinisch-westfälischen Wirtschaftsregion)nicht zur Ausbildung einer eigenen Identität ge-langte.

Doch trotz dieses Fortlebens einer traditions-gebundenen föderalistischen Einstellung der Be-völkerung wuchs das Gebiet am Untermain zu ei-ner einheitlichen Region zusammen, weil das dy-nastische oder ethnische Prinzip von der weitstärkeren raumbildenden Kraft der wirtschaft-lichen Entwicklung verdrängt wurde. An die Stelleder territorialstaatlichen Struktur trat nun die so-zioökonomische Genese des Raumes.

Auch wenn es der Region völlig an Rohstoffenmangelte, wuchs das Rhein-Main-Gebiet zu einer

von Wolfram Heitzenröder

Dieser Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den

der Verfasser am 9. September 2003 im Histori-

schen Rathaus der Stadt Hanau im Rahmen der

Veranstaltungsreihe zur „Route der Industriekultur

Rhein-Main“ gehalten hat. Für diese Veröffent-

lichung wurde der Vortrag nur unwesentlich ver-

ändert und durch einige Literaturhinweise ergänzt.

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bedeutenden Industrieregion zusammen undüberflügelte im Laufe der Zeit die beiden anderenindustriellen Ballungsräume im heutigen Bundes-land Hessen: das Lahn-Dill-Gebiet mit seinen Ei-senerzvorkommen und der damit verbundenenHütten- und Eisenindustrie sowie den nordhes-sischen Raum mit der ehemals florierenden Textil-produktion und der Lokomotiven- und Waggon-produktion in Kassel.

Intensive Industrialisierung

Die schnelle und intensive Industrialisierung desRhein-Main-Gebietes wurde durch verschiedeneFaktoren entscheidend gefördert, von denen diewichtigsten kurz aufgezählt werden sollen. Zumersten ist die gute Verkehrslage des Raumes zunennen. Uralte Handelswege durchzogen das Ge-biet, das schon seit langer Zeit als Aufnehmer undVerteiler von weither führenden Straßen einewichtige Rolle spielte. Neben diesen bedeutendenStraßen ist später ein leistungsfähiges Eisenbahn-netz entstanden, dessen Anfänge in die Frühzeitder Industrialisierung fallen. 1839 wurde als erstehessische Bahnstrecke die Verbindung von Frank-furt nach Höchst in Betrieb genommen, 1840 folg-te der Anschluss nach Wiesbaden. 1846 wird dieStrecke nach Heidelberg gebaut, 1847/48 die überOffenbach nach Hanau, die 1856 nach Norden wei-tergeführt werden konnte. 1850 beginnt der Bauder Main-Weserbahn, die 1852 Kassel erreicht,1854 ist die Verbindung über Aschaffenburg nachBayern hergestellt. 1868 konnte die gesamte

Strecke Frankfurt-Bebra dem Verkehr übergebenwerden, hinzu kamen die linksmainische LinieFrankfurt-Bischofsheim, die Riedbahn und dieStrecke Hofheim-Bensheim an der Bergstraße.

Schifffahrt auf Main und Rhein

Von großer Bedeutung für die Industrialisierungwaren auch die Schifffahrtswege auf dem Mainund Rhein. Das geht schon daraus hervor, dass die

stärkste industrielle Konzentration an diesenbeiden Flüssen stattgefunden hat. Main und Rheinsind für die rhein-mainische Industrie aber nichtnur als Transportwege von Belang, sondern auchals Wasserlieferanten. Vor allem die chemische In-dustrie, aber auch die in Aschaffenburg ansässigeZellulose- und Papierfabrikation hatten einenhohen Nutzwasserverbrauch, was die Lage geradedieser Industriezweige an Main und Rhein erklärt.Neben dem hohen Wasserverbrauch bindet auchdie Abwasserfrage die chemischen Werke an die

fließenden Gewässer, was, nebenbei bemerkt,schon im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zugroßen ökologischen Problemen führte.

Eine weitere wichtige Voraussetzung für die In-dustrialisierung des Rhein-Main-Gebietes war dasVorhandensein eines Warenumschlagplatzes vomRange der Stadt Frankfurt. Schon im Mittelalterwar Frankfurt in ganz Europa für seine zweimal imJahr stattfindende Messe berühmt, stolz trug derOrt den Beinamen „Kaufhaus der Deutschen“. Als

die Bedeutung der Messen später zurückging,wurde das aus diesen hervorgegangene Bankwesenund die Börse desto wichtiger.

Großes Arbeiterreservoir

Die weitaus entscheidenste Förderung der Ent-wicklung der rhein-mainischen Industrie war aberdurch das große Arbeiterreservoir der klein- undzwergbäuerlichen Bevölkerung gegeben. Die au-ßerordentlich starke Zersplitterung des Besitzes in

Frankfurt um 1900: Der Main ist eine wichtige Verkehrsader.

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eine Vielzahl von Parzellen durch die Realteilungführte zu einer Betriebsstruktur, bei der das Exis-tenzminimum für die meisten bäuerlichen Fa-milien nicht erreicht werden konnte. So war im19. Jahrhundert das ländliche Hausgewerbe alszusätzliche Erwerbsquelle fast überall entwickelt.

Die Tabakindustrie und Perlenstickerei im nörd-lichen Spessart, das Schneiderhandwerk imAschaffenburger Gebiet sind ebenso bekannt wiedie Nagelschmiederei, Korbflechterei und Strumpf-

Nachdem die Bauernbefreiung die Abhängig-keit vom Grundherrn beseitigt, aber den Bauerndurch die Grundlastenablösung hohe Entschädi-gungen aufgebürdet hatte, war der Weg der ver-armten Bauernschichten in die Fabrik vorgezeich-net. Dieses große Arbeiterreservoir bestimmteauch den Charakter der rhein-mainischen Indus-trie, die auf einer arbeitsintensiven Qualitätsher-stellung basierte.

Die Entstehung der regionalen industriellenProduktion war schließlich das Ergebnis einer sichüber einen Zeitraum von mehr als einem Jahr-hundert erstreckenden vor- und frühindustriellenGewerbeentwicklung. Grundlage des Industriali-sierungsprozesses am Mittelrhein und Untermainbildete eine Reihe von Spezialgewerben, die teilsin Form des zünftigen oder unzünftigen Hand-werks als auch in Form der Manufaktur ausgeübtwurden. Dies war vor allem merkantilistisch orien-tierten Landesherren zu verdanken, die durch dasAnwerben von politischen oder Glaubensflücht-lingen die Produktivkräfte in ihren Territorien zustärken versuchten. So war im Zeitalter der Proto-industrialisierung in den Städten Hanau, Offen-bach und Höchst eine lebhafte Gewerbeentwick-lung im Gang, die sich vor allem auf die Textilher-stellung, die Bijouteriefabrikation, die Tabakver-arbeitung und die Fayence- und Porzellanmanu-faktur erstreckte. Eine wichtige Funktion in dieserPhase übernahm dabei der in Frankfurt behei-matete Rohstoffgroßhandel, außerdem diente dieStadt als Umschlagplatz der Fertigprodukte ausder näheren Umgebung.

wirkerei im Taunus oder die Hasenhaarschneidereiin Oberrad, Kelsterbach und Rüsselsheim. Dazutraten die holzverarbeitenden Gewerbe, Töpferei,Lohnweberei und das Lohnfuhrwerk als Quelle desNebenerwerbs.

Weil die ländliche Bevölkerung schon seit lan-gem zu einem heimgewerblichen Nebenverdienstgezwungen war, musste sie technische Fertigkeitenund Fähigkeiten ausbilden, die der sich sehr schnellentwickelnden Industrie zugute kamen.

Hasenhaarschneiderinnen aus Rüsselsheim, um 1900.

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Zollverein

Nachdem Preußen als erster deutscher Bundes-staat begonnen hatte, sein Staatsgebiet wirt-schaftlich zu einigen und die Binnenzölle aufzu-heben, was die Entwicklung der inländischen In-dustrie erheblich begünstigte, schlossen sich auchdie deutschen Mittelstaaten im süddeutschenRaum dieser Zollpolitik an. Das GroßherzogtumHessen war der erste Staat in unserer Region, der1828 dem preußischen Zollverein beitrat, Kur-hessen folgte 1831 dieser Maßnahme, einige Jahrespäter traten auch das Herzogtum Nassau und dieFreie Stadt Frankfurt dem Zollverein bei. Einletzter Schritt auf dem Weg zu einer ungestörtenEntfaltung der kapitalistischen Wirtschaftsstruk-tur bildete die Einführung der unbeschränktenGewerbefreiheit und die Aufhebung des Zunft-monopols. Die traditionell industriefeindlicheingestellte Stadt Frankfurt, in der man z.B. beidem Einbau einer Haustür fünf verschiedene Ge-werke beauftragen musste, entschloss sich aller-dings erst im Jahr 1864 zu diesem Schritt.

Nun begann aber, unterstützt durch die Kriege1866 und 1870/71, das Take-off, der große Spurtder industriellen Revolution im Rhein-Main-Ge-biet, der auch von der Gründerzeitkrise in denJahren nach 1873 nur kurzfristig gebremst werdenkonnte. Von Aschaffenburg über Hanau, Offen-bach, Frankfurt, Höchst und Rüsselsheim bis indie Vororte von Mainz und Wiesbaden entstandnun ein mächtiges Industriegebiet, eine „urba-nized area“, in der als die bedeutendsten Bran-

chen der Maschinenbau und die metallverarbei-tende Industrie sowie die chemische Industrie an-sässig wurden. Diese beiden Sparten konnten biszum Ausbruch des 1. Weltkriegs auch die größtenZuwachsraten aufweisen.

Maschinenbaufabriken

Die Gründungswelle der Maschinenbaufabriken lagin den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts,wobei die Firma Fries in Frankfurt schon viel frü-her zu einem industrieähnlichen Betrieb ange-wachsen war. 1843 wurde hier die erste Dampf-maschine Frankfurts gebaut, 13 Jahre nachdemdie erste Dampfmaschine im Rhein-Main-Gebiet inder großherzoglichen Münzanstalt in Darmstadt inBetrieb gegangen war. Während die Firma Frieseine vielfältige Produktionspalette aufweisenkonnte, spezialisierten sich viele Firmen auf be-stimmte Zweige. Die Maschinenfabrik Moenus inBockenheim stellte Maschinen für die Lederindus-trie her, das 1865 gegründete, in Eschborn an-sässige Unternehmen Schiele&Co. Ventilatorenund Zentrifugalpumpen, die Naxos Union inFrankfurt Präzisionsschleifmaschinen, die schonseit 1847 bestehende Maschinenfabrik Johannis-berg in Geisenheim Buchdruckschnellpressen, dieMotorenfabrik Oberursel Verbrennungskraftma-schinen und die Hanauer Firmen Pelissier undHenrich Maschinen für die Gold- und Silberwaren-industrie. Landwirtschaftliche Maschinen bautendie Firmen Mayfarth in Frankfurt und Tröster inButzbach, Nähmaschinen die Werke von Wertheim

Maschinenfabrik Schiele, Eschborn, um 1912.

Fa. Fries, Frankfurt, Gießerei um 1910.

Ansicht der Schleifmaschinenfabrik Naxos-Union,

Frankfurt, um 1900.

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in Bornheim und Opel in Rüsselsheim. Als weiterebedeutende Vertreter des Maschinenbaus im Rhein-Main-Gebiet sollen noch die Firmen Pokorny &Wittekind in Bockenheim, Collet & Engelhard in Of-fenbach, die Maschinen- und Armaturenfabrik Zu-lauf in Höchst und die sehr alte, aber im Krisenjahr1879 in Konkurs geratene Darmstädter Maschinen-fabrik und Eisengießerei erwähnt werden.

Fahrzeugbau

In die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts datiert dieEntstehung des hessischen Fahrzeugbaus. SeineAnfänge sind vor allem mit den Namen Kleyer inFrankfurt und Opel in Rüsselsheim verbunden. Auseinem Velozipedhandel baute Heinrich Kleyer dieAdlerwerke auf. Hier wurde schon im Jahre 1898

das 100.000. Fahrrad hergestellt. Zu dieser Zeitwar Kleyer mit 3000 Arbeitern und 400 Beamtender größte Industriebetrieb in Frankfurt. Nebender Produktion von Schreibmaschinen nahmen dieAdlerwerke um die Jahrhundertwende auch denBau von Automobilen in ihr Fertigungsprogrammauf.

Einen ähnlichen Weg ist auch der in Rüssels-heim ansässige Adam Opel gegangen. Unter pri-mitiven Voraussetzungen begann der gelernteSchlosser 1862 mit der Produktion von Nähma-schinen, ab 1886 fertigte man in dem nunmehrzum industriellen Großbetrieb angewachsenenWerk auch Fahrräder, von denen bis zur Aufgabedieses Geschäftszweigs im Jahre 1937 2,5 Mil-lionen Stück abgesetzt werden konnten. Die wich-tigste Umstrukturierung erlebte die Firma um1900, als die Produktion von Automobilen und(seit 1907) Lastwagen eingeführt wurde. 1909 be-schäftigte der Betrieb 2750 Arbeitskräfte, alserstes Unternehmen in Deutschland führte Opelim Jahre 1924 die Fließbandherstellung ein.

Elektrotechnische Industrie

Einen gewaltigen Aufschwung nahm die noch jun-ge elektrotechnische Industrie um die Jahrhun-dertwende. Großen Anteil daran hatte die Interna-tionale Elektrotechnische Ausstellung des Jahres1891 in Frankfurt. Hier wurde erstmals die Kraft-übertragung auf große Entfernungen durch dieÜbertragung der Wasserkräfte des Neckars beiLauffen zum Pumpenantrieb für einen 175 kmOPEL-Restaurierungswerkstatt in Rüsselsheim.

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entfernten Wasserfall auf der Frankfurter Ausstel-lung demonstriert. Frankfurt sollte auch zum Zen-trum des elektrotechnischen Gewerbes in Hessenwerden; neben der Elektrizitäts-Aktiengesellschaftvormals W. Lahmeyer&Co. sei dabei vor allem andie Firmen Hartmann&Braun sowie Voigt & Haeff-ner erinnert.

bedeutendsten Fachschulen ihrer Art zur Aus-bildung der entsprechenden Arbeitskräfte.

Dem Bedarf der dortigen Schmuckindustrie ver-dankt auch die Firma W.C. Heraeus in Hanau ihreEntstehung. Aus einer Apotheke hervorgegangenentwickelte sich das Unternehmen durch bahn-brechende Pionierleistungen auf dem Gebiet derScheidung von Platinerz sowie der Reindarstellungund Weiterverarbeitung des Platins gegen Endedes 19. Jahrhunderts zum Zentrum dieses Indus-triezweigs in Deutschland. Im weiteren Sinne demEdelmetallgewerbe zuzurechnen ist auch dieMünzscheideanstalt Roessler (seit 1873 Degussa)in Frankfurt, die neben einer Reihe von Edel-metallpräparaten auch keramische Farben undchemische Spezialartikel produzierte.

Zementindustrie

Im Baustoffbereich entwickelte sich im Rhein-Main-Gebiet ein bedeutendes Unternehmen derZementindustrie. Auf eigene Kalksteinbrüche undTongruben konnte die 1864 errichtete Portland-Zement-Fabrik von Dyckerhoff&Söhne in Amöne-burg zurückgreifen, die aus einer kleinen Mühlebei Hattenheim im Rheingau entstanden war, woman die ersten Versuche zur Zementherstellungunternommen hatte. Mit dem maßgeblich vonFriedrich Hoffmann entwickelten Ringofen gelangder Durchbruch zur industriellen Großproduktion.Die Krise der Gründerzeit überstand die Firma abernur deshalb, weil sie den amerikanischen Markterobern konnte.

Entscheidende Bedeutung für die Nachfragenach Zement sollte die steigende Verwendung desneuen Baustoffs Beton erhalten (eine erste De-monstration der Betonbauweise wurde in Hessenauf der Landesgewerbeschau 1879 in Offenbachgeboten), so dass eine kurzfristige Überproduk-tionskrise in der Zementindustrie spätestens seitdem Gebrauch von armiertem Beton für Brückenund Großbauten nach der Jahrhundertwendeschnell überwunden wurde. Durch die Anlage derersten Drehofenkombination und entsprechenderSilogebäude in den Jahren 1908 bis 1910 weitetesich die Produktion der Firma Dyckerhoff be-ständig aus, die kurz vor dem 1. Weltkrieg bei ei-ner Beschäftigtenzahl von annähernd 1200 Ar-beitern jährlich ca. 400.000 t Zement erzeugte.

Chemieindustrie

Weithin bekannt ist, dass insbesondere das che-mische Gewerbe die Industrialisierung des Rhein-Main-Gebietes nachdrücklich gefördert hat. Diesist richtig, obwohl der Maschinenbau in dieser Re-gion (gemessen an der Zahl der Beschäftigten) inder Zeit kurz nach der Jahrhundertwende immernoch überwog. Dennoch wurde das Rhein-Main-Gebiet Sitz zahlreicher Firmen der chemischen In-dustrie, von denen etliche heute noch Weltruhmgenießen. Die Existenz einer auf Expansion aus-gerichteten Leder-, Textil- und Druckindustrie indiesem Raum kam dem neuen Gewerbezweig ent-scheidend entgegen, weitere Absatzmöglichkeitenofferierte auch der Warenumschlagplatz Frankfurt.

Blick auf die Elektrotechnische Ausstellung in

Frankfurt, 1891.

Schmuckindustrie

Als Spezialzweig der metallverarbeitenden Bran-che verdient auch die Edelmetallindustrie einekurze Erwähnung. Dieses Gewerbe hat sich haupt-sächlich in Hanau etabliert, wo es von 1597 in derNeustadt angesiedelten niederländischen und wal-lonischen Glaubensflüchtlingen heimisch gemachtwurde. Silberwarenfabrikation, Herstellung vongoldenen Ketten, aber auch die Bijouterieindustrieund die Diamantschleiferei waren in Hanau um1910 durch ungefähr 100 Betriebe vertreten; mitder im Jahr 1772 gegründeten Zeichenakademiebefand sich im Ort zudem die älteste und eine der

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Vor allem die Farbenherstellung erlebte mit derEntwicklung der Teerchemie seit der zweiten Häl-fte des 19. Jahrhunderts eine ständige Ausdeh-nung. Arzneimittel- und Kunstdüngerindustrietraten als weitere Fabrikationszweige hinzu.Schon wenige Jahre nach der Entdeckung deskünstlichen Farbstoffes aus Steinkohlenteer er-richteten Dr. Eugen Lucius, Carl Friedrich Meister,Dr. Adolf Brüning und August Müller in der nas-sauischen Landstadt Höchst ein Unternehmen zurHerstellung von Anilinfarben. Die Fabrikation vonkünstlichem Indigo und pharmazeutischen Pro-dukten ließ den seit 1879 Farbwerke genanntenBetrieb zur Weltfirma anwachsen, die um 1910 ca.7000 Arbeitnehmer beschäftigte.

Auch die von Dr. Wilhelm Kalle 1863 in Bieb-rich gegründete Fabrik hat einen den Farbwerkenvergleichbaren Werdegang durchgemacht: Anfangsmit der Produktion von Fuchsin und spiritlös-lichem Blau beschäftigt, begann sie Mitte der 70er

Jahre mit der Erzeugung von Anilinfarbstoffen,um schließlich auch in die Herstellung synthe-tischer Arzneimittel einzusteigen.

Auf ein 1798 von Leopold Cassella gegründetesHandelsgeschäft für den Import von Krapp, Indigound Farbhölzern geht die gleichnamige Firma zu-rück, die 1870 unter der Leitung von Dr. LudwigGans zu einer Fabrik für Teerfarbstoffe umgewan-delt wurde. Die Konzentration auf diesen Produk-tionszweig blieb Kennzeichen dieses erfolgreichenUnternehmens, das sich im Jahre 1904 mit denFarbwerken in Höchst zu einer Interessengemein-schaft verbinden sollte.

Zu den ältesten chemischen Fabriken inDeutschland überhaupt zählt die Chemische Fa-brik Griesheim, die in der Erkenntnis des von Jus-tus Liebig in Gießen geführten Nachweises, dassdie landwirtschaftliche Produktion bei der Ver-wendung künstlichen Düngers zu wesentlicherSteigerung fähig sei, 1856 in Bockenheim als

Frankfurter Aktiengesellschaft für landwirtschaft-liche Produkte gegründet worden war. Mangelseiner für den Transport notwendigen Wasserstraßemusste der Betrieb 1862 nach Griesheim am Mainverlegt werden, wo die Düngemittelfabrikationaus Rentabilitätsgründen jedoch zugunsten derHerstellung von Salz-, Salpetersäuren und Anilin-farben nach und nach aufgegeben wurde. GroßeBedeutung hatte für das Unternehmen die tech-nische Lösung der elektrolytischen Zerlegung derAlkalichloride, womit völlig neue Produktions-zweige erschlossen werden konnten. Nachdemman im Jahre 1905 die Oehlersche Farbenfabrik inOffenbach erworben hatte, vermehrte sich dieZahl der Beschäftigten in der Chemischen FabrikGriesheim-Elektron AG bis 1910 auf ca. 5000.

Aus der seit 1668 im Familienbesitz befind-lichen Engelapotheke nahm die Firma Merck inDarmstadt ihren Weg. Solide naturwissenschaft-liche Kenntnisse und eigenständige Forschungs-

Arbeiter in der Badeanstalt der Fa. Casella, 1895. Ansicht der Farbwerke Höchst, 1912.

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arbeiten auf den verschiedensten Gebieten dieserDisziplin gehörten von alters her zur Tradition derjeweiligen Inhaber des Apothekengeschäfts. Hein-rich Emanuel Merck (geb. 1794), der eigentlicheBegründer des chemischen Großunternehmens, er-hielt seine pharmazeutische Ausbildung im da-maligen Zentrum dieses Wissensgebietes, amTrommsdorfschen Institut in Erfurt. Nach Darm-stadt zurückgekehrt war Merck besonders an derchemischen Gewinnung homogener Pflanzenstoffeinteressiert; schon 1827 stellte er Morphin in grö-

ßeren Mengen her, dazu im Laufe der folgendenZeit eine ganze Reihe von Arzneimittel, deren Pro-duktion die Grundlage einer fortwährenden Aus-dehnung des Betriebes bilden sollte. In den 40erJahren des 19. Jahrhunderts wurden neue Werks-anlagen gebaut. Sie reichten jedoch auf Dauernicht aus, so dass um die Jahrhundertwende eineweit außerhalb Darmstadts gelegene, 80.000qmumfassende Fabrikationsstätte errichtet werdenmusste, in der ca. 1000 Arbeiter und „Beamte“ihrer Tätigkeit nachgingen.

Einige Bedeutung für die chemische Industriehatten noch die 1858 gegründeten chemischenWerke Albert in Biebrich, die Düngemittel her-stellten.

Gummiindustrie

Der relativ jungen, dem chemischen Gewerbe ver-wandten Gummiindustrie verhalf die Erfindungund allmähliche Verbreitung der TransportmittelFahrrad und Automobil zu stetigem Aufstieg. 1873war die durchaus bedeutende Mitteldeutsche Gum-miwarenfabrik Louis Peter, die älteste Pneumatik-fabrik Deutschlands, in Frankfurt gegründet wor-den. Um 1915 beschäftigte dieser Betrieb bereits1000 Arbeitnehmer. 1893 hatte sich die FirmaDunlop mit einer Fabrik für Gummireifen in Hanauniedergelassen. Auch in der Stadt Gelnhausenwurden Gummiprodukte – in diesem Fall für chi-rurgische Zwecke – hergestellt.

Lederwarenindustrie

Zu einem Zentrum der hessischen Lederwaren-industrie entwickelte sich im 19. Jahrhundert dieStadt Offenbach. Die ursprünglich im Zusammen-hang mit der Bijouteriewarenfabrikation ent-standene Portefeuilleproduktion erlebte, nachdemsich um 1840 das Portemonnaie zur Aufbewahrungdes „kleinen Geldes“ seinen Markt erobern konnte,einen ständigen Aufschwung. Doch nicht nur dieverarbeitende, auch die ledererzeugende Industrieließ sich in Offenbach nieder und erreichte um dieFa. Merck, Darmstadt, Produktion im Freien, 1886.

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Jahrhundertwende eine Phase höchster Prosperi-tät. Die Lederwarenfabrik Mayer und Sohn galtdamals als die größte ihrer Art in Europa und be-schäftigte ca. 750 Arbeiter. Portefeuilleherstel-lung und Buchbinderei auf industrieller Grundlagewaren auch im Taunus verbreitet. Als Beispielhierfür sei auf die Firma Wirtz & Kathrein in Lors-bach verwiesen. Etliche Betriebe der Schuhindus-trie siedelten sich außerdem in Frankfurt am Mainan.

Nahrungs- und Genussmittel

Als wichtigster Vertreter der Nahrungs- und Ge-nussmittelbranche in Hessen darf sicher die Ta-bakindustrie gelten. Schwerpunkte dieses Gewer-bes lagen im Rhein-Main-Gebiet, vereinzelt in Nas-sau, im Gießener Raum und in der nordhessi-schen Region.

Wenn auch schon im 18. Jahrhundert die ausItalien stammenden Brüder Bolongaro in Frank-furt und Höchst ein großes Tabakimperium auf-gebaut hatten, das nach Erbauseinandersetzungenspäter allerdings wieder zerfiel, so dominierten indiesem Gewerbezweig doch eindeutig die Klein-und Mittelbetriebe. Größere Tabakfabriken exis-tierten lediglich in Hanau. In dem Unternehmender Gebrüder Jung, das um 1870 mehr als 600 Ar-beitskräfte beschäftigte, wurden jährlich etwa 30Millionen Zigarren hergestellt.

Einige Beachtung verdient gleichfalls dieSchaumweinproduktion im Rheingau; hier sindvor allem die 1832 in Mainz gegründete und seit

dem Jahre 1909 in Biebrich ansässige FirmaHenkell & Co. und das seit 1865 in Schierstein be-stehende Unternehmen Söhnlein & Co. zu nennen.

Brauereien mit durchweg sehr geringer Be-triebsgröße waren wegen der noch unterentwick-elten Lager- und Versandmöglichkeiten des Bieresquasi flächendeckend über das ganze Land ver-

breitet. In Frankfurt existierten 1861 fast 100Braustätten, von denen sich einige nach der Jahr-hundertwende zu größeren Unternehmen ent-wickeln konnten.

Der fabrikmäßigen Herstellung von Nudeler-zeugnissen widmeten sich einige kleinere Firmenim Taunus.

Bierbrauerei Henninger, um 1890.

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Geld- und Kreditwirtschaft

Ständig wachsende Bedeutung im Prozess der In-dustrialisierung erhielt für die notwendige Ka-pitalbeschaffung schließlich die Geld- und Kredit-wirtschaft. Hatten während der ersten Hälfte des19. Jahrhunderts noch immer die großen Privat-bankiers den Zahlungs- und Devisenverkehr be-herrscht – für das Rhein-Main-Gebiet sei u. a. andie Namen Rothschild und Bethmann erinnert –,

so entstanden um die Jahrhundertmitte (vonstaatlicher Seite allerdings mehr behindert alsunterstützt) Kreditinstitute in Form von Aktien-banken, deren ausdrückliche Zweckbestimmungauf dem Gebiet der Industriefinanzierung lag. Alseine der ersten derartigen Gesellschaften über-haupt wurde am 1. Juni 1853 die Bank für Handelund Industrie in Darmstadt eröffnet. Seine tra-ditionelle Rolle als Bankenzentrum konnte jedochFrankfurt behaupten; in dieser Funktion erhieltdie Stadt nach der Reichsgründung zusätzlicheImpulse, die ihr eine über die Landesgrenzen weithinausgreifende Bedeutung verschafften. Eineherausragende Stellung als Mittlerin im Kapital-verkehr behauptete aber auch die Frankfurter Bör-se, die auf ein 400-jähriges Bestehen zurückbli-cken kann und damit zu den ältesten Einrich-tungen dieser Art in der ganzen Welt gehört.Schon am Ende des 18. Jahrhunderts wurde hierder Handel mit ausländischen Staatsanleihen be-trieben, bis sich in den 80er Jahren des 19. Jahr-hunderts die Industrieaktien durchsetzten.

Besondere Erwähnung verdient noch das in derHochindustrialisierungsphase geradezu sprung-haft anwachsende Versicherungsgewerbe, das –ähnlich den Banken – Frankfurt am Main zu sei-nem bevorzugten Domizil im hessischen Raumauserwählen sollte.

Energieversorgung

Die fortschreitende Industrialisierung auf allenGebieten führte zu einem ständig wachsenden An-

stieg des Energiebedarfs. Der Verbrauch der Be-triebe wuchs in gigantische, bisher nicht gekann-te Ausmaße, die Anzahl der verwendeten Kraft-maschinen vervielfachte sich binnen kürzesterZeit. In den Farbwerken in Höchst waren um 1910insgesamt 220 Dampf- und 290 Elektromotoren inBetrieb, die zusammen eine Kraft von 17.000 PSerzeugten. Das Elektrizitätswerk dieses Unterneh-mens besaß mit 11 Millionen Kilowattstundenjährlich ein Leistungsvermögen, das entsprechen-den Einrichtungen in der Kruppschen Gussstahl-fabrik in Essen oder den städtischen Elektrizitäts-werken in Köln annähernd gleichkam. Der Wasser-verbrauch der Farbwerke von 22 Millionen Kubik-metern im Jahr wurde in Deutschland nur nochvon dem der Städte Berlin, Hamburg und Münchenübertroffen.

Die Energieversorgung auf einer breiteren Basisblieb zunächst privater Initiative vorbehalten, bisschließlich auch die Kommunen im Bereich derEnergiewirtschaft tätig wurden. Von den über öf-fentliche Netze verteilten Energiearten ist die äl-teste das Gas, das als Vorbote der Industrialisie-rung zunächst in den Straßen, aber auch in Woh-nungen und nicht zuletzt in Fabrikräumen Einzughielt, um dort die unzureichende Beleuchtungdurch Öl- oder Petroleumlampen wesentlich zuverbessern. Die erste Gasanstalt im Gebiet desheutigen Landes Hessen wurde jedenfalls schon imJahre 1828 in Frankfurt eröffnet, ihr folgten bis1870 solche in Wiesbaden, Offenbach, Hanau,Darmstadt und Homburg. Auch die Stromversor-gung wurde anfangs, besonders in kleineren Ge-

Alte Synagoge und das Stammhaus der Bankiers-

familie Rothschild in Frankfurt.

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meinden, vielfach in privater Regie betrieben. Dieersten Elektrizitätswerke im Rhein-Main-Gebietentstanden 1888 in Darmstadt, 1894 in Frankfurtund 1897 in Rüsselsheim. Nach 1900 wurden auchausgesprochen ländliche Regionen von der Elek-trifizierung erfasst; meist bezogen dabei mehrereGemeinden aus einem gemeinsamen Elektrizitäts-werk den Strom, zusätzlich traten aber auch ein-zelne Gewerbebetriebe als Lieferanten auf. Schonvor dem 1. Weltkrieg wurde die Entwicklung zumheutigen Verbundsystem eingeleitet, indem sichdie Elektrizitätswerke zu größeren Unternehmenzusammenschlossen, welche die Versorgungsgebie-te untereinander aufteilten.

Die Ausdehnung der Städte und das Wachstumder Fabriken an Zahl und Größe erforderten schonum die Mitte des 19. Jahrhunderts eine Neuor-ganisation der Wasserversorgung, die bis zu diesenZeitpunkt vorwiegend von den öffentlichen undHausbrunnen abhängig gewesen war. Nachdemsich fehlerfreie Gussrohre herstellen ließen, diedem hohen Druck bei der Fortleitung des Wassersstandhielten, konnte man daran denken, zentraleWasserversorgungsanlagen einzurichten. Frank-furt am Main erhielt ab 1873 über 66 bzw. 70 km lange Fernleitungen Quellwasser aus demVogelsberg und Spessart zugeführt, um die Jahr-hundertwende war fast schon die Hälfte der Bevöl-

kerung im Gebiet des heutigen Landes Hessen anein öffentliches Wasserleitungsnetz angeschlos-sen.

Arbeits- und Lebensverhältnisse

Das immense Wachstum der gewerblichen Produk-tion und die Entstehung einer modernen Infra-struktur zeigen jedoch nur einen Aspekt des vonder Industrialisierung initiierten Wandels auf.Eine weitere Konsequenz von enormer gesell-schaftlicher Tragweite betraf die radikale Ver-änderung der bestehenden Arbeits- und Lebens-verhältnisse: Nicht umsonst hat sich für den dasmenschliche Dasein so entscheidend beeinflus-senden Transformationsprozess im 19. Jahrhun-dert der Begriff der „Industriellen Revolution“eingebürgert. Dieser gesamtgesellschaftliche Um-bruch lässt sich aber nur begreifen, wenn maneinen Blick hinter die Fassaden der oftmals im-posanten Fabrikarchitektur wirft, denn erst jen-seits der Kulisse offenbaren sich die Auswirkungender Industrialisierung in ihrer ganzen Mannig-faltigkeit. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dassdie Tätigkeit in den Industriebetrieben für diemeisten der darin Beschäftigten die Umstellungauf einen völlig ungewohnten, von der Maschinevorgegebenen Arbeitsrhythmus bedeutete. Auchdie immer mehr fortschreitende Zerstückelungeinzelner Arbeitsschritte und die schon früh ein-setzende Rationalisierung des Herstellungspro-zesses haben zu einer weitgehenden Entfremdungdes Produzenten vom Ergebnis seiner TätigkeitKesselhaus der Fa. Kalle in Wiesbaden, um 1890.

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und zur Entstehung monotoner, repetitiver Ar-beitsweisen geführt.

In einer diese Entwicklung durchaus positivwürdigenden Beschreibung der Adlerwerke inFrankfurt aus dem Jahre 1912 liest man überdiesen Vorgang etwa folgendes: „In der Fa-

brikation der Schreibmaschinenteile kommen die so

genannten dezentralen Arbeitsmethoden zur An-

wendung, d.h. die Arbeiten, die an einzelnen Teilen

vorgenommen werden müssen, werden auf ver-

schiedene Arbeiter verteilt und zwar derart, daß

jedem Arbeiter ganz bestimmte Arbeiten zu-

gewiesen sind, die er immer und immer wieder aus-

zuführen hat. Eine solche, bis ins kleinste durch-

geführte Arbeitsteilung hat zur Folge, daß 400 bis

500 Arbeiter an der Herstellung ein und derselben

Schreibmaschine mitwirken“. (Historisch-biogra-

phische Blätter. Industrie, Handel und Gewerbe: Der

Regierungsbezirk Wiesbaden, VI. Lieferung, Berlin

o. J. (1912)).

Des weiteren hatte es erst einmal der „Er-ziehung“ von mindestens zwei Generationen vonArbeitskräften bedurft, bis es schließlich gelun-gen war, die Fabrikarbeiter dem durch die Er-fordernisse der industriellen Produktion beding-ten Zwang zum pünktlichen Erscheinen und kon-tinuierlichen Verweilen am Arbeitsplatz zu unter-werfen und sie zur pflichtgemäßen Erfüllung einesfestgesetzten Arbeitspensums unter Verzicht aufdie selbst bestimmte Gestaltung dieser Tätigkeitanzuhalten.

Ein Mittel hierzu bildeten die mit durchwegsehr strengen Bestimmungen versehenen Arbeits-

ordnungen, deren Formulierung gänzlich im Er-messen der einzelnen Fabrikanten stand und diezur innerbetrieblichen Disziplinierung der Arbei-ter eingesetzt wurden. Erst die Novellierung derGewerbeordnung im Jahre 1891 schrieb verbind-lich vor, dass sich in Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten die Fabrikstatuten an den ge-setzlichen Bestimmungen orientieren mussten.Überhaupt blieb (zumindest in der Frühphase derIndustrialisierung) die Regelung der internen Ar-beitsverhältnisse vollständig dem patriarcha-

lischen Regiment des Fabrikherren überlassen.Dieser konnte z.B. wegen des Fehlens tarifrecht-licher Abkommen Löhne und Arbeitszeiten fastnach Belieben dem jeweiligen Geschäftsgang an-passen und, da kein Kündigungsschutz existierte,sich nach Opportunität mit der ihm genehmen An-zahl von Arbeitskräften ausstatten.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhundertsschwankte die durchschnittliche tägliche Arbeits-zeit zwischen 12 und 16 Stunden, den Sonntagoftmals inbegriffen. Der verstärkte Einsatz vonMaschinen und die Forderung der Arbeiterbewe-gung nach einer Verkürzung der Arbeitszeit be-wirkten gegen Ende des Jahrhunderts ihre Re-duzierung auf zehn Stunden im Durchschnitt, vie-le der größeren Unternehmen (u.a. die Farbwerkein Höchst) gingen mit dieser Maßnahme voran.

Eine Verbesserung der Lebensverhältnisse derArbeiterschaft trat in der Zeit zwischen 1850 und1914 auch durch die Erhöhung der Reallöhne ein,dennoch lebte weiterhin eine große Zahl der In-dustriearbeiter quasi von der Hand in den Mund.In der Haushaltsrechnung eines Frankfurter Che-miearbeiters um 1850 lag beispielsweise der Anteilder Ausgaben für Nahrungsmittel bei 56%, fürMiete und Heizung mussten 19% aufgewendetwerden, ca. 15% entfielen auf den Bereich Klei-dung und Körperpflege; insgesamt bewegte sichdie Summe aller Ausgaben sogar geringfügig überdem Jahreslohn. Dadurch erklärt sich die Tat-sache, dass auch Frauen und Kinder zum Lebens-unterhalt der Familie beitragen mussten. Zwar warderen Mitarbeit in der Landwirtschaft und imPostkarte aus der Arbeiterbewegung, um 1900.

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heimindustriellen Gewerbe schon seit langer Zeitüblich gewesen, im Zuge der industriellen Ent-wicklung wurden sie nun aber auch zu einemwichtigen Bestandteil des Arbeitskräftepotenzialsin den Fabriken. Der Grund hierfür ist vor allemdarin zu suchen, dass sich wegen des erbärmlichniedrigen Lohnniveaus der Frauen und Kinder fürden Fabrikanten eine erhebliche Kostenersparniserzielen ließ. Obwohl die Gewerbeordnung desNorddeutschen Bundes vom 21. Juni 1869 die Ar-beit von Kindern unter 12 Jahren untersagte unddie Beschäftigung von 12–14-Jährigen auf eintägliches Maß von sechs Stunden beschränkte,waren Verstöße gegen diese Bestimmungen bei-nahe die Regel.

In den Berichten der Gewerbeinspektoren, wel-che seit 1875 in der Provinz Hessen-Nassau undseit 1879 im Großherzogtum u. a. die Über-wachung der Vorschriften zum Arbeitsschutz undder gesetzlichen Bestimmungen für genehmi-gungspflichtige Anlagen zur Aufgabe hatten,finden sich immer wieder Klagen über die unbarm-herzige Ausbeutung der Kinderarbeit. Erst durchdie Abänderung der Gewerbeordnung im Jahre1891 wurde die Beschäftigung von Kindern unter13 Jahren verboten und der elfstündige Maximal-arbeitstag unter Ausschluss der Nachtarbeit fürweibliche Arbeitskräfte über 16 Jahren einge-führt.

Diese kurze Andeutung des durch die Indus-trialisierung initiierten sozialen Wandels mag abergenügen, da dieses Thema eine eigene Betrach-tung verdiente.

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Eiler, Klaus (Hrsg.): Hessen im Zeitalter der industriellen Revolution, Frankfurt a. M. 1984

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Müller, Robert: Die industrielle Entwicklung Offenbachs. Eine historische Standortbetrachtung, Offenbach 1932.

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Wirtschaftsinitiative Frankfurt Rhein-Main (Hrsg.): Geschichte und Gegenwart der Wirtschaftsregion Rhein-Main, Frankfurt a. M. 2003 (Manuskript)

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