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71 GESELLSCHAFT FOTO: IMAGOEIBNER EUROPA Von Felix Hutt LEBEN Am 27. August 2015 steht ein verlassener Lkw in einer Parkbucht an der Autobahn vor Wien. In seinem Laderaum: die Leichen von 71 Flüchtlingen. Ihr Tod wird zum Symbol der gescheiterten Flüchtlingspolitik und der skrupellosen Schleuser-Kriminalität. Die Toten aber sind bald vergessen. Wer waren diese Menschen? Die Rekonstruktion einer Tragödie

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71 LEBEN GESELLSCHAFT

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Von Felix Hutt

71 LEBENAm 27. August 2015 steht ein verlassener Lkw in einer Parkbucht an der Autobahn vor Wien. In seinem Laderaum: die Leichen von 71 Flüchtlingen. Ihr Tod wird zum Symbol der gescheiterten Flüchtlingspolitik und der skrupellosen Schleuser-Kriminalität. Die Toten aber sind bald vergessen. Wer waren diese Menschen? Die Rekonstruktion einer Tragödie

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Hasan Al-Damen aus Deir az-Zur, Syrien, ließ seine Frau Nahed Asker und die zwei Kinder in Damaskus

Dad Mohammad, Afghanistan

Die Familie Alshaikh aus Deir az-Zur im Osten Syriens war auf dem Weg zur Schwester und Tochter Farah nach Deutschland: Almuthanna, Abdel, Hend und Fadila (v. l.)

Mohammad Tagik, Afghanistan

Sher Khan (l.) und Eid Mohammad, Cousins aus Paktia, Afghanistan

Shwan Jamal Hussein aus Sulaimaniyya, Irak

Alan Hamad Amin Ahmad, Irak

Mohamad Ihsan Baba, Irak, liebte es, Fußball zu spielen, und hat kurz vor der Flucht seine Jugendliebe geheiratet

Aqueel Salem Ali Mohammed aus dem Irak arbeitete als Fotograf und floh, weil er seine Familie nicht versorgen konnte

Sarbaz Hamad, Irak

Elin Hazim Kali, Irak Herish Guli Ali, Irak Ayman Muhalal, Deir az-Zur, Syrien

Ali Aland Hazim Kali, Irak, war mit seiner Schwester Elin (l.) und seinem Onkel Herish (r.) auf der Flucht

Hasan Ali Sabah aus Bagdad studierte Jura, wollte Anwalt werden und sich für die Menschenrechte einsetzen

Imad Khalaf Jassem aus Bag-dad verdiente als Friseur nicht genug. Er wollte nach Europa und seine Familie nachholen

Im Lkw starben 71 Menschen: 29 Iraker, 21 Afghanen, 15 Syrer, 5 Iraner und ein Mann, der nicht identifiziert werden konnte. 59 Männer, 8 Frauen, 4 Kinder. Drei Familien. Das jüngste Kind war 11 Monate alt. Das Ziel ihrer Fahrt: Deutschland

Ahmed Bashir Yusaf, Afghanistan

Abdul Wasil Hashemy, Afghanistan

Hawkar Hama Aziz Saleh aus Kirkuk, Irak

Saad Joumaa Majid Almawsi, Bagdad, Irak, arbeitete als Bildhauer

Von Mohamad Tamin und seiner Frau Zahra aus Afghanistan fand man im Lkw die Hochzeitsurkunde (r.), von ihrer Tochter Matin den Impfpass. Die Flecken sind getrocknete Leichenflüssigkeit

Sine Amer Gailani (r.) überredete ihren Mann Mahmoud Abdelmugeth Abidi (l.) und ihre Geschwister Ali und Seineb zur Flucht nach Deutschland, weil zwei Geschwister dort ein ruhiges Leben führten. Sie sahen in Bagdad keine Perspektive für sich. Ihr Mann Mahmoud war gerade zum O!izier mit vier Sternen befördert worden

Weitere Opfer (ohne Fotos): die Familie Rahm aus Kundus, Afghanistan: Vater Khuda, Mutter Shakereh, die drei Kinder Lida, Ahmad Shah, Mustafa und Cousin Ali Reza. Din Mohamad, Haji, Khalil, Ahmad, Ahmed, Lal Agha, Mustafa aus Afghanistan. Saeed Othman aus Sulaimaniyya, Irak. Ibrahim, Abdalkhalig, Smean, Sadasht, Hazhar, Khalid, Azad Rahim, Aso, Dakheel und Alan aus dem Irak. Mohammad, Hodjat, Amir, Mehdi und Behzad aus dem Iran.

Mohammad Sabir, Afghanistan

Khaled Hammadi Abd Elha-bib aus Deir az-Zur, Syrien, wollte in Deutschland Politik-wissenschaften studieren

Kesra Mikail Khalou, Qamischli, Syrien

Raman Khalil Mustafa, Qamischli, Syrien. Er ist der Bruder von Hussein (l.)

Murtadha Zohair Abd Essahib Mouli, Irak

Hussein Khalil Mustafa, Qamischli, Syrien. Archäolo-ge, der in Deutschland seinen Doktor machen wollte

Jihad Abd Elkader Hasan (l.) und Youssef Massud Cherif, Qamischli, Syrien

Muhannad Mustafa Ali und seine Frau Lefana Ali aus Tall Abyad, Syrien, hatten gerade geheiratet und wollten in Deutschland eine Familie gründen

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Farah Alshaikh blickt auf das Foto ihrer Familie. Sie hat ihre Eltern, ihren Bruder und ihre Schwester verloren. Anfangs konnte sie das Foto nicht ansehen. Heute steht es im Wohnzimmer-schrank

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Als sich die beiden Polizisten der Autobahn-inspektion Potzneusiedl im Burgenland am 27. August 2015 gegen 11 Uhr dem Last-wagen nähern, blickt sie von der rechten Hintertür ein Huhn auf einem Werbefoto an. „Ich schmecke so gut, weil ich so gut gefüttert werde“, steht über dessen Kopf. Durch die Ritzen des Laderaums tropft eine rötliche Flüssigkeit auf den Asphalt. Vom Lkw kommt ih-

nen Gestank entgegen. Bittet man Beteiligte, die später bei der Bergung helfen, diesen Geruch zu beschrei-ben, schütteln sie den Kopf und winken ab. Unmöglich, sagen sie, so etwas haben sie noch nie gerochen.

Der Kühllaster, Typ Volvo FL 180, mit dem ungarischen Kennzeichen Z-12198, fuhr jah-relang Masthühner durch die Slowakei, bevor ihn die Firma Hyza ausrangierte und nach Ungarn verkaufte. Er steht bereits seit über einem Tag in der Parkbucht an der A 4 Richtung Wien, kurz vor der Ausfahrt Parn-dorf. Auf der Balkanroute, wie die Autobahn genannt wird, weil sie von Wien nach Ungarn und Serbien führt, kommt es häu!ger vor, dass alte Fahrzeuge abgestellt werden. Aber es gibt Wichtigeres zu tun. Es sind über 30 Grad, Rekordsommer, Ferienzeit. Der Neusiedler See ist nicht weit, und im Outlet-Center nebenan startet das beliebte Late-Night-Shopping, die Furla-Damen-tasche für 70 statt 353 Euro.

Doch dieser Lastwagen lässt sich nicht länger igno-rieren. Ein Mitarbeiter der Autobahnmeisterei, der in der Nähe Rasen mäht, hat wegen des Gestanks die Poli-zei gerufen.

Die Beamten öffnen den Laderaum. Treten zurück. Sie sehen verwesende Körper, ineinander versunken, an-einandergelehnt, als stünden sie in einer überfüllten U-Bahn und wären eingeschlafen. Ihre Füße stecken bis zu den Knöcheln in einem Gemisch aus Kot, Urin und Leichen#üssigkeit. Die Polizisten rufen in den Lade-

raum. Niemand antwortet. Sie benachrichtigen den Notarzt und die Dienststelle. Sie machen ein Foto, das den Kollegen die Lage beschreiben soll und am nächs-ten Tag in der „Kronen-Zeitung“ erscheint. Sie schlie-ßen die Tür. Es ist zu viel. Um 11.25 Uhr schicken sie über das Polizeisystem „SMS Pro“ eine Nachricht: „Lkw mit ca. 20 Toten auf A4 Parndorf aufgefunden“.

Es sind 71 Tote. 21 Afghanen, 29 Iraker, 15 Syrer, 5 Iraner und ein Mann, der nicht identi!ziert werden kann.

59 Männer, 8 Frauen, 4 Kinder. Die Jüngste, Lida aus Kundus, Afghanis-tan, ist elf Monate alt. Verfolgte, Ver-zweifelte, Sunniten, Schiiten, Chris-ten, Lehrer, Rechtsanwälte, Händler, Polizisten, Teenager, drei Familien, FC-Barcelona-Fans, Facebook-Po-ser, ein Kaleidoskop der Mensch-

heit. 71 Tote, die uns nicht den Gefallen getan haben, weit weg im Meer zu ertrinken. 71 Leben, die sich in einem viel zu engen Laderaum von Schleppern durch Ungarn und Österreich fahren lassen wollten, weil am Ende ihrer Odyssee Deutschland leuchtete, das gelobte Land. 71 Lei-chen, die uns der Illusion beraubt haben, mit den Krie-gen und Problemen der anderen nichts zu tun haben zu können. Wenige Tage später beginnen Flüchtlinge an der österreichisch-ungarischen Grenze bei Nickelsdorf, 25 Kilometer von der Parkbucht bei Parndorf, über die Autobahn von Ungarn nach Österreich zu laufen. „Wir schaffen das“, sagt Angela Merkel und öffnet die Tore.

Es haben so viele verloren in dieser Geschichte. Nahed Asker, 31, hat ihren Mann verloren. Farah Al shaikh, 31, ihre Familie. Zwei Geschichten von vielen, die sich im Kühllaster auf der A 4 verbinden. Asker ist nach der Tragödie ihrem toten Mann mit den Kindern aus Syrien hinterhergereist, sie warten nun in einem Flüchtlingsheim in Österreich auf Asyl. Alshaikh lebt seit Langem in Deutschland. Sie hatte ihre Familie in Syrien ermutigt zu #iehen, ebenfalls nach Deutsch-land zu kommen. Nun sind alle tot. 4

Der Gestank? Die Beteiligten winken ab. Der lässt

sich nicht beschreiben

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Die Frauen kannten sich vor der Katastrophe nicht, ob-wohl beide aus Deir az-Zur im Osten Syriens kommen. Durch die Stadt !ießt der Euphrat, dort blüht Jasmin, sprudelt Erdöl, wachsen Granatäpfel und Baumwolle. Seit fünf Jahren herrscht Krieg. Asker und Al shaikh haben sich bis heute nicht getro"fen. Sie schreiben Whatsapp-Nachrichten, telefonieren. Seit dem 27. August 2015 teilen sie ihr Schicksal, aber nicht ihre Trauer. Die lässt sich nicht teilen.

„Sie haben meine Familie wie Hühner behandelt“, sagt Alshaikh. „Meine Seele ist kaputt“, sagt Asker.

Asker lebt mit ihrem Sohn Zaid, 11, und ihrer Toch-ter Tala, 5, in einem kleinen Zimmer in einem Flüchtlingsheim in der Wiener Neustadt. Sie hat drei Matratzen so nebeneinandergelegt, dass sie ein großes Bett bilden. Sie schlafen zusammen ein, wachen zusammen auf. Asker schaut gern Musikvideos von Be-yoncé, postet viel bei Facebook, trägt Leggings, Lippenstift und Mascara. Sie kocht mit den anderen Syrern. Sie weiß, welche Medikamente ihre Kinder brauchen, wenn sie krank sind, weil sie in Syrien in einer Apotheke gearbeitet hat. In Österreich darf sie nicht arbeiten. Sie spricht kein Deutsch, hat einen Antrag auf Asyl gestellt, für die Familie, die ihr geblieben ist. „Als wir uns das letzte Mal sahen, sagte mir mein Mann: Egal, was mit mir passiert, pass immer auf die Kinder auf. Diesen Wunsch werde ich ihm erfüllen“, sagt Asker.

Alshaikh wohnt mit ihrem Mann Fateh Alhamad, 41, und ihrem Sohn Omar, 1, in einer geräumigen Wohnung in Norddeutschland. Sie sprechen fast ak-zentfrei Deutsch, haben die deutsche Staatsangehörig-keit. Sie ist Gynäkologin und gerade in der Elternzeit. Er arbeitet als Internist im Krankenhaus. Während des Ramadan essen und trinken sie erst nach Einbruch der Dunkelheit. Alshaikh trägt Kopftuch, nicht weil sie muss, sondern weil sie es will. Omar hat braune Haare und Augen, lernt gerade zu laufen und landet dabei meist auf dem Hintern. Dann lächelt seine Mutter manchmal. Sie spaziert mit ihm oft zu einem kleinen Spielplatz am Ende der Straße, kauft Lebensmittel ein, ansonsten bleibt sie zu Hause. Die Nachbarn wissen nichts von ihrer Geschichte.

Zweimal ging sie im November 2014 zur Ausländer-behörde in Saarbrücken. Sie wohnten damals im Saar-land, arbeiteten im Krankenhaus, besaßen ein Auto und ein Haus in einem Vorort von Saarbrücken. Es hat-te einen Garten und mehr Zimmer, als sie benötigten. Sie fragte die Frau von der Ausländerbehörde nach dem Antrag auf Familiennachzug, den sie vor einem hal-ben Jahr gestellt hatte. Sie wollte ihre Mutter Fadila, 53, ihren Vater Abdel, 57, ihren Bruder Almuthanna, 23, und ihre Schwester Hend, 17, nach Deutschland holen, weil in Deir az-Zur kein Alltag mehr möglich war. IS gegen Regierungstruppen, die Lage war unüber-sichtlich.

Ihr Bruder Almuthanna studierte Jura und wurde vom IS verhaftet, weil er geraucht hatte. Ihre Schwester Hend

durfte nicht mehr in die Schule, kurz vor dem Abitur. Die Geschäfte ihres Vaters Abdel, der mit Autoteilen handelte, wurden geplündert, die Häuser der Familie zerstört. Farah Alshaikh telefonierte täglich mit ihrer Mutter Fadila. Sie spürte, dass die Mutter Angst hatte, auch wenn sie das nicht aussprach.

Zu der Zeit war Alshaikh im achten Monat schwan-ger. Sie wollte ihre Familie auf eigene Kosten nachho-len. Aber die Frau von der Ausländerbehörde sagte: „In der Elternzeit bekommen Sie nur 60 Prozent Ihres Ge-halts. Das reicht nicht, um Ihr Kind und Ihre Familie zu versorgen.“ – „Das bekommen wir hin. In unserem Haus ist genug Platz. Wir wollen kein Geld, wirklich nicht“, sagte Alshaikh. Die Beamtin fragte ihren Chef. Der An-trag wurde abgelehnt. Eine Woche später ging sie noch einmal zur Behörde. Sie bat, wenigstens ihre Schwester

zu sich holen zu dürfen. Sie hatte Asthma. Abgelehnt.

„Mein Vater wollte nicht !iehen. Er hatte Angst um die Familie, Furcht vor den Schleppern. Er woll-te Syrien nur verlassen, wenn sie ir-gendwo legal einreisen konnten“, sagt Alshaikh. Sie bot ihm die Zim-

mer in ihrem Haus an. Falls es nicht mehr auszuhalten sei, sollen sie kommen, egal, wie. „Ich habe Druck ge-macht. Vielleicht habe ich ihnen zu viel Druck gemacht.“

„Wir können nicht mehr“, sagt ihr Vater, als er Anfang Juli 2015 anruft. Er macht sich mit 20 000 Dollar und der Familie auf den Weg. Sie fahren in ihrem Toyota von Raqqa an die syrisch-türkische Grenze. Stellen das Auto ab, bezahlen einen Schleuser, der sie durch einen Wald führt. Sie kommen nach Urfa in der Türkei. Dort wohnt eine weitere Schwester Alshaikhs. Sie bleiben ein paar Tage. Abdel Alshaikh, der Vater, hört sich bei Bekannten um. Er sucht einen Schleuser. Ihm wird ein Mann na-mens Abules empfohlen. Ein Syrer, der von Urfa aus Schleusungen organisiert. Er kassiert Provisionen von den Schleppern und den Flüchtlingen. Abules erklärt Abdel Alshaikh Route und Preise.

Am 17. August 2015 wartet die Familie in einem Hotel in Izmir. Von der türkischen Westküste aus wollen sie über Samos, Athen und Mazedonien nach Belgrad. Dort sollen sie einen Mann namens Afghani tre"fen, der die Fahrt durch Ungarn und Österreich nach Deutschland organisiert. Die Alshaikhs sind nicht allein, ihre Gruppe besteht aus zwölf Personen. Zu ihr gehören Alshaikhs Onkel Youssef, 39, ein Bruder ihres Vaters – und Hasan Al-Damen, 36, der Mann von Nahed Asker.

Er hat Asker und die Kinder in Damaskus zurück- gelassen. Man wollte ihn zum Militär einziehen. Er soll-te für Assad kämpfen, den er verachtet. Als Lehrer kann er kein Geld mehr verdienen. Er will nach Deutschland und seine Familie später nachholen.

„Gebt uns euer Gepäck. Das passt nicht auf das Schlauchboot“, sagen die Schlepper in Izmir. Alshaikhs Schwester Hend ist entsetzt. Ihr bleiben nur ihr Handy, die Hose und das T-Shirt, das sie trägt. Auf einem Foto, das sie ihrer Schwester in Deutschland per Whatsapp schickt, weht der Wind in ihre schwarzen lockigen Haare. Sie steht am Wasser und versucht fröhlich 4

„Wir können nicht mehr“, sagt der Vater in Syrien.

Die Flucht beginnt

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Nahed Asker mit ihrer Tochter

Tala und ihrem Sohn Zaid im

Flüchtlingsheim in der Wiener

Neustadt. Das Foto oben ent-

stand in Damas-kus, kurz bevor

sich ihr Mann Hasan Al-Damen

auf die Flucht begab

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auszusehen. Es gelingt ihr nicht. Die 17-Jährige ist ein Mädchen aus der Stadt, das romantische arabische Pop-musik auf dem Smartphone hört und Medizin studie-ren will. Sie hat Angst vor dem Meer. Sie trägt einen silbernen Hochzeitsring ihrer Mutter an der rechten Hand. Er soll sie beschützen.

Die Schlepper kassieren 1200 Euro pro Person für die Überfahrt nach Samos. Zwei Anläufe scheitern. Beim ersten Mal erwischt sie die türkische Küsten- polizei, die sie am Strand wieder aussteigen lässt und das Boot versenkt. Beim zweiten Mal !ährt die Polizei Patrouille, als sie ablegen wollen.

Erst beim dritten Mal legen sie gegen Mitternacht ab. Am frühen Morgen des 19. August wird das Boot einen Kilometer vor Samos von der griechischen Küstenpoli-zei aufgebracht. Mutter Fadila ist froh. Sie musste sich die ganze Nacht übergeben. Als sie die EU betreten, geht die Sonne auf.

Im Hafen von Samos erhalten sie provisorische Rei-sedokumente, mit denen sie sich Tickets für die Fähre nach Athen kaufen können. In Samos schlafen sie eine Nacht auf dem Boden, haben wenig zu essen. Am nächs-ten Tag nehmen sie die Fähre nach Athen. Von dort aus rufen sie Farah Alshaikh in Deutschland an. Ihr Vater Abdel klingt müde, aber er sagt: „Wir sind okay. Wir ma-chen weiter.“ Ihre Schwester Hend weint. „Ich bin fertig, ich kann nicht mehr.“ Ihre Mutter Fadila würde am liebs-ten zurück nach Syrien.

In Athen ruhen sie sich aus, gehen arabisch essen. Einige aus der Gruppe würden gern etwas länger blei-ben. Aber Hasan Al-Damen, der Mann von Nahed As-ker, drängt darauf, weiterzureisen. Er glaubt, dass die Grenzen bald geschlossen werden. Nach einem Tag in Athen fahren sie mit dem Bus an die mazedonische Grenze. Dort teilen sie sich auf, versuchen an verschie-denen Stellen über den Zaun zu kommen. Die Grenz-beamten schlagen mit Stöcken nach den Flüchtlingen und sprühen ihnen Tränengas ins Gesicht. Sie erwischen Al shaikhs Bruder Almuthanna. Er kann entkommen,

erleidet nur Prellungen. Mütter werden von Kindern getrennt, viele schreien, weinen.

Die Gruppe "ndet nach einer Stunde auf mazedo- nischer Seite wieder zusammen. Es regnet, es ist kalt, sie frieren, ihre Kleider sind durchnässt. Mit dem Bus fahren sie vier Stunden durch Mazedonien Richtung Serbien. Sie schauen aus dem Fenster. Europa haben sie sich anders vorgestellt.

In Belgrad tre!fen sie den Schlepper Afghani. Ein Afghane, der schon länger in Europa lebt. Er ist dünn, hat schwarze Haare, trägt T-Shirt, Jogginghose und eine Umhängetasche. „Vertraut mir! Ich kümmere mich da-rum, dass ihr direkt nach Deutschland gefahren werdet, ohne dass ihr in Ungarn oder Österreich registriert wer-det, eure Fingerabdrücke hinterlassen müsst“, sagt er zu Al-Damen und Abdel Alshaikh, die die Verhandlungen führen. Er verlangt 1600 Euro pro Person für den Trans-port. Ein üblicher Preis für die Route in diesem Som-mer. Die Männer willigen ein. Sie hatten bei Abules in Urfa einen Teil ihres Geldes hinterlegt. Er soll die Gebühr erst dann an die Schlepper überweisen, wenn sie gut in Deutschland angekommen sind. Sie ho!fen, sich so absichern zu können, nicht betrogen zu werden.

Es ist Montag, der 24. August 2015, als die Alshaikhs am Nachmittag aus einem Hotel nahe Belgrad bei Farah Alshaikh anrufen. Die Laune ist gut. Ihr Bruder Almuthanna hat aus Syrien per E-Mail Bescheid bekom-men, dass er die Anwaltsprüfung bestanden hat. „Sei vorsichtig, was du in Zukunft zu mir sagst, ich bin jetzt Rechtsanwalt“, sagt er seiner Schwester. „Wir haben uns ein wenig ausgeruht und neue Kleidung gekauft“, er-zählt ihre Mutter Fadila. „Ich habe ein gutes Gefühl mit dem Schlepper, er scheint das nicht zum ersten Mal zu machen“, sagt ihr Vater Abdel. Ihrer Schwester verspricht Alshaikh, dass sie nach ihrer Ankunft bald in den Zoo gehen werden, in die Wilhelma in Stuttgart, weil sich Hend das schon lange wünscht.

Es ist das letzte Gespräch mit ihrer Familie.

Bilder der Flucht:Hend Alshaikh mit ihrem Onkel Youssef, der nicht in den Lkw stieg. Ihrer Schwester Farah schickte sie von der türki-schen Küste ein Foto mit o!enen Haaren. An der rechten Hand der Hochzeits- ring der Mutter, der Glück bringen soll. Ihr Vater Abdel Alshaikh blickt aufs Wasser

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Domaszék

Domaszék, Ungarn

KecskemétUNGARN

KROATIEN

SLOWAKEI

SLOWENIEN

ÖSTERREICH

ÓcsaBiatorbágy

B!ny Budapest

SERBIEN

Levél

FundortParndorf

5 Uhr

AbfahrtRaqqa, Syrien

Urfa, Türkei

Izmir, Türkei

Idomeni, Griechenland

Belgrad, Serbien

Samos, Griechenland

Athen, Griechenland

9.15 Uhr

6.03 Uhr

100 km

Am Abend !ndet sich die Gruppe um 18 Uhr im Park neben dem Busbahnhof im Zentrum Belgrads ein. Es wimmelt von Flüchtlingen und Schleppern. Belgrad ist in diesen Wochen Knotenpunkt der Flüchtlings- route über den Balkan. Afghani spricht die ganze Zeit am Handy, in einer Sprache, die sie nicht verstehen. Sein Handy ist alt. Schlepper benutzen alte Handys und Prepaidkarten, um nicht geortet werden zu können. Flüchtlinge benutzen Smartphones, weil sie das In-ternet so dringend brauchen wie Wasser. Das Telefon ist ihr einziger Kontakt zu denen, die sie verlassen mussten.

„Wartet im Park, bis es dunkel wird. Es gibt viel Polizei, wir müs-sen vorsichtig sein“, sagt Afghani. Die meisten versuchen zu schlafen. Um Mitternacht weckt sie Afghani. Sie folgen ihm durch die Nacht, an den Schienen der Straßenbahn entlang, über eine Brücke, die den Fluss Save überquert, zu einem Parkplatz. Vom Ufer dröhnen die Bässe der Diskothe-ken. Die Belgrader Jugend feiert.

Afghani fordert sie auf, sich in drei Gruppen aufzu-teilen. Jeweils vier Personen würden in einem Auto mit-genommen. Im ersten !ährt ein Schlepper Mutter Fadi-la, Bruder Almuthanna und Al-Damen weg. Im zweiten sitzt Youssef Alshaikh, als Letztes verlassen Vater Ab-del und Schwester Hend im dritten Wagen den Park-platz. „Du !ährst mit deiner Mutter, passt auf sie auf“, sagt Abdel Alshaikh zu seinem Sohn Almuthanna, der bei seinem Onkel Youssef einsteigen wollte. Die Ent-scheidung kostet Almuthanna das Leben.

Drei Stunden dauert die Fahrt Richtung Norden, über die Autobahn E 75 durch "aches Land an die serbisch-ungarische Grenze. Draußen "iegt die Dunkelheit vor-bei, alles ist schwarz. Verschwunden das Gefühl für Zeit und Orientierung.

Die Schlepper setzen ihre Passagiere in einem Wald bei Domaszék auf der ungarischen Seite der Grenze ab. Nach dem ersten kommt etwas später der dritte Wagen

an. „Wartet hier, wir kommen bald zurück“, sagen die Schlepper. Die Alshaikhs stehen im Wald.

Nur Youssef Alshaikh fehlt, der Onkel. Das zweite Auto, in dem er saß, stoppte plötzlich, nach zwei Stun-den Fahrt. Der Schlepper hatte einen Anruf erhalten, auf Serbisch in sein Telefon geschrien. Er warf die Flüchtlinge auf der Autobahn aus dem Wagen. „Waiting, waiting“, rief er und fuhr weg. Youssef Alshaikh hatte keine SIM-Karte in Serbien gekauft, konnte niemanden

anrufen. Sie kommen im Morgengrauen

zu einem Dorf, fahren mit dem Taxi zurück nach Belgrad. Er erwirbt eine SIM-Karte und ruft seinen Bruder an. Abdel Al shaikh erzählt, dass sie mit anderen Flüchtlingen zusammengeführt wurden und in

einem Wald warten. „Wir haben Hunger und Durst, bring etwas zu essen und zu trinken mit“, sagt er. „Fahrt nicht weiter“, sagt Youssef Alshaikh, „irgendetwas stimmt nicht.“ Er kommt nicht nach. Das rettet ihm das Leben. Die Gruppe zer!ällt.

Am 25. August 2015 schreibt ihr Vater Farah Al-shaikh eine Nachricht: „Sitzen im Wald und war-ten, dass es weitergeht.“ Sie will antworten, aber auf einmal ist er weg. Sie sieht bei Whatsapp, dass er um 12 Uhr das letzte Mal online ist. Auch den Rest der Familie erreicht sie nicht mehr. Um 22 Uhr bekommt Nahed Asker in Damaskus die letzte Nachricht von ihrem Mann Hasan Al-Damen. „Ich bin im Wald. Die Schlepper sagen, dass wir wegen der Polizeikontrollen warten müssen. Ich habe Hunger und esse Äpfel von den Bäumen. Bitte küsse die Kinder von mir. Bald ist alles vorbei.“

Eine Woche zuvor kauft ein Mann bei einem Gebrauchtwagenhändler in Kecskemét den Kühl-laster. Er lässt den Lkw auf seinen Namen zu, gibt sich keine Mühe, seine Identität zu verschleiern. 4

Die Fluchtroute aus Syrien bis nach Parndorf. Die Fahrt im Lastwagen dau-erte etwa vier Stunden. Nach spätestens zwei Stunden war der Sauersto! aufgebraucht

„Du fährst mit deiner Mutter“, sagt der Vater. Das kostet den Sohn das Leben

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Die Geschäfte mit den Flüchtlingen laufen gut, täglich fahren Hunderte Schlepperfahrzeuge unkontrolliert Richtung Österreich. Der Mann gehört zu einer Schleu-sergruppe, die über 20 Schleppungen organisiert und durchgeführt hat. Sie besteht aus vier Bulgaren und dem Afghanen. Die fünf Männer sind alle am 27. August 2015 an der Tat beteiligt. Die Fuhre ist wertvoll, 71 mal 1600 Euro. Da kümmern sich die Bosse selbst drum.

Am Mittwoch, dem 26. August 2015, fahren die Schlepper den Kühllaster gegen vier Uhr morgens aus Kecskemét zum Wald an der Grenze. Kecske-mét, eine alte, ungarische Univer-sitätsstadt, liegt eine Stunde nörd-lich bei Domaszék. Der Himmel ist klar, es wird wieder ein schöner, heißer Tag in Südungarn, wo Toma-ten, Paprika, Erdbeeren und Aprikosen wachsen.

Im Wald verstecken sich seit mehr als einem Tag die 71 Flüchtlinge und warten auf die Weiterfahrt.

Die Familie Alshaikh aus Deir az-Zur, Syrien. Die Familie Rahm aus Kundus, Afghanistan. Vater Khuda, seine Frau, drei Kinder, darunter die kleine Lida, und ein Cousin. Rahm arbeitete in Afghanistan als Polizist. Die Taliban bedrohten ihn und seine Fami-lie. Muhannad Ali und seine Frau Lefana aus Tall Abyad, Syrien, die vor drei Monaten geheiratet haben und in Deutschland eine Familie gründen wollen. Der Iraker Mahmoud Abidi, der gerade zum Of!zier mit vier Ster-nen be"ördert wurde und mit seiner Frau Sine Gailani aus Bagdad #oh. Sie will zu ihrem Bruder nach Deutsch-land, weil der als Ingenieur dort ein gutes Leben führt. Sie überredete nicht nur ihren Mann, sondern auch ihre Geschwister Ali und Seineb Gailani mitzukommen. Der Kurde Saeed Othman aus Sulaimaniyya im Nordirak. Er ho"ft, dass ihm ein Arzt in Deutschland helfen kann, weil er nur noch eine Niere hat und die ihm Schmerzen be-reitet. Mohammed Baba aus Karkur, Irak, der keine Arbeit !ndet und sich eine Karriere als Fußballpro! zutraut.

Nichts deutet darauf hin, dass die Flüchtlinge zum Einsteigen gezwungen werden mussten.

Um fünf Uhr "ährt der Lastwagen bei Domaszék auf die Autobahn M 5 Richtung Norden, wird von den Ka-meras des ungarischen Mautsystems erfasst. Ein Auto eskortiert den Lkw, "ährt zehn Minuten vorneweg. Das Begleitfahrzeug soll die Schlepper im Laster warnen, falls es auf der Strecke Polizeikontrollen gibt, und die Fahrer einsammeln, wenn etwas schie#äuft.

Der Lkw passiert um 6.03 Uhr Kecskemét, zwei Stunden später Budapest und erreicht um 9.15 Uhr Nickelsdorf, die Grenze zu Öster-reich. Etwa 20 Minuten später stel-len ihn die Schlepper in der Park-bucht bei Parndorf ab. Warum? Die Schleuser schweigen. Eine Polizei-

sperre gab es an diesem Tag auf der Strecke nicht. Die Gruppe muss irgendwie realisiert haben, dass ihre Fracht verloren ist.

Der Laderaum des 7,5-Tonners lässt sich nicht von innen ö!fnen. Das Kühlaggregat funktioniert nicht. Es hätte die Luft ohnehin nur umgeschichtet, aber keinen Sauersto"f zugeführt. Den Flüchtlingen blieb nur der Sauersto"f, der zu Fahrtbeginn im Lade-raum war. Um festzustellen, wo sie gestorben sind, ob die ungarische oder die österreichische Justiz zuständig ist, wird nach dem Auf!nden des Lkws ein Gutachten in Auftrag gegeben. Es berechnet das Volumen des Laderaums und teilt es durch die Anzahl der Personen. Etwa fünf Flüchtlinge standen auf einem Quadratmeter Lade#äche. Sie müssen noch vor acht Uhr in Ungarn erstickt sein. Man !ndet im Laderaum und an den Leichen keine Spuren eines Todeskampfs. Es ist davon auszugehen, dass sie vom Sauersto"fman-gel in Ohnmacht gefallen und bewusstlos gestorben sind. Die Stellung der Leichen zeigt, dass Kinder in die Höhe gehalten wurden. Die Leichen eines Paares sehen aus, als umarmten sie sich.

Farah Alshaikh wirft sich auf den Sarg ihres Bru-ders Almuthan-na. Hinter ihr steht ihr Mann Fateh Alhamad. Die Beerdigung fand am 7. Okto-ber 2015 in Wien-Inzersdorf statt

Der Laderaum lässt sich nicht von innen öffnen.

Sie haben keine Chance

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Felix Hutt berichtete bereits im vergangenen Jahr vom Au!inden des Lastwagens in der Parkbucht. Damals trocknete die Leichenflüssigkeit auf dem Asphalt. Heute stehen in der Wiese Kerzen zum

Gedenken, aber die nimmt man nur wahr, wenn man anhält. Ghofran Fetaiti half bei den Recherchen

Die Schleuser werden kurz nach dem Auf!nden des Lkws in Kecskemét verhaftet. Sie sind dabei, ihre Flucht vorzubereiten, aber das Kennzeichen und die Aufzeichnungen der Autobahnkameras führen die Ermittler schnell zu ihnen. Sie sitzen in Kecskemét in U-Haft und äußern sich nicht. Im September soll Anklage erhoben werden, Anfang nächsten Jahres der Prozess beginnen.

Der Lkw wird von der Parkbucht in eine Halle nach Nickelsdorf gebracht, die sich kühlen lässt. Gerichtsme-diziner tragen die Leichen aus dem Laderaum, fotogra-!eren sie, ordnen ihnen Gegenstände zu, zum Beispiel Pässe, die in Brusttaschen stecken, Geld, das in Ärmel oder Gürtel eingenäht ist. Bei Hasan Al-Damen, dem Mann von Nahed Asker, !ndet man sein Lehrer-Diplom. Er hatte es auf Deutsch übersetzen lassen, um später Arbeit !nden zu können.

Da die Polizisten vormittags den Laderaum geö!f-net hatten, gelangte Luft hinein, die Verwesung der Leichen wurde beschleunigt. Bei ihrer Bergung sehen die Opfer aus wie dunkelhäutige Menschen. Auf Rucksäcken und Jacken kleben Leichenfetzen. Die meisten Handys sind in einem Zustand, als habe man sie in ein Säurebad geworfen. Sie sind nicht einmal mehr für Forensiker zu gebrauchen. Über die letzten Momente im Lastwagen ist auf diesem Weg nichts zu erfahren.

Die Gerichtsmediziner versehen die weißen Leichen-säcke mit Nummern. Namenlos liegen die Toten da. Anders als bei einem Flugzeugabsturz gibt es keine Passagierliste, die abgearbeitet werden kann. Die Ermittler schalten eine Hotline für Angehörige. Sie brauchen die DNA von Verwandten, um die Toten identi!zieren zu können. Bei einem Mann meldet sich niemand. Es dauert bis zum 10. Dezember 2015, bis die Identi!zierung der anderen abgeschlossen ist.

Nahed Asker sieht am Nachmittag des 27. August 2015 im Fernsehen einen Bericht über den Lkw.

Sie wohnt mit den Kindern bei ihrer Mutter in Damas-kus. Asker sagt, dass sie sofort gespürt habe, dass ihr Mann tot ist. Als sie der Übersetzer der Landespolizei-direktion Burgenland, die die Identi!zierung durch-führt, ein paar Wochen später anruft, schreit sie nicht.

Die Leiche ihres Mannes kann nicht nach Syrien überstellt werden. Er wird auf dem muslimischen Friedhof Inzersdorf in Wien bestattet. Asker will sich von ihrem Mann verabschieden. Sie macht sich mit den Kindern auf den Weg nach Wien. Die Flüchtlingsroute ist nun o"fen.

Farah Alshaikh hält Omar auf dem Arm, steht am Fenster ihres Hauses in Saarbrücken und schaut in den Garten, als der Anruf kommt. Man habe die Pässe gefunden. Sie lässt Omar fallen.

Seit Anfang des Jahres leben sie in Norddeutschland. Sie konnte die Fragen der Freunde in Saarbrücken nicht mehr hören, war des Beileids überdrüssig. Vor Kurzem hat sie ein Bild ihrer Familie in den Schrank über den Fernseher im Wohnzimmer gestellt. Die Alshaikhs sind auch auf dem Friedhof Inzersdorf begraben. Bei der Be-erdigung am 7. Oktober 2015 besteht Farah Alshaikh da-rauf, das Gesicht ihrer Mutter zu sehen. Sie lässt den Sarg ö"fnen. Seitdem war sie nicht mehr auf dem Fried-hof. Sie scha"ft es nicht.

Am Wochenende nach der Katastrophe von Parndorf kamen Tausende Flüchtlinge an deutschen Bahn- höfen an. Ihnen wurde applaudiert, Wasser und Kleidung gereicht. Die Kinder bekamen Teddys und Süßigkeiten. Viele verlassen in diesen Wochen die Turnhallen und Notunterkünfte. Sie fangen ein neues Leben an. 2

Dokument des Grauens: Zwei Polizeibeamte ö!nen den Lkw und nehmen dieses Foto auf. Es soll ihren Kollegen die Lage schildern und steht schon am nächsten Tag in der Zeitung

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