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Gewachsene Liturgie: Liturgiegeschichte und ihre Reformen Hinführung: Liturgiereform als Bruch oder als organische Entwicklung? Benedikt XVI. / Joseph Ratzinger: „In der Liturgiegeschichte gibt es Wachstum und Fortschritt, aber keinen Bruch. Was früheren Generationen heilig war, bleibt auch uns heilig und groß; es kann nicht plötzlich rundum verboten oder gar schädlich sein. Es tut uns allen gut, die Reichtümer zu wahren, die im Glauben und Beten der Kirche gewachsen sind und ihnen ihren rechten Ort zu geben.“ SC 23: „Damit die gesunde Überlieferung gewahrt bleibe und dennoch einem berechtigten Fortschritt die Tür aufgetan werde, sollen jeweils gründliche theologische, historische und pastorale Untersuchungen vorausgehen, wenn die einzelnen Teile der Liturgie revidiert werden. … (Es) sollen keine Neuerungen eingeführt werden, es sei denn, ein wirklicher und sicher zu erhoffender Nutzen der Kirche verlange es. Dabei ist Sorge zu tragen, dass die neuen Formen aus den schon bestehenden gewissermaßen organisch herauswachsen.“ Prof. Dr. Cornelius Roth VL Gewachsene Liturgie WS 2014/2015 1

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Gewachsene Liturgie: Liturgiegeschichte und ihre Reformen

Hinführung: Liturgiereform als Bruch oder als organische Entwicklung?

Benedikt XVI. / Joseph Ratzinger: „In der Liturgiegeschichte gibt es Wachstum und Fortschritt, aber keinen Bruch. Was früheren Generationen heilig war, bleibt auch uns heilig und groß; es kann nicht plötzlich rundum verboten oder gar schädlich sein. Es tut uns allen gut, die Reichtümer zu wahren, die im Glauben und Beten der Kirche gewachsen sind und ihnen ihren rechten Ort zu geben.“

SC 23: „Damit die gesunde Überlieferung gewahrt bleibe und dennoch einem berechtigten Fortschritt die Tür aufgetan werde, sollen jeweils gründliche theologische, historische und pastorale Untersuchungen vorausgehen, wenn die einzelnen Teile der Liturgie revidiert werden. … (Es) sollen keine Neuerungen eingeführt werden, es sei denn, ein wirklicher und sicher zu erhoffender Nutzen der Kirche verlange es. Dabei ist Sorge zu tragen, dass die neuen Formen aus den schon bestehenden gewissermaßen organisch herauswachsen.“

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Hinführung: Liturgiereform als Bruch oder als organische Entwicklung?

Ansatz der organischen Liturgieentwicklung (Alcuin Reid)

A. Reid: „Eine organische Entwicklung ist im richtigen Verhältnis offen für Wachstum (bedingt durch pastorale Erfordernisse) und Kontinuität innerhalb der Tradition. Sie hört auf die desiderata der Wissenschaft und erwägt immer wieder aufs Neue den Wert von Bräuchen, die im Laufe der Zeit verloren gegangen sind, um, gestützt auf diese, und nur wenn es wirklich notwendig ist, die liturgische Tradition allmählich zu verbessern. Die kirchliche Autorität muss dieses Wachstum überwachen und bisweilen klug ermessen, was im Lichte der Bedürfnisse einer Zeit angebracht ist, immer darauf achtend, dass die liturgische Tradition niemals verarmt und dass das, was weitergegeben wird, wirklich jenes kostbare Erbe ist, welches wir von unseren Vorfahren empfangen haben - möglicherweise vorsichtig zurechtgestutzt und sorgfältig bereichert (jedoch nicht völlig umgebaut), entsprechend den Gegebenheiten, in denen sich die Kirche in jedem Zeitalter befindet -, um so die Kontinuität von Glaube und liturgischer Praxis zu gewährleisten.“

KKK 1125: „Selbst die höchste Autorität in der Kirche kann die Liturgie nicht nach Belieben ändern, sondern nur im Glaubensgehorsam und in Ehrfurcht vor dem Mysterium der Liturgie.“

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Hinführung: Liturgiereform als Bruch oder als organische Entwicklung? Streitfragen in der Debatte um Bruch und Kontinuität

Steht die liturgische Reform, die Paul VI. umgesetzt hat - im Ganzen oder in Teilen - in Kontinuität mit der liturgischen Tradition oder stellt sie einen Bruch derselben dar? Ist sie eine organische Entwicklung traditioneller Überlieferungen oder ist sie eine Abkehr davon - eine radikale Neuerung in Diskontinuität? Fasste das Zweite Vatikanische Konzil die initiierte Liturgiereform als eine organische Weiterentwicklung der liturgischen Tradition oder als einen radikalen Bruch mit den überlieferten liturgischen Traditionen auf?

Bild von der Eiche (Jungmann / Reid)Wachstum von der Eichel bis zu Eiche: Letztere ist im Aussehen von der Ersteren völlig verschieden, und dennoch das eine im anderen bereits eingeschlossen Analogie veranschaulicht sehr gut, wie die allmähliche, wahrhaft organische Entwicklung in Laufe der Zeit kontinuierlich eine komplexere, weiter entwickelte Wirklichkeit hervorbringt

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Hinführung: Liturgiereform als Bruch oder als organische Entwicklung? Grundthesen Alcuin Reids

1. Eine angemessene oder wachsende Veränderung liturgischer Riten kann als organische Entwicklung betrachtet werden. Je nach den Erfordernissen entstehen neue Texte und Riten. Andere werden nicht mehr benutzt und schließlich gestrichen. Die Feier der Gläubigen und ihr Erleben der liturgischen Riten sind aber von Kontinuität geprägt. Bsp.: Position des Vater unsers in der Hl. Messe (Gregor d.Gr.); Einführung des Agnus Dei (Sergius I.)

2. Bedeutende, sich über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte vollziehende Veränderungen führen zu keinem Bruch im liturgischen Leben oder Feiern. Obwohl sich der Verlauf der liturgischen Entwicklung signifikant ändert, reißt die lebendige Tradition nicht ab, wie es bei einem plötzlichen radikalen Wechsel von einer Liturgie zur anderen der Fall wäre. Wenn diese Veränderungen im Laufe der Zeit erfolgen, zunächst lokal und fakultativ, und allmählich einen größeren und beständigen Raum innerhalb der Liturgie erlangen oder diesen bestimmt bekommen, kann solch eine liturgische Entwicklung gleichfalls als organisch bezeichnet werden. Bsp.: Wechsel der Liturgiesprache vom Griechischen zum Lateinischen im 4. Jh., Karolingische Liturgiereform im 8. /9. Jh.

3. Substantielle rituelle Veränderungen, die nicht im Verhältnis zur existierenden liturgischen Tradition stehen und schnell umgesetzt oder angeordnet werden, sind abzulehnen. Sie bewirken einen Bruch, denn sie verändern viele, wenn nicht die meisten Elemente des liturgischen Lebens und der Feier der Gläubigen in kurzer Zeit radikal. Die Liturgie wird als Ganze von einer kultischen Entität hin zu einer anderen geändert. Eine Kontinuität der kultischen Formen ist nicht ohne weiteres wahrnehmbar, selbst dann nicht, wenn einige der Elemente der früheren Riten bewahrt wurden. Bsp.: Brevier des Kardinals Quinonez im 16. Jh.; Synode von Pistoia im 18. Jh.

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Hinführung: Liturgiereform als Bruch oder als organische Entwicklung? Kritik an Reids Ansatz der organischen Liturgieentwicklung

Oswald McBride: Evolutive Liturgie / Liturgischer DarwinismusWie in der Biologie kann man auch in der Liturgie anstelle eines einfachen Entwicklungsprozesses, in dem die Vielfalt mit der Zeit stetig zunimmt viel komplexere Muster episodischer Kreativität und wiederkehrenden Absterbens beobachten, bei denen nur wenige Baupläne erfolgreich genug sind, um zu überleben und als Vorlage für zukünftige Entwicklungen auf der jeweiligen evolutionären Stufe zu dienen.Wenn wir wirklich akzeptieren sollten, dass liturgische Entwicklung in ihrer Natur „organisch“ ist, dann müssen wir den Tod - in diesem Fall den Verlust bestimmter Elemente innerhalb der Liturgie, seien es Texte oder Riten - ebenso als einen normalen Bestandteil des organischen Prozesses akzeptieren. Die Liturgie ist ein Ort, an dem jede Gemeinschaft ihren Glauben ausdrücken kann und jede Generation versucht, die Liturgie zu den Menschen ihrer Zeit „sprechen“ zu lassen.

Kritik: Die Liturgie ist nicht vorrangig ein pastorales oder didaktisches Werkzeug. Die Liturgie ist kein Forum, auf dem Menschen ihre eigene Identität reflektieren, sondern sie gibt den Menschen Identität und (mit ausdrücklicher Ausnahme der liturgischen Predigt) „lehrt“ sie durch die rituelle Begegnung, durch die Erfahrung des lebendigen Christus.

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Hinführung: Liturgiereform als Bruch oder als organische Entwicklung?

John F. Baldovin: Liturgiegeschichte als Geschichte der Brüche

Die Reform des II. Vatikanums hatte zahlreiche Präzedenzfälle im Laufe der Geschichte, die man als einen „Bruch“ mit der bisherigen Liturgie bezeichnen könnte. Wenn man die Realität (oder die Bedeutung) der Diskontinuität der Tradition bestreitet, wird man gelähmt, hypnotisiert vom Gehalt der Tradition selbst an irgendeinem Punkt der Entwicklung.Die Reform in der Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils steht voll und ganz im Einklang mit der Tradition, einer Tradition, die schon immer diskontinuierlich war.

KritikDas Prinzip der organischen Entwicklung leugnet weder Veränderung in den liturgischen Formen noch das Aufkommen signifikanter Entwicklungen über Jahrhunderte hinweg

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Hinführung: Liturgiereform als Bruch oder als organische Entwicklung?

Arnold Angenendt: Liturgische „Brüche“ im Mittelalter

Die Behauptung einer organischen Entwicklung der Liturgie ohne Umbrüche und Abbruche ist historisch nicht zu halten„Abbrüche“, die Anzeichen von Brüchen sind, waren im Mittelalter der Empfang der heiligen Kommunion in den Mund, die Zelebration privater Messen und, vielleicht noch schwerwiegender, die theologische (und damit einhergehende kultische) Evolution von der Eucharistie zur „Messe“. Auch das Auftauchen des Römischen Kanons ist weder organisch gewachsen noch altehrwürdig, sondern ein „Prototyp eines Bruches“.Die einfache Liturgie, die aus der patristischen Zeit hervorging, wurde durch spätere Entwicklungen im Mittelalter „korrumpiert“.

KritikIn der weit verbreiteten Annahme, die Liturgie des Mittelalters sei einfach nur ein Abfall vom Ideal der Urkirche gewesen, zeigt sich ein mangelnder Respekt für die empfangene liturgische Tradition, die sich (organisch) unter dem Einfluss des Heiliges Geistes entwickelt hat – auch nach dem Ende des 4. Jahrhunderts.

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Hinführung: Liturgiereform als Bruch oder als organische Entwicklung?

Andreas Odenthal: Unorganische liturgische Entwicklung

Das Bild organischen Wachstums ist kaum geeignet ist, die epochalen Akzentsetzungen zu beschreiben, wie sie im Mittelalter (v.a. unter Bonifatius und den Karolingern) getätigt wurden.Die Verschmelzung unterschiedlicher liturgischer Traditionen, die sich über einen sehr langen Zeitraum hinzog, um dann ihrerseits die römische Liturgie prägend zu verändern, könnten evtl. mit dem Bild organischen Wachstums verbunden werden.In Teilen gibt es immer wieder Brüche der Tradition, indes keinen grundsätzlichen BruchEine Kontinuität der Feiertradition schließt indes Brüche in der Feiergestalt und auch in manchem theologischen Gehalt nicht aus (wie das Beispiel der mittelalterlichen Reform ebenso zeigt wie die Reform des II. Vatikanums).

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I. Periode der schöpferischen Anfänge: Von der Himmelfahrt Jesu bis zu Gregor dem Großen (30-604)

1. Die Liturgie in einer verfolgten Kirche (30-312)a. Neues Testament- keine systematische Darstellung des urchristlichen Gottesdienstes- Ausdrücke für die gottesdienstliche Feier der Urgemeinde:

„zusammenkommen“ und „sich versammeln“- Inhalt dieser häuslichen Versammlungen sind das Brotbrechen und

Mahlhalten „in Freude und Einfalt des Herzens“ (Apg 2,46)- Formen des jüdischen Gebetes wie die Berakot (= Lobpreisungen) und

Einzelelemente wie das Halleluja, Amen, Hosanna flossen mit ein- In der Verkündigung der Apostel und der anderen Augenzeugen des

Lebens Jesu wurden die Erinnerung an die Heilstaten Gottes lebendig- Insbesondere gewann die gottesdienstliche Versammlung am Sonntag

schon früh an Bedeutung (aber nur langsame Loslösung von der jüdischen Festfeier)

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I. Periode der schöpferischen Anfänge: Von der Himmelfahrt Jesu bis zu Gregor dem Großen (30-604)

1. Die Liturgie in einer verfolgten Kirche (30-312)a. Neues Testament- Ein Grundelement neutestamentlicher Liturgie war die Spendung der

Taufe- Auch die Sündenvergebung spielt eine Rolle- Eine feste Ordnung des Gottesdienstes lässt sich für die Frühzeit nicht

erkennen. - Geistgewirkte (charismatische) Vielfalt unter Mitwirkung vieler

Gemeindemitglieder (1 Kor 14,26: „Tätige Teilnahme“; Eph 5,19f: Lobpreis und Jubel; 1 Kor 14, 26.40: Ordnung im Gottesdienst)

- Mit dem Aufkommen von Häretikern und Pseudocharismatikern wächst am Ende des 1. Jhs die Sorge um die Reinerhaltung der Lehre und des Gottesdienstes (Pastoralbriefe)

- Das prophetische Element wird nur noch am Rand erwähnt

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I. Periode der schöpferischen Anfänge: Von der Himmelfahrt Jesu bis zu Gregor dem Großen (30-604)

1. Die Liturgie in einer verfolgten Kirche (30-312)b. Quellen- Die ersten Generationen von Christen verwendeten im Gottesdienst und

bei anderen liturgischen Handlungen abgesehen von der Bibel, aus der vorgelesen wurde, keine geschriebenen Texte.

- Sie improvisierten und hielten sich dabei an allmählich entstehende mündliche Traditionen (vgl. Basilius von Caesarea)

- Erst allmählich wurden liturgische Texte schriftlich fixiert und bildeten sich bestimmte Liturgien heraus, die in festen Formen weiter tradiert wurden.

- Aufgrund dieses langsamen Übergangs von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit sind nur relativ wenige liturgische Texte aus den ersten Jahrhunderten bekannt.

- Anders steht es mit theologischen Aussagen zu liturgischen Vollzügen: Hier gibt es viele Informationen in den Quellen der sog. Kirchenordnungen.

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I. Periode der schöpferischen Anfänge: Von der Himmelfahrt Jesu bis zu Gregor dem Großen (30-604)

1. Die Liturgie in einer verfolgten Kirche (30-312)b. Quellen- Didache (Ende 1. Jh.): Älteste liturgische Anweisung zu Taufe und

Eucharistie- Justin (Mitte 2. Jh.): Ältester Ablauf eines Gottesdienstes- Tertullian (um 200): „Über die Taufe“, „Über die Buße“; Cyprian (3. Jh.)- Syrische Didaskalie (Mitte 3. Jh.): Kirchenordnung mit Informationen zur

Liturgie in Syrien- Legendarische Apostelakten (Johannes- und Thomasakten): geben mit

ihren Beschreibungen liturgischer Abläufe die reale Praxis eher wieder als die Normierungen in den Kirchenordnungen

- Traditio apostolica (3. Jh.): Trotz Schwierigkeiten btrf. Autor, Redaktor und Titel eine wichtige Quelle für den Gottesdienst im 3. Jh. (erstes eucharistisches Hochgebet) mit großer Auswirkung auf die Reform des 20. Jhs (2. Hochgebet, Bischofsweihegebet)

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1. Die Liturgie in einer verfolgten Kirche (30-312)b. Quellen- Pilgerbericht Egerias (Itinerarium Egeriae): Detaillierte Beschreibung der

Gottesdienste in Jerusalem Ende des 4. Jhs (um 380) – wird ergänzt durch das armenische Lektionar und das georgische Kanonar

- Mystagogische Katechesen: Geistliche Erläuterungen der Initiationssakramente (Taufe und Eucharistie), die der Bischof den Neugetauften in der Woche nach Ostern (dem Tauftermin) gegeben hat

- Cyrill / Johannes von Jerusalem (um 380/390): Mystagogische Katechesen- Theodor von Mopsuestia († 428): Katechetische Homilien- Johannes Chrysostomus († 407): Mystagogische Katechesen- Ambrosius von Mailand († 397): „De sacramentis“, „De mysteriis“

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1. Die Liturgie in einer verfolgten Kirche (30-312)c. Verbindung zum jüdischen Gottesdienst- Da das Christentum aus dem Judentum entstanden ist, hat es seine

gottesdienstlichen Formen im Rahmen des zeitgenössischen Judentums ausgebildet.

- Etliche Elemente der christlichen Liturgie gehen auf jüdische Praktiken zurück: Anrufung des einzigen Gottes, Gebetszeiten (Tagzeitenliturgie), Gebetsformen (Berakah – eucharistisches Hochgebet, 18-Bitten-Gebet – Fürbitten), wöchentlicher Rhythmus des Gottesdiensttages, Lesungen und Gesang aus den Psalmen, Ostern und Pfingsten, Eucharistie, Taufe, Buße

- Die Übernahme der jüdischen liturgischen Bräuche wird oftmals nicht direkt oder bewusst, sondern wie „von selbst“ stattgefunden haben.

- Bild des Paulus vom wilden Zweig, der dem edlen Stamm eingepfropft wurde, hat in dieser Hinsicht eine gewisse Berechtigung (Röm 11).

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1. Die Liturgie in einer verfolgten Kirche (30-312)c. Verbindung zum jüdischen Gottesdienst- Beziehung aller liturgischen Handlungen auf Jesus Christus (entscheidende

Differenz zwischen jüdischer und christlicher Liturgie)- Neuere Forschung: nicht der Synagogengottesdienst, sondern die jüdische

Tempelliturgie war ein wichtiger Ausgangspunkt für die Gestaltung der christlichen Eucharistiefeier.

- Neues Priesterverständnis (im Unterschied zum Tempel): alle Mitglieder der Gemeinde haben aufgrund der Taufe priesterliche Würde

- Gleichzeitige Entwicklung von christlicher Liturgie und jüdischem Synagogengottesdienst

- Parallele Entwicklung der christlichen Kirchen und des rabbinisch geprägten Judentums in der Spätantike

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1. Die Liturgie in einer verfolgten Kirche (30-312)d. Austausch und Abgrenzung zur hellenistischen Religiosität- Zunächst ist festzustellen, dass aus der hellenistischen („heidnischen“)

Religiosität Elemente in die christliche Liturgie eingegangen sind- Beispiele: Exorzismen und Salbungen bei der Taufe, Wendung beim Gebet

nach Osten (entgegen der jüdischen Wendung Richtung Jerusalem), Ostung der Kirchengebäude (gen Sonnenaufgang)

- Auch viele liturgische Ausdrücke stammen aus der griechisch-hellenistischen Umwelt: der Begriff „Liturgie“ (leiturgia) selbst, „Mysterium“ und „Sakrament“, „Eucharistie“, „Epiklese“ und „Agape“; dazu kommen einige Gebetsformeln („von Ewigkeit zu Ewigkeit“) und Akklamationen (Kyrie eleison = „Herr, erbarme dich“).

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I. Periode der schöpferischen Anfänge: Von der Himmelfahrt Jesu bis zu Gregor dem Großen (30-604)

1. Die Liturgie in einer verfolgten Kirche (30-312)d. Austausch und Abgrenzung zur hellenistischen Religiosität- Generell hat sich das Christentum in seiner frühesten Zeit gegen die

hellenistischen Religionen und Kulte aber eher abgegrenzt- Unterschiede im Bereich des Kultes klar sichtbar: Christen feierten einen

geistigen, innerlichen Gottesdienst in Räumen von Privathäusern (keine Tempel, keine Altäre, keine Götterbilder, keine Opfer, keine Priester)

- Vom 3. Jahrhundert an verschwanden diese deutlichen Unterschiede zwischen Christentum und Heidentum im Bereich von Kult und Liturgie

- Seit dem 4. Jahrhundert große, repräsentative Kirchenbauten- Immer mehr heidnische kultische Elemente dringen in das liturgische

Zeremoniell ein- In Raumgestaltung, Gewandung, Gebärde, Gesang und Sprache waren die

Ausdrucksformen der antiken Liturgie seit dem 4. Jh. die der eigenen, zeitgenössischen Kultur

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1. Die Liturgie in einer verfolgten Kirche (30-312)e. Suche nach einem Sakramentsbegriff- Die Alte Kirche kannte keinen Sakramentsbegriff als Oberbegriff für

bestimmte liturgische Vollzüge, etwa für Eucharistie, Taufe und Buße. - Man benutzte vielmehr einen griechischen Begriff, der ein sehr breites

Bedeutungsspektrum aufwies: mysterion, latinisiert zu mysterium („Geheimnis“) oder mit einer Bedeutungsverschiebung übersetzt mit sacramentum („Sakrament“; eigentlich: „Eid“).

- „Mysterion“ in der Vätertheologie: „Heilsereignis in Christus“, „Heilslehre“, das „Geheimnis“ des Ratschlusses Gottes

- Als im Laufe der Spätantike der Drang nach Abgrenzung von der nichtchristlichen Umgebung schwand, wurden Begriffe und Vorstellungen aus den Mysterienreligionen vielfach im Christentum verwendet

- Die christliche Lehre heißt nun „Mystagogie“, der Katechet „Mystagoge“, der Getaufte ist ein „Eingeweihter“.

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1. Die Liturgie in einer verfolgten Kirche (30-312)e. Suche nach einem Sakramentsbegriff- Das christliche Sakramentsverständnis entfaltete sich von solchen

Ansätzen aus in Anlehnung an das antike Mysterienverständnis.- In den alten lateinischen Bibelübersetzungen des 2. Jahrhunderts wurde

das griechische mysterion mit sacramentum wiedergegeben- Tertullian übertrug den „Mysterieneid“ bzw. den „Eid“ des Soldaten in die

christliche Sphäre, indem er die Taufe als „Eid auf Christus“ deutete und als erster Taufe und Eucharistie als „Mysterium“ bzw. „Sakrament“ bezeichnete.

- Die zentralen Riten der Alten Kirche, Eucharistie und Taufe, werden ungefähr ab der Wende vom 2. zum 3. Jh. „Sakramente“ genannt (aber auch andere Riten und Vollzüge, etwa die Salbung, die Fußwaschung und die Ehe)

- Die Buße indes wurde in altkirchlicher Zeit nicht als „Sakrament“ bezeichnet. Prof. Dr. Cornelius Roth

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1. Die Liturgie in einer verfolgten Kirche (30-312)e. Suche nach einem Sakramentsbegriff- Ansätze theologischer Reflexion auf den Begriff „Mysterium“ bzw.

„Sakrament“ findet man Ende des 4. Jhs, beispielsweise bei dem griechischen Theologen Theodor von Mopsuestia († 428).

- In der westlich-lateinischen Kirche begann die theologische Klärung des Sakramentsbegriffs um die Wende vom 4. zum 5. Jh. mit Augustinus.

- „Sakrament“ als „heiliges Zeichen“ (De civitate Dei X 5)- sichtbares Zeichen für eine unsichtbare Wirklichkeit- Differenzierung zwischen den äußeren Zeichen (signa) und der inneren Wirkung (res

oder virtus sacramenti)- Sakrament besteht aus einer materiellen Basis (elementum), zu der ein deutendes Wort

(verbum) komme – „so etwas wie ein sichtbares Wort“ (In Ioh. Evang. Tract. 80, 3) - Zum sakramentalen Zeichen gehört, wenn es wirksam sein soll, die „Bekehrung des

Herzens“ (ebd.)- Unterscheidung zwischen (rechtlicher) Gültigkeit, und (religiöser) Wirksamkeit:

objektiven Heiligkeit des Sakraments, die vom Spender unabhängig ist Prof. Dr. Cornelius Roth

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I. Periode der schöpferischen Anfänge: Von der Himmelfahrt Jesu bis zu Gregor dem Großen (30-604)

2. Die Liturgie der Reichskirche (313-604)- Toleranzreskript von Mailand (313): Christentum hat volle Freiheit und

Gleichberechtigung mit anderen Religionen- Mit der Zeit erfolgten mehrere Privilegien zugunsten der Christen bis zur

Proklamation als allein berechtigter Staatsreligion im Jahre 380 unter den Kaisern Gratian (Westen) und Theodosius (Osten).

- Aus der verfolgten Kirche von einst wird die privilegierte Reichskirche.a. Auswirkungen auf den Gottesdienst- Neuer Kirchentyp: Basilika- eine große überdachte Halle mit einem Mittelschiff, an das sich - getrennt

durch Säulenreihen - Seitenschiffe anschließen konnten.- Die christlichen Gemeinden übernahmen diesen Gebäudetyp aus den

Städten des Reiches und erweiterten ihn um ein Querschiff und eine Apsis.

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2. Die Liturgie der Reichskirche (313-604)a. Auswirkungen auf den Gottesdienst- Zur Inneneinrichtung der Basiliken gehörten eine Stätte für die Lesungen

(zwei Ambone für Lesung und Evangelium getrennt), Sitze für die Amtsträger, der Altar und feste Schranken (cancelli), um den Altarraum abzugrenzen (vgl. Basilica di San Clemente in Rom)

- Nach und nach jedoch wurden die Sitze für die Amtsträger, die Pulte für die Lesungen und der Altar in allen Kirchen nach vorn in die Apsis verlegt.

- Im Osten dagegen gingen die byzantinischen Architekten unter Kaiser Justinian (527-565) zur Kuppeltechnik über, die es ermöglichte, den zentralen Raum zu erweitern.

- Das Modell dieser Gattung ist die Hagia Sophia in Konstantinopel- Die neuen Kirchengebäude – ob im Westen mehr die Basilika oder im

Osten mehr der zentrale Kuppelbau – brachten von selbst eine feierlichere Liturgie mit sich.

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2. Die Liturgie der Reichskirche (313-604)a. Auswirkungen auf den Gottesdienst- Die gesellschaftliche Aufwertung des Bischofs und seines Klerus führte zu

einer festlichen Amtskleidung mit bestimmten Insignien, wie Stola, Pallium und Manipel, woraus sich die spätere liturgische Gewandung entwickelt.

- Sakralmusik: zunächst Ablehnung der reichen Musikkultur der Antike- die Christen begnügten sich mit dem responsorischen Gesang, erst später

trat auch der antiphonische (mit zwei Gesangsgruppen) hinzu. - Besondere Förderung erfuhr der Kirchengesang durch Ambrosius von

Mailand, der nicht nur den Psalmengesang mit seiner Gemeinde einübte, sondern auch selbst Hymnen dichtete (siehe dazu später).

- Erleichterung des sonntäglichen Gottesdienstbesuches durch das Gesetz Konstantins vom 3. März 321. Es erklärt „den verehrungswürdigen Tag der Sonne“ zum Ruhetag für alle Richter, die Stadtbevölkerung und alle Gewerbetreibenden.

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I. Periode der schöpferischen Anfänge: Von der Himmelfahrt Jesu bis zu Gregor dem Großen (30-604)

2. Die Liturgie der Reichskirche (313-604)a. Auswirkungen auf den Gottesdienst- Die weitere Entwicklung führt dazu, dass die Arbeitsruhe immer stärker in

die Mitte der Sonntagsheiligung gerückt wird.- Veränderung der Gebetsformen und Gebetsanreden (Vater – Sohn – Geist)- Trennungslinie zwischen Altar und Gemeinde wird verstärkt, indem man die

Altarschranken erhöht und sie (besonders im Osten) mit Vorhängen versieht, um während der entscheidenden Gebete der Anaphora (= Hochgebet) den Blick zum Altar zu verhindern bzw. ihn je neu zu „entschleiern“ (Ikonostase)

- Rückgang des Kommunionempfangs (nur noch 1-2 mal im Jahr)- Verflachung der gottesdienstlichen Mitfeier- Bedeutung der Märtyrerverehrung- Wichtige Quelle: Apostolische Konstitutionen (Syrien: Ende 4. Jh.)

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I. Periode der schöpferischen Anfänge: Von der Himmelfahrt Jesu bis zu Gregor dem Großen (30-604)

2. Die Liturgie der Reichskirche (313-604)a. Auswirkungen auf den Gottesdienst- Für die Ausgestaltung des Gebetes, insbesondere für die Entwicklung des

täglichen Stundengebetes, war die Erstarkung des Mönchtums im 4. Jahrhundert von besonderer Bedeutung.

- Für den liturgischen Ablauf des Tagzeitengebetes der Mönche sind als Quellen die Magisterregel und die Regula Benedicti von großer Bedeutung.

- Fürbitten: zwei Formen (1. Reihen diakonaler Aufforderungen mit wiederholtem Kyrie eleison von Seiten der Gemeinde und einer Schlussoration; 2. Diakonale Aufforderungen, auf die jeweils ein stilles Gebet der Versammlung und ein Vorstehergebet folgen, wie heute noch in der Karfreitagsliturgie)

- Im Gottesdienst konnten gleich mehrere Priester predigen bzw. eine Ermahnung halten (Ostkirche!).

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I. Periode der schöpferischen Anfänge: Von der Himmelfahrt Jesu bis zu Gregor dem Großen (30-604)

2. Die Liturgie der Reichskirche (313-604)b. Bildung von Liturgiefamilien in Ost und West- Ab dem 5. Jahrhundert folgen die römische und die byzantinische Liturgie

jeweils eigenen Entwicklungslinien. - 1. Unterschied: In der byzantinischen Liturgie ist der Großteil der Gebete

der Eucharistiefeier unveränderlich, während in der römischen Liturgie zahlreiche Gesänge und Orationen von Feier zu Feier variieren

- Frühes Zeugnis für die Veränderlichkeit der Messtexte im römischen Ritus: Papst Gelasius (495) und die Lupercalia

- Veränderlichkeit in der byzantinischen Liturgie v.a. in den Hochgebeten (Anaphoren): Chrysostomus, Basilius (nur an 12 Tagen im Jahr), Jakobus

- Sonderfall der Präsanktifikatenliturgie (vgl. Euchologion)- 2. Unterschied: Äußerer Rahmen der Feier

- Rom: Minutiöse Etikette bei Papstgottesdiensten (Ordines Romani)- Byzanz: Einfluss vom Zeremoniell des Kaiserhofs, Liturgie als Darstellung der erlösenden

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2. Die Liturgie der Reichskirche (313-604)b. Bildung von Liturgiefamilien in Ost und West- Orientalische Liturgiefamilien (siehe auch Handout Meyer)- Antiochien: Jakobus-Liturgie / jakobitische Liturgie; Melchiten

/Maroniten; Nestorianer: syro-mesopotamisch/chaldäischer Ritus; Indien: Malabaren und Malankaren

- Alexandrien: Markus-Liturgie; Monophysiten: koptischer und äthiopischer Ritus

- Jerusalem: Jakobus-Anaphora; bestimmend in Stundengebet und Festzyklus für die anderen Teile der Kirche (Egeria), historisierendes Element

- Byzanz / Konstantinopel: Vorrang vor allen anderen Patriarchaten des Ostens ; Missionstätigkeit der hll. Cyrill und Methodius, Übersetzung der Liturgie ins Altslawische (9. Jh.) und Übernahme durch das russische Reich (987); armenische und georgische Liturgie

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2. Die Liturgie der Reichskirche (313-604)b. Bildung von Liturgiefamilien in Ost und West- Die abendländischen Liturgien (siehe auch Handout Feulner)- Nordafrika (Augustinus): Die Sprache war von Anfang an lateinisch (im

Gegensatz zu Rom); keine einheitlichen Texte in den einzelnen Bistümern; wichtig die Prüfung von sachverständigen Mitbrüdern; große Übereinstimmung mit der römischen Liturgie

- Rom: Zunächst Blätter bzw. Hefte mit liturgischen Texten (libelli), dann Entstehung der römischen Sakramentare unter Papst Leo I. (Sacramentarium Veronense: 5./6. Jh.), Papst Gelasius I. (Altgelasianum: 6./7. Jh.) und v.a. Papst Gregor I. (Sacramentarium Gregorianum: 6./7. Jh.); sachlich-nüchterner Charakter der altrömischen Gebete (noch heute in den Tagesgebeten des Sonntags im Messbuch); charakteristisch ist der Gebrauch eines einzigen Hochgebetes (Canon Romanus)

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2. Die Liturgie der Reichskirche (313-604)b. Bildung von Liturgiefamilien in Ost und West- Gallischer Liturgietyp: starke Beeinflussung von östlichen Riten (v.a.

Byzanz); (lateinische) Sprache ist weitschweifiger und farbiger, das Zeremoniell dramatischer; Gebete wende sich im Gegensatz zur römischen Gepflogenheit öfter direkt an Christus.

• Altspanische / Mozarabische Liturgie• Altgallische / Gallikanische Liturgie• Keltische Liturgie (Irland, Schottland, Wales); wichtigstes Dokument ist das Stowe-Missale (8.-

10. Jh.).• Mailänder / Ambrosianische Liturgie (wird heute noch in der gesamten Kirchenprovinz

Mailand gefeiert); wichtigster Zeuge: Ambrosius von Mailand; Kanon ist im Wesentlichen der römische, sonst viele Gemeinsamkeiten mit der gallikanischen Liturgie

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2. Die Liturgie der Reichskirche (313-604)c. Beispiele altkirchlicher Reformen1. Liturgischer Gesang: Die Hymnen des Ambrosius- In der Westkirche ist der Neueinsatz der Hymnendichtung untrennbar mit

dem Namen Ambrosius von Mailand († 397) verbunden, dem „Vater des lateinischen Kirchengesangs“

- Beginn der „neuen“ Hymnodie räumlich und zeitlich klar zu ermitteln: die oberitalienische Metropole Mailand in den Jahren 385/86

- Drei Zeugnisse berichten von der Einführung der Hymnen: Ambrosius, Augustinus, Paulinus

- Konflikt zwischen Kaiser und Bischof um eine Kirche und den rechten Glauben (Nicäa – Arianismus): Gesang des Volkes in der besetzten Kirche (Augustinus: „Damals wurde das Singen von Hymnen und Psalmen nach der Weise der Ostkirche eingeführt, um die Ermattung des Volkes vor Trauer und Überdruss zu verhindern.“)

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2. Die Liturgie der Reichskirche (313-604)c. Beispiele altkirchlicher Reformen1. Liturgischer Gesang: Die Hymnen des Ambrosius- 14 als echt anerkannte ambrosianische Hymnen- Die enge Verbindung zwischen Verbreitung der Hymnen und Abwehr der

Häretiker führte dazu, dass man in den Schöpfungen des Ambrosius gerne antiarianische Protestlieder sah

- Sie stammen aber aus der Spiritualität der Tagzeitenliturgie (vgl. „Aeterne rerum conditor“)

- Bedeutung für die Liturgiereform: Ambrosius hat als ein Element der stärkeren Volksbeteiligung nicht biblische, poetische Texte in die Mailänder Liturgie einführt, nämlich einmal mit den Psalmen verbundene nichtbiblische Kehrverse, und zum anderen selbständige, nichtbiblische Hymnen (Impuls aus dem syrischen Raum: Theodor von Mopsuestia)

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2. Die Liturgie der Reichskirche (313-604)c. Beispiele altkirchlicher Reformen1. Liturgischer Gesang: Die Hymnen des Ambrosius- Gegen die Auffassung, die Bibel sei das vermeintlich alleinberechtigte

gottesdienstliche Textbuch, wird mit den Hymnen die Überzeugung dokumentiert, dass jede Generation das Recht habe, neue Lieder zu singen, ihre je eigenen Glaubenserfahrungen in den Gottesdienst einzubringen (vgl. später Luther und die Reformatoren)

- Frage nach biblischen oder nichtbiblischen Texten im Gottesdienst ist Dauerbrenner (vgl. 4. Konzil von Toledo 633)

- Zweifel / ambivalente Haltung zu nicht-biblischen Hymnen: Augustinus - Bedeutende Kritiker / Gegner von Hymnen und Gesang im Gottesdienst:

Hieronymus (stützt sich auf Eph 5,19: man soll im Herzen singen, nicht mit der Stimme) und Abt Pambo / Apophthegmata Patrum (eitler Gesang widerspricht dem monastischen Ideal der katanyxis / Zerknirschung des Herzens)

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2. Die Liturgie der Reichskirche (313-604)c. Beispiele altkirchlicher Reformen1. Liturgischer Gesang: Die Hymnen des Ambrosius- Zwei Probleme hinsichtlich der Reform altkirchlicher Hymnen / Gesänge

- Bibel und Vergegenwärtigung: christlicher Gottesdienst muss sich seiner grundsätzlichen Verwiesenheit auf das biblische Zeugnis bewusst bleiben; Diese bleibende Verwiesenheit auf die Bibel bedeutet aber nicht - so würde Ambrosius argumentieren - eine starre Begrenzung auf die Bibel.

- Innerlichkeit und äußere Form: Es gibt die berechtigte Sorge, dass die äußere Gestalt eine Fassade ohne Innerlichkeit wird (vgl. mit Theaterspielen); andererseits ist die sinnenfällige Gestaltung der Glaubenserfahrung eine anthropologische Notwendigkeit, die letztlich vom Schöpfergott selbst gewollt ist.

- Verhältnis von biblischer Botschaft und deren Vergegenwärtigung sowie von innerer Gestimmtheit und äußerer Gestalt sind Probleme, denen sich jede Liturgiereform stellen muss.

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2. Die Liturgie der Reichskirche (313-604)c. Beispiele altkirchlicher Reformen2. Entwicklung in Nordafrika – Provinzialkonzilien als Orte der Liturgiereform- Im Zuge der donatistischen Auseinandersetzungen des 4./5. Jhs bemühten

sich die Bischöfe Nordafrikas mit Hilfe von Provinzialkonzilien um eine innere und äußere Reform der Kirche

- Aurelius, seit 392 Bischof von Karthago und als solcher Primas von Afrika,

und Augustinus, ab 395/396 Bischof von Hippo, sind in Zusammenwirken die maßgeblichen Träger dieses fast 40 Jahre währenden Reformprozesses (Konzil von Hippo 393 – 427)

- Konzil von Hippo 393: Verhandelte Themen- Festlegung eines einheitlichen Ostertermins; Verbot der Taufe von Toten; Regelung der

Taufe von Schwerkranken; Materie der Eucharistie; Eucharistische Nüchternheit; Verbot, Katechumenen und eben Verstorbenen die Eucharistie zu reichen; Liturgische Gebetsrichtung an Gott den Vater; Verbot von Mählern in Kirchen; Definition des biblischen Kanons mit Rücksicht auf die Verwendung von Schrifttexten im Gottesdienst; Zulassung von Märtyrerpassionen zur liturgischen Verlesung

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2. Die Liturgie der Reichskirche (313-604)c. Beispiele altkirchlicher Reformen2. Entwicklung in Nordafrika – Provinzialkonzilien als Orte der Liturgiereform- Reformen des Aurelius von Karthago

- Reform der Vigilien / Nachtwachen (Durchsetzung einer angemessenen Disziplin im Gottesdienst im Zusammenhang mit der Reform des Märtyrerkultes)

- Einführung von Psalmengesang zur Gabenprozession und zur Kommunion (Augustinus: „Brauch, am Altar vor der Darbringung und während der Austeilung dessen, was dargebracht worden war, an das Volk Hymnen aus dem Buch der Psalmen zu singen.“)

- Liturgische Reformen der nordafrikanischen Konzilien (H 393 / K 407)- Ordnung des liturgischen Betens (Gebet am Altar immer an den Vater gerichtet; Prüfung

der im Gottesdienst verwendeten Gebete „durch gebildete Brüder“)- Lesungen im Gottesdienst (nur biblische Lesungen in der Eucharistiefeier, Ausnahme

Märtyrerpassionen: nur am Gedächtnistag, nie an Stelle der biblischen Lesung, sondern danach)

- Nüchternheitsgebot (Bischof und Volk sollen unabhängig von der Tageszeit die Eucharistie nur nüchtern feiern, um üppigen Mählern zu Ehren von Heiligen und Märtyrern keinen Vorschub zu leisten)

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2. Die Liturgie der Reichskirche (313-604)c. Beispiele altkirchlicher Reformen2. Entwicklung in Nordafrika – Provinzialkonzilien als Orte der Liturgiereform- Liturgische Reformen der nordafrikanischen Konzilien

- Verbot der Hausmesse eines Priesters ohne Genehmigung des Bischofs (um Abspaltungen von der Gemeinde zu verhindern und die Rechtgläubigkeit des Gebets zu sichern)

- Verbot der Lektoren, die Gemeinde zu grüßen (dabei geht es um den liturgischen Zuruf „Dominus vobiscum“, der damals wie heute nur Klerikern erlaubt ist)

- Unterscheidung der eucharistischen Gaben von anderen Naturalgaben (für die eucharistische Feier sollen allein Brot und Wein dargebracht werden, andere Naturalgaben, die auch auf den Altar gelegt werden – wie Milch, Honig, Trauben und Getreide – sollen eine eigene Segnung erhalten, um sie von den eucharistischen Gaben zu unterscheiden)

- Verbot der Katechumenen der Kommunion auch am Osterfest- Verbot der Totenkommunion (Brauch, in Gegenwart des Leichnams Eucharistie zu feiern

und die Kommunion dann mit dem Toten zu teilen, in dem man ihm ein Stück der konsekrierten Hostie in den Mund schob)

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I. Periode der schöpferischen Anfänge: Von der Himmelfahrt Jesu bis zu Gregor dem Großen (30-604)

2. Die Liturgie der Reichskirche (313-604)c. Beispiele altkirchlicher Reformen2. Entwicklung in Nordafrika – Provinzialkonzilien als Orte der Liturgiereform- Grundprinzipien der liturgischen Reform in Nordafrika im 4./5. Jh.

- Kriterium für Änderungen und Erneuerungen ist primär die Norm der Heiligen Schrift, sodann die Einheit der Weltkirche in wesentlichen Dingen. Ansonsten stellen der Glaube und die guten Sitten den leitenden Maßstab dar.

- Jede Veränderung ist an ihrer Nützlichkeit zu messen. Veränderungen um ihrer selbst willen haben zu unterbleiben, weil sie Verwirrung stiften und deswegen schädlich sind.

- Es geht nicht nur um einzelne rituelle oder textliche Korrekturen, sondern um eine umfassende Erneuerung des gottesdienstlichen Lebens nach den o.g. Kriterien.

- Die gottesdienstlichen Erneuerungen sind eingebettet in ihre Zeit, in politische, gesellschaftliche und kirchliche Kontexte. Hintergrund vieler Maßnahmen ist das seit Beginn des 4. Jahrhunderts bestehende donatistische Schisma.

- Der Impuls für und die Orientierung der gottesdienstlichen Erneuerungen gehen vor allem von den Konzilien aus.

- Daneben ist der Einfluss bestimmter kirchlicher Persönlichkeiten prägend, v.a. des Aurelius von Karthago und des Augustinus, anfangs Presbyter, dann Bischof von Hippo

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I. Periode der schöpferischen Anfänge: Von der Himmelfahrt Jesu bis zu Gregor dem Großen (30-604)

2. Die Liturgie der Reichskirche (313-604)c. Beispiele altkirchlicher Reformen2. Entwicklung in Nordafrika – Provinzialkonzilien als Orte der Liturgiereform- Grundprinzipien der liturgischen Reform in Nordafrika im 4./5. Jh.

- Die Liturgie ist im Erneuerungsprozess vorrangiger Ort, weil hier der Glaube der Kirche gelebt und in der Öffentlichkeit dargestellt wird.

- Verschiedene Adressaten: Erstrangig der Klerus und andere, die eine besondere Verantwortung für das kirchliche Leben tragen; dann aber auch die christlichen Gemeinden

- Eines der wichtigsten Reformziele ist die Schaffung eines theologisch gebildeten und in der Lebensführung disziplinierten Klerus.

- Änderung der Mentalität des Volkes (Totenkult, Märtyrerverehrung)- Verbreitung der Anliegen im Volk geschieht in erster Linie durch die Predigt der Bischöfe- Revision der liturgischen Bücher spielt noch keine nennenswerte Rolle (dennoch

Erkenntnis der Bedeutung schriftlicher Vorlagen)- Implizites Ziel: Kirchliche Einheit in der afrikanischen Kirche- Nordafrikanische Liturgiereform = Liturgiereform im eigentlichen Sinn (M. Klöckener)

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II. Periode der fränkisch-römischen Vermischung: Von Gregor dem Großen bis Gregor VII. (604-1085)

a. Gesamtbild- Periode des Übergangs, aber auch „eine der fruchtbarsten

Liturgieperioden“ (Klauser / Angenendt)- Hochschätzung der römischen Kirche- Unzufriedenheit mit dem gallischen Liturgietyp- Wirken von Bonifatius († 754) und Benedikt von Aniane († 821)- Gallisch-fränkische Anpassungen und Umgestaltungen: Vorliebe für

dramatische Handlungen, für Vermehrung und Verlängerung der Gebete und Riten, für subjektive Elemente, die sich in zahlreichen stillen Gebeten des zelebrierenden Bischofs und Priesters finden

- Ab dem 8. Jh. Tendenz den Kanon nur noch leise zu sprechen- Allegorische Messerklärung (Amalar von Metz, Alkuin)- Starkes Unwürdigkeits- und Sündigkeitsgefühl- Aufkommen der Privatbeichte und Tarifbuße durch iroschottische Mönche

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II. Periode der fränkisch-römischen Vermischung: Von Gregor dem Großen bis Gregor VII. (604-1085)

a. Gesamtbild- Entstehung von Rubriken- oder Zeremonienbüchern (Ordines), u.a.

Römisch-Germanisches Pontifikale (Mainz, um 950)- Gallisch-fränkische Liturgie gelangt im 10. Jh. unter Kaiser Otto I. zurück

nach Rom und tritt von dort aus als „Liturgie der römischen Kurie“ ihren Siegeszug als Einheitsliturgie des Abendlandes an

- Zurückdrängen der alten, lokalen Liturgien (mozarabisch, keltisch, gallisch)- Kirchenbau erlebt in diesem Zeitabschnitt unter den Karolingern und

Ottonen einen mächtigen Aufschwung, der schließlich um 1100 in der Romanik einem ersten Höhepunkt zustrebt

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II. Periode der fränkisch-römischen Vermischung: Von Gregor dem Großen bis Gregor VII. (604-1085)

b. Liturgiereformen im frühen Mittelalter1. Allgemeine Neuerungen im Bereich der Liturgie und des Kalenders- Dramaturgische Liturgie des Palmsonntags, der Karwoche und des

Triduum paschale (hier sind östliche und insbesondere Jerusalemer Vorbilder deutlich zu spüren)

- Salbungen des Hauptes und der Hände des neuen Bischofs und der Hände des Neupriesters im Weiheritual , Königssalbung (das AT als das große Lehrbuch, aus immer wieder Anregungen und Anweisungen für die Ausgestaltung der Liturgie geschöpft werden)

- Erweiterungen der Kirchweihliturgie (Waschung und Salbung des Altars und der Kirchenwände als Nachahmung der Taufe)

- Gloriahymnus und Gesang des Agnus Dei- Klauser: „Unsere Liturgie ist in ihrem Kern römisch. Aber in

entscheidenden Teilen der Liturgie der Sakramente und Sakramentalien sowie besonders im Ritual der Karwoche und des Triduums paschale verdankt sie ihre heutige Gestalt der gallisch-fränkischen Kirche.“

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II. Periode der fränkisch-römischen Vermischung: Von Gregor dem Großen bis Gregor VII. (604-1085)

b. Liturgiereformen im frühen Mittelalter1. Allgemeine Neuerungen im Bereich der Liturgie und des Kalenders- Einführung neuer Herren- und Marienfeste durch Papst Sergius I. (687-

701)- Begegnung des Herrn mit Simeon (2. Februar)- Verkündigung des Herrn (25. März)- Maria Heimgang (15. August)- Maria Geburt (8. September)- Kreuzerhöhung (14. September)

- Klauser: „Man muss in diesen Neuerungen den Versuch eines Orientalen sehen, die jahrhundertelange Sprödigkeit der römischen Kirche gegenüber den liturgischen Neuerungen der östlichen Christenheit zu überwinden und die Kluft, die sich infolge der konservativen Haltung Roms zwischen dem römischen und dem östlichen Kirchenjahr gebildet hatte, zu überbrücken.“

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II. Periode der fränkisch-römischen Vermischung: Von Gregor dem Großen bis Gregor VII. (604-1085)

b. Liturgiereformen im frühen Mittelalter2. Die Entstehung und Entwicklung der liturgischen Bücher- Entwicklung im Lauf des Mittelalters: von den Rollenbüchern für die

einzelnen Amts- und Dienstträger (Bücher für den Vorsteher, für den Lektor, Diakon, Kantor, die Schola) zu den Büchern für einzelne Feiern bzw. Gruppen von Feiern (Messe, Tagzeitenliturgie, bischöfliche liturgische Handlungen, sakramentliche Feiern usw.)

- Libelli missarum: Einzelne Blätter und Hefte mit Gebetstexten für die Messe (das Sacramentarium Leonianum bzw. Veronense enthält solche libelli mit Textgut aus dem 5./6. Jh.)

- Sakramentare (siehe auch Folie 28): Gebetstextsammlungen für den Vorsteher. Sie enthalten die Präsidialgebete für die Messe und andere gottesdienstliche Feiern (Tagzeitenliturgie, sakramentliche Feiern) und waren letztlich nichts anderes als eine Systematisierung und Erweiterung der libelli mit Anspruch auf Normativität – verstanden sich als Rollenbuch des Liturgen

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b. Liturgiereformen im frühen Mittelalter2. Die Entstehung und Entwicklung der liturgischen Bücher- Zwei Typen von römischen Sakramentaren im 7./8. Jh.

- Das gregorianische Sakramentar (entstanden im ersten Viertel des 7. Jhs): enthält die Feiern des Papstgottesdienstes im Lateran und v.a. an den Stationstagen; gelangte auf Anforderung Karls d. Gr. Ende des 8. Jhs ins Frankenreich (unter Papst Hadrian I., daher Gregorianum „Hadrianum“ genannt); weitere Überarbeitung und Erweiterung durch Benedikt von Aniane (Supplementum)

- Das gelasianische Sakramentar: diente wohl eher dem gottesdienstlichen Gebrauch in den von Presbytern geleiteten römischen Titelkirchen; Ältester Zeuge ist das „Altgelasianum“ (Gelasianum vetus); Grundlage für den Sakramentartyp, der in der zweiten Hälfte des 8. Jhs vorherrschend war, ist das Gelasianum saeculi VIII

- Die Sakramentare orientierten sich meist am Kirchenjahr und waren reich an liturgischen Texten, v.a. hinsichtlich der Messformulare und Präfationen (im Sacramentarium Gregorianum 83 Messformulare für das Temporale und 79 für das Sanctorale; In der Fassung von Benedikt von Aniane standen allein 221 Eigenpräfationen)

- Sacramentarium Fuldense aus dem 10. Jh.Prof. Dr. Cornelius Roth

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II. Periode der fränkisch-römischen Vermischung: Von Gregor dem Großen bis Gregor VII. (604-1085)

b. Liturgiereformen im frühen Mittelalter2. Die Entstehung und Entwicklung der liturgischen Bücher- Kollektar: enthält die Gebetstexte (und häufig auch die Kurzlesungen) für

die Tagzeitenliturgie (Rollenbuch für den Vorsteher des Stundengebets)- Liturgische Bücher für die Schriftlesungen: Capitulare lectionum /

epistolarium; Capitulare evangeliorum; Comes; Evangeliar; Evangelistar- Liturgische Bücher für die Gesänge: Antiphonarium / Antiphonale

missarum; Graduale; Cantatorium - Ordines Romani: beschreiben den Ablauf des Gottesdienstes in Rom

(keine Gebets- und Gesangstexte); Wichtig sind v.a. der OR I (Modell einer römischen Papstmesse im 6./7. Jh.) und OR XI (Initiationsritus im frühen Mittelalter); gehen später in den Rubriken des Einheitsmissale auf

- Libri ordinarii: beschreiben detailliert den faktischen Verlauf des Gottesdienstes in einer bestimmten Kirche, enthalten allerdings keine liturgischen Texte, nur deren Anfänge

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II. Periode der fränkisch-römischen Vermischung: Von Gregor dem Großen bis Gregor VII. (604-1085)

b. Liturgiereformen im frühen Mittelalter2. Die Entstehung und Entwicklung der liturgischen Bücher- Pontifikale: Buch mit den bischöflichen Liturgie; seit der Wende vom 8.

zum 9. Jh. bildet das Pontifikale einen eigenen Buchtyp; wichtigste Vertreter: Pontificale Romano-Germanicum aus Mainz (um 950) und Pontificale des Bischofs Wilhelm Durandus von Mende (1293-95)

- Caeremoniale: Ergänzungsbuch zum Pontifikale mit Erklärungen zur bischöflichen und päpstlichen Liturgie, das nicht in der Liturgie verwendet wurde.

- All diese unterschiedlichen Bücher fanden in Kathedralkirchen, Klöstern und auch in Pfarrkirchen Verwendung (großer Buchbestand gegenüber den damaligen Bibliotheken)

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b. Liturgiereformen im frühen Mittelalter3. Der Weg von Rom ins Frankenreich und zurück- Drei Stationen auf dem Weg zur römisch-fränkischen Mischliturgie

- Rom: seit dem 5. Jh. erhält die päpstliche Liturgie ein eigenes Gepräge, das der Stationsliturgie; zeremoniell stark entwickelt; Sacramentarium Gregorianum als Rollenbuch mit Breitenwirkung (Interesse Karls d. Gr.)

- Aachen: Vereinheitlichungspolitik Karls d. Gr. will in allen Kirchen zu einem Ritus und zu ein und derselben liturgischen Feier kommen; dazu wird der Ritus der päpstlichen Liturgie ausgewählt, weil diese autoritativ ist und außerdem Format besitzt; Buch der päpstlichen Liturgie im 8. Jh. (GrH) wird vom Kaiser zum Modellritus in seinem Reich erklärt; Notwendigkeit der Ergänzungen

- Mainz: Entstehung des Pontificale Romano-Germanicum im Koster St. Alban in den Jahren 950-960; bestimmt für alle liturgischen Feiern, denen der Bischof (pontifex) und, auf sein Geheiß, die Priester (Kleriker wie auch Mönche) vorstehen; Ausdruck der römisch-germanisch-fränkischen Mischliturgie

- Rom: Kaiser Otto I. führt dieses Pontificale in Rom ein (wahrscheinlich 966-972); Widerstand gegen ein „teutonisch-römisches“ Liturgiebuch durch Papst Gregor VII. († 1085); Rom möchte und wird sich wieder von den fränkischen und gallischen Einflüssen emanzipieren

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II. Periode der fränkisch-römischen Vermischung: Von Gregor dem Großen bis Gregor VII. (604-1085)

b. Liturgiereformen im frühen Mittelalter4. Weitere Entwicklungen in der liturgischen und sakramentalen Frömmigkeit- Taufe

- Bonifatius und die Durchsetzung des römischen Taufritus (Befolgung der römischen Liturgie als Auftrag des hl. Petrus)

- Zweite postbaptismale Salbung als Unterscheidungskriterium der römischen Initiation gegenüber anderen Liturgien; Übernahme in England (Beda) und Germanien (Bonifatius); im 8. Jh. endgültige Ablösung der Firmung von der Taufe

- Übersetzung des Glaubensbekenntnisses und des Vaterunsers als Beginn der volkssprachlichen Katechese

- Patenschaften als geistliche Verwandtschaft zwischen Täufling und Täufer, aber auch politische Bedeutung als eines der wichtigsten Mittel künstlicher Verwandtschaftsbildung im Merowinger- und Karolingerreich; Päpste als Paten der Karolinger

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II. Periode der fränkisch-römischen Vermischung: Von Gregor dem Großen bis Gregor VII. (604-1085)

b. Liturgiereformen im frühen Mittelalter4. Weitere Entwicklungen in der liturgischen und sakramentalen Frömmigkeit- Buße und Beichte

- Iroschottische Mönche propagieren die oftmalige Buße und nehmen dafür eine Tarifierung vor

- Umrechnung der Bußleistungen in Gebete (Psalmen, Vaterunser, Ave Maria) und Messen (Ursprung des Rosenkranzgebets aus dem Gebetspensum der Laien)

- Dennoch auch pastorales Bemühen (geheime Beichte; Gewissenserforschung)

- Häufung der Messen- Mit der Anzahl der Messen erhöhte sich im Frühmittelalter auch die Anzahl der Altäre in

den einzelnen Kirchen: alle Altäre waren jeweils mehreren Heiligen geweiht und enthielten auch deren Reliquien

- Reliquienwesen- Im 8. und im 9. Jh. Häufung der Elevationen und Translationen der Gebeine von großen

Heiligen und Märtyrern (ursprünglich in Rom unbekannt)- Die feierliche Erhebung und die Neubestattung beim Altar oder auch die erhöhte

Aufstellung des neuen Schreins hinter dem Altar bildete eine eigene Liturgie, deren Aussagegehalt der späteren kanonistischen Heiligsprechung gleichkam

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II. Periode der fränkisch-römischen Vermischung: Von Gregor dem Großen bis Gregor VII. (604-1085)

b. Liturgiereformen im frühen MittelalterExkurs: Die Liturgie im Kloster Fulda im Frühmittelalter- Bau der ersten Fuldaer Stiftskirche (751/819)- Zeugnisse der frühen Zeit Fuldaer liturgischer Tradition sind u.a. ein

Bruchstück eines Fuldaer Ordo missae aus dem 9. Jh. und einige Sakramentarien aus dem ausgehenden 10. beginnenden 11. Jh.

- Ordo missae des 9. Jhs bescheinigt, dass der Gottesdienst nach römischem Ritus vernünftig und ordnungsgemäß (rationabiliter et cum sufficentia) gefeiert wurde und daher ein Vorbild für andere Klöster sein konnte

- Sakramentarium des 10. Jhs hat einige lokale Besonderheiten (Erwähnung von Bonifatius und Lioba im röm. Hochgebet, eigene Vigil und Oktav zum Bonifatiusfest, Orationen zur sonntäglichen Prozession durch das Kloster)

- Reliquienverehrung: „Heilthumbshaus“ in der Andreaskapelle der Stiftskirche mit einigen „Raritäten“; Ablass durch „Heiltumsschau“; 44 Altäre mit Reliquien im Stiftsbereich; Reliquienprozession

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c. Benedikt von Aniane: Reform der monastischen Tagzeiten und Ausgestaltung der römisch-fränkischen Messfeier

- Die liturgische Reformtätigkeit im Frühmittelalter ist eng verbunden mit dem Namen Benedikt von Aniane (ca. 750-821)

- Verbindung von liturgischer und monastischer Reform- Benedikts Reform hat ein zweifaches Anliegen

- Zurückführung der monastischen Tagzeitenliturgie auf die Grundform, die er in der Regula Benedicti (cap. 8-18) vorgezeichnet findet

- Wertschätzung und Erhaltung der seit dem 6. Jahrhundert geschehenen frömmigkeitsgeschichtlichen Entwicklung und monastischen Traditionen

- Ergebnis, an dem die cluniazensische Reformbewegung ein Jahrhundert später anknüpft

- Wiewohl Benedikt hatte kürzen wollen, blieb ein Pensum von täglich 137 Psalmen, also 100 mehr als in der Benediktregel

- In das tägliche Stundengebet eingeflochten waren obendrein zwei gemeinschaftlich gefeierte Hochämter, jeweils nach der Terz und vor der Non, dazu noch die Privatmessen der Priestermönche (siehe Handout)

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c. Benedikt von Aniane: Reform der monastischen Tagzeiten und Ausgestaltung der römisch-fränkischen Messfeier

- Im Zusammenhang mit der anianischen Reformbewegung kann von einer Messreform noch keine Rede sein (tägliche Konventmesse, Eulogienbrote für die Laien, Nebenmessen)

- Ziel: der Textverderbnis und der unüberschaubar gewordenen Vielfalt der gallischen Liturgie ein Ende zu machen und einer gereinigten sowie möglichst einheitlichen Form der Messfeier den Weg zu bereiten

- Alkuin: Verwendung des Gelasianums saec. VIII zusammen mit dem Gregorianisch-Hadrianischen Sakramentar (GrH)

- Benedikt von Aniane: Schaffung eines Ergänzungsbandes (Supplementum) mit u.a. 221 Eigenpräfationen (möglichst jedes Messformular hat eigene Präfation) und 52 Formularen für den bischöflichen Segen; Hauptaufgaben sind Sammlung und Korrektur alter Texte aus anderen Traditionen

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c. Benedikt von Aniane: Reform der monastischen Tagzeiten und Ausgestaltung der römisch-fränkischen Messfeier

- Inhalt des supplementums Benedikts von Aniane- Texte für die Sonntage nach Weihnachten, nach Epiphanie, nach Ostern und nach

Pfingsten (Suppl. cap. 5-91)- sechs Formulare für Werktagsmessen (cap. 92-97)- acht Formulare für das Commune Sanctorum (cap. 98-105)- ein Formular für den Jahrestag der Kirchweihe (cap. 113)- 43 Formulare für weitere Votivmessen (cap. 114-406)- Gebete über die Büßer in der Quadragesima und für die Rekonziliation am

Gründonnerstag (cap. 407f) - eine Messe für eine(n) Kranke(n) (cap. 110) - neun Messen für Verstorbene (cap. 104-112)- Im Appendix: 221 Präfationen für Sonn- und Festtage, für alle Tage der Quadragesima

und für verschiedene Votiv- und Totenmessen; 52 Formulare für den bischöflichen Segen an Sonn- und Festtagen

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II. Periode der fränkisch-römischen Vermischung: Von Gregor dem Großen bis Gregor VII. (604-1085)

c. Benedikt von Aniane: Reform der monastischen Tagzeiten und Ausgestaltung der römisch-fränkischen Messfeier

- Quellen des supplementums Benedikts von Aniane- Gelasianum saec. oct. - Ältere gregorianische Sakramentare (daraus das aus Heiligenmessen geformte

Commune Sanctorum mit 22 Texten)- das von Alkuin um 800 geschaffene Missale (daraus zumindest vier Votivmessen)- einige wenige altgallische Texte- aus westgotischen Quellen zahlreiche Präfationen sowie 51 Segensformulare

- Vorgehen: Wie bei der Benediktregel hält sich Ben. v. Aniane an einen vorgegebenen Grundtext (GrH), aber nicht ohne es zu korrigieren; und er fügt diesem Grundtext in freiem Umgang mit den benutzten Quellen zahlreiche Elemente aus der altgallisch-fränkischen Tradition ein (das GrH umfasst 1018, das anianische Supplement immerhin 786 Nummern)

- Eigene Einschätzung (Vorrede): Gregorianischer Teil ein „Muss“, das Supplement „ad libitum“ für eine zeitgemäße Liturgie (vgl. Handout)

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II. Periode der fränkisch-römischen Vermischung: Von Gregor dem Großen bis Gregor VII. (604-1085)

c. Benedikt von Aniane: Reform der monastischen Tagzeiten und Ausgestaltung der römisch-fränkischen Messfeier

- Wirkung und Bedeutung des supplementums Benedikts von Aniane- verbreitete sich zunächst in den aquitanischen und einigen anderen unter seiner Leitung

bzw. unter seinem direkten Einfluss stehenden Klöstern- trug viel zur Ausformung und Vereinheitlichung der römisch-fränkischen Messliturgie

bei (Prinzip der „una regula – una consuetudo“ )- diese Form der Messe hat in der Folge die Gestalt der Eucharistiefeier in der ganzen

lateinischen Kirche des Westens bis heute beeinflusst- Überzeugung, dass es in der Glaubenslehre wie in der Liturgie nicht darum gehe, Neues

zu schaffen, sondern „Überkommenes“, d.h. die Hl. Schrift, die Lehre der Väter und die Liturgie der Alten Kirche, wie sie Gregor d. Gr. vorbildlich formuliert und gefeiert hat, getreu zu bewahren und weiterzugeben

- Ethos der traditio schließt aber die correctio und emendatio nicht aus, sondern ein - Benedikt wollte auf seine Weise auch eine „zeitgemäße“ Liturgie- Die erstrebte und erreichte Zeitgemäßheit dieser Liturgie bedeutet freilich zugleich eine

Grenze: Klerusliturgie; Liturgie mit nur wenig doxologischem Charakter; Heilsangst und Heilssorge sowie Bitte und Fürbitte drohen den anamnetischen Lobpreis zu überspielen

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III. Periode der zunehmenden Vereinheitlichung: Von Gregor VII. bis zum Konzil von Trient (1085-1563)

a. Gesamtbild- Reform von Gregor VII. (1077-1085) hat auch eine liturgische Dimension

(z.B. im römischen Kalender)- Als Teil der Stärkung ihrer Autorität arbeiten einander nachfolgende

Päpste an der Erneuerung des römischen Ritus nach Prinzipien, die sie selbst aufstellen, und mit Blick auf ihre eigene Liturgiefeier

- Änderungen im 11./12. Jh.: Die Stationsliturgie (in der Stadt) wird immer weniger praktiziert; die meisten Tage feiert der Papst die Liturgie mit seinem Hofstaat („curia romana“) in seiner Privatkapelle

- IV. Laterankonzils 1215 / Papst Innozenz III. (1198-1216): Initiative, die Bücher für die Feier der Messe und für das Stundengebet zu erneuern (Fertigstellung von „Ordinarium“ und „Missale“ Anfang des 13. Jh.)

- Wirken der Franziskaner führt zur Verbreitung der päpstlichen liturgischen Bücher und zur Anpassung an die Gegebenheiten eines mobilen Missionsordens (handlichere Bücher für Brevier und Messe)

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III. Periode der zunehmenden Vereinheitlichung: Von Gregor VII. bis zum Konzil von Trient (1085-1563)

a. Gesamtbild- Römische Synthese: die römisch-fränkisch-germanische Liturgie nach dem

Schnitt der päpstlichen Kurie und eine Liturgie, in der die ortsrömische (kathedrale) und monastische Tradition zusammenfließen

- Grundtexte kommen aus dem 5. und 6. Jh., vor allem aus Rom- Später werden, vor allem von Mönchen im fränkischen Reich, hymnische

Texte hinzugefügt. - Außerdem finden Elemente in den Gottesdienst Einlass, die bei den

Franken und Germanen einen stärkeren Akzent erhalten als in Rom: Segnungen von Dingen, Exorzismen über Personen und Dinge, non-verbale Gestaltungsmittel wie Prozessionen und Salbungen.

- Durch die Kurie wird hieraus die Liturgie der päpstlichen Kapelle, die schließlich zur westlichen Liturgie wird

- Rivalität zwischen der päpstlichen Kurienliturgie und den Ortsliturgien (die die ältere römische Tradition aufnehmen) wird letztlich erst in Trient zugunsten der Liturgie der Kurie entschieden

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III. Periode der zunehmenden Vereinheitlichung: Von Gregor VII. bis zum Konzil von Trient (1085-1563)

a. Gesamtbild- Materielle Veränderung: So gut wie jeder Tag im Jahr erhält sein

Heiligenfest; ein immer dichteres Netz von Herren- und Marientagen überzieht das Kirchenjahr

- Die Tagzeitenliturgie wird vor allem in den Kluniazenserklöstern über das erträgliche Maß hinaus erweitert

- Polemik zwischen den Kluniazensern und den Franziskanern, die sich eine kürzere Fassung der Tagzeitenliturgie genehmigen lassen, der dann auch der Weltklerus folgt

- Etablierung der Privatmesse- Gründe: Reliquien in Altären, Tarifbuße, Totenmessen, steigende Zahl der Priester- Verständnis: Der Priester handelt im Namen der Gläubigen und nicht mehr gemeinsam

mit ihnen, denn sie sind abwesend und haben ihn durch ein Messstipendium zu ihrem Vertreter gemacht

- Feiergestalt: Viele Privatgebete (aus altgallischer Tradition), Priester rezitiert alle Texte (auch die des Chors), Missbrauch: Missa bifaciata / trifaciata, Aufgabe des Kommunionkelches

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III. Periode der zunehmenden Vereinheitlichung: Von Gregor VII. bis zum Konzil von Trient (1085-1563)

a. Gesamtbild- Verständnis für den eigentlichen Sinn der eucharistischen Feier und für

den wesensmäßigen Zusammenhang von Opfer und Opfermahl wird in dieser Zeit immer geringer

- Die Andacht der Gläubigen kreist jetzt, auch während der Messfeier, mit Vorliebe um die Menschheit Jesu, vor allem um seine Passion

- Aufblühen der liturgischen Frömmigkeit (Wallfahrten, eucharistische Andachten etc.)

- Kennzeichen der liturgischen Periode des Hoch- und Spätmittelalters ist nicht nur der Anschluss der Ortskirchen an die römische Liturgie (Vereinheitlichung), sondern auch die Veränderung des Verhältnisses der Gemeinde zur Liturgie (früher gemeinsame Aktion von Priester und Volk, nun ausschließliche Obliegenheit der Priester)

- Am Ende des Mittelalters ist aus der Liturgie ein Zeremoniell geworden, aus dem die Gläubigen sich Kraft holen können, an dem sie aber nicht mehr direkt beteiligt sind

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III. Periode der zunehmenden Vereinheitlichung: Von Gregor VII. bis zum Konzil von Trient (1085-1563)

a. Gesamtbild- Das neue Verständnis der Liturgie führt auch neuen Buchtypen, die auf

die Rolle des Priesters bzw. Bischofs zugeschnitten sind- Plenarmissale mit allen Texten für die Hl. Messe (hat sich bis zum 13. Jh. überall

durchgesetzt)- Brevier (zunächst Chorbrevier für das gemeinsame Chorgebet, dann kleines, handliches

Einzelbrevier für die Einzelrezitation der Horen)- Pontificale (enthält die spezifisch bischöflichen Gottesdienste wie Ordinationen,

Kirchweihe, Jungfrauenweihe, Firmung etc.; bedeutendstes Pontificale wird das von Wilhelm Durandus von Mende aus dem Ende des 13. Jh.)

- Rituale (Buch, in dem die wich tigsten von Presbytern geleiteten sakramentlichen Handlungen wie Taufe, Trauung, Sterbe- und Begräbnisliturgie enthalten sind; entwickelt sich seit dem 10. Jh.)

- Capitula episcoporum (beschreiben die Gottesdienstpraxis in den durchschnittlichen Pfarr- und Landkirchen; interessante Quellen)

- Liturgieerklärungen (allegorisch-geistliche Deutung der Liturgie; den Abschluss und Höhepunkt bildet das Rationale divinorum officiorum des Wilhelm Durandus von Mende)

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