Hans-Georg Gadamer-Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft. Aufsätze.-Suhrkamp (1991)

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    Suhrkamp Verlag

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    Dritte Auflage 1991 Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1976Quellenangaben am Schlu des BandesDruck: Nomos VerlagsgeseUschaft, Baden-BadenPrinted in Germany

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    Vernunft im Zeitalterder Wissenschaft

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    ber das Philosophische in denWissenschaften und dieWissenschaftlichkeit der PhilosophieDa das, was wir Philosophie nennen, nicht in demsel-ben Sinne Wissenschaft ist wie die sogenannten positi-ven Wissenschaften, liegt auf der Hand. Ein Positives,Gegebenes, das von ihr erforscht wrde und das nebenden gegebenen Forschungsbereichen anderer Wissen-schaften seinen P latz h tte , das ist ganz gewi nich t derFall de r Ph iloso ph ie. Sie hat es m it dem G an zen zu tu n .Dies Ganze ist aber nicht nur, wie jedes Ganze, dasGanze aller seiner Teile. Es ist als das Ganze eine alleendlichen Erkenntnismglichkeiten bersteigendeIdee, mithin nichts, was wir auf wissenschaftlicheW eise erkenne n k nn ten . U nd doch b ehlt es einen gu-ten Sinn, von der Wissenschaftlichkeit der Philosophiezu reden. M it Ph iloso ph ie m eint man ja vielfach so sub-jektive und private Dinge wie die eigene Weltanschau-ung , die sich be r alle A ns prc he auf W issenschaftlich-keit erhaben dnkt. Demgegenber kann Philosophiemit gutem Rechte wissenschaftlich heien, denn trotzallem Unterschied von den positiven Wissenschaftenw ah rt sie denn oc h eine verbindliche N ah e zu ihnen, diesie von dem Bereich der auf subjektive Evidenzen ge-grndeten Weltanschauung scheidet. Das ist nicht nurvon ihrer Herkunft her so. Dort sind auf untrennbareWeise Philosophie und Wissenschaft eines - und beidesist eine Schpfung der Griechen. Mit dem umfassendenTitel Philosophie wurde bei den Griechen alles theore-

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    tische Wissen bezeichnet. Freilich von der PhilosophieOstasiens oder Indiens reden wir inzwischen auch mitdem griechischen Worte, aber wir beziehen damit sol-che Gedankengestalten in Wahrheit auf unsere abend-lndische philosophische und wissenschaftliche Tradi-tion, konstruieren auch wohl aus ganz andersartigemM aterial, wie etwa Ch ristian Wolff, w enn er die sapien-tia sinica als praktische Philosophie auffate.Philosophie heit in unserem Sprachgebrauch aberauch all das, was hier das Philosophische in den Wis-senschaften genannt werden kann, d. h. die Dimen-sion der Grundbeg riffe, die das jeweilige Gege nstan ds-feld einer W issenschaft bestim m en , w ie etwa ano rgan i-sche Natur, organische Natur, Pflanzenwelt, Tierwelt,Menschenwelt usw., und solche Philosophie will erstrecht nicht ihrem eigenen Denk- und Wissensstil nachhinter der Verbindlichkeit der Wissenschaften zurck-stehen. Sie nennt sich heute gern Wissenschaftstheo-rie, stellt sich aber unter den Anspruch der Philoso-phie, Rechenschaftsgabe zu sein. So stellt sich die Fra-ge, wie sie das vermag, ohne Wissenschaft zu sein, dieVerbindlichkeit der Wissenschaft zu besitzen, und ins-besondere, wie sie das heute vermag, der philosophi-schen Forderung der Rechenschaftsgabe zu gengen,wo die Logik der Forschung ihrer selbst bewut genuggeworden ist, sich alle phantasievollen Spekulationenber das Ganze zu verbitten, die ihrem Gesetz nichtunterworfen sind.Nun sagt man zwar, da das bloe Ausgreifen derWissenschaften nach allen Seiten, das ihrem Metho-dengedanken Ausfhrung gibt, ein letztes Bedrfnis

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    der Vernunft unbefriedigt lasse, nmlich, im Ganzendes Seienden E inheit zu gew ahren. D as Verlangen nachsystematischer Zusammenfassung unseres Wissensbleibe da he r der legitime Bereich der Philo so ph ie. A bergerade dieses Zutrauen zur Philosophie, systematischeOrdnungsarbeit zu vollbringen, begegnet immer gr-erem Mitrauen. Die Menschheit scheint heute aufeine neue Weise bereit, gleichsam die eigene Begrenzt-heit anzunehmen und trotz der unberwindbaren Par-tikularitt des Wissens, das die Wissenschaft wei, inderen Fortschritt und der ihr verdankten steigendenN aturb eh errsc hu ng G eng e zu f inden. Sie nim m t dabeisogar mit inKauf, da mit der steigenden N atu rb eh err -schung auch die Herrschaft von Menschen ber Men-schen nicht abnimmt, sondern gegen alle Erwartungimm er gr er w ird und die Freiheit vo n innen be dr oh t.Es ist ja eine Folge der Techn ik, da d iese zu einer sol-chen Manipulation der menschlichen Gesellschaft, derffentlichen Meinungsbildung, der Lebensfhrung al-ler, der Zeiteinteilung jedes einzelnen zwischen Berufund Fam ilie fhrt, da es uns den A tem bek lem m t. M e-taphysik und Religion scheinen den Ordnungsaufga-ben der menschlichen Gesellschaft besseren Anhalt ge-boten zu haben als die in der modernen Wissenschaftgeballte Macht. Aber die Antworten, die sie zu gebenbehaupteten, s ind der heutigen Menschheit Antwortenauf Fra gen, die m an nicht wirklich fragen kann u nd d ie,wie sie meint, man auch nicht zu fragen braucht.So scheint heute wahr geworden, was noch Hegel ausseinem vollen Engagem ent in die Sache der Ph ilosoph ieheraus als einen in sich unm glichen W idersp ruch em p-

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    fand, wenn er sagte, ein Volk ohne Metaphysik sei wieein Tempel ohne Allerheiligstes, ein leerer Tempel, einTempel, in dem nichts mehr wohnt und der deshalbselber nichts mehr ist. Indes, ein Volk ohne Metaphy-sik Man kann schwerlich berhren, da in dieserW en du ng Hegels das W ort Volk nicht auf eine po liti-sche Einheit, sondern auf eine Sprachgemeinschaftgeht. Damit aber schiebt sich Hegels Satz, der Rhrungund Heimweh erregen mochte oder auch den Spott derradikalen Aufklrer herausfordert, pltzlich wieder inunsere eigene Zeit- und Weltsituation hinein und ltuns im Ernste fragen: Liegt in der Solidaritt, die alleSprecher einer Sprache eint, am Ende doch noch immeretwas, nach dessen Inhalt und Struktur sich fragen ltund wonach keine Wissenschaft auch nur zu fragenvermag? Ist es am Ende bedeutsam, da die Wissen-schaft nicht nur nicht denkt - im emphatischen Sinnedes Wortes, den Heidegger in seinem viel miverstan-denen Satze meint -, sondern auch nicht wirklich eineeigene Sprache spricht?Kein Zweifel, das Problem der Sprache hat innerhalbder Philosophie unseres Jahrhunderts eine zentraleStellung errun ge n, d ie sich wede r mit der lteren T rad i-t ion Humboldtscher Sprachphilosophie noch mit denumfassenden Ansprchen der allgemeinen Sprachwis-senschaft oder Linguistik deckt. Wir verdanken das ingewissem Umfang der Wiederbeachtung der prakti-schen L ebensw elt, die einerseits durch die ph an om en o-logische Forschung, andererseits innerhalb der angel-schsischen pragmatischen Denktradition erfolgt ist.Mit der Thematisierung der Sprache, die unlsbar zur

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    menschlichen Leb ensw elt geh rt, scheint sich eine neueGrundlage fr die alte Frage der Metaphysik nach demGanzen zu bieten. Sprache ist in diesem Zusammen-hang nicht ein bloes Instrument oder eine ausgezeich-nete Ausstattung, die dem Menschen zukommt, son-dern das Medium, in dem wir als gesellschaftliche We-sen von Anbeginn leben und das das Ganze offenhlt,in das wir hineinleben. Orientierun g auf das G a n z e - s oetwas liegt in Sprache freilich nicht, solange es sich umdie monologischen Sprechweisen wissenschaftlicherBezeichnungssysteme handelt, die sich ganz und garvon dem jeweils zu bezeichnenden Forschungsbereichher bestimmen. berall dort aber kommt Sprache alsOrientierung auf das Ganze hin ins Spiel, wo wirklichgesprochen wird, das heit, wo das Zueinander zweierSprecher, die ins Gesprch geraten, die Sache um-kreist. Denn berall , wo Kommunikation geschieht,wird nicht nur Sprache gebraucht, sondern bildet sichSprache. Daher kann sich Philosophie von der Sprachefhren lassen, wenn sie ihrem Hinausfragen ber allewissenschaftlich objektivierbaren Gegenstandsberei-che nach dem Ganzen Fhrung geben will - und siehat es imm er scho n getan, von den hinfh renden Redendes Sokrates an und jener dialektischen O rien tieru ngan den logoi, an denen Plato und Aristoteles in gleicherWeise fr ihre gedankliche Analyse gleichsam Manehmen. Es ist jene berhmte zweitbeste Fahrt, zu derSokrates im Platonischen Phaidon aufbricht, nachdemihn die unmittelbare Erforschung der Dinge, wie dieWissenschaft seiner Zeit sie ihm angeboten hatte, invllige Orientierungslosigkeit versetzt hatte. Es ist die

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    Wendung zur Idee, in der sich Philosophie als das Ge-sprch der Seele m it sich selbs t, das he it als D enken , inunendlicher Selbstverstndigung vollzieht. Noch dieSprache der Hegeischen Dialektik, die die erstarrteSprache der Begriffe in Satz und G egensatz , Spruch un dWiderspruch aufzuheben und ber sich hinauszuhebenstreb t, de nk t Sprache w eiter un d k eh rt selbst in Spracheein, sofern sie es ist, in der sich der Begriff zum Begriffbringt.Die Grundlage, auf der sich dergestalt in GriechenlandPhilosophie erhob, war zwar die Unbndigkeit desWissenwollens, aber doch nicht das, was wir Wissen-schaft nennen. Wenn der erste Name fr die Metaphy-sik erste W issenschaft (prim a ph ilosoph ia) laute te, sobesa solches Wissen von Gott, Welt und Mensch, dieden Inhalt der traditionellen Metaphysik ausmachten,nicht nur auf unbestrittene Weise einen absoluten Vor-rang gegenber allem anderen Wissen, das in den ma-thematischen Wissenschaften, der Zahlenlehre, Trigo-nometrie und Musik (Astronomie) seine vorbildlicheDarstellung hatte. Was wir Wissenschaft nennen dage-gen , wre zu einem gr eren Teile bei dem griechischenGebrauch des Wortes philosophia berhaupt nicht inden Blick getreten. Der Ausdruck Erfahrungswissen-schaften klingt fr das Ohr des Griechen wie ein hl-zernes Eisen. Man nannte das Historie, Kunde. Wasdem uns gewohnten Begriff von Wissenschaft ent-spricht, htten sie am ehesten als das Wissen verstan-den, auf Grund dessen ein Herstellen mglich wird: sienannten es poietike episteme oder techne. Das Stan-dardbeispiel dafr und zugleich die fhrende Spielart

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    solcher techne war die Medizin, die auch wir nicht sosehr W issenschaft nenn en als H ei lk und e, wenn wir ihremenschheitliche Aufgabe ehren wollen.Das T he m a, das uns heute abend beschftigt, um fatdaher auf seine Weise das Ganze des abendlndischenGeschichtsganges, den Anfang mit Wissenschaft unddie heutige kritische Situation, in der sich eine auf derGrundlage der Wissenschaft zu einem einzigen techni-schen Riesenbetrieb umgearbeitete Welt befindet. Ja,unsere Frage reicht damit zugleich ber unsere aus un-serer eigenen G esch ichte gegenw rtige W elt hin au s, in-dem sie es als eine Herausforderung an unser Denkenanzunehmen beginnt, da es auch Weisheits- und Wis-senstraditionen anderer Kulturkreise gibt, die sichnicht in der Sprache der Wissenschaft und auf der Basisder Wissenschaft formulieren. So wird es methodischgeboten sein, das Verhltnis von Philosophie und Wis-senschaft in seiner vollen W eite zu m T he m a zu m achen ,das he it ebensosehr von seinen griechischen Anfngenaus wie auf seine spten Folgen hin, die in der Neuzeitzutage treten. Denn Neuzeit definiert sich - gegenberall den umstrittenen Herleitungen und Datierungen -eindeutig dadurch, da ein neuer Begriff von Wissen-schaft und Methode aufkommt, der zuerst von Galileiin einem Teilgebiet verwirklicht und zuerst von Des-cartes ph ilosop hisch be gr nd et wor de n ist. Seit dam als,also seit dem 17. Jahrhundert, findet sich das, was wirheute Philosophie nennen, in einer vernderten Lage.Sie ist der Legitimation gegenber den Wissenschaftenbedrftig geworden, wie es das vordem niemals gab,und sie hat sich zwei Jahrhunderte lang, bis zu Hegels

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    und Schellings Tode, in solcher Selbstverteidigung ge-genber den Wissenschaften selber aufgebaut. Die Sy-stembauten der letzten zwei Jahrhunderte sind einedichte Folge solcher Anstrengung, das Erbe der Meta-physik mit dem Geist der modernen Wissenschaft zuvershnen. Danach, mit dem Eintritt in das positiveZeitalter, wie man es seit Comte nennt, war es mit derW issenschaftlichkeit de r Ph iloso ph ie ein nu r noch aka-demischer Ernst, mit dem man sich aus den Strmender einand er bekmpfenden W eltanschau ungen aufs fe-ste Land zu retten sucht und dabei in den Sumpf des H i-storismus geriet oder an den Untiefen der Erkenntnis-theorie strandete bzw. im Binnensee der Logik hin-und her tre ibt .So liegt ein erster Zugang zur Verhltnisbestimmungvon Ph ilosoph ie und W issenschaft im R ckgang auf dieZe it, in der es mit der W issenschaftlichkeit de r Philo so-phie noch voller Ernst wa r, un d das war zu letzt die ZeitHegels und Schellings. In der Wiederbesinnung auf dieEinheit alles unseres Wissens wollten vor nun andert-halb Jahrhunderten Hegels und Schellings systemati-sche Entwrfe die Wissenschaft neu rechtfertigenund umgekehrt den Idealismus auf die Wissenschaftbegrnden, Schelling durch seinen physikalischen Be-weis fr den Idealismus, Hegel durch die Zusammen-bindung der Philosophie der Natur und der Philoso-phie des Geistes zur Einheit der Realphilosophiegegenber der Idealphilosophie der Logik.N ich t, als ob es da rum gehen k n n te , den Versuch einerspekulativen Physik zu erneuern, der im 19. Jahr-hundert geradezu als Alibi gegenber der Philosophie14

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    gebraucht und mibraucht wurde. Zwar bleibt das Be-drfnis der Vernunft nach Einheit und Einheit des Wis-sens bis heute lebend ig, aber es wei sich von n un an imKonflikt mit dem Selbstbewutsein der Wissenschaft.Je ehrlicher und strenger diese sich versteht, desto mi-trauischer ist sie gegen alle solche E inh eitsversp rechu n-gen und E ndg ltigkeitsansprche gew orden . Einsehen,warum der Versuch einer spekulativen Physik und ei-ner E in ord nung d er W issenschaften in das von der Phi-losophie gelehrte System der Wissenschaft gescheitertist , heit daher zugleich, Rang und G ren ze der W issen-schaft schrfer erkennen.Nun waren Hegel und Schelling selber nicht blind ge-gen den legitimen Autonomieanspruch der Erfah-rungswissenschaften, die ihren eigenen methodischenGang gehen und die eben durch dies ihr eigene Schritt-gesetz der Philosophie der Neuzeit ihre neue Aufgabegestellt haben. Auf dem Hhepunkte seines BerlinerW irkens hat Hegel in der V orred e zu r zweiten Auflageseiner Enzyklopdie einiges darber gesagt, wie er sichdas Verhltnis von Philosoph ie und Erfahrungswissen-schaften vorstellt und welche philosophischen Pro-blem e darin steck en . Es ist ja einfach genug einz usehen,da die Zuflligkeit des hier und jetzt Begegnendennicht vollstndig aus der Notwendigkeit des Begriffsabgeleitet werden kann. Selbst der Extremfall sichererVoraussage, wie ihn die gro rum igen Verhltnisse un -seres Sonnensy stem s fr die Berechnung d er Lnge vonTag und Nacht, der Dauer von Verfinsterungen usw.gestatten, enthlt nicht nur immer noch einen Spiel-raum von Abweichungen (der freilich alle kunstlose

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    Beobachtungsmglichkeit um Dezimalen unterschrei-tet) .W esentlicher ist, da das Erscheinen der vorausge-sagten Himmelsereignisse am Himmel als solches nichtselbst voraussagbar ist. Denn fr die natrliche Beob-achtung hngt es in jedem Falle von den Wetterbedin-gungen ab - und wer wollte seine Zuversicht auf Wet-terprognosen grnden?Nun handelt es sich bei einem solchen drastischenBeispiel gewi nich t um das universelle Verhltnis zw i-schen Zufall und Notwendigkeit, sondern um eine in-nerwissenschaftliche Problematik. Hegel hat gezeigt,da zwischen der Notwendigkeit des allgemeinen Ge-setzes und der Zuflligkeit des einzelnen Falles einedeskriptive Identitt besteht. Die Notwendigkeit derNaturgesetze ist , gemessen an der Notwendigkeit desBegriffs, selbst als eine zufllige an zu sehe n. Es ist keineeinsehbare Notwendigkeit - wie man es etwa eine ein-sehbare Notwendigkeit nennen kann, da ein lebendi-ger Organismus im Proze des Stoffwechsels seinenBestand erhalten mu. Im Bereich der Naturforschungist die Formulierung mathematisch genauer Gesetzm-igk eiten ein approx imatives Ideal. Es ist eine sehr vageNormvorstellung von Einheit, Einfachheit, Rationali-tt, ja von Eleganz, der solche Gesetzesaussagen fol-gen. Ihr wahrer Mastab sind allein die Daten der Er-fahrung selbst.Erst recht scheint der Bereich der menschlichen Dingein das Reich des Zufalls zu fallen. Der geschichtlicheSkeptizismus wird von der Erfahrung weit besser ge-sttzt als der Glaube an geschichtliche Notwendigkei-ten und an die Vernunft in der Geschichte. Hier bliebe16

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    das Bedrfnis der Vernunft vollends unbefriedigt,wenn man sich blo auf Regelhaftigkeiten im Laufe derG eschichte berufen w rd e, die wie die N aturg esetze ih-rem eigenen Seinssinne nach nur das ausformulieren,was wirklich geschieht. - Das Bedrfnis der Vernunftmeint etwas anderes, und Hegels Philosophie der Welt-geschichte ist eine gute Illustration dafr. Der apriori-sche Gedanke, der im Wesen des Menschen liegt undden er in der Geschichte erkennt, ist der Gedanke derFreiheit. Hegels berhmtes Schema von Orient, Antikeund christlicher Welt lautete: Im Orient ist nur einerfrei, in der Antike sind es einige, in der christlichenWelt sind alle Menschen frei. Das ist die Vernunftan-sicht der Weltgeschichte. Das will nicht sagen, da da-mit die Weltgeschichte in allen Tatschlichkeiten ihresGeschichtsganges konstruierbar wird. Der Spielraumder Erscheinu ng en, die man zufllig nennendarf, bleibtunendlich. Aber der Zufall ist keine Gegeninstanz,sondern geradezu eine Besttigung des Sinnes vonN otw en dig ke it, d er dem Begriff zu k o m m t. Es ist keineEinrede gegen die Vernunftansicht der Weltgeschichte,da es die Freiheit aller, die Hegel als das Prinzip derchristlichen W elt dargestellt hat, in der W irklichk eit garnicht gibt und da Zeiten der Unfreiheit immer wiederauftreten, ja da sich Systeme gesellschaftlicher Un-freiheit vielleicht, wie in unserer zugespitzten Welt-situation, auf eine unausweichliche Weise endgltigetablieren knnten. Das fllt in das Reich der Zufllig-keit der menschlichen Dinge, das dennoch gegen dasPrinzip keinen Bestand behlt. Denn es gibt kein hhe-res Prinzip der Vernunft als das der Freiheit. So meint

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    Hegel und so meinen wir. Es ist kein hheres Prinzipde nk bar , als das de r Fre ihe it aller, und w ir verstehen diewirkliche Geschichte von diesem Prinzip aus: als densich immer wieder erneuernden und nie endendenKampf um diese Freiheit.Es wre ein Miverstndnis, das freilich oft genug be-gangen wird, als knnte dieser Vernunftaspekt des Be-griffs von den Tatsachen widerlegt werden. Das be-rchtigte Um so schlimmer fr die Tatsachen behlteine tiefe Wahrheit. Der Satz ist nicht gegen die Erfah-rungswissenschaften gerichtet, sondern im Gegenteilgegen das, was Hegel in der Berliner V orred e die b er-tnchung der Widersprche nennt, die zwischen derPhilosophie und den Wissenschaften klaffen. Er willvon einer solchen migen Aufklrung nichts wis-sen, in der sich die F ord er ung der W issenschaft und dieA rgum en tation aus Vernunftbegriffen wie in einer ArtKompromi zusammenfinden. Das war ein nur demAnschein nach glcklicher Zustand. Der Friede waroberflchlich genug. Aber in der Philosophie hatder Geist die Vershnung seiner mit sich selbst gefei-ert. Hegel will offenbar sagen, da das Vernunftbe-drfnis nach E inhe it un ter allen Bed ingu ngen legitim istun d da es allein von de r Ph ilosop hie befriedigt w erd enka nn , w hre nd die W issenschaft, wenn sie sich an m at,sich selbst absolut zu setzen, aber nur dann, mit derPhilosophie in einen unauflsbaren Widerspruch tr itt .Genau das ist der Fall in unserem Beispiel von der Fre i-heit aller. Wer nicht sieht, da das gerade Geschichteist, da die Freiheit aller ein unabdingbares Prinzip ge-w ord en ist und doch imm er erneu t der A nstren gu ng ih-8

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    rer Verwirklichung bedarf, hat das dialektische Ver-hltnis von Notwendigkeit und Zufall und damit denAnspruch der Philosophie, konkrete Vernnftigkeit zuerkennen, nicht verstanden.Nun sehen wir Hegel nicht nur im Bereiche der Ge-schichtswissenschaft, wo seine produktiven Beitrgebetrchtlich sind, sondern auch im Bereich der Natur-erkenntnis heute mit immer gerechterem Auge. Erstand auf der Hhe der Wissenschaft seiner Zeit. Wasseine und Schellings Naturphilosophie der Lcherlich-keit preisgegeben hat, war nicht ihr Informationsstand,sondern die Verkennung der wesenhaften Andersartig-keit der Vernunftansicht der Dinge gegenber der Er-fahrungserkenntnis. Sie lag gewi auch auf der SeiteSchellings und Hegels, weit mehr aber auf der Seite derErfahrungswissenschaften , die sich gegen ihre eigenenVoraussetzungen blind machten. Eine sich in ihrer Be-dingtheit wissende Erfahrungserkenntnis m u in W ahr-heit darauf bestehen, da sie in ihrem eigenen For-schungsgange auf sich selbst steht und sich allem dogma-tischen Gerb rauche en tzieht. Es ist eine bis heute nie ge-nug zu beherzigende Lehre geblieben, da das Philoso-phische nicht aus der Arbeit der wissenschaftlichen For -schung gleichsam herausgelesen werden kann, sondernweit eher darin zutage kom m t, da sich die Wissenschaf-ten selber von allen philosophischen Ergnzungen undspekulativen Dogmatisierungen fernhalten und damitdie Philosophie vor kurzschlssigen Interventionen be-wahren. Hegel und Schelling sind weit mehr das Opferdes Dogmatismus in den Wissenschaften als das ihreseigenen dogmatischen Vollendungswahns.

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    Wenn spter der Neukantianismus so gut wie die Ph-nomenologie erneut fr sich in Anspruch nahmen, dieGrundbegriffe der jeweiligen Forschungsregionen inihrer apriorischen Gegebenheit zum Gegenstand zumachen, so hat zwar die Forschung den dogmatischenAnspruch, der damit verbunden ist, in Wahrheit des-avouiert. Die Chemie ist in die Physik, die Biologie istin die C hem ie aufgegangen, und die ganze Klassifikationvon Pflanzenw elt un d Tierw elt ist dem Interesse an denbergngen und der Kontinuitt dieser bergnge ge-w ichen, un d die Logik vollends ist m ehr und m ehr vonder modernen Mathematik unter ihre Fit t iche genom-men worden. Mein eigener Lehrer Natorp hat nochversucht, die Dreidimensionalitt des Raumes aprio-risch-begrifflich zu bew eisen , so wie Hege l die Sieben-zahl der Planeten. Das ist vorbei. Aber die Aufgabebleibt. Denn das in der Sprache niedergelegte Ver-stndnis unserer Lebenswelt lt sich nicht durch dieErkenntnismglichkeiten der Wissenschaft voll abl-sen. Die Wissenschaft kann uns vielleicht in den Standsetzen, Leben in der Retorte zu erzeugen oder die Ster-benszeit des Menschen knstlich ins Beliebige zu ver-lngern. Aber dadurch ndert sich nichts an den hartenDiskontinuitten von Stofflichkeit und Lebendigkeitoder gar an der von wirklich gelebtem Leben und demHinwelken in den Tod. Die Artikulation der Welt, inder wir leben, durch Sprache und kommunikativeKooperation, ist keine bloe Dimension des Konven-tionellen o de r der Niederschlag eines vielleicht falschenBewutseins: sie bildet ab, was ist, und ist im ganzenihrer Legitimitt gewi, gerade weil sie im einzelnen2

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    Einrede, Widerspruch und Krit ik anzunehmen ver-mag. Die Zerlegbarkeit und Erzeugbarkeit alles Seien-den, die die moderne Wissenschaft leistet, stellt demgegenber ein nur partikulares Feld des Ausgriffs undder Beherrschu ng dar, das sich nu r so weit begre nz t, alsder Widerstand des Seienden gegen seine Vergegen-stndlichung nicht berwunden werden kann.So lt sich nicht verkennen, da sich die Wissenschaftimmer wieder und immer noch einem Anspruch desBegreifens gegenberfindet, vor dem sie versagen -dem sie sich versagen mu. Dieser Anspruch wird, seitSokrates im Phaidon die Flucht in die Logoi, die Dia-lektik, begrndete, von der Philosophie als ihre eigeneAufgabe festgehalten. Hegel steht in dieser Erbfolge.Auch er folgt der Fhrung der Sprache. Die Sprachedes bertgigen Bewutseins ist bereits von Katego-rien durchzogen, die bis zum Begriff zu fhren die phi-losophische Aufgabe ist. So hat Hegel die Dinge gese-hen. Wir stehen heute vor der Frage, ob wir die Dingeetwa deshalb nich t m eh r so sehen d rfen , weil die W is-senschaft sich selbst von der Sprache emanzipiert hat,indem sie eigene Bezeichnungssysteme und symboli-sche Darstellungsformen entwickelt hat, die sich nichtmehr in die Sprache des alltglichen Bewutseins ber-setzen lassen. Gehen wir nicht in eine Zukunft, in dersprachlose, wortlose Angepatheit die Affirmation derVernunft berflssig macht? Und wie sich heute dieWissenschaft gleichsam auf eine neue Weise autonomsetzt, indem ihr Wiedereingreifen in das Leben nichtdurch den gemeinsamen Gebrauch allgemeinverstnd-licher Sprache vermittelt wird, so zeigt sich auch in ei-

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    ner zweiten Dimension ein hnliches Bedenken. Be-kanntlich hat Hegel das System der Bedrfnisse als dieGrundlage von Gesellschaft und Staat mit besonderemInteresse studiert, aber dies System den geistigen For-men des sittl ichen Lebens entschieden untergeordnet.Heute dagegen sehen wir dieses System in einen Teu-felskreis von Produktion und Konsum gebannt, der dieMenschheit immer tiefer in die Selbstentfremdungtreibt, weil die natrlichen Bedrfnisse nicht mehrselbst gemacht sind, d. h. sich immer mehr als dasProdukt eines andersartigen Interesses und nicht desInteresses an der Bedrfnisbefriedigung erw eisen.Nun knnte man freilich fragen, ob die Entdogmatisie-rung der Wissenschaft, die sich im 20. Jahrhundertvollzogen hat, indem sie die Trennung von der natrli-chen Anschauung zur Forderung erhob, damit nichtam Ende nichts weiter getan hat - und das wre ver-dienstlich -, als einen allzu leichten Zugang desmenschlichen Vorstellungsvermgens zu den Feldernder Forschung zu versperren, und da sie so auch um-gekehrt und positiv die dogmatische Verfhrung ge-brochen hat, die aus dieser Zugnglichkeit entsprangund die Hegel die U be rtn ch un g der W idersprche ge-nan nt hat. D as M odell der M echa nik, das in Hegels undSchellings Zeit auf der sicheren Grundlage der New-tonschen Physik beruhte, besa eine alte Nhe zumMachen, zur mechanischen Verfertigung, und hattedamit die Handhabung der Natur zu knstl ich erson-nenen Zwecken ermglicht. Es lag in dieser universel-len technischen Perspektive eine gewisse Entsprechungzu dem philosophischen Vorrang, den das Selbstbe-22

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    wu tsein in der neueren E ntw icklung gew onnen hatte.Wir sind dabei immer in der Gefahr, die Geschichts-konstruktion, die vom deutschen Idealismus geschaf-fen worden ist , unbesehen zu akzeptieren. Man musich fragen, ob beides am Ende zu kurz schliet. Diezentrale Stellung des Selbstbewutseins ist im Grundeerst von dem deutschen Idealismus und seinem An-spruch, alle Wahrheit aus dem Selbstbewutsein zukonstruieren, gefestigt worden, indem man Descartes 'Auszeichnung der denkenden Substanz und ihres Ge-wiheitsvorranges als obersten Grundsatz aufbaute.Gerade hier hat aber das 19. Jahrhundert die Grundla-gen erschttert. Die Kritik der Illusionen des Selbstbe-wutseins, die von den Antizipationen Schopenhauersund Nietzsches inspiriert, inzwischen in die Wissen-schaft eingedrungen ist und der Psychoanalyse ihrenEinflu gegeben hat, steht nicht isoliert da, und HegelsVersuch, den idealistischen Begriff des Selbstbewut-seins zu bersc hreiten und die W elt des objektiven G ei-stes als eine hhere Dimension der Wahrheit aus derDialektik des Selbstbewutseins hervorgehen zu las-sen, bedeutete eine Frderung in der gleichen Rich-tung, die Marx und die Ideologienlehre des Marxismusgegangen sind.Noch bedeutsamer aber konnte es scheinen, da derBegriff der Objektivitt, wie er in der Physik mit demder M eb arkeit verk opp elt ist, durch die neuere theo re-tische Physik tiefgreifende Wandlungen erfahren hat.Die Rolle, die die Statistik selbst in diesen Bereichen zuspielen begonnen hat und die sich unser ganzes wirt-schaftliches und gesellschaftliches Leben mehr und

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    mehr unterwirft, lt der Mechanik und der Kraftma-schine gegenber neue Modelle ins Bewutsein treten,deren Eigenart die Selbstregulierung ist und die damitstrk er als an das M achbare an das Lebendige, an das inRegelkreisen organisierte Leben denken lassen.Es wre jedoch ein Irrtum, den Herrschaftswillen zuverkennen, der sich in diesen neuen Methoden der Be-herrschung von Natur und Gesellschaft seinen Aus-druck geschaffen hat. Die Unmittelbarkeit, in der sichmenschlicher Eingriff berall dort empfiehlt, wo Me-chanismen vollkommen durchsichtig geworden sind,ist vermitteiteren Formen des Steuerns, Balancierens,Organisierens gewichen. Das scheint mir alles. Nunaber ist zu bedenken: Vermutlich mu man den Fort-schritt der industriellen Zivilisation, den wir der Wis-senschaft verdanken, gerade auch unter dem Gesichts-punkt sehen, da die Macht selber, die von Menschenber die Natur und die anderen Menschen ausgebtwird, dadurch ihre Augenflligkeit verloren hat undda dam it eine gesteigerte V erfhrung zum M ibrauchherbeigefhrt worden ist . Man denke an den organi-sierten Massenmord oder an die Kriegsmaschine, dieauf einen Knopfdruck zu ihrer vernichtenden Wirkunggebracht wird. Man denke aber auch an den steigendenAutomatismus aller gesellschaftlichen Lebensformen,an die Rolle der P lan un g etw a, zu deren W esen es ja ge-hrt, da sie auf lange Sicht hinaus Entscheidungentrifft, und das heit Entscheidungsfreiheit benimmt,oder an die steigende Macht der Verwaltung, die demBrokraten eine von niemandem berhaupt gewollte,aber dennoch nicht vermeidbare Macht in die Hand24

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    gibt. Immer mehr Bereiche unseres Lebens treten sounter Zwangsformen automatischer Ablufe und im-m er weniger erk en nt sich in diesen O bjektivation en desGeistes der Mensch und sein Geist selber wieder.Indessen scheint mir eben mit dieser Situation des sichselber kreuzigenden Subjektivismus der Neuzeit einanderer Aspekt an Bedeutung zu gewinnen, der demneuzeitlichen Selbstbewutsein und seiner bersteige-rung bis zu r A no ny m isierun g des Lebens gnzlich ent-rckt ist, ja nach der umgekehrten Richtung hin altenMotiven eine neue Einschlagskraft verheit, und auchunter diesem Aspekt scheint mir Hegel eine neue Ak-tualitt zu zeigen : Er ist nicht nur der Vo llender des derNeuzeit zugrunde liegenden Gedankens der Subjekti-vitt, der diese Struktur der Subjektivitt ber die Ge-stalten des objektiven Geistes und des absoluten Gei-stes hin ausdehnt, sondern er bringt auch einen Sinnvon Vernnftigkeit neu zu Geltung, der aus ltestemgriechischem Ursprung ist. Der Begriff der Vernunftund der Vernnftigkeit ist nicht nur eine Bestimmungunseres Selbstbewutseins. Er spielte in der griechi-schen Philosophie eine entscheidende Rolle, ohne daein Begriff des Subjektes oder der Subjektivitt ber-haupt entwickelt worden war, und es bleibt eine be-stndige Provokation unseres Hegel-Verstndnisses,da Hegel als den letzten Paragraphen seines Systemsder philosophischen Wissenschaft kommentarlos einengriechischen Text aus der Metaphysik des Aristotelesab dru ck t. G ew i ist es ein Te xt, in den wir kaum andersknnen, als unseren Begriff des Selbstbewutseins ein-zubringen. Das hchste Selbstbewutsein mu dem

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    hchsten gttlichen Seienden zukommen. Und dochgipfelt in dem Selbstbewutsein des sich selber denken-den Gottes fr das griechische Denken der gesamteAufbau des Seins, und zwar so, da innerhalb desselbendas menschliche Selbstbewutsein eine recht beschei-dene Rolle spielt.> < :D asWrdigste sind die Sterne-das bleibt der unverrckbare Mastab, unter dem dasgriechische Denken die Stellung des Menschen imKosmos sieht. Das klingt uns fremd, da nicht derMensch, sondern die Sterne das Ehrwrdigste unterdem Seienden darstellen sollen. Es klingt unerreichbarfern von Hegel sowohl als von unserer eigenen Gegen-wart. Und doch liegt darin eine dialektische Aktualittverborgen, die es freizulegen gilt und die sowohl Hegelals auch unseren griechischen Vtern, wie mir scheint,eine neue Bedeutung verleiht. Hegels Bestimmung derPhilosophie als der Vershnung des Verderbens er-scheint uns dann nmlich weniger als eine gltigeWahrheit oder idealistische Unwahrheit, denn als eineArt romantischer Antizipation. Aus der Entzweiungvon Selbstbewutsein und Weltwirklichkeit sollte nachHegel die hhere Form der Wahrheit durch Versh-nung und Vereinigung der Gegenstze hervorgehen,indem das Subjektive aus der Starrheit seiner Entgegen-setzung zum Objektiven befreit wrde. Das war daseschatologische Pathos seiner Philosophie. Was unsumgibt, ist freilich das Gegenteil: die schlechte Unend-lichkeit eines endlos fortschreitenden, wie getriebenenBestimmens, Bemchtigens, Aneignens. Hegel ver-band solche schlechte Unendlichkeit mit dem ueren26

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    Verstandesaspekt der vernnftigen Welt und der Hart-nckigk eit, m it der er auf Fixierung der G egen stze be-steht und damit das uere in seiner Gegenstellung ge-gen sich, in seiner puren Gegenstndlichkeit setzt.Wenn nun Hegel demgegenber die wahre Unendlich-keit des sich in sich bestim m enden Seins lehr t, zu m Bei-spiel die des Lebendigen, zum Beispiel die des Selbst-bewutseins, zum Beispiel die der sich zum Bewut-sein ihrer Freiheit befreienden Menschheit, oder dessich in Kunst, Religion und Philosophie selber durch-sichtig gewordenen Geistes, sieht man sich auf einmaljenseits der Zeitenschrnde wie auf einen neuen Bodengestellt.D ie griechische Vernnftigkeit, die Hegel mit dem m o-dernen Selbstbewutsein zu neuer Einheit zu vereini-gen versucht, nimmt sich, wenn sie nicht mehr als einebloe Vorgestalt der Moderne gesehen wird, andersaus. Sie ist nicht mehr die rtselhafte Selbstvergessen-heit, die sich im Anschauen der Welt verlor und nur ineinem hchsten Weltengott sich auf sich selbst bezog -sie erscheint gegenber der schlechten Unendlichkeit,in die es uns hineintreibt, als das Bild einer eigenen unsmglichen Zukunft und eines mglichen Lebens undberlebens. Nicht mehr der Bau von Systemen, die inG eda nk en vereinigen, was in W iderspruch m iteinandergetreten ist, nicht mehr die malose Leidenschaft derArchitekten des Systembaus scheint uns das Ideal derVernunft vor Augen zu halten. Auf eine rtselhafteWeise sieht sich ja das Bedrfnis der Vernunft nachEinheit im Fortgang der Forschung immer wieder ent-tuscht und hat in einer erstaunlichen Weise gelernt,

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    sich in einer Vielzahl von Partikularitten zurechtzu-finden, die ihrerseits jede fr sich die pa rtikula re Struk -tureinheit von Systemen besitzen. Es scheint mir voneiner symbolischen Tragweite, da an die Stelle desSystembaus die Systemtheorie getreten ist.Freilich, welch ein Bedeutungswechsel im Sinne desW or tes Theo rie liegt hier vo r W as liegt in diesemWandel? Das Wort Theorie, das heit theoria, ist eingriechisches Wort. Es stellt die eigentliche Auszeich-nung des Menschen, dieser gebrochenen und unterge-ordneten Erscheinung innerhalb des Universum dar ,da er seinen geringen und endlichen Maen zum Trotzzu der reinen Anschauung des Universum fhig ist.Aber es wre vom Griechischen her unmglich, Theo-rien aufzustellen. Das klingt ja, als ob wir siem achten . Das W or t m eint nicht, wie das vom Selbst-bewutsein her gedachte theoretische Verhalten, jeneDistanz zum Seienden, die das, was ist, unparteiischerkennen lt und es damit anonymer Beherrschungunterwirft. Die Distanz der theoria ist vielmehr die derN h e und der Zugeh rigkeit. Der uralte Sinn von theoriaist Teilnahme an der Festgesandtschaft zur Verehrungder Gtter. Das Schauen des gttlichen Vorgangs istnicht die teilnahmslose Feststellung eines Sachverhaltsoder Beobachtung eines prchtigen Schauspiels, son-de rn eine echte Teilhabe an dem G esch ehe n, ein w irkli-ches Dabeisein. Dem entspricht, da die Vernnftig-keit des Seins, diese gro e H y p o th es e griechischer P hi-losophie, nicht primr eine Auszeichnung des mensch-lichen Selbstbewutseins ist, sondern eine des Seinsselber, das so das Ganze ist und so als das Ganze er-28

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    scheint, da die menschliche Vernunft weit eher als einTeil dieser Vernnftigkeit zu denken ist und nicht alsdas Selbstbewutsein, das sich dem Ganzen gegenberwei. So ist es gleichsam ein anderer Weg, in dem diemenschliche Besinnung sich in sich selbst vertieft undsich findet: n icht der W eg nach inn en , zu dem Augustinaufrief, sondern ein Weg der vollen Hingabe an dasAuen, in dem der Suchende sich selbst dennoch fin-det. Das war Hegels Gre, da er diesen Weg derG riech en nicht als einen falschen W eg gegenber jenemneuzeitlichen der Selbstbesinnung erkannte, den manhinter sich gelassen habe, sondern als eine Seite, diedem Sein selber zukommt. Es war die groartige Lei-stung seiner Logik, in der Dimension des Logischendiesen das Entgegengerichtete sammelnden und tra-genden Grund erkannt zu haben. Ob er das nun nusoder Gott nannte, es ist jedenfalls ebensosehr das volleA u en , w ie es in der mystischen V ersenkun g des C hr i-sten das letzte Innen ist.Wir stehen am Ende unserer berlegungen. Das Ver-hltnis von Wissenschaft und Philosophie erwies sichan dem S tan do rt, auf den uns Heg el gefhrt ha t un d m itihm Schelling, als ein dialektisches. Nicht die aus denWissenschaften herauszuhebende Philosophie, die ih-ren begrenzten Sinn behalten mag, und auch nicht diespekulative Grenzberschreitung nach der Seite einerdogmatischen Festlegung der in stetem Flu befindli-chen Forschung knnen das Verhltnis von Philoso-phie und Wissenschaft angemessen beschreiben. Wirmssen dies Verhltnis in seiner vollen Gegenstzlich-keit positiv denken lernen. Keine Abschwchung zu

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    miger Aufklrung, keine bertnchung sollsein. Es wre V erblen dung zu m einen, da diese Verle-genheit uns ntigte, Philosophie auf die Seite der Kunstzu stellen und ihr an allen V orrechten der K unst und al-len Gewagtheiten, die mit diesen Vorrechten verbun-den sind, teilzugeben. Die Anstrengung des Begriffsgilt es auch weiterhin auf sich zu nehmen. Zwar, derA nsp ruch systematischer Einheit scheint uns heu te we-niger einlsbar, als im Zeitalter des Idealismus esschien. So zieht uns gleichsam eine innere Affinitt zuder zauberhaften Mannigfaltigkeit herber, die dieAussage der K unst in den Reich tm ern ihrer W erke voruns ausbreitet. Weder das Prinzip des Selbstbewut-seins noch irgendein anderes Prinzip letzter Einheits-gebung und Selbstbegrndung geben uns die Erwar-tung, das System der Philosophie doch noch konstru-ieren zu knnen. Indessen bleibt das Bedrfnis derVernunft nach Einheit unabweisbar. Dieses Bedrfnisschweigt auch nicht vor dem hundertugigen Argus,den nach Hegels schnem Worte das Werk der Kunstdarstellt, in dem ja keine Stelle ist, die uns nicht sieht.Es bleibt in jedem Aspekt die Aufgabe der Selbstver-stndigung des Menschen mit sich selber bestehen, diein keiner seiner Erfahrungen verleugnet werden kannund so gewi auch nicht in den Erfahrung en der K un st.Aber sowie die Aussagen der Kunst in den Proze un-serer Selbstverstndigung mit uns selber integriert wer-den, wenn sie in ihrer Wahrheit wahrgenommen wer-den, ist nicht mehr Kunst, sondern ist Philosophie amWerk. Es ist das gleiche Bedrfnis der Vernunft, dasuns die Einheit unserer Erkenntnis immer wieder her-3

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    zustellen ntigt, das auch Kunst in uns eingehen lt.Dazu gehrt aber auch in unserer Welt all das, was unsin der Durchmessung aller Weltzugnge und der Er-probung aller Weltausgriffe die Wissenschaften gewh-ren. Dazu gehrt nicht zuletzt das Erbe unserer Tradi-tion ph ilosoph ischer Vernunftansichten, von denen wirnicht eine annehmen und ganz bernehmen knnen,aber die wir alle nicht ungehrt lassen drfen. Das Ein-heitsbedrfnis der Vernunft verlangt es.Das Vorbild der Wissenschaft, das unsere Zeit be-stimmt, sollte uns zugleich vor der Versuchung scht-zen, im Philosophieren dem Bedrfnis nach Einheitdurch voreilige Konstruktionen nachzufolgen. Wie un-sere gesamte Welterfahrung einen nie zu Ende kom-menden Proze der Einhausung darstellt - um mit He-gel zu reden - auch in einer uns immer fremder schei-ne nd en , weil nu r allzu sehr von uns vernde rten W elt - ,so ist auch das Bedrfnis nach ph ilosoph ische r Rechen-schaftsgabe ein unendlicher Proze. In ihm vollziehtsich nicht nur das G esp rch, das jeder einzelne denk endmit sich selbst fhrt, sondern auch das Gesprch, indem wir alle zusammen begriffen sind und nie aufh-ren, begriffen zu sein - ob man die Philosophie tot sagtoder nicht.

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    Hegels Philosophieund ihre Nachwirkungen bis heute

    Es ist ebenso anziehend wie riskant, als akademischerLehre r in einen Kreis akadem isch gebildeter un d berufs-ttiger reiferer Menschen zu treten, mit dem ihn nichtdie regelm ige F hlu ng des akademischen U nterrich tsverbindet. Ich mchte Ihnen einen Zugang zu einemDenker bahnen, dessen Werk in einem seltenen, ja ein-zigartigen Mae verrtselt ist. Es ist keine bertrei-bun g, wenn ich sage, da es keinen lebenden M enschengibt, der das W erk Hegels so zu verstehen und den ken dnachzuvollziehen vermag, da ihm ein vorgelegter Zu-sammenhang Hegelscher Stze sofort oder auch nacheiniger Anstrengung ganz und gar verstndlich wrde.Es gibt eine berhmte Geschichte von einem BesuchHegels bei Goethe. Goethe, der sonst mit einer gewis-sen patriarchalischen berlegenheit das Gesprch zufhren pflegte, war bei Tisch auffallend still, und He-gel,der G as t, redete auffallend viel - in einem allerdingsnoch besonders mysterisen Schwbisch. Die Schwie-gertochter Goethes, die bei Tisch dabei war, fragtenachher, als der Gast sich verabschiedet hatte: Waswar denn das fr ein merkwrdiger Gast? Und daraufsagte Goethe: Das war der erste Philosoph Deutsch-lands, Professor Hegel aus Berlin. Die Szene mag alserstes daran erinnern, da Hegel in das Zeitalter Goe-thes gehrt und da beide Mnner- gleich stark, wennauch in unvergleichbarer Weise - die Folgezeit geprgt32

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    haben. Goethe darf wohl mit Recht das Symbol derbrg erlichen Gesellschaft des 19, Ja hr hu nde rts genann twerden, der Mann, der durch sein Talent und seineberragende Persnlichkeit schlielich der eigentlicheSouvern am Weimarer Hof war, zu dem die Welt wiezu einem Frsten des Geistes zu pilgern pflegte. Undauf der anderen Seite dieser seltsame Berliner Professor,der in seinem rauhen Schwbisch und mit all der hoch-getriebenen Abstraktion des Gedankens, die sich inseinen Werken spiegelt, dennoch der wirksamste Leh-rer der Philosophie im 19. Jahrhundert gewesen ist -m ehr als irgendeiner der groen D en ke r eine Figu r, u mderen echtes Profil der Streit der Schulen ging und anderen wahrer Bedeutung sich die Geister schieden.Nach Hegels Tode gab es geistige Diadochenkriege,wie nach dem Tode eines Weltherrschers. Man unter-schied eine Hegeische Rechte und eine Linke. Zwi-schen den Rechtshegelianern und den Linkshege-lianern tobte der Streit um den wahren Gehalt des He-gelschen Denkens. Unter den Zeitgenossen Hegels warG oe the sicher der universalste Geist. D oc h selbst Go e-the war nicht imstande, Hegel wirklich zu lesen. Wirhaben ein sehr schnes Dokument dafr. In den erstenStzen der Phnomenologie des Geistes, auf der er-sten Seite des Buch es, hat G oethe, dem Hegel sein Buchnatrlich gesandt hatte, an einer Stelle Ansto genom-men. Wie alles hat er auch dies angelesen, ist aber berdie erste Seite offenbar nicht hinausgekommen. Er hatnmlich ganz emprt festgestellt, da Hegel dort etwasihm absolut Zuwideres schreibt: Die Knospe ver-schwindet im Hervorbrechen der Blte, und man

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    knnte sagen, da jene von dieser widerlegt wird.G oe the , dieser b erzeu gte Gegn er aller revolution ren,explosiven Theorien in der Erdgeschichte wie in derMenschengeschichte, hat bekanntlich das Geheimnisdes organischen Wachsens der Dinge gerade auch alsdas Vorbild fr die rechte geistige Haltung des Men-schen angesehen. Daher seine Ablehnung des Hegel-schen Textes. Wenn man nun aber die Stelle, die Goe-the reizte, nachliest, stellt man fest, da Goethe nichtm ehr um ge bl ttert ha t, denn auf der nchsten Seite gehtes ganz in Goethes Sinne mit einem Aber weiter, dasdie organische Einheit dagegen geltend macht. So hatdenn Goethe die innere Verwandtschaft, die er zu He-gel besa, selber nicht ganz realisiert. Gleichwohl be-wahrte er fr Hegel immer ein gutes Vorurteil, nichtzuletzt, weil Hegel zu seinen Verteidigern im Kampfum die N ew ton sch e O p tik , d. h. zu den Anh ngern derFarbenlehre Goethes gehrte. Bekanntlich sah sichG oeth e selber nicht so sehr als der gro e D ich ter, der erwar, sondern vor allem als der groe Naturforscher,der die wahre Betrachtungsweise der Natur, insbeson-dere des Lichtes, und damit die wahre Physik gegenNewton zur Geltung gebracht habe. Die Zust immungH ege ls, Schellings, Schop enhauers zu der G oetheschenFarbenlehre ist gewi nicht ganz ohne sachliches Ge-w icht. Es w re billig, sich als Ph ysik er da rb er erhabenzu fhlen. Was sich in diesem unglcklichen StreitGoethes gegen Newton spiegelte, ist vielmehr ein Ph-nomen von tiefster Bedeutung: In ihm wird manifest,da die moderne Naturwissenschaft als ein wahrhaftverwandelndes Faktum in die Welt getreten ist und der34

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    Traditionsgestalt von Wissenschaft, die aus der na-trl ichen Beobachtung und Erfahrung ohne mathema-tisierende Abstraktion schpfte, ein Ende setzte. Diemoderne Erfahrungswissenschaft fand im 17. Jahrhun-dert in der Mechanik Galileis und Huygens ihre ersteGrundlage, entfaltete sich immer weiter, bezog alleWissensgebiete in ihre neue Methodik ein und suchteschlielich - das ist die Stund e, in der wir heute s t e h e n -sogar die gesellschaftliche Wirklichkeit mit dem An-spruch wissenschaftlicher Steuerung zu erobern undihre Lenkung in den Griff zu bekommen. Im Grundewar schon m it dem 17. Jah rh u nd ert d er selbstverstnd-liche A nsp ruc h der Ph iloso ph ie, die regina scien tiarum,Inbegriff alles Wissens und der umschlieende Rahmenfr jede mgliche menschliche Erkenntnis zu sein,nicht mehr einlsbar. Hegel war der Allerletzte, derden stolzen Anspruch der Philosophie, Rahmen undumfassendes Ganzes fr alles mgliche menschlicheWissen zu sein, in seinem Denken zu verteidigen ge-wagt hat. Soweit das auch nach Hegel noch versuchtwurde, geschah es auf dem akademischen Schulhori-zont von Philosophieprofessoren und war nicht mehreine weltgeschichtliche Wirklichkeit, wie sie der Pro-fessor Hegel in Berlin noch gewesen war.Hegel versuchte eine letzte Synthese von Natur undGeschichte, von Natur und Gesellschaft in einem gro-en philosophischen G ed an ke nsy stem , das freilich, ge-rade weil es eine letzte Aufgipfelung eines ltesten An-spruches war, des griechischen Anspruches, den lo-gos des Seins zu den ken , sehr schnell um seine Pop ula-ritt gekommen ist. Es kennzeichnet die Wirkungsge-

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    schichte Hegels, da Rudolf Heym um die Mitte des19. Jahrhunderts, im Jahre 1854, etwa 20 Jahre nachHegels Tode, eine vielbeachtete polemische Darstel-lung der Hegeischen Philosophie gegeben hat und die-ses Buch m it Reflexionen ber den raschen Zu sam m en-bruch der Hegeischen Philosophie erffnete. Der etwasschnde, kommerzielle Ton, in dem er da spricht undder fr jeden, der ein Ohr fr geschichtliche Tne hat,den kommerziellen Materialismus der frhindustriellenEntwicklung Deutschlands in der Mitte des vorigenJahrhunderts verrt, lautete: Dieses groe Haus hatnur deshalb so schnell falliert, weil der ganze Ge-schftszweig darnieder liegt. Heym meint damit, dadie Philosophie als Ganzes sozusagen bankrott gingund der Zusammenbruch der Hegeischen Weltherr-schaft des Geistes nur eine Folge des Bankrottes derPhilosop hie be rha up t w ar. U n d es ist w ah r: seit Hegelhat es keinen Denker mehr gegeben - vielleicht darfman sagen: nicht vor Heidegger -, der noch das Be-wutsein aller aussprach, obwohl er nur intra muros,nur im Rahmen der Universitt seine Stimme verneh-men lie. Natrlich gab es groe Schriftsteller wieSchopenhauer und Nietzsche oder auch Kierkegaard,aber es gab keinen Lehrer der Philosophie an Universi-tten mehr, der wirklich das allgemeine Bewutseinerreicht htte. Wenn Heideggers Denken heute von ei-nem Romancier wie Gnter Grass, der nicht fr Fach-leute schreibt, sondern allgemein gelesen wird, in ei-nem R om an versp ottet w ird, so do ku m en tiert sich ebendarin, da H eideggers Stimm e b er den H rsaal h inausgedrungen ist.36

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    Wenn wir uns fragen, was der Grund fr den schnellenZusammenbruch der Hegeischen Philosophie war, soist die Antwort leicht. Der Anstieg der modernenForschung in allen Wissenschaftsgebieten hat den An-spruch, den Hegel als letzter noch erhoben und vertei-digt hatte, auch die Wissenschaft von der Natur in sei-nem apriorischen System des Gedankens vorzuzeich-nen und in es einzubeziehen, diskreditiert. Eine solcheBevormundung durch den Apriorismus der Vernunftmute den Widerstand und den Spott der Erfahrungs-wissenschaften hervorrufen. Heute, in dem Abstandeines Jahrhunderts, denken wir ein wenig anders berdie fhrend en Krfte in der un m ittelbaren Ep och e nachHegel und erkennen auf allen Gebieten auch positiveEinflsse Hegels. Das gilt fr die Grundbegriffe derNaturwissenschaft so gut wie fr die Philosophie desJahrhunderts , die im Neu-Kantianismus gipfelte, ohnesich bewut zu sein, wieviel Hegel in ihr weiterlebte -es gibt aber im besonderen die sogenannte historischeSchule, die in Berlin zentrierte Bewegung der histo-risch-kritischen Forschung, die sich im Gegensatz ge-gen die spekulative Geschichtsphilosophie Hegelsglaubte und wute und von der wir heute erst sehen,wie sehr sie in W ah rhe it von de r idealistischen Ph iloso -phie und insbesondere den Hegeischen Ideen geleitetwar .Es bleibt eine merkwrdige Tatsache, da dieser ver-kauzte Schwabe wirklich nicht durch uerlich gewin-nende Mittel die Popularitt errang, die er bei seinenStudenten in der Ta t besa . Neb en b ei : Es besttigt sicheine allgemeine Erfahrung, was einen Universittsleh-

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    re rwirksam m a c h t , sind n i c h t seine r h e t o r i s c h e n o d e rformellen T u ge n d e n .Ich selbst . .h a b eetwa auf demG e bie teder G e sc h i c h t e der Wissenschaften das meis tevo n j e m a n d e m ge le rn t , der st o t t e r t e . N a c h zwei S t u n d en m e r k tman das n i c h t m e h r , w e n n ein M an n etwaszu sagen hat. So h a b e n die Ber l iner S t u d e n t e n Hegelsbald gewi nicht mehr bemerkt, da er schwbelte,sondern hielten das fr Deutsch.Indessen war das wissenschaftliche Selbstbewutseindes spteren 19. Jahrhunderts durch seine Abkehrvon Hegel geprgt, und das sotief, da Hegel bis zumheutigen Tage in der internationalen intellektuellenWelt eine suspekte Figur geblieben ist, insbesondere imangelschsischen Raum. Erst in unseren Tagen kommtauch dort eine Gegenbewegung in Gang. Es gibt jetztauch in England, in Amerika neue Hegel-Vereinigun-gen, die diesem letzten Denker, der unser Wissen undunser Weltgefhl durch seine philosophische Genialittzusammenzufassen vermochte, ihre Aufmerksamkeitwieder zuwenden. Aber man mu im ganzen sagen:noch heute bleibt Hegel in den Augen der Wissenschaftund aller derer verdchtig, die glauben, da mit demFortschritt der Wissenschaft grundstzlich allemenschlichen Probleme lsbar sind. Trotzdem gab esimmer wieder natrliche Hegelianer. Da war in Ita-lien Spaventa, auf den der sptere italienische Hegelia-nismus zurckgeht, der durch den Namen Croce undGentile bekannt ist. Da war in Holland eine Hegel-Schule, die an den Namen Bolland geknpft ist, die so-genannten Bollandisten, eine noch heute fortlebendeGruppe von freidenkerischen, liberalen Geistern. Da38

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    war in England um 1900 ein weit verbreiteter Hegelia-nismus, dessen Spuren freilich in Oxford und Cam-bridge inzwischen mit Feuer und Schwert ausgerottetsind. Un d da war in Deu tschland imm er wieder der eineoder der and ere ein Hegelianer, u nd aus solchem na tr-lichen Hegelianismus nhrte sich auch in Deutschlandimmer wieder das Studium der Hegeischen Philoso-phie . Im Jahre 1910 hielt dann Wilhelm Windel-band, das Haupt des sdwestdeutschen Neukantianis-mus, in der Heidelberger Akademie der Wissenschaf-ten eine Rede ber den neuen Hegelianismus, in der ersich zum Sprachrohr seiner eigenen Studenten undSchler machte, die innerhalb der herrschenden neo-kantianischen Philosophie und gegen sie Hegel auf denSchild erhoben. Einer der Wortfhrer dieser hegeliani-sierenden Gruppe war Julius Ebbinghaus, heute ein er-bitterter Hegelgegner und Altkantianer. Aberesgehr-ten viele Namen, die sehr bekannt sind, zu dieserG ru p pe , zum Beispiel Ernst Bloch, Ge org von L ukcs,Fedor Stepun, Richard Kroner , Ernst Hoffmann usw.,eine groe Zahl von jungen Leuten, die damals anfin-gen, in Hegel die hc hsten E rw artun gen zu setzen. F runsere Zeit wird man etwas hnliches nicht mehr be-haupten wollen. Wenn ich selber Grnder und Leitereiner Vereinigung geworden bin, die sich das Studiumder Hegeischen Philosophie zur Aufgabe setzt, so istdas m ehr in der A bsich t, von H egel zu lernen, d .h . sichan seinem Niveau begrifflicher Przision und radikalerDenkenergie zu schulen, und nicht so sehr, seine Per-spektive zu erneuern - das gilt auch fr diejenigen, dieHegel sagen, wenn sie Marx meinen. Es sind die Sa-

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    chen, die man bei Hegel zu lernen hat, die den Hegelia-nismus auch ohne jede znftige Prgung zu einem In-begriff lebendiger Fragen erheben. Das mchte ich andrei solcher Fragen errtern: erstens an dem religisenProblem von Glauben und Wissen, zweitens am Pro-blem des objektiven Geistes oder der geschichtlichenWelt und drittens an der Frage der Einheit von Naturund Geschichte im Begriff.Das religise Problem ist insoferne das erste in dieserReihe, als die von mir schon berhrte Parteiung in derAusdeutung Hegels wesentlich auf diesen Punkt zu-rckgeht. Die Hegeische Rechte und die HegeischeLinke bilden primr eine theologische Differenz. Esging um die Frage:Ist H ege l im Re ch t, wenn er den A n-spruch erhebt, in dem philosophischen Gedanken auchdie Wahrheit des Christentums zu umfassen und denG laub en in die Gestalt des W issens berfhrt zu ha be n,oder ist er - unbeschadet aller persnlichen christlichenGebundenheit, um die der Streit nicht geht - darin sosehr im U nr ec ht, da man sagen m u , er habe in W ahr-heit die christliche Wahrheit verflscht und der Aufl-sung entgegengefhrt. Zum Wesen einer Religion derwahren Lehre - und das Christentum erhebt den An-spruch, eine Lehre zu sein - gehrt, da sie stets vondem V erdacht der H resie um w itte rt ist. So ist auch derHegeische Anspruch, die Wahrheit der Religion in dieForm des philosophischen Begriffs erhoben zu haben,von seiten der Kirche und der theologischen Reaktionbesond ers heftig bestritten w o rd en . Hegel w urd e in diespiritualistischen Hresien eingereiht, die mindestensseit Joachim Da Fiori die christliche Kirche begleiten,4

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    in denen der dritte Artikel, die Lehre vom HeiligenGeist , so berbetont wurde, da die Inkarnation, dieMenschwerdung Gottes, im Grunde zu einem bestn-digen, stets gegenwrtigen und sich berall wiederho-lenden Ereignis wird. In der Tat ist es das Pfingstwun-der, die Ausgieung des Heiligen Geistes, das das, wasdurch Christus in die Welt gekommen ist, nun als dieGemeinde der Heiligen, d.h. als eine Gemeinschaft imGeiste, lebendig erhlt und fortbestehen lt. Derdr itte A rtikel ist in den spiritualistischen H res ien - wiewir es auch bei Hegel finden - immer so sehr berbe-tont worden, da der Tod Gottes, die Kreuzigung Jesuund seine Auferstehung fast nur zu einem Symbol derstndigen Erneuerungskraft des Geistes wird. Was zu-grunde geht, lebt in neuer Auferstehung auf - das istdie geistige Bewegung, durch die sich der Geist imMenschen zur vollen Auferstehung zu erheben sucht,und diese Verklrung gipfelt in der totalen Vergeisti-gung des Menschen und in der Selbstdurchsichtigkeitdes Denkens. Wenn die Religion noch in der Form derVorstellung ihre Lehren vortrgt und etwa den Opfer-tod Jesu am Kreuze als ein Ereignis, als die GnadentatGottes interpretier t , hat der philosophische Gedankedie W ahrhe it dieser V orstellung in den Begriff erh ob en .So hat Hegel in der Tat geglaubt und beansprucht, daer Glauben und Wissen vershnt habe. Hegel meintedamit nicht, da keine Vorstellungsweise des Glubi-gen neben der Klarheit des sich selbst begreifendenD enk ens m ehr mglich und b erechtigt wre - so wenigwie Hegel mit seiner berhmten Lehre von dem Ver-gangenheitscharakter der Kunst gemeint hat, da es

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    keine Kunst mehr gebe. Wenn Hegel gesagt hat:Kunst ist nicht mehr die hchste Gestalt der Wahr-heit, so hat er gemeint, da das, was in der griechi-schen Skulptur noch als selbstverstndliche berein-stimmung zwischen dem verehrten Gttlichen unddem sichtbar Knstlerischen da war, bereits mit demChristentum und seiner Lehre von der inneren Wirk-lichkeit des Gttlichen nicht mehr besteht. Die Formder Kunstreligion ist zu Ende, d.h. eine hhere Formdes Begreifens der Dinge, wenn auch zunchst in derForm der Vorstellung, d.h. in der Form der christli-chen G laub ensvo rstellun gen, sei an die Stelle der sch-nen Gttergestalten der antiken Welt getreten. Es isteine theologische Frage, dazu Stellung zu nehmen, wiees mit dem Anspruch Hegels steht, zwischen Glaubenund W issen eine echte V ersh nu ng gefunden zu hab en.Aber eines mu man in jedem Falle ernst nehmen,da sich Religion, auch gerade die christliche Religion,nicht ohne eigenen Schaden in einen Gegensatz zu dergeistigen Denkfreiheit des Menschen begeben darf undda eine jede Mglichkeit des Menschen, durch Den-ken Einsicht zu gewinnen, sich in einer lebendigenAuseinandersetzung mit unserer christlichen berlie-ferung bewhren mu und umgekehrt . Die Philosophiewird von Hegel definiert als das Denken des Unendli-chen. In der Tat ist das - inhaltlich gesehen - ein kon-gruenter Ausdruck zu der Vorstellung des unendlichenGottes und zu einer Religion, die die Welttotalitt alsSchpfung versteht und an die be rw ind un g des Tod esdurch die Heilstat der gttlichen Liebe glaubt.Der Streit um die Christlichkeit der Hegeischen Philo-42

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    sophie flammt daher immer wieder auf. Erst vor kur-zem ist ein vorzgliches Buch erschienen, das die Par-teinahme fr die Christlichkeit Hegels erneut mit allenMitteln philosophisch gediegener Forschung aus-spric ht: Michael Theu nissen; Hegels Lehre vom abso-luten Geist.Aber wirksamer noch und aktueller ist der zweitePunkt, und das ist sicherlich derjenige Punkt, an demsich die Unentbehrlichkeit Hegels fr den philosophi-schen Ged ank en am strksten m anifestiert un d w o mansicher sein kann, da auch diejenigen, die die Philoso-phie - und besonders die Hegels - zum Teufel wn-schen, von ihr leben, insbesondere die Soziologen: dasist seine Lehre vom objektiven Geist. Der politischeHintergrund dieser Lehre Hegels ist besonders deutlichgeworden, seit die Jugendgeschichte Hegels durch dieHerausgabe seiner Jugendschriften ins allgemeine Be-wutsein der Philosophie getreten ist. Wie seine ganzeGeneration lit t Hegel unter der Entfremdung, die zwi-schen den politischen und religisen Zustnden seinerZeit und dem eigentlichen Bedrfnis des Geistesherrschte. Das groe Ereignis, mit dem sich das Den-ken des deutschen Idealismus besonders verbundenfhlte, war die Franzsische Revolution. Durch siewurden die unverstandenen und unwirksam geworde-nen Verfassungs- und Lebensformen von einem neuenFreiheitspathos berwunden. Das galt , wie insbeson-dere Joachim Ritter herausgestellt hat, auch fr Hegel.Es w ird berich tet, da noch der H egel der Berliner Z eit,dieser angebliche preuische Staatsphilosoph und Ver-teidiger der Reaktion, in einem Freundeskreis - es war

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    in Dresden, glaube ich, im Jahre 1823, mitten in derZeit f insterster Metternichscher Restaurationspolitik -pltzlich das Glas hebt und sagt: Wit Ihr, was heutefr ein Tag ist? und es auf den Sturm auf die Bastilleleert. So sehr war die Franzsische Revolution, dasheit die Idee der brgerlichen Freiheit und damit derFreiheit aller, das Leitmotiv auch des Hegeischen Den-kens.Es liegt seiner Ph iloso ph ie des objektiven Geisteszugrunde. In dieser Lehre von dem zu Institutionenobjek tivierten Geist geht es nicht da ru m , da die beste-henden Institutionen in ihrer unvernderlichen Rich-tigkeit verteidigt wrden. Hegel hat die Institutionennicht schlechthin, sondern gegenber der Besserwisse-rei des einze lnen v erteid igt. E r hat mit seiner berw lti-genden geistigen Kraft die Grenzen des Moralismus imgesellschaftlichen Leben gezeigt, die Unhaltbarkeit ei-ner rein innerlichen Moralitt, die sich nicht in den ob-jektiven Formen des Lebens, die die Menschen zusam-menfassen, manifestiert. So hat er in der Tat zu zeigenvermocht, was fr eigentmliche Zwiespltigkeiten,um nicht zu sagen Unaufrichtigkeiten, was fr eineDialektik der U naufrichtigkeit mit dem abstrakten M o-ralismus der Menschen verbunden ist. Er wurde zumKritiker der K antischen M ora lphilo sop hie, sofern dieseauf die moralische Selbstgewiheit pocht und sich inder Erkenntnis der eigenen Pflicht von allen uerli-chen Bedingungen, den natrlichen wie den gesell-schaftlichen und insbesondere von dem System der Sit-ten und der Erziehung, dem System von Lohn undStrafe unabhngig denkt und darauf besteht, da diepraktische Vernunft imstande sei, allein durch die Au-44

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    tonomie ihrer selbst die zwingende Kraft des morali-schen Anspruchs des Sittengesetzes gegen alle andereRcksicht durchzusetzen und zu verteidigen. Dieser insich groartige kantische Impuls ist von Hegel kritischbehandelt worden, insbesondere dort, wo sich derselbeals eine M ora litt der Inn erlich ke it in eine m oralistischeHaltung gegenber der staatlichen und gesellschaftli-chen W irklichkeit steigert. Das m eint seine Theorie desobjektiven Geistes, da nicht das Bewutsein des ein-zelnen, sondern eine ber das Bewutsein des einzel-nen hinausgehende, gemeinsame und verbindendeWirklichkeit die Grundlage unseres menschlichen Le-bens in Staat und Gesellschaft ist. Er hat in groartigerWeise, vor allem in seiner Phnomenologie des Gei-stes und spter in Berlin in der Rechtsphilosophiedargelegt, da das menschliche Selbstbewutsein denentscheidenden Schritt zu seiner Stabilisierung in derA ne rk en nu ng des eigenen Seins durch den anderen tut.Er entwickelt die abstrak te Idee des Selbstbew utseins,die im deutschen Idealismus letzten Endes auf Descar-tes ' cogito me cogitare zurckgeht und zum Grund-prinzip der Philosophie erhoben wurde - beiKant heit es das Ich der transzendentalen Synthesisder Apperzeption - und zeigt, da dieses Ich in Wahr-heit eine ganze Genese durchmacht, durch die es berseine bloe Ichheit hinaus in die Objektivitt des Gei-stes bergeht. Die ichhafteste Form der Ichheit hat He-gel in der sinnlichen Begierde aufgewiesen. Das klingtsehr altmodisch. Was er meint, ist das vitale Selbstge-fhl, die Art, seiner selbst in der sinnlichen Befriedi-gung gew i zu sein. Das ist in der Tat eine aus unserem

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    Lebensgefhl aufsteigende Form der Ichbesttigung.Hier begegnet, was ich bin, sich selbst, etwa wenn ichHunger fhle. Aber bekanntlich verschwindet derHunger, wenn ich satt bin, bis ich wieder hungrig wer-de, und so ist dies Selbstgefhl auerordentlich labil.Hegel hat gezeigt, da ein wahres Selbstgefhl auf demWege solcher Unterwerfung und Aneignung des Frem-den be rha up t nicht gelingt. N icht einmal in der Fo rm ,da ich als H e rr and ere M enschen versklave, um m ir diesichere Befriedigung meiner Begierden zu verschaffen,gew inne ich ein echtes Selbstgefhl. D enn was kann mirschon die Anerkennung durch einen von mir Abhngi-gen bedeuten? Was kann es fr jemanden, der seinSelbstbewutsein zu finden sucht, ausmachen, da an-dere, als Sklaven, ihn als ihren Herrn anerkennen? Da-gegen ist es ganz etwas anderes, von einem anderenSelbstbewutsein anerkannt zu sein. Das gibt meinemSelbstbewutsein wirkliche, konkrete Besttigung.Wir kennen das alles an den Phnomenen, die wir imweitesten Sinne mit dem Begriff der Eh re um schreiben .Hegel zeigt darin die Dialektik des Selbstbewutseins.Es ist eine der prchtigsten Partien Hegelscher Gedan-ken dialek tik, in der man sie sozusagen in ihrer K on kre -tion sehen ka nn . An erk en nu ng m u eine wechselseitigesein. Selbstbewutsein ist nur Selbstbewutsein, wennes vom anderen her seine Besttigung findet, aber so,da auch der andere seine Besttigung nur von mir herfindet. Man kann es sich an einem ganz einfachen Bei-spiel klarmachen, das jeder schon erlebt hat. Eine deruerlichsten F orm en , E hre zu erweisen, ist, jemandenzu gr en . W er ken nt nicht dies una ngen ehm e Gefhl,46

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    wenn man grt, und der andere sieht gleichgltig aneinem vorb ei, sei es, da wir jeman den ve rka nn t haben,sei es auch, weil der andere einen nicht kennen will.Vergeblich gegrt zu haben, ist eine Erfahrung, beider einem das eigene Selbstgefhl bekanntlich augen-blickshaft zusammenbricht. Gewi sind Grusitten dasA lleruerlichste am sozialen L eben - da unsere jungeGeneration uns Professoren nicht mehr mit unseremTitel anredet und am liebsten auf die Schulter klopfenm c hte , als ob w ir A m erikane r wren , scheint m ir keinwesentlicher Beitrag zur Universittsreform, auchwenn man nichts dagegen zu haben braucht. Aber mankann von diesem uerlichsten her das Substantielleunseres menschlichen Gemeinschaftslebens verstnd-lich machen, zum Beispiel die Solidaritt, die ntig ist,damit ein Rechtssystem funktioniert. Wir sind in denkritischen Zeiten, in denen wir heute leben, ganz gutmit Experimentalbeweisen dafr versehen, wie gefhr-lich es wird, wenn die Gesellschaft in ihrer Solidarittso bedroht ist, da keine gemeinsame Selbstverstnd-lichkeit mehr die Anerkennung der Rechtsordnungverteidigt. Man denke etwa an die Milichkeit, die dieZeugenaussage in einer skularisierten Gesellschaft ge-wonnen hat und die die Rechtsprechung seit langemdazu veranlat, die Vereidigung des Zeugen nach Mg-lichkeit zu vermeiden. Dabei ist die Rechtsordnungselber noch eine recht uerliche Seite der gesellschaft-lichen Wirklichkeit. Es gibt sehr viel substantiellereWirklichkeiten des gemeinsamen Lebens. Jede Bin-dung in Freundschaft oder Liebe enthlt solche sub-stantielle Gemeinsamkeit, die sich durch die Dialektik

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    der gegenseitigen Anerkennung begrifflich beschreibenlt. Es war eines der groen Verdienste Hegels, daer Fam ilie, Gesellschaft und Staat aus dieser einen W ur -zel, der berwindung und berschreitung des subjek-tiven Geistes, des Einzelbewutseins, nach der Rich-tung eines gemeinsamen Bewutseins gedanklich ber-zeugend gemacht hat.Ich komme zum drit ten Punkt meiner Darlegungen.Ich sagte sch on , H ege l ist wie die ganze G en era tion sei-ner Zeit von einem Grunderlebnis auf den Weg seinesDenkens gefordert worden, und das war das Erlebnisder Entzweiung. Er nannte es Positivitt. Bei Hegelmu man sich daran gewhnen, da er oft ungefhr dasUmgekehrte mit einem Ausdruck meint, als man er-wartet. Wenn Hegel Positivitt sagt, so meint er etwassehr Negatives, nmlich da Normen nur als Autorittgesetzt und nicht durch uns selber innerlich bejaht sind.Da ist es etwa die Positivitt des Christentums, da esvom Glubigen bloen Gehorsam verlangt, auch ohneEinsicht und inneres E ngagem ent. D a ist es die Positivi-tt einer Verfassung, wenn sie zwar in ihren positivenBestimmungen als Verfassung gltig zu sein fortfhrt,aber kein lebendiger Geist mehr in ihr ist. Bekanntlichwaresdie Verfassung des Rm ischen Reiches deutsch erNation, die in den Jugendjahren Hegels ein lebendigesAnschauungsfeld fr solchen Verfall, fr die Entfrem-dung zwischen dem uerlich-positiv Geltenden unddem tatschlich Wirklichen darstellte. Man erinneresich, da das Ende des Rmischen Reiches deutscherNation im Grunde in endlosen Prozessen - in Regens-burg oder sonstwo ~ ausgetragen wurde, whrend die48

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    wesentliche Bestimmung einer echten Reichsverfas-sung, die echte Solidaritt aller Deutschen zu ordnen,durch den modernen Territorialstaat, durch die Gegen-stze der Konfessionen und der absolutistischen Ln-derregierungen unwirksam und leblos geworden war.Entzweiung, dieser erste Ansatzpunkt von Hegel, ent-hlt als seine Entsprechung die Vershnung der Ent-zweiung oder auch, wie er sagt, die Vershnung desVerderbens. Das ist die Aufgabe, die sich Hegel alsDenker gestellt hat, die Vershnung aller Entzweiun-gen, durch die Macht des philosophischen Gedankenswiederherzustellen. Um an den ersten Punkt meinerDarstellung noch einmal anzuknpfen: Da der Begriffder V ers hn un g eine echte Gestalt der christlichen Bo t-schaft ist, das hat H egel offenkundig sehr frh em pfun-den. Wir besitzen einen Schulaufsatz von HegelsSchulkameraden Hlderlin ber das Thema Jesus alsdas Genie der Vershnlichkeit. Das ist ein Thema derAufklrung und alles andere als theologische O rt h o d o -xie. Wir wrden sagen, das knnte Harnack gesagt ha-ben oder sonst ein liberaler Theologe am Ende des 19.Jahrhunderts. Nicht das Theologische daran ist hierw ichtig, aber da Vershnlichkeit ode r V ershn un g einechtes Phnomen menschlicher Geistigkeit ist, ist vonHegel gezeigt worden. Sie liegt auch in der Dialektikdes Selbstbewutseins. Es gibt keine Freundschaft,keine Ehe, keine Liebesbeziehung, in der nicht durchden Streit und die Vershnung die innere Vertrautheitvon Menschen miteinander wchst. Dies Geheimnisder V ersh nun g ist das Geheimn is der Hegeischen D ia-lektik. Es he it: Syn thesis. W enn man bestim m en will,

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    wodurch Hegel die abschlieende Figur der groenTradition der metaphysischen Philosophie gewordenist und was ihn in dieser groen Traditionsreihe aus-zeichnet, so wrde ich sagen: er hat die groartigeKonzeption der griechischen Metaphysik auf neuzeitli-chem Boden um die ganze andere Hemisphre erwei-tert, die die geschichtliche Welt darstellt. Die Groar-tigkeit der griechischen Metaphysik war, da sie dieVernunft im Kosmos suchte, den Nus, der in allenFormationen der Natur ordnend und unterscheidendam Werk ist. Vernunft in der Natur zu sehen, das wardas griechische Erbe. Hegel hat die Vernunft auch inder Geschichte aufzuzeigen gesucht. Zunchst scheintdas ein maloses Paradox - nicht nur in unse ren A ug en ,son dern ebenso in den Au gen d er Hegeischen Zeit - , zubehaupten, da ausgerechnet der Wirrwarr menschli-cher Dinge mit den ruhigen Bahnen, die die Sterne amHimmel ziehen, den Vergleich aushalten soll. Das wartatschlich das Vorbild der griechischen Kosmologieund Metaphysik gewesen: die Ordnung des Sonnensy-stems, die bereits die Pythagorer als mathematisch-musikalisch bestimmte Harmonie erkannt hatten. Daim Wirrwarr der menschlichen Dinge, in diesem Aufund Ab der U nb estn dig ke it, kein Dau ernd es sich hlt,das w ar dem 18. Ja hr hu n de rt b esond ers du rch das Bei-spiel des Niedergangs des rmischen Weltreichs ver-traut. Die groen Geschichtsschreiber und Ge-schichtsdenker des 18. Jahrhunderts waren fast fixiertauf das Thema, wie die antike Oikumene zugrunde ge-gangen ist. Da in der menschlichen Geschichte sichdenno ch eine hnliche Vernunft durch halten un d m ani-50

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    festieren soll wie in der Natur, das war Hegels khneThese. Die berhmte Wendung, die er in der Vorredezur Rechtsphilosophie formuliert hat und die denSpott aller derer, die nicht denken wollen, auszulsenpflegt, schliet das ein: Was vernnftig ist, das istwirklich, und was wirklich ist, das ist vernnftig.Beim ersten Hren wird man das eine unmgliche Be-hauptung finden. Kann man so sich mit gebundenenH n d en einer veraltenden W irklichkeit berliefern undalles Bestehende gut finden? Aber ist das gemeint?Meint Hegel mit Wirklichkeit das, was wir bei sol-chem ersten Verstndnis dieses Satzes unterstellen?M ein t er nicht am End e - und es ist w oh l ganz klar, daer das meint -, da auf die Dauer das Unvernnftigenich t wirklich zu bleiben vermag? Ist das so ganz abw e-gig, da in der Wirklichkeit das Unvernnftige sich aufdie D au er nicht durc hzu setzen verm ag, und ist es nichtgeradezu das ung eheu ere Ph no m en u nserer geschicht-lichen Selbsterfah rung, da der einzelne mit seinen Pl-nen, Ttigkeiten, Hoffnungen, Enttuschungen undVerzweiflungen ttig und lebendig ist, ohne zu wissen,was er damit am Ende im geschichtlichen Ganzen undfr das gesellschaftliche Ganze ausrichtet und tut? Dasist doch unsere Erfahrung der Geschichte, da wir alleso sehr in ihr stehen, da wir in gewissem Sinne immersagen knnen: wir wissen gar nicht, was mit uns ge-schieht. Genau das ist Geschichte, da wir nicht wis-sen, was mit uns geschieht, und da wir trotzdem indies Spiel verw ickelt sind, jeder an seinem Platze o d e r -wie es die J ng ere n besonde rs em pfinden - seinen Platzsuchend und nicht findend, von dem her man ttig und

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    verndernd an einer schlechten Wirklichkeit arbeitenknnte. So meine ich, da der Satz Hegels Was ver-nnftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das istvernnftig viel mehr fr jeden einzelnen eine Aufgabeformuliert, als da es fr uns alle eine Legitimation dereigenen Unttigkeit ist.An diesen Gedanken knpft sich nun eine der vielleichtzukunftsvollsten Einsichten Hegels. Hegel hat be-kanntlich den dialektischen Dreischritt: Thesis - Anti-thesis - Synthesis in der Weise an der Weltgeschichtedu rchgef hrt, da er die W eltgeschichte als einen F ort-schritt der Freiheit deutete: Wenn im Orient einer freiwar und alle anderen unfrei, und in Griechenland nurdie eigentlichen Brger der Stadt frei waren, whrenddie anderen Sklaven waren, so ist es schlielich durchdas Christentum und die neuzeitliche Geschichte, ins-besondere die Emanzipation des dritten Standes unddie Bauernbefreiung, so weit gekommen, da alle freisind. Ist damit nicht das Ende der Geschichte eingetre-ten? K ann es in Hegels Au ge n, nach dem die Freihe it al-ler zutage getreten ist, noch Geschichte geben - undwas ist Geschichte seitdem? In der Tat: Geschichte istseitdem nicht auf ein neues Prinzip zu grnden. DasPrinz ip der Freiheit ist un antastb ar und unw iderrufbar.Es ist fr niemanden mehr mglich, die Unfreiheit vonMenschen noch zu bejahen. An dem Prinzip, da allefrei sind , kann also nicht w ieder gerttelt w erde n. A be rheit das, da deswegen die Geschichte zu Ende ist?Sind denn alle Menschen frei? Sind berhaupt die Men-schen wirklich frei? Ist nicht die Geschichte seithereben das, da das geschichtliche Handeln der Men-52

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    sehen das Prinzip der Freiheit in die Wirklichkeit um-zusetzen hat? Offenkundig ist gerade damit der Welt-geschichte der unendliche Zug ins Offene ihrer knfti-gen Aufgaben gewiesen und nicht etwa eine beruhi-gende Versicherung abgegeben worden, da imGrunde alles in Ordnung ist .

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    Was ist Praxis?Die Bedingungen gesellschaftlicher Vernunft

    Praxis ist heute durch eine Art Gegensatz zur Theoriebestimmt. Es ist ein antidogmatischer Ton in demWorte Praxis, ein Verdacht gegen die blo theoretischeAuskenntnis der Unerfahrenen - gewi ein stets mit-schwingender Gegensatz, den auch die Antike kannte.A ber sein Gegenbegriff, der Begriff T heo rie , ist etwasanderes geworden und um seine Wrde gekommen.Nichts klingt in diesem Begriff mehr von dem mit, wasTheoria fr das an das sichtbare Ordnungsgefge desH imm els un d die O rd n u n g der W elt und der menschli-chen Gesellschaft weggegebene Auge war. Theorie istzu einem instrumentalen Begriff innerhalb der Wahr-heitsforschung und der Einbringung neuer Erkennt-nisse geworden. Das ist die grundlegende Situation,von der aus sich fr uns die Frage was ist Praxis?berhaupt erst motiviert: Wir wissen es nicht mehr,weil wir im Ausgang von dem modernen Begriff vonW issenschaft ganz in die R ichtung d er A nw en du ng vonWissenschaft gedrngt werden, wenn wir von Praxisreden.Wenn Praxis dergestalt fr das allgemeine BewutseinA nw en du ng von W issenschaft ist, was ist dann W issen-schaft? Welche neue Eigenwendung moderner, neu-zeitlicher Wissenschaft hat dazu gefhrt, da Praxis indie.anonyme und fast unverantwortl iche, mindestensvon der Wissenschaft unverantwortete Anwendung54

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    von Wissenschaft umgeschlagen ist? Wissenschaft istnicht mehr ein Inbegriff des Wissens und Wissenswr-digen, sondern ein Weg, ein Weg des Vorwrtskom-mens und Eindringens in unerforschte und deswegennoch unbeherrschte Bereiche. Solcher Vorsto undFo rtsch ritt w ar nicht zu gew innen oh ne einen prim renVerzicht. Der erste Schpfer moderner Wissenschaft,Galilei, der Schpfer der klassischen Mechanik, kanndas illustrieren. Aber welche Khnheit gehrte dazu,da Galilei die Gesetze vom freien Fall entwickelt hat,als noch niemand durch Erfahrung einen freien Fall hatsehen knnen, da das Vakuum ja erstmals erst in nach-galileischer Zeit experimentell hergestellt worden ist.W as de r uns so faszinierende Versuch aus dem Schulun-terricht, da die Bettfeder im Vakuum tatschlich ge-nauso schnell fallt w ie die B leiplatte, besttigt, das hatteGalilei in einer enormen Antizipation des Geistes be-reits vorweggeleistet. So hat es Galilei selber beschrie-ben: mente concipio, im Geiste erfasse ich die Idee desfreien Falles, der, nicht durch ein Medium gehemmt,seine reine mathematische Gesetzmigkeit in den Re-lationen von Weg und Zeit aussprechen lt.Damit wurde Wissenschaft eine prinzipiell neue Hal-tun g. Im A bsehen von dem prim r erfahrbaren und ver-traut gewordenen Ganzen unserer Welt entwickelte siesich zu einer Erkenntnis durch isolierende Erforschungbeherrschb arer Zusam m enh nge. Ihr Bezug zur prakti-schen A nw en dung ist von da her als in ihrem neuze itli-chen Wesen gelegen zu verstehen. Wenn abstrahierteRelationen zwischen Anfangsbedingungen und End-w irkung en griffig w erde n, berech enb ar werde n, so da

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    das Setzen von neuen Anfangsbedingungen eine vor-aussehbare Wirkung hat, dann ist in der Tat durch dieso verstandene Wissenschaft die Stunde der Technikherbeigefhrt worden. Die alte Bindung des knstli-chen , han dw erklich G em achten an die in der N at u r ge-gebenen Vorbilder ist damit in ein Konstruktionsidealumgeschlagen, in das Ideal einer der Idee nach artifi-ziel lgemachten Natur .Das ist es, was am End e die Zivilisationsgestalt der M o-derne, in der wir leben, heraufgefhrt hat. Das Kon-stru ktion sid ea l, das im W issenschaftsbegriff der M e-chanik lag, ist zu dem ins U ng eh eu re verlngerten A rmgeworden, der unser Maschinenwesen, unsere Umar-beitung der Natur und unseren Ausgriff in den Welt-raum ermglicht hat.Die immanente Folgerichtigkeit dieses Zusammen-hangs von methodischer Konstruktion und technischerHerstellung wirkt sich zweifach aus:1. Techn ik ist, w iedas alte Handwerk auch, auf einen vorentworfenenEntwurf hin bezogen. Das bodenstndige Wirtschafts-leben der mittelalterlichen Welt oder der anderenHochkulturen der Menschheit stellte die technischeAnstrengung jeweils unter das Gebot des Verbrau-chers. - Wer letzten Endes fr das, was zu machen ist,mageblich war, war der Verbraucher. Das ist offen-kundig fr die antike Arbeitsweise bestimmend gewe-sen. Wir dagegen sehen mit eigenen Augen, wie in un-serer technisch sich steigernden Zivilisation mehr undmehr Knstliches sich als das neue Angebot, als daskonsumweckende, bedrfnisweckende Fabrikat umuns aufbaut. 2. Was durch diese artifiziell werdende56

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    Welt sich notwendig verbreitet, ist Flexibilittsverlustim Umgang mit der Welt. Wer die Technik benutzt -und wer von uns tut es nicht? -, vertraut sich ihremFunktionieren an und ist mithin durch einen primrenFreiheitsverzicht in bezug auf sein eigenes Handeln-Knnen berhaupt erst in den Genu dieser erstaunli-chen Bequemlichkeiten und Reichweiten gekommen,die die moderne Technik uns bereitstellt. Zwei Dingehab en sich dam it ve rdunk elt: fr w en wird hier gearbei-tet? und wie weit dienen die Leistungen der Technikdem Leben? Von da aus stellt sich auf eine neue Weisedas Problem, das in jeder Zivilisation gestellt ist, dasProblem der gesellschaftlichen Vernunft. Die Techni-sierung der Natur und der natrlichen Umwelt mit allihren weitreichenden Wirkungen steht unter dem TitelRationalisierung, Entzauberung, Entmythologisie-rung, Abbau vorschnel ler anthropomorpher Korre-spondenzen, und schlielich wird konomische Ren-tabilitt, ein neues Schwungrad unaufhrlicher Umge-staltung in unserem Jahrhundert, - und das kennzeich-net die Reife oder, wenn man will, die Krisis unsererZivilisation - zu einer immer strkeren gesellschaftli-chen Macht. Denn erst das 20. Jahrhundert wird durchdie Technik in einer entscheidenden Weise neu be-stimmt, sofern nun langsam die bertragung des tech-nischen Knnens von der Beherrschung der Natur-krfte auf das gesellschaftliche Leben einsetzt. Das warretardiert. Es gab im 18. Ja hr hu n de rt P rop heten derneuen gesellschaftlichen Zukunft, aber die groen tra-genden Krfte der europisch-abendlndischen Kultur,das Christentum, der Humanismus, das antike Erbe,

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    die alten politischen Organisationsformen blieben be-stimmend. Und als mit der Franzsischen Revolutionein neuer unterer Stand, nmlich der dritte Stand in dasgesellschaftliche Leben bestimmend eindrang, derselbst noch oft in religisen Bindungen lebte, verz-gerte sich nochmals die ungehinderte, entschlosseneAnwendung technischen Knnens auf das gesellschaft-liche Leben.Jetzt aber sind wir soweit. Nicht, da unsere Gesell-schaft von den Technikern der Gesellschaft wirklichganz un d gar bestimm t wird . Abe r in unserem B ew ut-sein breitet sich die neue Erwartung aus, ob sich nichtdurch sinnvolle Planung eine zweckmigere Organi-sation, kurzum Beherrschung der Gesellschaft durchVernunft und gesellschaftlich vernnftigere Verhlt-nisse herbeifhren lassen. Das ist das Ideal der Exper-tengesellschaft, in der man sich an den Fachmann wen-det und bei ihm die Entlastung fr praktische, politi-sche,k on om isch e E ntsch eidu ng en, die man zu treffenhat, sucht. Nun ist der Experte wirklich eine unent-behrliche Figur in der technischen Beherrschung vonAblufen. Er ist an die Stelle des alten Handwerks ge-trete n. A ber dieser Exp erte soll auch die praktische undgesellschaftliche Erfahrung ersetzen. Das ist die Erwar-tung , die die Gesellschaft in ihn se tzt un d die er in n ch-terner und methodischer Selbsteinschtzung und redli-cher Gesinnung nicht erfllen kann.Noch verhngnisvoller aber bewirkt die technischeDurchformung unserer Gesellschaft die Technisierungder M einun gsbild un g. Das ist heu te vielleicht der strk-ste neue Faktor im gesellschaftlichen Krftespiel. Die58

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    moderne Informationstechnik hat Mglichkeiten ge-schaffen, die in ungeahntem Ausma die Auswahl vonInformationen ntig machen. Jede Auswahl bedeutetaber Bevormundung. Das kann nicht anders sein. Werausw hlt, enthlt vo r. W enn er nicht ausw hlte, wre esfreilich noch viel schlimmer. Dann wrde man durchdie unaufhaltsamen Strme von Information, die einenberfluten, um den letzten Rest von Verstand gebracht.Es ist also unausweichlich, da die moderne Kommu-nikation stechn ik zu m achtvoller Man ipulation d er Gei-ster fhrt. Man kann eine ffentliche Meinung planvollin bestimmte Richtungen lenken und fr bestimmteEntscheidungen beeinflussen. Der Besitz der Nach-richtenmittel ist also das Entsch eiden de - weshalb in je-der D em ok ratie mehr oder m inder ohnm chtige Versu-che gem acht w erd en , in die V erw altung und G estaltungder ffentlichen Nachrichtenmittel Balance und Kon-trolle zu bringen. Da dies nicht in dem Grade gelingt,da der Nachrichtenkonsument einer echten Befriedi-gung seines Inform ationsbedrfnisses sicher sein k n n-te , z