Herbert Marcuse zu Walter Benjamin
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Die hier zusammengestellten Schriften Walter Ben
jamins entstanden in der geschichtlichen Periode, die
mit dem Ausbruch und Ende (die beiden Daten fal
len beinahe zusammen) der deutschen Revolutionbegann und mit dem Zweiten Weltkrieg zum Ab
schlu kam. Sie gehren zu jenem Bild der Ver
gangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden
droht, die sich nicht als' in ihm gemeint erkannte.
Zum letzten Mal vielleicht erscheinen hier Worte, dieheute als verbindliche nicht mehr aussprechbar sind,
ohne da sie einen falschen Klang und Inhalt anneh
men: Worte wie Kultur des Herzens, Friedens
liebe, Erlsung, Glck, spirituelle Dinge,
revolutionr.Ihr
innerer Zusammenhangund
dieGestalt ihrer gegenwrtigen' Wahrheit ist die Sub
stanz des Benjaminschen Werkes. Sie ist von Th. W.
Adorno in der Einleitung zu den Schriflen umrissen
worden - hier kann es sich nur darum handeln, den
Titel dieser Auswahl zu kommentieren.
Die Gewalt, die in Benjamins Kritik gemeint ist, ist
nicht jene, die allgemein kritisiert wird, und beson
ders dann, wenn sie von denen unten gegen die oben
angewandt (oder anzuwenden versucht) wird. Diese
Gewalt ist es gerade, in der Benjamin, an den expo
niertesten Stellen seiner Schriften, die reine Gewalt
sieht, die vielleicht der mythischen Einhalt zu bie
ten vermag, die die Geschichte bisher beherrscht. Die
von Benjamin kritisierte Gewalt ist die des Bestehen
den, die im Bestehenden selbst das Monopol der
Legalitt, der Wahrheit, des Rechts erhalten hat und
in der der Gewaltcharakter des Rechts verschwunden
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ist, um in dcn sogcnanntcn Ausnahmezustnden
(dic dc facto keine sind) fu rchtbar zu Tage zu treten.Solcher Ausnahmezustand ist den Unterdrckten
gegenber die Regel; Aufgabe aber ist, nach den
Geschichtsphilosophischen Thesen, die Herbeifh-
rung des wirklichen Ausnahmezustands, der das
geschichtliche Kontinuum der Gewalt aufsprengen
kann. Benjamin hat das im Wort Frieden Ver-
heiene zu ernst genommen, um Pazifist zu sein: er
hat gesehen, wie untrennbar das, was wir heute
Frieden nennen, zum Krieg gehrt, und wie dieser
Friede die notwendige Sanktionierung eines jeden
Sieges ist und die kriegerische Gewalt perpetuiert.
In totalem Gegensatz und Widerspruch zu solchem
Frieden ist der Friede (in der Bedeutung, in welcherKant vom >Ewigen Frieden< spricht) das Ende der
Vorgeschichte der Menschheit, die ihre Geschichte ge-
worden ist. Der wahre Friede ist die wirkliche, mate-
rialistische Erlsung, die Gewaltlosigkeit, die An-
kunft des gerechten Menschen. Angesichts der imRecht und Unrecht sich perpetuierenden Gewalt ist
die Gewaltlosigkeit messianisch und nichts weniger.
In Benjamins Kritik der Gewalt wird deutlich, da
der Messianismus die Erscheinungsform der geschicht-
lichen Wahrheit geworden ist: die befreite Menschheitist nur noch als die radikale (nicht mehr blo >be-
stimmte
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liehe Kategorien. Die Gesellschaft setzt das Schicksal,
dem sie dann selbst verfllt; in ihr mu der Mensch
schuldig werden. Das Schicksal zeigt sich also in der
Betrachtung eines Lebens als eines verurteilten, imGrunde als eines, das erst verurteilt und dann schul
dig wurde. Wie die Gewalt, so ist auch das Schicksal
Form des gesetzten Rechts, in welchem einzig und
allein Unglck und Schuld gelten, eine Waage, auf
der Seligkeit und Unschuld zu leicht befunden werden und nach oben schweben. Unschuld kommt im
Schicksal nicht vor, und Glck ist, was aus der Ver
kettung der Schicksale und aus dem Netz des eigenen
herauslst. Glck ist Erlsung vom Schicksal, aber
wenn das Schicksal das der zur Geschichte gewordenen Gesellschaft ist, d. h. der als Recht gesetzten
Unterdrckung, dann ist Erlsung ein materialistisch
politischer Begriff: der Begriff der Revolution.
Benjamin war unfhig, den Begriff der Revolution zu
kompromittieren - selbst zu einer Zeit, wo Kompromisse noch ihre Sache zu frdern schienen. Seine
Kritikder Sozialdemokratie ist nicht primr die Kri-
tik einer zur Sttze der Gesellschaft gewordenen
Partei, sondern die (noch nicht verzweifelte) Erinne
rung an die Wahrheit und Wirklichkeit der Revolu
tion als geschichtlicher Notwendigkeit. Hier sind
die exponierten Stellen, an denen Benjamin die
progressiven Tabus der sich fortwlzenden Indu-
striegesellschafl: angreift: das Tabu des Fortschritts,
der Produktivitt, der Legalitt. Er erinnert daran,
da es nicht um die Verbesserung, sondern um die
Abschaffung der Arbeit geht, nicht um die Ausbeu-
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tung, sondern um die Befreiung der Natur, nicht um
den Menschen, sondern um den gerechten Men
schen, und da diese Aufgaben eben revolutionre
sind - sie fordern den Tigersprung, das Aufspren
gen des Kontinuums, nicht seine Aufputzung. Ben
jamins Argument reicht noch weiter: es trifft das
Herz auch jenes Gradualismus, der das Erbe der
Sozialdemokratie angetreten hat, jener Strategie und
Politik, die im Namen einer besseren Zukunft die
schlechte Vergangenheit durch ausbeutende Produk-
tivitt verlngern. Die Revolution - so heit es in
den Geschichtsphilosophischen Thesen - ist der Tiger
sprung nicht in die Zukunft, sondern ins Vergangene,
Tigersprung unter dem freien Himmel der Ge
schichte, getrieben von Ha und Opferwillen. Unddieser Ha und Opferwille nhren sich an dem
Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Ideal der
befreiten Enkel. Es geht um die Vergangenheit, nicht
um die Zukunft. Ein schwer einzulsender Satz, der
die unmenschliche Zuversicht desavouiert, die imFortschritt des Bestehenden den der Freiheit sieht,
oder die sich anmat, fr die spter einmal freien
Enkel die gegenwrtigen Generationen ausbeuten zu
drfen. Diese Anmaung mag das Gesetz der bis
herigen Geschichte aussprechen, aber die Gesetze derGeschichte sind fr das dialektische Denken eine auf-
zuhebende Gesetzmigkeit: der Tigersprung ist der
aus dieser Gesetzmigkeit heraus. Doch so sehr
Benjamins Satz von der sich an der Vergangenheit
entzndenden Revolution den Aufbau der neuenGesellschaft mit den Mitteln der Unfreiheit ver-
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dammt, so wenig dient er der Rechtfertigung jenes
liberalen Arguments, das die Heiligkeit des Lebens
(die von dem Bestehendenja doch nicht geachtet wird)
gegen die revolutionre Gewalt ausspielt. Ja, fast
scheint es, als ob (wenigstens in Zur Kritik der Ge-
walt) das Lob der revolutionren Gewalt die Ver
dammung ihrer Rechtfertigung durch Berufung auf
die Zukunft abschwche. Benjamin diskutiert das
Theorem, das die revolutionre Ttung der Unter-
drcker verwirft mit dem Satz: Wir aber bekennen,
da hher noch als Glck und Gerechtigkeit eines
Daseins - Dasein an sich steht, da also das Welt
reich der Gerechtigkeit niemals durch solche Ttung
vorbereitet werden darf. Der Satz ist fr Benjamin
falsch und niedrig...
wenn Dasein nichts als bloes
Leben bedeuten soll - und in dieser Bedeutung steht
er in der genannten berlegung. Hier wagte Benja
min Formulierungen, die wir wohl kaum noch akzep
tieren knnen: So heilig der Mensch ist (...), so
wenig sind es seine Zustnde, so wenig ist es seinleibliches, durch Mitmenschen verletzliches Leben.
Sie werden vielleicht verstndlich im Lichte der Hoff-
nung, da die Herrschaft des Mythos hie und da
im Gegenwrtigen schon gebrochen ist und da das
Neue nicht in so unvorstellbarer Fernflucht liegt,da ein Wort gegen das Recht sich von selbst er
ledigte. Noch die spten Geschichtsphilosophischen
Thesen sind von dieser Hoffnung getragen. Sie in
sistieren auf dem Historischen Materialismus, der in
dem geschichtlichen Gegenstand das Zeichen einermessianischen Stillstellung des Geschehens, anders
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gesagt, einer revolutionren Chance im Kampfe fr
die unterdrckte Vergangenheit sieht. Selten ist die
Wahrheit der kritischen Theorie in einer so vorbild
lichen Form ausgesprochen worden: der revolutionre
Kampfgeht um die Stillstellung dessen, was geschieht
und geschehen ist - vor allen positiven Zielsetzungen
ist diese Negation das erste Positive. Was der Mensch
dem Menschen und der Natur angetan hat, mu auf
hren, radikal aufhren - dann erst und dann allein
knnen die Freiheit und die Gerechtigkeit anfangen.
Gegenber dem scheulichen Begriff fortschrittlicher
Produktivitt, fr den die Natur gratis da ist, um
ausgebeutet zu werden, bekennt sich Benjamin zu
Fouriers Idee einer gesellschaftlichen Arbeit, die,
weit entfernt, die Natur auszubeuten, von denSchpfungen sie zu entbinden imstande ist, die als
mgliche in ihrem Schoe schlummern. Zum befrei
ten, von der unterdrckenden Gewalt erlsten Men
schen gehrt die befreite, erlste Natur. Schon in
Schicksal undCharakterhat Benjamin die Trennungvon Subjekt und Objekt, Innen und Auen in ihrer
Unwahrheit aufgewiesen: sie enthllt sich als Ratio
nale der Ausbeutung. Entsprechend meint die Still
steIlung des Geschehens nicht nur die des objektiven,
sondern auch des subjektiven Schuldzusammenhangs:zum Denken gehrt nicht nur die Bewegung der
Gedanken, sondern ebenso ihre Stillstellung. Auch
sie sind von dem Unrecht und der Untat durchtrnkt.
Was der historische Materialist an Kulturgtern
berblickt, das ist ihm samt und sonders von einer
Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann.
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Seine eigenen Gedanken sind nicht frei von dieser
Abkunft. Deren Stillstellung ist der Augenblick, in
dem ihre Abkunft bewut wird und das Bewutsein
verndert. Das Denken erfhrt den Choc, der es
unfhig macht, in den berlieferten Bahnen weiter
zudenken; die Negation wird zu seinem konstruk
tiven Prinzip. Eines seiner Resultate ist die Unmg
lichkeit des Staunens darber, da die Dinge, die wir
unter und seit dem Faschismus erlebt haben, im zwan
zigsten Jahrhundert >noch< mglich sind. Sie sind die
Wirklichkeit des zwanzigsten Jahrhunderts, das sei
ner Abkunft verhaftet bleibt und sie erfllt.
Der Choc der Stillstellung, des Einhaltgebietens
trifft auch die Frage nach dem, was man tun kann,
wenn diese Frage die organisierende und organisato
rische Aktivitt meint. In der Gesamtheit des Be
stehenden bleibt solche Aktivitt in gutem Sinne
ohnmchtig, falls sie nicht im schlechten Sinne positiv
wird. Ihre Ohnmacht ist verfrhte Gewaltlosigkeit.
Wo die Revolution messianisch geworden ist, kannsie nicht am Kontinuum sich orientieren. Das heit
aber nicht, da sie auf den Messias warten mu. Die
ser ist nur im Willen und Tun derer, die am Bestehen
den leiden, der Unterdrckten, fr Benjamin: im
Klassenkampf. Wenn dieser nicht akut ist, dann wirdder Widerschein der mglichen Freiheit nur in einer
ganz verschiedenen Zeit sichtbar: in der der Erlsung
oder der Musik oder der Wahrheit - nicht aber in
der Zeit der entfesselten Produktionskrfte, des tech
nischen Eros. Die Freiheit erscheint auch nicht inder Freizeit, wo jeder komponieren oder philosophie-
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ren kann, sondern eben in der Stillstellung, wie sie in
der groen Musik und Literatur geschehen ist. Nahe
liegt es, die Worte Benjamins im Sinne jenes schlech
ten Humanismus zu interpretieren, der gegen den
Materialismus die hheren Werte ausspielen zu ms
sen glaubt. Benjamin warnt: der Klassenkampf ..
ist ein Kampf um die rohen und materiellen Dinge,
ohne die es keine feinen und spirituellen gibt. Diese
sind im materiellen Kampfselbst gegenwrtig, wenn
anders er wirklich ein Kampf um die Aufsprengungdes Kontinuums ist - gegenwrtig als Zuversicht,
als Mut, als Humor, als List, als Unentwegtheit,
und sie werden jeden neuen Sieg der Herrschenden
immer wieder in Frage stellen.
Ungeheuer ist der Abstand, der die Gegenwart vonsolchen Worten trennt. Sie wurden zur Zeit des trium
phierenden Faschismus, beim Ausbruch des Zweiten
Weltkriegs, geschrieben. Die Gegenwart gehrt nicht
mehr derselben geschichtlichen Periode an: sie liqui
diert die Zeit, in der der offene und versteckte Kampf. gegen den Faschismus noch fhig schien, das Konti
nuum der Geschichte aufzusprengen. Es hat sich
wieder geschlossen. So steht die tatschliche Entwick
lung als blutiger Zeuge fr die Wahrheit Benjamins:
aus dem Blick auf die Vergangenheit, nicht aus demBlick in die Zukunft schpft der Kampfum Befreiung
seine Kraft. Der Angelus Novus der Geschichte hat
das Antlitz der Vergangenheit zugewendet, aber ein
Sturm weht vom Paradiese und treibt ihn unauf
haltsam in die Zukunft, whrend der Trmmerhaufe
vor ihm zum Himmel wchst. Diese Unaufhaltsam-
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keit ist die Hoffnung, fr die all diejenigen einstehen,
die in ihrer Schwche den Kampf gegen das Konti-
nuum des Bestehenden weiterkmpfen: als Zerbro-
chene brechen sie den Schuldzusammenhang derrechtsetzenden und rechterhaltenden Ordnung.
Newton, Mass., Oktober 1964