Herbert Marcuse zu Walter Benjamin

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  • 8/14/2019 Herbert Marcuse zu Walter Benjamin

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    Die hier zusammengestellten Schriften Walter Ben

    jamins entstanden in der geschichtlichen Periode, die

    mit dem Ausbruch und Ende (die beiden Daten fal

    len beinahe zusammen) der deutschen Revolutionbegann und mit dem Zweiten Weltkrieg zum Ab

    schlu kam. Sie gehren zu jenem Bild der Ver

    gangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden

    droht, die sich nicht als' in ihm gemeint erkannte.

    Zum letzten Mal vielleicht erscheinen hier Worte, dieheute als verbindliche nicht mehr aussprechbar sind,

    ohne da sie einen falschen Klang und Inhalt anneh

    men: Worte wie Kultur des Herzens, Friedens

    liebe, Erlsung, Glck, spirituelle Dinge,

    revolutionr.Ihr

    innerer Zusammenhangund

    dieGestalt ihrer gegenwrtigen' Wahrheit ist die Sub

    stanz des Benjaminschen Werkes. Sie ist von Th. W.

    Adorno in der Einleitung zu den Schriflen umrissen

    worden - hier kann es sich nur darum handeln, den

    Titel dieser Auswahl zu kommentieren.

    Die Gewalt, die in Benjamins Kritik gemeint ist, ist

    nicht jene, die allgemein kritisiert wird, und beson

    ders dann, wenn sie von denen unten gegen die oben

    angewandt (oder anzuwenden versucht) wird. Diese

    Gewalt ist es gerade, in der Benjamin, an den expo

    niertesten Stellen seiner Schriften, die reine Gewalt

    sieht, die vielleicht der mythischen Einhalt zu bie

    ten vermag, die die Geschichte bisher beherrscht. Die

    von Benjamin kritisierte Gewalt ist die des Bestehen

    den, die im Bestehenden selbst das Monopol der

    Legalitt, der Wahrheit, des Rechts erhalten hat und

    in der der Gewaltcharakter des Rechts verschwunden

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    ist, um in dcn sogcnanntcn Ausnahmezustnden

    (dic dc facto keine sind) fu rchtbar zu Tage zu treten.Solcher Ausnahmezustand ist den Unterdrckten

    gegenber die Regel; Aufgabe aber ist, nach den

    Geschichtsphilosophischen Thesen, die Herbeifh-

    rung des wirklichen Ausnahmezustands, der das

    geschichtliche Kontinuum der Gewalt aufsprengen

    kann. Benjamin hat das im Wort Frieden Ver-

    heiene zu ernst genommen, um Pazifist zu sein: er

    hat gesehen, wie untrennbar das, was wir heute

    Frieden nennen, zum Krieg gehrt, und wie dieser

    Friede die notwendige Sanktionierung eines jeden

    Sieges ist und die kriegerische Gewalt perpetuiert.

    In totalem Gegensatz und Widerspruch zu solchem

    Frieden ist der Friede (in der Bedeutung, in welcherKant vom >Ewigen Frieden< spricht) das Ende der

    Vorgeschichte der Menschheit, die ihre Geschichte ge-

    worden ist. Der wahre Friede ist die wirkliche, mate-

    rialistische Erlsung, die Gewaltlosigkeit, die An-

    kunft des gerechten Menschen. Angesichts der imRecht und Unrecht sich perpetuierenden Gewalt ist

    die Gewaltlosigkeit messianisch und nichts weniger.

    In Benjamins Kritik der Gewalt wird deutlich, da

    der Messianismus die Erscheinungsform der geschicht-

    lichen Wahrheit geworden ist: die befreite Menschheitist nur noch als die radikale (nicht mehr blo >be-

    stimmte

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    liehe Kategorien. Die Gesellschaft setzt das Schicksal,

    dem sie dann selbst verfllt; in ihr mu der Mensch

    schuldig werden. Das Schicksal zeigt sich also in der

    Betrachtung eines Lebens als eines verurteilten, imGrunde als eines, das erst verurteilt und dann schul

    dig wurde. Wie die Gewalt, so ist auch das Schicksal

    Form des gesetzten Rechts, in welchem einzig und

    allein Unglck und Schuld gelten, eine Waage, auf

    der Seligkeit und Unschuld zu leicht befunden werden und nach oben schweben. Unschuld kommt im

    Schicksal nicht vor, und Glck ist, was aus der Ver

    kettung der Schicksale und aus dem Netz des eigenen

    herauslst. Glck ist Erlsung vom Schicksal, aber

    wenn das Schicksal das der zur Geschichte gewordenen Gesellschaft ist, d. h. der als Recht gesetzten

    Unterdrckung, dann ist Erlsung ein materialistisch

    politischer Begriff: der Begriff der Revolution.

    Benjamin war unfhig, den Begriff der Revolution zu

    kompromittieren - selbst zu einer Zeit, wo Kompromisse noch ihre Sache zu frdern schienen. Seine

    Kritikder Sozialdemokratie ist nicht primr die Kri-

    tik einer zur Sttze der Gesellschaft gewordenen

    Partei, sondern die (noch nicht verzweifelte) Erinne

    rung an die Wahrheit und Wirklichkeit der Revolu

    tion als geschichtlicher Notwendigkeit. Hier sind

    die exponierten Stellen, an denen Benjamin die

    progressiven Tabus der sich fortwlzenden Indu-

    striegesellschafl: angreift: das Tabu des Fortschritts,

    der Produktivitt, der Legalitt. Er erinnert daran,

    da es nicht um die Verbesserung, sondern um die

    Abschaffung der Arbeit geht, nicht um die Ausbeu-

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    tung, sondern um die Befreiung der Natur, nicht um

    den Menschen, sondern um den gerechten Men

    schen, und da diese Aufgaben eben revolutionre

    sind - sie fordern den Tigersprung, das Aufspren

    gen des Kontinuums, nicht seine Aufputzung. Ben

    jamins Argument reicht noch weiter: es trifft das

    Herz auch jenes Gradualismus, der das Erbe der

    Sozialdemokratie angetreten hat, jener Strategie und

    Politik, die im Namen einer besseren Zukunft die

    schlechte Vergangenheit durch ausbeutende Produk-

    tivitt verlngern. Die Revolution - so heit es in

    den Geschichtsphilosophischen Thesen - ist der Tiger

    sprung nicht in die Zukunft, sondern ins Vergangene,

    Tigersprung unter dem freien Himmel der Ge

    schichte, getrieben von Ha und Opferwillen. Unddieser Ha und Opferwille nhren sich an dem

    Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Ideal der

    befreiten Enkel. Es geht um die Vergangenheit, nicht

    um die Zukunft. Ein schwer einzulsender Satz, der

    die unmenschliche Zuversicht desavouiert, die imFortschritt des Bestehenden den der Freiheit sieht,

    oder die sich anmat, fr die spter einmal freien

    Enkel die gegenwrtigen Generationen ausbeuten zu

    drfen. Diese Anmaung mag das Gesetz der bis

    herigen Geschichte aussprechen, aber die Gesetze derGeschichte sind fr das dialektische Denken eine auf-

    zuhebende Gesetzmigkeit: der Tigersprung ist der

    aus dieser Gesetzmigkeit heraus. Doch so sehr

    Benjamins Satz von der sich an der Vergangenheit

    entzndenden Revolution den Aufbau der neuenGesellschaft mit den Mitteln der Unfreiheit ver-

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    dammt, so wenig dient er der Rechtfertigung jenes

    liberalen Arguments, das die Heiligkeit des Lebens

    (die von dem Bestehendenja doch nicht geachtet wird)

    gegen die revolutionre Gewalt ausspielt. Ja, fast

    scheint es, als ob (wenigstens in Zur Kritik der Ge-

    walt) das Lob der revolutionren Gewalt die Ver

    dammung ihrer Rechtfertigung durch Berufung auf

    die Zukunft abschwche. Benjamin diskutiert das

    Theorem, das die revolutionre Ttung der Unter-

    drcker verwirft mit dem Satz: Wir aber bekennen,

    da hher noch als Glck und Gerechtigkeit eines

    Daseins - Dasein an sich steht, da also das Welt

    reich der Gerechtigkeit niemals durch solche Ttung

    vorbereitet werden darf. Der Satz ist fr Benjamin

    falsch und niedrig...

    wenn Dasein nichts als bloes

    Leben bedeuten soll - und in dieser Bedeutung steht

    er in der genannten berlegung. Hier wagte Benja

    min Formulierungen, die wir wohl kaum noch akzep

    tieren knnen: So heilig der Mensch ist (...), so

    wenig sind es seine Zustnde, so wenig ist es seinleibliches, durch Mitmenschen verletzliches Leben.

    Sie werden vielleicht verstndlich im Lichte der Hoff-

    nung, da die Herrschaft des Mythos hie und da

    im Gegenwrtigen schon gebrochen ist und da das

    Neue nicht in so unvorstellbarer Fernflucht liegt,da ein Wort gegen das Recht sich von selbst er

    ledigte. Noch die spten Geschichtsphilosophischen

    Thesen sind von dieser Hoffnung getragen. Sie in

    sistieren auf dem Historischen Materialismus, der in

    dem geschichtlichen Gegenstand das Zeichen einermessianischen Stillstellung des Geschehens, anders

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    gesagt, einer revolutionren Chance im Kampfe fr

    die unterdrckte Vergangenheit sieht. Selten ist die

    Wahrheit der kritischen Theorie in einer so vorbild

    lichen Form ausgesprochen worden: der revolutionre

    Kampfgeht um die Stillstellung dessen, was geschieht

    und geschehen ist - vor allen positiven Zielsetzungen

    ist diese Negation das erste Positive. Was der Mensch

    dem Menschen und der Natur angetan hat, mu auf

    hren, radikal aufhren - dann erst und dann allein

    knnen die Freiheit und die Gerechtigkeit anfangen.

    Gegenber dem scheulichen Begriff fortschrittlicher

    Produktivitt, fr den die Natur gratis da ist, um

    ausgebeutet zu werden, bekennt sich Benjamin zu

    Fouriers Idee einer gesellschaftlichen Arbeit, die,

    weit entfernt, die Natur auszubeuten, von denSchpfungen sie zu entbinden imstande ist, die als

    mgliche in ihrem Schoe schlummern. Zum befrei

    ten, von der unterdrckenden Gewalt erlsten Men

    schen gehrt die befreite, erlste Natur. Schon in

    Schicksal undCharakterhat Benjamin die Trennungvon Subjekt und Objekt, Innen und Auen in ihrer

    Unwahrheit aufgewiesen: sie enthllt sich als Ratio

    nale der Ausbeutung. Entsprechend meint die Still

    steIlung des Geschehens nicht nur die des objektiven,

    sondern auch des subjektiven Schuldzusammenhangs:zum Denken gehrt nicht nur die Bewegung der

    Gedanken, sondern ebenso ihre Stillstellung. Auch

    sie sind von dem Unrecht und der Untat durchtrnkt.

    Was der historische Materialist an Kulturgtern

    berblickt, das ist ihm samt und sonders von einer

    Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann.

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    Seine eigenen Gedanken sind nicht frei von dieser

    Abkunft. Deren Stillstellung ist der Augenblick, in

    dem ihre Abkunft bewut wird und das Bewutsein

    verndert. Das Denken erfhrt den Choc, der es

    unfhig macht, in den berlieferten Bahnen weiter

    zudenken; die Negation wird zu seinem konstruk

    tiven Prinzip. Eines seiner Resultate ist die Unmg

    lichkeit des Staunens darber, da die Dinge, die wir

    unter und seit dem Faschismus erlebt haben, im zwan

    zigsten Jahrhundert >noch< mglich sind. Sie sind die

    Wirklichkeit des zwanzigsten Jahrhunderts, das sei

    ner Abkunft verhaftet bleibt und sie erfllt.

    Der Choc der Stillstellung, des Einhaltgebietens

    trifft auch die Frage nach dem, was man tun kann,

    wenn diese Frage die organisierende und organisato

    rische Aktivitt meint. In der Gesamtheit des Be

    stehenden bleibt solche Aktivitt in gutem Sinne

    ohnmchtig, falls sie nicht im schlechten Sinne positiv

    wird. Ihre Ohnmacht ist verfrhte Gewaltlosigkeit.

    Wo die Revolution messianisch geworden ist, kannsie nicht am Kontinuum sich orientieren. Das heit

    aber nicht, da sie auf den Messias warten mu. Die

    ser ist nur im Willen und Tun derer, die am Bestehen

    den leiden, der Unterdrckten, fr Benjamin: im

    Klassenkampf. Wenn dieser nicht akut ist, dann wirdder Widerschein der mglichen Freiheit nur in einer

    ganz verschiedenen Zeit sichtbar: in der der Erlsung

    oder der Musik oder der Wahrheit - nicht aber in

    der Zeit der entfesselten Produktionskrfte, des tech

    nischen Eros. Die Freiheit erscheint auch nicht inder Freizeit, wo jeder komponieren oder philosophie-

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    ren kann, sondern eben in der Stillstellung, wie sie in

    der groen Musik und Literatur geschehen ist. Nahe

    liegt es, die Worte Benjamins im Sinne jenes schlech

    ten Humanismus zu interpretieren, der gegen den

    Materialismus die hheren Werte ausspielen zu ms

    sen glaubt. Benjamin warnt: der Klassenkampf ..

    ist ein Kampf um die rohen und materiellen Dinge,

    ohne die es keine feinen und spirituellen gibt. Diese

    sind im materiellen Kampfselbst gegenwrtig, wenn

    anders er wirklich ein Kampf um die Aufsprengungdes Kontinuums ist - gegenwrtig als Zuversicht,

    als Mut, als Humor, als List, als Unentwegtheit,

    und sie werden jeden neuen Sieg der Herrschenden

    immer wieder in Frage stellen.

    Ungeheuer ist der Abstand, der die Gegenwart vonsolchen Worten trennt. Sie wurden zur Zeit des trium

    phierenden Faschismus, beim Ausbruch des Zweiten

    Weltkriegs, geschrieben. Die Gegenwart gehrt nicht

    mehr derselben geschichtlichen Periode an: sie liqui

    diert die Zeit, in der der offene und versteckte Kampf. gegen den Faschismus noch fhig schien, das Konti

    nuum der Geschichte aufzusprengen. Es hat sich

    wieder geschlossen. So steht die tatschliche Entwick

    lung als blutiger Zeuge fr die Wahrheit Benjamins:

    aus dem Blick auf die Vergangenheit, nicht aus demBlick in die Zukunft schpft der Kampfum Befreiung

    seine Kraft. Der Angelus Novus der Geschichte hat

    das Antlitz der Vergangenheit zugewendet, aber ein

    Sturm weht vom Paradiese und treibt ihn unauf

    haltsam in die Zukunft, whrend der Trmmerhaufe

    vor ihm zum Himmel wchst. Diese Unaufhaltsam-

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    keit ist die Hoffnung, fr die all diejenigen einstehen,

    die in ihrer Schwche den Kampf gegen das Konti-

    nuum des Bestehenden weiterkmpfen: als Zerbro-

    chene brechen sie den Schuldzusammenhang derrechtsetzenden und rechterhaltenden Ordnung.

    Newton, Mass., Oktober 1964