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impuls Magazin des Fachbereichs Soziale Arbeit 2/2016 10 Jahre Berner Armutspolitik Pascal Coullery hat als Generalsekretär der Gesundheits- und Fürsorgedirektion massgeblich an der kantonalen Armuts- strategie mitgearbeitet. Er blickt zurück auf Erfolge und Rückschläge. ‣ 4 MehrNetzWert Ein internationales Forschungsprojekt zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen in Gefährdungssituationen  ‣ 28 Kinder in der Sozialhilfe Wie armutsbetroffene Kinder ihre Lebenssituation wahrnehmen  ‣ 42 «Essayé, pas pu!»

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Magazin des Fachbereichs Soziale Arbeit der Berner Fachhochschule BFH

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impulsMagazin des Fachbereichs Soziale Arbeit 2/2016

10 Jahre Berner ArmutspolitikPascal Coullery hat als Generalsekretär der Gesundheits- und Fürsorgedirektion massgeblich an der kantonalen Armuts-strategie mitgearbeitet. Er blickt zurück auf Erfolge und Rückschläge. ‣ 4

MehrNetzWertEin internationales Forschungsprojekt zur Unter stützung von Kindern und Jugendlichen in Gefährdungssituationen  ‣ 28

Kinder in der SozialhilfeWie armutsbetroffene Kinder ihre Lebens situation wahrnehmen  ‣ 42

«Essayé,pas pu!»

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Inhalt

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Gastbeitrag 4 Berner Armutspolitik: «Essayé, pas pu!» Rückblick von Pascal Coullery

Fachbereich7 Soziale Arbeit in Nordirland 10 Praxisausbildende gehen zurück an die Hochschule12 Evaluation des Masterstudiengangs – Social work in progress14 News & Infos16 Soziale Arbeit ist… von Yonni Meyer

Soziale Intervention17 Vom Umgang mit schwierigen Gefühlen in Konflikten20 Familienklassenzimmer: Wo Kinder und Eltern gemeinsam Schule machen 24 Mitwirkung statt Ohnmacht: Kindesanhörung und Elternpartizipation Daniela Reutimann im Interview28 Förderliche und hinderliche Faktoren in Kindes- schutzverläufen 32 Weiterbildung

Soziale Organisation34 Kooperationsformen und Nutzungsstrukturen in der Schulsozialarbeit37 Aktuelles und Weiterbildung

Soziale Sicherheit39 Sozialhilfe massgeschneidert42 Lebenssituationen von Kindern in der Sozialhilfe45 Studie zu Integrationsprogrammen in der Sozial- hilfe: Erste Resultate48 Aktuelles und Weiterbildung

Institut Alter50 Auswirkungen der Professionalisierung in der Palliative Care52 Bewegungsbasierte Altersarbeit fördert sinn- stiftende Alltagsgestaltung55 Weiterbildung 52

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Impressum impuls 2 / 2016

Prof. Petra Benz BartolettaStudiengangsleiterin Bachelor in Sozialer [email protected]

Liebe Leserin, lieber Leser

Als ich unlängst Studierenden mit den Worten «Sie haben sich für eine menschenfreundliche Tätigkeit entschieden» zur Wahl ihres Studiums gratulierte, erntete ich verwunderte Blicke und die Frage, was ich denn damit meine.

Zugegeben, Menschenfreundlichkeit ist ein Begriff, der Staub angesetzt hat. Nimmt man ihn aber beim Wort, zeigt er hochmodernes und hoch-aktuelles Potenzial.

Soziale Arbeit trägt dazu bei soziale Probleme zu lösen, sie lindert oder verhindert soziale Notlagen, fördert Teilhabe und soziale Integration, unterstützt die Entwicklung von Menschen, nimmt Partei für die Be-nachteiligten und Vulnerablen in der Gesellschaft.

Hierfür ist sie auf die Solidarität der Gesellschaft angewiesen. Im politischen Kampf um die Ressourcen liegen Anklagen, Vorwürfe, moralische und politische Appelle sowie die oppositionelle Haltung gegen eine nicht genügend solidarische Gesellschaft nahe. Solidarität appelliert dagegen an ein Zusammengehörigkeitsgefühl und bedingt eine gemeinsame Basis, von der aus die Anliegen und Bedürfnisse von Benachteiligten als solche der Gesellschaft erkannt werden können.

Der Begriff der Menschenfreundlichkeit gewinnt seinen Gehalt aus dem Verhalten gegenüber den Menschen, die nicht zur Gemeinschaft gehö-ren, wenn Menschenfreundlichkeit die erste Tugend gegenüber Fremden oder Hilfesuchenden ist. Sie vereinigt Menschen mit ihren unterschied-lichen Voraussetzungen, Vermögen und Schicksalen zu einer solidari-schen Gemeinschaft.

Wenn Soziale Arbeit an die Menschenfreundlichkeit appelliert, kann sie für die Gefährdungen, Herausforderungen und die Unbill des Lebens sensibilisieren, welche Schwache wie Starke treffen und wovor nur die Starken in der Gesellschaft Schutz bieten können.

Deshalb plädiere ich dafür, den Begriff wieder in unser aktives Vokabu-lar aufzunehmen.

Herausgeberin: Berner Fachhochschule BFH, Fachbereich Soziale Arbeit Erscheinungsweise: 3-mal jährlich Auflage: 10 300 Exemplare Redaktion: Denise Sidler Kopp, Catrina Dummer-muth, Beatrice Schild, Brigitte Pfister, Oliver SlappnigFotos: iStock (15, 18/19, 21, 29, 35), homerSkies (8 links), Mariusz Smiejek (2, 8 rechts, 9), Andreas Wid- mer (24, 25, 27), Oliver Slappnig (4, 5, 11), photocase (48 links), Daniela Widmer (51); restliche: zVg

Layout: Oliver SlappnigDruckvorstufe: Lithwork, Niederwangen Druck: Stämpfli AG, Bern Copyright: Texte und Bilder sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Abonnement: soziale-arbeit.bfh.ch/impulsISSN 1661-9412

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An einem frühen Märzmorgen des Jahres 2006 kommt es in Wabern zu einer eher zufälligen, aber durchaus nachhaltigen Begegnung: Ich bin damals nicht nur seit wenigen Wochen stellvertretender Generalse-kretär der Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kan-tons Bern (GEF), sondern auch im Vorstand der SP Köniz zuständig für Wahlkampfaktionen. In dieser Funktion verteile ich an der Tram-Endstation mit einem GEF-Kol-legen, den ich bis dahin noch nicht persönlich kennen-gelernt hatte, Flyer für die Regierungsratswahlen vom 9. April. Knapp drei Monate später ist dieser GEF-Kollege, der Philippe Perrenoud heisst und die psychiatrischen Dienste im Berner Jura leitet, gewählter Regierungsrat und als GEF-Direktor auch mein Vorgesetzter.

Meine Befürchtung als Verantwortlicher des Sozial-ressorts, ein Arzt an der GEF-Spitze würde den Gesund-heitsbereich priorisieren und die sozialen Themen ver-nachlässigen, erwies sich schnell als unbegründet: Phi-lippe Perrenoud kennt als Psychiater die gelebte Realität seiner Patientinnen und Patienten und schliesst die sozialen Verhältnisse in seine Überlegungen mit ein. Diese Nähe zu sozialen Themen zeigt sich schon bald: Philippe Perrenoud «spricht nach 100 Regierungstagen viel von Sozialhilfe und kaum von Spitälern»1) und er-teilt mir den Auftrag, einen Sozialbericht für den Kanton Bern zu erstellen.

In einer Zeit, in der isolierte Missbrauchsfälle, in der Stadt Bern etwa der «BMW-Fall», eine mediale Hetzkam-pagne gegen die Sozialhilfe auslösen, ist der geplante Sozialbericht in unseren Überlegungen das Herzstück einer umfassenden Strategie zur Armutsbekämpfung im Kanton Bern, die verschiedene (ehrgeizige) Teilziele ver-folgen soll: Armut enttabuisieren und als gesamtgesell-schaftliche Herausforderung auf die politische Agenda setzen, den Sozialhilfekosten einen Nutzen und eine

Kurz nach seiner Wahl in den Regierungsrat hatte Gesundheits- und Fürsorgedirektor Philippe Perrenoud die Bekämpfung der Armut im Kanton Bern zu einem Schwerpunkt seiner Amtszeit erklärt. Pascal Coullery, bis Ende Februar 2016 Generalsekretär der Gesund-heits- und Fürsorgedirektion, hat während zehn Jahren an der kantonalen Armutsstrate-gie mitgearbeitet und blickt in seinem Beitrag auf die (Miss-)Erfolge zurück.

Berner Armutspolitik:«Essayé, pas pu!»

Pascal Coullery Ehem. Generalsekretär Berner Gesundheits- und Fürsorgedirektion [email protected]

menschliche Dimension gegenüberstellen, mit einer unbestreitbaren Faktengrundlage zur Versachlichung der Sozialhilfedebatte beitragen, armutsbetroffenen Menschen eine Stimme geben und Armutspolitik als Querschnittsaufgabe positionieren, die verschiedene Politikfelder einbezieht.

«Perrenoud will Armut halbieren»2)

Nach einer rund zweijährigen intensiven Vorberei-tungszeit mit den üblichen Rückschlägen und Zusatz-schlaufen ist es am 4. Dezember 2008 so weit: Der erste Berner Sozialbericht wird der Öffentlichkeit vorgestellt. Neben einem statistisch-wissenschaftlichen Band mit (erschreckenden) Zahlen und Fakten zur Armutssituati-on im Kanton Bern gibt es einen zweiten Band mit Por-traits armutsbetroffener Menschen, erstellt mit der Un-terstützung von BFH-Studierenden der Sozialen Arbeit. Diese Medienkonferenz ist kein Schlusspunkt, sondern in doppelter Hinsicht ein Beginn: zum einen der Beginn eines Jahrzehnts, das – so die formulierte politische Vi-sion – die Halbierung der Armut im Kanton Bern bringen soll, zum anderen der Beginn eines Prozesses armutspo-litischer Aktivitäten, der weitere Sozialberichte (in den Jahren 2010, 2012 und 2015), verschiedene Dialogtref-fen von armutsbetroffenen Menschen mit Politikerinnen und Politikern (in den Jahren 2008, 2010 und 2012), gut besuchte Sozialgipfel (in den Jahren 2009, 2011 und 2013) und nicht zuletzt auch eine politische Aufwertung der Sozialberichterstattung bringen sollte. Während die ersten beiden Sozialberichte GEF-Berichte mit entspre-chend geringer politischer Legitimation waren, handelt es sich bei den Sozialberichten der Jahre 2012 und 2015 um Berichte des Regierungsrates, die dem Grossen Rat vorgelegt wurden.

Gastbeitrag

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Gastbeitrag

Pascal Coullery: «Eine lange Reise beginnt mit kleinen Schritten.»

Durchzogene BilanzDie Bilanz nach zehn Jahren Berner Armutspolitik ist

durchzogen: Als Erfolg kann verbucht werden, dass der Berner Sozialbericht als sozialpolitisches Analyse- und Planungsinstrument über die Kantonsgrenzen hinaus etabliert und anerkannt ist; in Fachkreisen wird dem Kanton Bern in der kantonalen Armutsberichterstattung gar eine «Vorreiterrolle» attestiert3). Auf politischer Ebe-ne ist es bisher jedoch kaum gelungen, die Armuts- und Sozialhilfedebatte zu versachlichen: Zwar ist die leidige Missbrauchsdiskussion der Nuller-Jahre weitgehend vom Tisch, was aber kaum mit unserer Versachlichungs-offensive erklärt werden dürfte. Vielmehr sind Instru-mente der Missbrauchsbekämpfung (z.B. die Sozialin-spektion) gesetzlich verankert worden, die zwar ledig-lich ein Scheinproblem «lösen»4), deren blosse Existenz aber diejenigen Hetzer ruhig stellt, die mit dem Miss-

brauchs thema das Gesamtsystem der Sozialhilfe diskre-ditieren wollen. Darüber hinaus belegen zwei schwarze Tage der Berner Sozialpolitik, beide im Herbst 2013, geradezu exemplarisch das Scheitern unseres Versuchs, die Debatte zu versachlichen:

– Am 5. September 2013 nimmt der Grosse Rat am Vor-mittag zunächst den dritten Sozialbericht mit seiner Hauptforderung nach einer ganzheitlichen Armuts-politik zur Kenntnis (9.41 Uhr) und überweist eine gute Stunde später (11.14 Uhr) eine Motion, die – un-ter dem euphemistischen Titel der «Kostenoptimie-rung bei der Sozialhilfe» – verbindlich eine Kürzung der Sozialhilfeleistungen um 10 Prozent fordert. Ein offensichtlicher Widerspruch, der weder inhaltlich noch medial aufgegriffen oder kommentiert wird.

– Am 24. November 2013 wird die kantonale Volksini-tiative «Keine Einbürgerung von Verbrechern und Sozialhilfeempfängern!» mit knapp 56 Prozent der Stimmen und von 95 Prozent der Berner Gemeinden angenommen. Ausländische Personen, die Sozialhil-fe beziehen, werden mit Verbrechern gleichgesetzt und als Bürgerinnen und Bürger 3. Klasse gebrand-markt, die keine Einbürgerung verdienen. An die-sem Abstimmungssonntag leben Denkmuster des 19. Jahrhunderts wieder auf, als Personen, die we-gen «Liederlichkeit» unterstützt wurden, im Kanton Bern ihr Stimm- und Wahlrecht verlieren konnten.

In einer Zeit, in der isolierte Missbrauchsfälle, in der Stadt Bern etwa der «BMW-Fall», eine mediale Hetz-kampagne gegen die Sozialhilfe auslösen, ist der ge-plante Sozialbericht in unseren Überlegungen das Herzstück einer umfassenden Strategie zur Armuts-bekämpfung im Kanton Bern.

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Gastbeitrag

UrsachenforschungDiese beiden Episoden bernischer Kantonalpolitik

zeigen, dass der Weg zu einer Armutspolitik, die ganzheit-lich als Aufgabe verschiedener Politikfelder verstanden wird und Vorurteile abbaut, noch lang ist und in den letz-ten Jahren erst eine kurze Wegstrecke zurückgelegt wer-den konnte. Um die Frage zu beantworten, woran diese ganzheitliche Armutspolitik bisher gescheitert ist, sind wohl verschiedene Erklärungsansätze heranzuziehen:

– Die fehlende Identifikation mit dem sozialen Risi-ko «Armut»: Breite Bevölkerungskreise können sich vorstellen, alt und/oder krank zu werden und ent-sprechende Leistungen der AHV oder der Kranken-versicherung zu beziehen, in eine Armutssituation zu geraten und Sozialhilfe zu beziehen hingegen kaum. Dies hängt sicher zum einen mit der Steuerfi-nanzierung der Sozialhilfe zusammen, die den Leis-tungsanspruch weniger legitim erscheinen lässt, als dies bei den weitgehend beitragsfinanzierten und damit als eigenverantwortliche Selbstvorsorge wahrgenommenen Sozialversicherungen der Fall ist. Ganz entscheidend dürften aber klischeebehaf-tete Bilder von Armut und Armutsbetroffenen eine Rolle spielen, denen gerne ein persönliches Versa-gen und Selbstverschulden unterstellt wird.

– Das bedingungslose Primat der Finanzpolitik: Eine präventive Armutspolitik bedeutet auch, staatliche Ausgaben (etwa in Kinderbetreuung, frühe Förde-rung oder Stipendien) als Sozialinvestition zu ver-stehen, deren Rendite erst längerfristig zu erwarten ist. Allerdings war es in den letzten Jahren so gut wie aussichtslos, Mehrausgaben in diesem Bereich von einem Grossen Rat bewilligt zu erhalten, dessen prio-ritäres finanzpolitisches Ziel in der Senkung der Aus-gaben bestand, um Spielraum für Steuersenkungen zu schaffen. So sind in den letzten vier Jahren allein im Gesundheits- und Sozialbudget Sparmassnahmen von über CHF 200 Millionen beschlossen worden, gleichzeitig werden Steuersenkungen in dreistelliger Millionenhöhe beschlossen (Handänderungs-, Mo-torfahrzeugsteuer) oder zumindest diskutiert (Un-ternehmensgewinnsteuer). Befremdend ist dabei die Tendenz, auf das politische Abwägen von Kosten und Nutzen einer Ausgabe von vornherein zu verzichten, um sich hinter einer Fassade der «Nichtfinanzierbar-keit» zu verstecken, die als quasi naturgesetzlich de-terminierte Grösse hingestellt wird.

– Die «Cohabitation»: Die seit 2006 bestehende «Co-habitation» einer rot-grünen Regierung mit einem bürgerlich dominierten Grossen Rat hat gerade in Fra-gen der Sozialpolitik zu einer wenig lösungsorientier-

ten Blockade geführt. Beispielhaft manifestierte sich dieser Leerlauf in der Debatte rund um die finanzpo-litisch motivierte «Aufgaben- und Strukturüberprü-fung». Dieselben bürgerlichen Parteien, die im März 2013 mit einer Motion ein umfassendes Sparpaket über CHF 600 Millionen gefordert hatten,5) die nach Vorlage eines ersten Sparpakets im November 2013 mit einer weiteren Motion nachgedoppelt und «ein neues Massnahmenpaket mit echten Angebots- und Strukturveränderungen»6) verlangt hatten, diesel-ben bürgerlichen Parteien schalteten vor den Wahlen 2014 ein Inserat, um das Wahlvolk zu beruhigen: Die Sparvorschläge der rot-grünen Regierung in der Ge-sundheit und in der sozialen Sicherheit seien «nicht tragbar», «wir Bürgerlichen akzeptieren das nicht». Da es offensichtlich ist, dass ein derart hoher Spar-beitrag zwingend in den grossen Ausgabeblöcken der Gesundheit, der Bildung oder der sozialen Sicherheit gesucht werden muss, ist diese Art der politischen Debatte als das zu bezeichnen, was in Frankreich un-ter «politique politicienne» verstanden wird: das Po-litisieren als purer Selbstzweck, als billige, substanz-lose Provokation und als Polemik einer politischen Kaste an den wahren Problemen vorbei.

«Perrenoud machtlos: Armut in Bern nimmt zu»7)

Auch wenn die Rahmenbedingungen nicht günstig waren, als Fazit bleibt die (selbstkritische) Feststellung, dass die Botschaften nicht angekommen sind, Überzeu-gungen nicht vermittelt werden konnten, sich die beab-sichtigte Armutspolitik nicht etablieren liess. Trotzdem, auch eine lange Reise beginnt mit kleinen Schritten, und einige haben wir in den letzten zehn Jahren sicherlich machen können. Das waren und sind wir den armutsbe-troffenen oder -bedrohten Menschen im Kanton Bern auch schuldig. Nicht zuletzt deshalb bereue ich im Rück-blick nichts: weder den Versuch überhaupt gewagt zu haben, an der Schnittstelle von Verwaltung und Politik mit der Sozialberichterstattung neue Wege zu gehen, neue Zugänge zu suchen, noch das teilweise Scheitern selber, das zu einem solchen Prozess gehört. Und schon gar nicht, vor zehn Jahren an der Tram-Endstation in Wabern mit dem Verteilen von Wahlflyern vielleicht ein ganz klein bisschen dazu beigetragen zu haben, dass Philippe Perrenoud gewählt worden ist, der als Romand unsere armutspolitische Bilanz wohl mit einem «Essayé, pas pu!» quittieren würde: Es hat nicht alles geklappt, aber wir haben alles gegeben und versucht. ▪

Quellen:

1) «Der Bund» vom 30.8.2006

2) «Berner Zeitung» vom 5.12.2008

3) Caritas Schweiz. (2015). Wohin steuert die Schweiz in der Armuts-politik? Luzern. S. 6.

4) In weniger als einem Prozent aller Sozialhilfeunterstützungen hatten die Sozialdienste 2015 einen Verdacht, den sie durch eine Sozialin-spektion abklären liessen (Medienmitteilung der GEF vom 26.1.2016).

5) Motion 077/2013 «Angebots- und Strukturüberprüfung: Massnah-menpaket sofort vorlegen»

6) Motion 301/2013 «Nachhaltige Sanierung der Finanzen»

7) «Der Bund» vom 12.12.2015

Breite Bevölkerungskreise können sich vorstellen, alt und/oder krank zu werden und entsprechende Leistungen der AHV oder der Krankenversicherung zu beziehen, in eine Armutssituation zu geraten und Sozialhilfe zu beziehen hingegen kaum.

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Fachbereich

Durch die Gewalt im Nordirlandkonflikt («Troubles», vgl. Kasten, Seite 8) sind rund 3600 Menschen gestor-ben. Viele mehr leben mit körperlichen oder psychischen Verletzungen und fast alle kennen jemanden, der oder die getötet oder verletzt wurde. In den Gebieten Nordir-lands, die besonders stark von den «Troubles» betroffen waren, leiden heute noch viele Menschen an ihren trau-matischen Erfahrungen. Psychische Probleme wie De-pressionen und posttraumatische Belastungsstörungen sind dort weit verbreitet. Seit Jahrzehnten werden die meisten der Traumatisierten mit Beruhigungsmitteln wie Benzodiazepinen, jedoch ohne Psychotherapie be-handelt. Manche entwickeln Substanzabhängigkeiten, auch von nicht verschriebenen Stoffen.

Viele Mütter und Väter, die in dieser Situation leben, fühlen sich nach eigenen Angaben in ihrer emotionalen Verfügbarkeit und in der Fähigkeit, ihren Kindern durch Erziehung Grenzen zu setzen, eingeschränkt. Nicht sel-ten führt dies zu Verwahrlosung oder Missbrauch der Kinder – Situationen, in denen der Sozialdienst eingrei-fen muss. Die Sucht der Eltern ist bei etwa 40 Prozent der Kinder der Grund, weshalb sie im Rahmen von Kindes-schutzmassnahmen vom Sozialdienst begleitet werden. Die gleichen Umstände gelten für 70 Prozent der Kinder, die in Kinderheimen oder bei Pflegeeltern wohnen (North South Inter-Parliamentary Association, 2014).

Generationenübergreifende Suchtkrankheiten Es wird geschätzt, dass 40’000 Kinder in Nordirland

in Familien leben, in denen mindestens ein Elternteil an einer Substanzabhängigkeit leidet. Die Gefahr, dass jene Kinder selber eine Suchtkrankheit entwickeln, ist da-durch erhöht.

Für viele Kinder, deren Eltern und Grosseltern nach Trauma-Erfahrungen nicht arbeiten können, hat Schul-bildung vor allem in vom Konflikt stark betroffenen Quartieren der nordirischen Städte keine hohe Priorität. Kinder, die nach wiederholt massiv störendem Verhal-ten von der Schule ausgeschlossen werden, treffen auf der Strasse Jugendliche mit ähnlichen Erfahrungen. Be-

Von 1969 bis in die 1990er-Jahre hat in Nordirland ein erbitterter Machtkampf stattgefunden: Unionisten, die die Region weiterhin als Teil von Grossbritannien sahen, standen in einem Konflikt mit Nationalisten, welche die Wiedervereinigung mit dem Rest Irlands anstrebten. Fast 3600 Menschen starben in diesem Konflikt, unge-fähr die Hälfte dieser Opfer waren Zivilisten. Wie sieht Soziale Arbeit in diesem von Gewalt geprägten Land aus? Franziska Hewitt lebt seit 15 Jahren in Belfast und gibt einen Einblick in ihre Arbeit mit Jugendlichen, die an Sucht und psychischen Problemen leiden.

Soziale Arbeit in Nordirland

Franziska Hewitt Austauschstudentin aus Belfast [email protected]

reits im Alter von acht bis zehn Jahren sind viele von ihnen in Substanzmissbrauch und Sachbeschädigungen involviert. Sie beschreiben als Hauptgründe dafür Lan-geweile oder fehlende Zukunftsperspektiven sowie Hoff-nungslosigkeit. Häufig werden diesen Kindern Drogen von mit Paramilitärs in Verbindung stehenden Personen kostenlos abgegeben. Wenn sie später nicht dafür bezah-len können, werden sie von Dealern bedroht und zu kri-minellen Aktivitäten genötigt.

Psychische Probleme und DrogenkonsumUnter 18-Jährige finden beim Kinder- und Jugendpsy-

chiatrischen Dienst Hilfe bei psychischen Problemen, wie Angstzustände, depressive Verstimmungen, Selbst-verletzungen, Suizidalität, Persönlichkeits- und Verhal-tensstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen, Wahrnehmungsstörungen wie Halluzinationen und Sucht. Zigaretten, Leim und Spraydosen, Alkohol, Can-nabis, Benzodiazepine, Ketamin, Cocodamol und Tra-madol, Lyrica, Designerdrogen, Amphetamine und Crys-tal Meth, Mephedron, Ecstasy, Kokain sowie LSD sind die

Franziska Hewitt

Die Bernerin Franziska Hewitt ist im letzten Jahr ihres Masterstudiums zur Systemischen und Fami-lien-Psychotherapeutin an der Queen’s University in Belfast. Seit Herbst 2015 ist sie an der BFH Aus-tauschstudentin. Zurzeit schreibt sie ihre Master-Thesis, eine Vergleichsstudie zwischen der Schweiz und Nordirland über Interventionen für Jugendliche, die an psychischen Problemen leiden und gleichzei-tig psychoaktive Substanzen konsumieren. Seit 15 Jahren lebt Franziska Hewitt in Belfast und arbeitete als Sozialarbeiterin, zuerst im Sozialdienst, dann in der Jugendjustiz und zuletzt in der öffentlichen ambulanten Kinder- und Jugendpsychiatrie.

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Fachbereich

Substanzen, die diese jungen Klienten am häufigsten konsumieren. Manche Jugendliche nehmen diese Sub-stanzen zu sich, um ihre psychischen Schwierigkeiten zu lindern. Andere entwickeln psychische Probleme, nachdem sie Drogen konsumiert haben.

Kindesschutz in Nordirland Bei den von Sucht und psychischen Erkrankungen

geprägten Familien kommt der Sozialen Arbeit eine wichtige Rolle zu. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbei-ter werden beispielsweise von öffentlichen Departemen-ten wie dem Justizdepartement oder dem Departement für Gesundheit, Soziales und Öffentliche Sicherheit an-gestellt. Organisationen des freiwilligen Sektors sind vergleichbar mit Stiftungen und jene des «Community Sektors» wurden oft aus Bürger-Bewegungen entwi-ckelt. Oft arbeiten die Organisationen partnerschaftlich zusammen, wobei der Sozialdienst, falls involviert, nor-malerweise das Case Management übernimmt.

Die Children (Northern Ireland) Order 1995 (UK Government, 1995) ist das zugrundeliegende Gesetz über die Fürsorge, Erziehung und den Schutz von Kin-dern in Nordirland. Das Gesetz betont die Vorteile, Kinder in ihrer Familie aufwachsen zu lassen. Es beschreibt, wie die schwierige Situation von Kindern durch die Unter-stützung ihrer Familien verbessert werden kann. Wenn das Kind Missbrauch, Verwahrlosung oder einem erheb-lichen Risiko davon ausgesetzt ist, wird es mit seinen Bezugspersonen vom Kindesschutzteam des Sozialdiens-tes zu einer Besprechung eingeladen. Gegebenenfalls

Die «Troubles» – der Nordirlandkonflikt

Beim Nordirlandkonflikt handelte es sich um einen Identitäts- und Machtkampf zwischen zwei Bevölke-rungsgruppen darüber, ob die Region sich wieder mit dem Rest Irlands vereinigen sollte, welcher 1922 seine Unabhängigkeit erlangte, oder ob sie Teil von Grossbritannien bleiben sollte. Mit dem «civil rights movement» im Jahr 1968 wehrte sich der katholi-sche Teil der Bevölkerung gegen die ungerechte Behandlung seitens Protestanten in Machtpositio-nen. Die Armee unterstützte die katholische Bevölke-rung, doch der Konflikt eskalierte. Illegale politisch motivierte Paramilitärorganisationen übernahmen die Macht in Teilen verschiedener Städte und in ländlichen Gegenden. Protestantische Gruppen, loyal zum britischen Königreich, und katholische Vereini-gungen, mit dem Ziel einer vereinten irischen Repub-lik inklusive Nordirland, wandten Gewalt an, bei-spielsweise mittels Bombenanschlägen.

1994 fand der erste Waffenstillstand statt. Das «Good Friday Agreement» von 1998 ist das Funda-ment des heutigen Friedensprozesses. Ehemalige Feinde sitzen inzwischen gemeinsam in der regio-nalen Regierung. Die Region hat sich wirtschaftlich entwickelt und ist heute eine beliebte Reisedestina-tion. Die Segregation der Gesellschaft ist aber noch immer ein Thema und der Konflikt prägt bis heute das Leben vieler Menschen.

12. Juli 2011, im Quartier Ardoyne in Belfast: Jedes Jahr organisiert die «Orange Order», eine Vereinigung standhafter Loyalisten, Paraden durch ein katholisches Quartier. Dies führt jeweils zu Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern und der Polizei, da die Katholiken die Märsche als ein Zeichen von territorialer Markierung sehen.

Die Generation der heutigen Eltern erlebte den Konflikt hautnah mit: Ein Mädchen in den 1980er-Jahren vor einem entführten, ausgebrannten Lastwagen.

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wird das Kind anschliessend im Kindesschutzregister erfasst, und es wird ein Kindesschutzplan entwickelt. Die verantwortlichen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter können in extremen Fällen vor Gericht einen Antrag für Kindesschutzmassnahmen stellen, beispielsweise für die Aufhebung des Aufenthaltsbestimmungsrechts.

Die Kindesschutzgesetzgebung Nordirlands und die dazugehörenden Prozesse können international als fort-schrittlich eingeschätzt werden, wie die internationale Vergleichsstudie von Jachen C. Nett (BFH) und Trevor Spratt (ehemals Queen’s University in Belfast) gezeigt hat (Nett & Spratt, 2012 sowie Spratt et al., 2015).

Die Rolle der Sozialen Arbeit in den Jugend­psychi atrischen Diensten

Vor allem im medizinisch orientierten und psychia-trisch geführten, multi-disziplinären klinischen Team des ambulanten Jugendpsychiatrischen Dienstes, in dem die Autorin gearbeitet hat, nimmt die Soziale Arbeit eine wichtige Rolle ein. Das Stellen von individuellen Diagno-sen durch medizinisch geschulte Experten, wie Psychia-terinnen, Psychologen und psychiatrische Pflegefachper-sonen, prägt die vorherrschende Kultur. Sozialarbeitende können dazu beitragen, dass bei der Analyse der Situati-on, bei der Formulierung von Zielen und bei der Planung, Durchführung und Evaluation der Interventionen das Umfeld des Kindes stärker miteinbezogen und gegebe-nenfalls verändert wird. Sozialarbeitende bieten anderen Fachpersonen innerhalb und ausserhalb des Jugendpsy-chiatrischen Dienstes Beratung an, die dabei hilft, die Angst vor möglichen Risiken für die Jugendlichen zu re-duzieren. Im fachlichen Austausch werden kreative Lö-sungen gefunden, die die bestmöglichen Ergebnisse für die Jugendlichen zum Ziel haben.

Mit einem systemischen Verständnis verschieben Sozialarbeitende den Fokus von der Schuld am Problem zur Gestaltung von konstruktiven Beziehungen zwi-schen den Menschen. Durch Psychoedukation und durch das Einnehmen einer Position des Nichtwissens ist es möglich, dass sich Sozialarbeitende auf Augenhö-he mit den Jugendlichen und deren Bezugspersonen treffen, das Verständnis der Situation gemeinschaftlich weiterentwickeln und dadurch neue Möglichkeiten und Realitäten schaffen. Die Bemühungen, den Willen der Jugendlichen zu erkennen tragen weiter zu deren Empo-werment bei. Dies führt oft zu einer Reduktion des Sub-stanzgebrauchs und zu verbesserten Lebensumständen, welche für die psychische Gesundheit förderlich sind. ▪

Literatur: – Nett, Jachen C. & Spratt, Trevor. (2012). Child protection sys-tems: An international comparison of “good practice examples” of five countries (Australia, Germany, Finland, Sweden, United Kingdom) with recommendations for Switzerland [PDF]. Abgeru-fen von http://kinderschutzfonds.ch

– North South Inter-Parliamentary Association. (2014). Substance misuse. Briefing paper for the Fourth Plenary, 4th April 2014. Abgerufen von http://www.oireachtas.ie/parliament/about/libra-ryresearchservice/researchpublications/nsi-pabriefingpapers/

– Spratt, Trevor, Nett, Jachen C., Bromfield, Leah, Hietamäki, Johanna , Kindler, Heinz & Ponnert, Lina. (2015). Child protection in Europe: Development of an international cross-comparison model to inform national policies and practices. British Journal of Social Work 45, 1508–1525. doi:10.1093/bjsw/bcu109

– UK Government. (1995). Children (Northern Ireland) Order 1995. Abgerufen von http://www.legislation.gov.uk/nisi/1995/755/contents/made

Junge Republikaner während der Strassenschlachten mit der Polizei im katholischen Teil von Ardoyne in Belfast am 12. Juli 2012

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Der Anstoss zu «Back to School» kam von aussen. Eine Fachperson aus der Praxis gelangte an die BFH mit der Bitte um eine Weiterbildung für die Praxisausbilden-den, die sich mit aktuellen Theorien aus der Sozialen Arbeit und aus den Bezugswissenschaften befasst. Der Fachperson ging es in erster Linie darum zu wissen, was aktuell an der Hochschule gelehrt wird. Dieses Wissen wollte sie nutzen, um die Studierenden während des Praxismoduls zu unterstützen und herauszufordern.

Dieses Anliegen stiess auf offene Ohren. Der Lernort Hochschule und der Lernort Praxis müssen sich ver-stärkt miteinander austauschen. Eine engere Kooperati-on zur gemeinsamen Wissensbildung ist entscheidend, um in der Ausbildung von Studierenden noch erfolgrei-cher zu sein.

Diese Überlegungen und das Bedürfnis, den Pra-xisausbildnern für ihren Einsatz zu danken, haben zum Konzept von «Back to School» geführt. Die erste Durch-führung am 2. Dezember 2015 war wie folgt gestaltet:

Am Vormittag hat die Veranstaltung von Prof. Dr. Ma-nuel Bachmann zum Thema «Psychologie! – ein nützli-ches Werkzeug in der Sozialen Arbeit» stattgefunden. Im Bachelorstudiengang hat die Psychologie als Bezugswis-senschaft der Sozialen Arbeit ihren festen Platz. Men-schen haben ein natürliches Verlangen, Handlungen und Vorgänge bei sich selber und bei anderen Personen einer Ursache zuzuschreiben. Dieser Prozess wird in der Psychologie «Attribuieren» genannt. Die Analyse von Attributionen in der Sozialen Arbeit als Werkzeug im Arbeitsalltag nutzbar zu machen, war das Ziel der Ver-anstaltung. Im Seminarstil wurden Filmsequenzen ge-zeigt, Übungen und Experimente gemacht sowie Diskus-sionen geführt.

Am Nachmittag hat sich Prof. Salvatore Cruceli mit der Relevanz und Brauchbarkeit systemisch-konstrukti-vistischer Zugänge in der Praxis Sozialer Arbeit befasst. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter lernen in ihrer Ausbildung, zirkulär zu fragen, positiv zu konnotieren, Wunderfragen zu stellen und lösungsorientiert zu arbei-ten. Diesen methodischen und verfahrenstechnischen Zugängen ist gemeinsam, dass sie auf den theoretischen Fundus von Systemtheorie und Konstruktivismus zu-rückgeführt werden können. Mit Blick auf deren histori-

sche Entstehung wurden einige ausgewählte Prinzipien systemisch-konstruktivistischen Denkens gemeinsam erarbeitet. Die dabei entstehenden, teilweise abstrakten Ideen wurden schliesslich wieder mit der Praxis der So-zialen Arbeit verknüpft.

Der erste Studientag für Praxisausbildende «Back to School» war ein voller Erfolg. Die Teilnehmenden schätzten den Austausch mit den Dozierenden und den Einblick in das Studium an der BFH. «Back to School» findet deshalb auch 2016 statt – mit neuen Inhalten und anderen Dozierenden (vgl. Kasten). ▪

Praxisausbildende spielen in der Ausbildung der Bachelor-studierenden eine zentrale Rolle. Als Dankeschön für ihr Engagement lud sie die BFH zum Studientag «Back to School» ein. Den Praxisausbildenden wurde aktuelles, für die Soziale Arbeit relevantes Wissen vorgetragen und mit ihnen über dessen Praxisrelevanz diskutiert.

Praxisausbildende gehen zurück an die Hochschule

Pascal Engler Vonlanthen [email protected]

Fachbereich

In je vier «impuls»-Ausgaben und Newsletter-Ausgaben wurde die Praxisausbildung von verschiedenen Seiten betrachtet. Die Beiträge stehen in gesammelter Form auch als Broschüre zur Verfügung. Sie können sie bestellen unter [email protected].

«Back to School» 2016

Wir laden Praxisausbildnerinnen und Praxisausbild-ner auch 2016 herzlich an die BFH ein. Ihnen wer-den spannenden Inhalte geboten, die Dozierenden und andere Fachpersonen aus der Praxis freuen sich auf die Diskussion mit Ihnen.

Datum und Ort: Mittwoch, 2. November 2016, Hallerstrasse 8, 3012 Bern

Programm:08.15–11.50 Uhr: Prof. Dr. André Zdunek: Woher schöpft die Soziale Arbeit ihre Werte? Der ethische Blick auf die Profession Soziale Arbeit

13.15–16.50 Uhr: Prof. Dr. Nina Wyssen-Kaufmann: Wie werden Professionsverständnisse in der Sozia-len Arbeit wirksam? Professionalität zwischen theoretischer Fundierung und biographischer Ent-wicklung

Weitere Informationen und Anmeldung:soziale-arbeit.bfh.ch/backtoschool

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Fachbereich

Bruno Schmid, Sozialarbeiter, Regionaler Sozialdienst Erlach:«Ich habe mein Studium 2010 abge-schlossen und bin seither immer wieder in Weiterbildungen gewesen. Mich inte-ressiert es, Fachwissen zu erwerben und zwar genau auf dem Niveau und der Flughöhe, wie dies von Hochschuldozie-renden vermittelt wird. Es darf an-spruchsvoll sein. Lesen alleine reicht mir da nicht. Zudem schätze ich den fachli-chen Austausch mit den Lehrpersonen und den Kolleginnen und Kollegen.»

Janine Brodbeck, Sozialarbeiterin, Jugendanwaltschaft Emmental­Ober­aargau:«Ich habe nicht hier in Bern studiert, hatte aber immer wieder Studierende aus Bern im Praxismodul. Ich wollte deshalb die Dozierenden und Inhalte aus Bern kennen-lernen und auch erfahren wie die Ausbil-dung organisiert ist. Ich kannte zwar den Weiterbildungsbereich des Fachbereichs, aber eben den Bachelorstudiengang nicht. Der Anlass war sehr spannend.»

Felix Weiss, Stellenleitung Jugend­arbeit, Regionale Kinder­ und Jugend­arbeit kakerlak:«Wichtig ist für mich, das aktuelle fachli-che und methodische Wissen zu kennen. Einfach dranzubleiben. Mehr Werkzeuge, mehr Methodenwissen zu erhalten, wir arbeiten ja mit Menschen. Und auch querzudenken, über den Tellerrand zu schauen und einfach weiterzudenken, andere Haltungen zu kennen. Das ist mein Anspruch und meine Motivation, hier zu sein.»

Eindrücke vom «Studientag» für Praxisausbildende an der BFH

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Das Masterstudium in Sozialer Arbeit ist im neunten Jahr und steht noch immer auf dem Prüfstand. Nicht so sehr wegen der Kritik aus Wirtschafts- und Gewerbever-bänden, wonach Fachhochschulen keine «Mini-Unis» werden dürften (schon gar nicht im Bereich Soziales) und sich besser auf den Bachelor beschränkten. Dafür hat sich der Master in Sozialer Arbeit inzwischen zu gut am Bildungs- und Arbeitsmarkt etabliert.

Vielmehr ist es der eigene Anspruch auf Wissen-schaftlichkeit und Anwendungsorientierung, der die Fachhochschule ihr Angebot hinsichtlich Qualität und Praxisrelevanz zu überprüfen verpflichtet. Wie zufrie-den sind die Absolventinnen und Absolventen mit dem Masterstudium, welche Kompetenzen fragt der Arbeits-markt nach und wie sehen die beruflichen Möglichkeiten aus, die sich mit einem Master in Sozialer Arbeit tatsäch-lich erschliessen? Den Fachhochschulen von Bern, Lu-zern, Zürich und St. Gallen geht es darum, ihr gemeinsa-mes Angebot evidenzbasiert weiterzuent wickeln.

Angebot entspricht Nachfrage auf dem Arbeits­markt

Die Leiterin des Kooperationsstudiengangs, WiebkeTwisselmann, lässt deshalb das Masterstudium in

Sozialer Arbeit seit 2013 im Längsschnitt evaluieren. Die Evaluation besteht aus den drei Teilstudien Ehema-

Fachbereich

2008 an den Start gegangen und seither 181 «Mas-ter of Science in Sozialer Arbeit» diplomiert: Bringt der Masterstudiengang Fachleute hervor, die in den Arbeitsmarkt passen? Zeit für eine Zwischenbilanz.

Nina JacobshagenWissenschaftliche [email protected]

Evaluation des Masterstudiengangs –Social work in progress

ligenbefragungen, Stelleninserate-Screenings und In-terviews mit Arbeitgebenden. Die neuen Ergebnisse zeigen, «dass die Nachfrage nach Absolventinnen und Absolventen auf dem Arbeitsmarkt klar gegeben ist». Waren fast alle Studierenden bereits während des Mas-terstudiums im Feld der Sozialen Arbeit erwerbstätig, erhielt ein Viertel der gerade diplomierten Master ein neues Stellenangebot. Ein weiteres Viertel macht, so deuten es die Evaluatorinnen, am bestehenden Arbeits-platz Karriere, zumeist im Bildungsbereich. Genauere Angaben liegen hierzu noch nicht vor. Wer eine neue Stelle suchte, fand sie in vergleichsweise kurzer Zeit: nach zwei bis sechs Monaten, mit abnehmender Dauer über die Studienjahrgänge hinweg. Nur eine Person war bei der letzten Erhebung noch auf Stellensuche.

Nicht explizit vorausgesetzt, aber erwünschtDie Untersuchung des Deutschschweizer Stellen-

marktes zeigt analog dazu, dass das Masterprofil gefragt ist. Viele Inserate lauten auf Stellen, für die der Master in Sozialer Arbeit qualifiziert. Zwei weitere Ergebnisse stechen hervor: Zum einen ist das Angebot an Stellen mit Leitungsfunktionen auffallend gross (bis 65%, mit oder ohne Führungserfahrung). Zum anderen setzen die meisten Inserate nicht explizit einen Mastertitel vo-raus. Nachfragen bei verschiedenen Arbeitgebenden

Andrea Lübberstedt, Leiterin des Amtes für Soziales, Kanton St.Gallen: «Uns fehlen die Master-Absolventinnen und -Absolventen.»

Andrea Lübberstedt, Leiterin des Amtes für Soziales, Kanton St. Gallen: «Uns fehlen die Master-Absolventinnen und -Absolventen.»

www.masterinsozialerarbeit.ch > Profil > Stimmen zum Master

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ergeben, dass sie die Inserate zuzeiten für eine hinrei-chende Auswahl an Bewerbungen entsprechend offen formulieren, die ausgeschriebenen Stellen aber mit Masterabsolvierenden besetzen möchten – wissend um ihre noch geringe Anzahl.

Dazu passt, dass die Arbeitgebenden wie die Absol-ventinnen und Absolventen die meisten im Masterstu-diengang erworbenen Kernkompetenzen als zentral erachten. Allen voran sind es die Fähigkeiten in der interdisziplinären Zusammenarbeit, im Analysieren und Bewerten, im Darstellen, Vermitteln und Überzeu-gen sowie im Entwickeln und Problemlösen (insbeson-dere in der Projektarbeit). Da die beiden letztgenannten Kompetenzbereiche auf beiden Seiten besonders stark gefragt sind, ist das Angebot an Lehrveranstaltungen bereits entsprechend angepasst worden. Den Anlass, das Curriculum gezielter an diesen Bedürfnissen der Studierenden und Arbeitgebenden auszurichten, gaben schon die ersten Evaluationsergebnisse von 2013. Für die Studierenden ist das neue Modul «Entwickeln und Problemlösen» daher Pflicht. Es ist für den Theorie-Transfer in einen konkreten beruflichen Kontext entwi-ckelt, um mastergerechte Praxiserfahrungen zu garan-tieren. Andere Anpassungen des Studiengangs führten zu erweiterten Angeboten im Vertiefungsstudium und zu mehr Wahlmöglichkeiten für die individuelle Profil-schärfung der Studierenden.

Nutzen aus Sicht der StudierendenDie Zufriedenheit der Absolventinnen und Absolven-

ten mit dem Studiengang ist den aktuellen Evaluations-ergebnissen zufolge hoch: Rückblickend würden 90 Prozent das Masterstudium wieder wählen, stünden sie nochmals vor der Entscheidung. Ein wichtiger pragma-tischer Grund liegt in der flexiblen Modulplanung, weil sie die Vereinbarkeit von Studium, Beruf und Familie fördert. Auf inhaltlicher Ebene sehen die Absolventin-nen und Absolventen den Nutzen vor allem für ihre

persönliche Entwicklung und die zukünftige Karriere: Obschon sie interessanterweise eher keinen Gewinn für ihre aktuellen Aufgaben angeben, sehen sie einen Nut-zen für neue, anspruchsvollere Aufgaben und Anstel-lungen, insbesondere für die interdisziplinäre Zusam-menarbeit.

Die Evaluationsergebnisse sind alles in allem eine Auszeichnung für den Kooperationsstudiengang der BFH, der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit, der Zür-cher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW und der Hochschule für Angewandte Wissenschaften FHS St. Gallen. Denn es ist ihr erklärtes Ziel, ihre Master-studierenden für berufliche Positionen zu qualifizieren, die bislang Fachleute aus den Bezugsdisziplinen der Sozialen Arbeit wie Soziologie, Recht und Psychologie innehaben. Ein weiteres Ziel liegt in der Natur von Hoch-schulen: die Ausbildung von eigenem wissenschaftli-chem Nachwuchs für Forschung und Lehre. In diesem Punkt hält die Evaluation einen Wermutstropfen bereit. Für das Gros der Masterabsolvierenden scheint eine wis-senschaftliche Tätigkeit auf ihrem Berufsweg eher nicht wichtig zu sein. Offen bleibt die Frage, weshalb sich dennoch mehr als die Hälfte ein Doktorat vorstellen können – zumindest zu einem späteren Zeitpunkt. ▪ Literatur: Eicher, Véronique. (2015). Evaluation 2013–2019. Master in Sozialer Arbeit BE/LU/SG/ZH. Zusammenfassung und Ausblick. 2. Bericht [PDF]. Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW. Abgerufen von http://www.masterinsozialerarbeit.ch/informations-und-beratungsangebot/aktuell.html

Fachbereich

Evaluation des Masterstudiengangs –1

(überhaupt nicht)

2 3 4 5(in hohem

Masse)

Betrifft mich nicht/war kein Ziel

Für persönliche Entwicklung 0,0 1,1 6,3 38,1 49,1 3,5

Für zukünftige Karriere 0,0 7,5 16,3 36,3 31,6 7,4

Für neue, anspruchsvollere Aufgaben 5,6 5,6 11,6 27,3 29,2 18,8

Für eine neue, anspruchsvollere Anstellung 4,5 6,3 9,4 29,6 31,5 16,0

Um in interdisziplinären Teams auf Augenhöhe zu argumentieren 5,6 17,1 10,9 39,1 26,5 8,4

Um sich im Rahmen der Erwerbstätigkeit weiterzubilden 5,9 10,6 15,5 29,2 28,1 10,0

Um die gegenwärtigen Aufgaben wahrzunehmen 24,2 10,4 21,3 13,8 14,1 14,1

Nutzen des Studiums für berufliche Schritte (in Prozent)

Quelle: Eicher, 2015

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News & Infos

Neue Mitarbeitende

Michael Herzka ist seit Februar 2016 Dozent am Fachbereich Sozi-ale Arbeit. Er promovierte an der Universität Zürich und ergänzte später seine Ausbildung mit einem MBA und einem DAS in Ange-wandter Ethik. Nach langjähriger Tätigkeit in der Entwicklungszu-sammenarbeit sowie im Bildungs- und Gesundheitswesen war er bis 2015 Studienleiter des MAS Sozialmanagement an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).

Michael HerzkaWas ich mag: unterwegs sein in fernen Ländern, Snowboarden, Sommer in der Stadt Was ich nicht mag: den Zug verpassen, zu früh am Bahnhof sein, laute Handygesprä-che

René Rüegg arbeitet seit Mitte Januar 2016 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Soziale Arbeit. Er ist Sozialarbeiter mit Arbeitserfahrung in der Schulsozialarbeit und hat im letzten Jahr den Master in Sozialwissenschaften an der Universität Zürich abge-schlossen. Seine beruflichen Interessen liegen in der Qualitätsent-wicklung sozialer Organisationen sowie in der Erklärung und Prä-vention von beruflichem Stress bei Sozialarbeitenden.

Beatrice Schild arbeitet seit Anfang März 2016 im Kommunikati-onsteam des Fachbereichs Soziale Arbeit. Sie hat an der Universi-tät Bern Geschichte, Medienwissenschaften und Politologie stu-diert. Im Bereich Web und Radio verfügt sie über vielfältige Erfahrungen. Zuletzt war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Redaktorin bei der Organisation humanrights.ch im Menschen-rechtsbereich tätig.

René RüeggWas ich mag: meine Familie, Bewegung, frische Luft, Berge Was ich nicht mag: Umweltverschmut-zung, aktuell steigende soziale Ungleich-heit, kurzfristiges Denken

Beatrice SchildWas ich mag: im Winter Pulverschnee, im Sommer die Aare, Yoga und gute Romane Was ich nicht mag: nichtssagende Texte, Sommer ohne Sonne, Heuschnupfen, Fer-tigmenüs

Berner Beratungstagung: Wann und wie wirkt Beratung?

Beratung ist unumstritten eine zentrale Tätigkeit in verschiedenen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit. Dies zeigt sich nicht zuletzt in einer Vielzahl von Stan-dardwerken und Publikationen zu Beratungsansätzen, Beratungsmethoden und Beratungsfeldern. Im Rah-men der 1. Berner Beratungstagung setzen wir einen anderen Fokus: Es interessieren aktuelle Forschungs-ergebnisse zum Thema Beratung und methodische Innovationen sowie deren Bedeutung für das eigene beraterische Handeln. Im Anschluss an die Hauptrefe-rate werden die dargestellten Inhalte im gemeinsamen «Reflexionsraum» mit der eigenen Tätigkeit als Berate-rin oder Berater in der Sozialen Arbeit in Verbindung gesetzt.

Freitag, 9. September, 13.00 Uhr, bis Samstag, 10. September 2016, 12.30 Uhr

Weitere Informationen und Anmeldung unter soziale-arbeit.bfh.ch, Web-Code: T-BER-2

AlumniDer Verein Alumni BFH Soziale Arbeit bietet seinen

Mitgliedern auch 2016 ein interessantes Programm. Unter dem Titel «Soziale Arbeit global?!» finden ver-schiedene Veranstaltungen statt, beispielsweise Refera-te zur Europäischen Sozialcharta oder zu den Konflikten im Süd-Kaukasus, ein Filmabend und ein Podiumsge-spräch im Haus der Religionen. Details zu den einzelnen Veranstaltungen werden auf der Website des Vereins publiziert: www.alumni-sozialearbeit.bfh.ch

Dort finden Sie auch ein Formular, um Ihre Mitglied-schaft zu beantragen.

Der Dachverband Alumni BFH lädt zudem am Mitt-woch, 8. Juni 2016 ab 17.30 Uhr alle Alumni, Dozieren-den und Studierenden zum 3. Netzwerk-Abend ein. Im Bierhübeli Bern erfahren Sie mehr zum Thema «Robo-ter: Mein Freund und Arbeitskollege?». Bei Burger und Bier haben Sie die Gelegenheit, sich untereinander aus-zutauschen und beim Exklusivkonzert von «GUSTAV et les frères Barbü» das Tanzbein zu schwingen.

Weitere Informationen unter www.alumni.bfh.ch/netzwerk

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News & Infos

Studierende ausbilden heisst in die Zukunft investieren

Während des Bachelorstudiums absolvieren die Studierenden zwei Praxismodule, die je zwischen fünf und zwölf Monaten dauern können. Um die Praxisorganisationen im Bewerbungsprozess zu ent-lasten und die Studierenden auf der Stellensuche zu unterstützen, organisiert die BFH jährlich zwei Stellengalerien. Wenden Sie sich für Informationen zur Publikation Ihrer Ausschreibung für August 2016 (Herbstsemester 16) an [email protected].

Master in Sozialer ArbeitQualifizieren Sie sich für anspruchsvolle Aufgaben in Praxis, For-

schung und Lehre. Der Master in Sozialer Arbeit bietet neue Per-spektiven für Fachleute der Sozialen Arbeit. Besuchen Sie unsere Infoveranstaltung in Bern:

25. Mai 2016, 12.00 bis 13.00 Uhr und 18.15 bis 19.15 Uhr16. Juni 2016, 12.00 bis 13.00 Uhr und 18.15 bis 19.15 Uhr6. Juli 2016, 12.00 bis 13.00 Uhr und 18.15 bis 19.15 Uhr

Anmeldung und weitere Informationen unterwww.masterinsozialerarbeit.ch

NewsletterVerkürzen Sie sich die Zeit zwischen den «impuls»-Ausgaben:

Abonnieren Sie unseren Newsletter. Der viermal jährlich erschei-nende Newsdienst richtet sich an alle thematisch Interessierten, an ehemalige und aktive Studierende, an Medienschaffende und Pra-xispartner. Unter soziale-arbeit.bfh.ch/newsletter können Sie in den letzten Ausgaben schmökern.

Bibliothek Soziale ArbeitDie Bibliothek am Fachbereich Soziale Arbeit ist eine wissen-

schaftliche Spezialbibliothek. Das Angebot umfasst Bücher, DVDs, Zeitschriften, Datenbanken, E-Journals und E-Books. Die Bibliothek ist öffentlich, der Bestand frei zugänglich.

Öffnungszeiten: Montag bis Freitag, 9.30 bis 17.30 Uhr Hallerstrasse 8, 3012 Bern soziale-arbeit.bfh.ch/bibliothek

Edition SoziothekDie Edition Soziothek ist ein Non-Profit-Verlag, der

sozialwissenschaftliche Studien und Forschungsarbei-ten publiziert. Bei den Publikationen handelt es sich hauptsächlich um Bachelor- und Master-Thesen, die als «sehr gut» oder «hervorragend» beurteilt wurden, und um Forschungsarbeiten von öffentlichen und privaten Stellen.

www.soziothek.ch

knoten & maschen | Blog für Soziale Sicherheit

Am 11. Mai 2016 lanciert das BFH-Zentrum Soziale Sicherheit den Wissenschaftsblog «knoten & maschen». Der an die breite Öffentlichkeit gerichtete Blog beleuch-tet das Thema Soziale Sicherheit aus den unterschied-lichen Perspektiven von Wirtschaft, Gesundheit, Sozia-le Arbeit und Gerontologie. Dazu präsentiert er regel- mässig Forschungsergebnisse, Thesen und Diskussio-nen – verständlich, interaktiv und multimedial!

www.knoten-maschen.ch | twitter.com/bfh_sosec

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Ich bin Psychologin. Da haben Sie’s.

Ich kann gar nicht sagen, weshalb, aber an der Uni ergeben sich zwischen gewissen Studienrichtungen je-weils seltsame Konkurrenzen. Kennen Sie das?

So erging es uns damals ein bisschen mit den Sozial-

arbeiterInnen. Vielleicht, weil wir gewisse Kurse mitei-nander besuchten, andere hingegen nicht. Natürlich war es nicht so, dass wir uns wirklich bösartig gesinnt gewesen wären, aber immer mal wieder wurde, wie der Schweizer so schön sagt, «gezündet».

Eine Aussage ist mir dabei geblieben: «Soziale Arbeit ist zu Ende gedachte Psychologie.»

Natürlich war ich damals sehr fest künstlich entrüs-tet über einen solch unflätigen Spruch, machte mir aber ehrlich gesagt keine grossen Gedanken darüber. Aber immer mal wieder, wenn das Gespräch auf Soziale Arbeit kam, fiel er mir ein und ich konnte darüber lachen.

Nachdem ich die Uni verlassen hatte, begann ich ein Doktorat auf dem Psychiatrisch-Psychologischen Dienst des Amtes für Justizvollzug des Kantons Zürich. Ich forschte zum Thema Gewalt- und Sexualstraftaten und war in diesem Rahmen auch regelmässig in den Gefäng-nissen auf Visite. Und bei diesen Gelegenheiten lernte ich auch immer wieder Sozialarbeiter und Sozialarbei-terinnen kennen.

Und wissen Sie was? Der Spruch «Soziale Arbeit ist zu Ende gedachte Psychologie» bekam für mich, je länger ich mich im Fachbereich bewegte, eine umso stärkere Bedeutung.

Ich bemerkte einerseits, dass wir PsychologInnen uns in einem sehr geschützten Rahmen bewegten. 1:1-Gespräche in sicheren Räumlichkeiten, die Klienten «putzt und gstriglet», oft bereits in Substitutionsthera-pien oder ganz vom Suchtmittel entzogen. Ich sage nicht, dass diese Gespräche einfach oder frei von Über-forderung und Ratlosigkeit waren – im Gegenteil. Mich prägten sie als Mensch nachhaltig. Trotzdem war die Basis oft schon vorher gelegt.

Des Weiteren verschwanden die Klienten, sobald sie entlassen oder verlegt wurden, von unserem Radar und wir begannen die Therapie mit jemand anderem. Nun muss man kein Hellseher sein, um zu wissen, dass gera-de bei Abhängigkeitsthematiken die Probleme beim Wiedereintritt in den Alltag erst richtig beginnen. Und so hörte ich denn von den zuständigen SozialarbeiterIn-nen oft schon Wochen nach der Entlassung, man habe Herrn XY mitten in der Nacht irgendwo zusammenlesen müssen. Das Leben hört halt draussen nicht einfach auf.

Ich will die Arbeit von PsychologInnen hier keines-wegs klein machen. Ich habe gerne klinisch gearbeitet. Wir machen die Feinarbeit, die Auslegeordnung, die Ursachenforschung. Soziale Arbeit bedeutet für mich Anpacken im Jetzt (egal, wie dieses Jetzt aussieht), Um-setzen und eine gehörige Portion Pragmatik. Es braucht uns beide – SozialarbeiterInnen und PsychlogInnen –, beide haben wir unsere Beziehung zum Klienten.

Und doch schilderten die Betroffenen ihren zustän-digen Sozialarbeiter oder ihre zuständige Sozialarbeite-rin oft als Konstante, als Anker, als «Zufluchtsmensch», wenn man so will. Als jemanden, der sie anfasst, an-packt, auch einmal durchschüttelt, der keine Berüh-rungsängste hat – alles Dinge, von denen wir wissen, dass sie für die Bindung an und für sich wichtig sind, die man als Psychologin jedoch oft unterlässt, manchmal sogar unterlassen muss. Und das soll auch so sein.

Weil jedoch die Lebensgeschichte des Klienten nicht hinter der Therapiezimmertür endet und er Konstanten und Pragmatik braucht, bin ich persönlich ein grosser Fan der Sozialen Arbeit, ihrer Ansätze und ihrer Umset-zung in den unterschiedlichsten Bereichen.

Und um wieder zum Anfang zurückzukommen: Viel-leicht ist Soziale Arbeit nicht zu Ende gedachte, sondern zu Ende gemachte Psychologie.

Yonni Meyer (*1982) ist Psychologin und arbeitete über Jahre in der Humor- und später in der forensischen Forschung. 2013 eröffnete sie die Facebook-Seite «Pony M.», auf welcher sie Themen wie Liebe, Tod und Gesellschaft humoristisch aufarbeitet.

Meyer gilt heute als eine der meistgelesenen Kolumnistinnen der Schweiz und arbeitet unter anderem für das Newsportal «watson» und die deutsche «Huffington Post».

Soziale Arbeit ist …von Yonni Meyer

Gastbeitrag

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Soziale Intervention

Esther WermuthDozentin [email protected]

Adrian Kunzmann Organisationsberater, Supervisor BSO und Klärungshelfer [email protected]

Susanne Mouret dipl. Erwachsenenbildnerin HF, Klärungshelferin, Mediatorin SDM/BM [email protected]

«Klarheit vor Schönheit», mit diesem Anspruch bie-ten Klärungshelferinnen und Klärungshelfer Unterstüt-zung für Konfliktbeteiligte an, welche nicht mehr in der Lage sind, die Situation beziehungsweise ihre Bezie-hung aus eigener Kraft zu klären. Das primäre Ziel der Intervention ist nicht Harmonisierung, sondern Trans-parenz – oder anders ausgedrückt: Die Konfliktparteien sollen wissen, woran sie sind (Metzger, 2012).

In einem sorgfältig geführten und klar strukturierten Verfahren werden sie angeleitet, die Konfliktsituation vom vordergründigen Anlass bis hin zu den Hintergrün-den und den schwierigen Gefühlen wie Trauer, Verzweif-lung, Ausgeschlossensein etc. zu besprechen. Dieser Prozess fördert das Verständnis für die jeweilige Gegen-seite und ermöglicht einen tiefgreifenden Perspektiven-wechsel: Die Gegenpartei erscheint wieder als Mensch und seine Handlungen sinnhaft und nachvollziehbar.

Ist dieser Schritt erst einmal geschafft, sind die Kon-fliktbeteiligten in der Regel in der Lage, eine eigenver-antwortliche Entscheidung im Hinblick auf die gemein-same Zukunft zu treffen. Darüber hinaus entwickeln sie ihre Konfliktfähigkeit, indem sie lernen, sich selbst in Konfliktsituationen besser wahrzunehmen und auszu-drücken (Thomann, 2014).

Das praxiserprobte Modell der Klärungshilfe wurde in den 1980er-Jahren vom Berner Psychologen Chris-toph Thomann entwickelt. Seither wurde es, bezogen auf verschiedene Anwendungsfelder, weiterentwickelt. Klärungshilfe ist eine eigenständige Form der Mediati-on, welche sich insbesondere durch die intensive Arbeit mit schwierigen Gefühlen sowie die direktive Gesprächs-

Vom Umgang mit schwierigenGefühlen in KonfliktenKonflikte sind unangenehm und häufig verbunden mit Scham, Schmerz und Ohnmacht. Betroffenen gelingt es oftmals kaum mehr, innere Distanz zum Geschehen zu nehmen, schwierige Themen zu benennen und Lösungen für ihre Probleme zu finden. Die Klärungshilfe unterstützt die Konfliktbeteiligten darin, Klar-heit über die Situation zu erhalten.

führung auszeichnet. Im Unterschied zu konsequent lösungsorientierten Ansätzen der Mediation macht die Klärungshilfe die belastende Vergangenheit explizit zum Thema mit dem Ziel, diese zu klären. Dadurch soll die Chance erhöht werden, dass realistische und tragfä-hige Entscheidungen im Hinblick auf die Zukunft getrof-fen werden können.

Der konkrete KlärungsprozessAnhand eines Beispiels wird im Folgenden der kon-

krete Klärungsprozess beschrieben. Zur Ausgangslage: Eine hochqualifizierte Fachperson in einer kantona-

len Verwaltung hat wegen eines Konflikts mit einer Kol-legin mündlich gekündigt. Sie konnte jedoch vorerst davon überzeugt werden, eine externe Klärung im Team abzuwarten.

Die AuftragsklärungIn der Auftragsklärung mit dem zuständigen Be-

reichsleiter, Dr. Bauer, wird für die externe Klärungshel-ferin deutlich, dass es bereits seit längerer Zeit Ausei-nandersetzungen im Team gibt. Eine vakante Stelle konnte bislang nicht besetzt werden und der Umzug der Abteilung in ein neues Gebäude mit Grossraumbüros belastet die Stimmung zusätzlich.

Zwischen Frau Maurer und Frau Wirz, welche neu im gleichen Büro sitzen, ist die Stimmung inzwischen so schlecht, dass Frau Wirz die Kündigung einreichen will. Um ihren Weggang zu verhindern, soll die Beziehung der beiden Mitarbeiterinnen geklärt werden.

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Soziale Intervention

Ziel der Auftragsklärung ist es, optimale Bedingun-gen für die Klärung zu schaffen. Unter anderem muss die oberste beteiligte Führungskraft bereit sein, auch unan-genehme Themen zu klären, selbst beim ganzen Prozess dabei zu sein und genügend zeitliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen.

Die AnfangsphaseNach der Begrüssung und einleitenden Worten

durch Dr. Bauer geht es in der Anfangsphase um ein kur-zes Kennenlernen. Dr. Bauer, 40-jährig, wurde vor zwei Jahren zum Bereichsleiter befördert. Gefragt nach sei-nen Bedingungen, um sich an der Klärung konstruktiv zu beteiligen, äusserte er, kein «Gspürschmi-Psycho-Geplapper» zu wollen. Es wird vereinbart, dass er sich sofort meldet, falls die Klärung in seiner Wahrnehmung in diese Richtung laufen sollte.

Frau Maurer, eine grosse, sorgfältig gekleidete Frau von 47 Jahren, wirkt eher zurückhaltend. Sie stammt aus Skandinavien, ist seit 12 Jahren im Team und leitet ein wichtiges Ressort. Frau Wirz, eine kleine, quirlig wirkende Südeuropäerin, ist 39 Jahre alt und seit fünf Jahren im Team. Auch sie leitet ein verantwortungsvol-les Ressort. Beide Frauen äussern keine Bedingungen in Bezug auf den Prozess, schwanken jedoch zwischen Hoffnung und der Angst vor Enttäuschung.

In der Anfangsphase wird das Fundament für die Klä-rung gelegt. Es wird nach Bedingungen und Hindernis-sen gefragt, sich konstruktiv am Gespräch zu beteiligen. Damit wird implizit nach Ängsten gefragt. Die Aufforde-rung sich zu melden, falls die Befürchtung eintreten sollte, wird Minikontrakt genannt. Damit wird der Be-troffene zur Alarmanlage seiner eigenen Ängste.

Die SelbstklärungsphaseIn einem nächsten Schritt erklären die Beteiligten

anhand einer Skizze ihre subjektive Sicht auf das Team. Frau Wirz: «Ich fühle mich im gemeinsamen Büro höchst unwillkommen. Ich weiss nicht mehr, wie ich mich verhalten soll. Bereits wenn ich morgens komme und den Mantel ablege, zuckt Frau Maurer zusammen. Zum Telefonieren gehe ich in den Flur, um die Kollegin nicht zu nerven. Ich traue mich nicht mehr, irgendetwas zu fragen oder mit anderen Kollegen im Büro zu reden. Das Klima ist äusserst angespannt. Frau Maurer sagt nie direkt, wenn sie etwas stört, sondern gibt es mir lau-fend nonverbal zu verstehen.»

Frau Maurer: «Ich liebe die zwei Stunden am frühen Morgen, in denen ich ungestört arbeiten kann. Ich brau-che Ruhe für meine anspruchsvollen Aufgaben. Sobald Frau Wirz erscheint, ist es damit zu Ende. Sie telefo-niert extrem laut. Wenn sie hereinkommt, knallt sie ihre Tasche demonstrativ auf den Tisch und bei jeder sich bietenden Gelegenheit plänkelt sie herum. Ich kann so nicht arbeiten.»

In der Selbstklärungsphase legen die Beteiligten nacheinander ihren Standpunkt dar. Die Klärungshelfe-rin versucht, diesen genau zu verstehen. Dadurch bildet sich Vertrauen. Bei den Konfliktbeteiligten kann das Zuhören bereits eine Veränderung der Wahrnehmung bewirken.

Die DialogphaseIm nachfolgenden Dialog werden die Themen ver-

tieft. Immer wieder stellt die Klärungshelferin die Frage: «Darf ich neben Sie treten, an Ihrer Stelle etwas sagen und Sie sagen mir dann, ob das so stimmt?» Mit dieser Frage holt sich die Klärungshelferin die Erlaubnis für das «Doppeln».

Bei Frau Wirz fördert dieses Vorgehen nach und nach Folgendes zu Tage: «Ich komme ins Büro und gebe mir viel Mühe, leise zu sein. Du aber quittierst meine Bemü-hungen mit einem grimmigen Gesicht und einer abweh-renden Körperhaltung. Ich werfe dir vor, dass du mir das Leben in unserem gemeinsamen Büro zur Hölle machst. Du willst mich weg haben. Das macht mich un-

Das Aussprechen der Aggressionen entlastet, das Aussprechen des darunterliegenden Schmer zens verbindet und versöhnt die Konfliktparteien.

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Soziale Intervention

miteinander in Kontakt gebracht. Eine zentrale Technik in dieser Phase ist das Doppeln. Im Beispiel wird gut sichtbar, wie das Doppeln den Dialog von der Sachebene zum Vorwurf, zur Aggression und letztlich zum Schmerz führt. Das Aussprechen der Aggressionen entlastet, das Aussprechen des darunterliegenden Schmerzens verbin-det und versöhnt die Konfliktparteien.

Die ErklärungsphaseAnhand eines systemischen Persönlichkeitsmodells

zeigt die Klärungshelferin die Dynamik zwischen den beiden Frauen auf. Die unterschiedlichen Charakterei-genschaften und Bedürfnisse von Frau Wirz und Frau Maurer haben ihre Beziehung bislang nicht gestört, im gemeinsamen Büro führen sie zu Konflikten. Frau Wirz und Frau Maurer wirken in dieser Phase konzentriert und nachdenklich.

In der Phase des Erklärens werden die im Dialog emo-tional aufwühlenden Themen durch einen theoreti-schen Rahmen für die Beteiligten akzeptierbar gemacht. Die Klärungshelferin bringt ihre professionelle Perspek-tive ein. Durch das kognitive Verstehen der Dynamik tritt Beruhigung und Entlastung ein. Die Beteiligten sind wieder befähigt, eigenständig Lösungen für die anste-henden Probleme zu vereinbaren. Dieser Prozess wird durch die Klärungshelferin moderiert. ▪Literatur:

– Metzger, Tilman. (2012). Klärungshilfe und innerbetriebliche Mediation. Spektrum der Mediation, 45, 38–43.

– Thomann, Christoph. (2014). Klärungshilfe 2. Konflikte im Beruf: Methoden und Modelle klärender Gespräche (6. Aufl.). Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Verlag.

heimlich wütend, weil es so ungerecht ist. Ich fühle mich nicht gesehen, verletzt und ohnmächtig.»

Bei Frau Maurer führt das schrittweise Doppeln zu folgenden Aussagen: «Du behauptest, Rücksicht auf mich zu nehmen. Dabei lärmst du weiterhin und lässt mich ständig spüren, wie sehr du dich durch mich ein-geengt fühlst. Du schäkerst ständig mit Kollegen herum. Du drängst mich aus dem Kreis unserer Kolleginnen und Kollegen. Ich fühle mich nicht respektiert von dir, das macht mich wütend und ich fühle mich bedroht und einsam.»

Ziel der Dialogphase ist, durch eine authentische Aus-einandersetzung wieder Verständnis füreinander zu fin-den. Dazu werden die Standpunkte mittels eines Dialogs

CAS Klärungshilfe in Konflikten

Im CAS Klärungshilfe in Konflikten werden die Teil-nehmenden befähigt, einen Klärungsprozess von der Auftragsklärung bis zur Nachsorge zu moderie-ren. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Anwen-dung der Klärungshilfe in Organisationen und Teams. Mit diesem neuen Studiengang wird das bestehende Weiterbildungsangebot in Mediation und Konfliktmanagement ergänzt.

Voraussetzung für die Teilnahme am CAS Klärungs-hilfe in Konflikten ist eine Ausbildung in Mediation, Beratung, Psychotherapie oder in Sozialer Arbeit sowie Berufserfahrung von mindestens zwei Jahren.

Der CAS-Studiengang umfasst 19 Studientage und wird erstmals von September 2016 bis Juni 2017 durchgeführt.

Weitere Informationen und Anmeldungsoziale-arbeit.bfh.chWeb-Code: C-MED-10

Das Aussprechen der Aggressionen entlastet, das Aussprechen des darunterliegenden Schmer zens verbindet und versöhnt die Konfliktparteien.

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Soziale Intervention

Die Volksschule Kriens führt zwei Familienklassenzimmer. Eltern von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten unterstüt-zen diese, indem sie sie während eines halben Tages pro Woche in die Schule begleiten – und dabei selbst lernen. Die BFH evaluierte dieses präventive Projekt und zieht ein grundsätzlich positives Fazit.

Familienklassenzimmer: Wo Kinder und Eltern gemeinsam Schule machen

Stephanie Disler Wissenschaftliche Mitarbeiterin [email protected]

Das Familienklassenzimmer orientiert sich am An-satz der Multifamilientherapie von Eia Asen. Demnach sollen sich Eltern mit ähnlichen Schwierigkeiten in der Erziehung begegnen, um sich über ihre Herausforderun-gen auszutauschen und sich gegenseitig in der Lösungs-findung zu unterstützen. «Wir sitzen alle im gleichen Boot» ist ein Leitsatz der Multifamilientherapie, welche davon ausgeht, dass sich Eltern einfacher öffnen und reflektieren können, wenn sie sehen, dass andere Eltern ähnliche Erfahrungen machen. Dem Austausch in der Gruppe kommt damit eine zentrale Bedeutung zu. Er stärkt die Selbstachtung und Handlungsfähigkeit der Eltern und schafft Möglichkeiten für Veränderung (Asen & Scholz, 2009, S. 14).

Die Volksschule Kriens führte das Familienklassen-zimmer im Oktober 2013 ein. Laut ihrem Konzept han-delt es sich bei den teilnehmenden Kindern um Schüle-rinnen und Schüler, «deren schulischer Erfolg dadurch gefährdet ist, dass sie die Anforderungen beim Einhalten von Regeln und Arbeitsstrukturen nicht ausreichend erfüllen können.» Sie sollen diese Kompetenzen mit ak-tiver Unterstützung ihrer Eltern im Familienklassenzim-mer erwerben.

Einmal in der Woche

Im Familienklassenzimmer kommen jeweils fünf bis acht Kinder der Primarschulstufe jahrgangsübergrei-fend in Begleitung eines Elternteils während eines Vor-mittags pro Woche zusammen. Die Kinder verlassen ihre Schulklasse also nur punktuell und verbleiben im ur-sprünglichen Klassenverband. Kinder und Eltern sollen das Familienklassenzimmer während mindestens drei Monaten gemeinsam besuchen, wobei sowohl Eintritt wie Austritt jederzeit möglich und dem Bedarf der Fami-lie angepasst sind. Die Eltern lernen so die schulische Situation ihrer Kinder besser kennen und diese wieder-um erhalten von ihren Eltern und den anderen Teilneh-menden Unterstützung in der Bewältigung der Anforde-rungen des Schulalltags.

Nebst dem Erfahrungsaustausch auf Elternebene ist auch die Zusammenarbeit mit der Klassenlehrperson

von Bedeutung, da durch die Kooperation von Schule und Eltern eine gemeinsame Lösungssuche erreicht werden soll. Eine Lehrkraft und eine Moderatorin oder ein Moderator mit einer Ausbildung in systemischer Be-ratung und Therapie leiten das Familienklassenzimmer.

Das Familienklassenzimmer hat einen festen Ablauf, soll jedoch den Eltern und Kindern genügend Raum für aktuelle Themen lassen. Nach einem spielerischen Ein-stieg in den Tag ist die Besprechung der Wochenziele ein Kernmoment des Vormittags. Jedes Kind und jeder El-ternteil steckt sich für jeweils eine Woche mindestens ein Ziel in Bezug auf das eigene Verhalten. Die Entwick-lungsschritte hin zu diesem Ziel werden durch die Lehr-personen und die Teilnehmenden selbst im Rahmen des Familienklassenzimmers ausgewertet und gewürdigt.

Darauf folgt die schulische Sequenz. Die Kinder lösen individuell Aufgaben und werden dabei vom anwesen-den Elternteil unterstützt. Entstehen Konflikte, nimmt die Leitung des Familienklassenzimmers eine vermit-telnde Rolle ein und zeigt den Eltern auf, wie sie in sol-chen Situationen angemessen reagieren können. Je nach Bedarf findet während dieser schulischen Sequenz ein angeleiteter Erfahrungsaustausch unter den Eltern statt. Die Anwesenden geben sich gegenseitig Tipps und erar-beiten gemeinsam Lösungsstrategien im Umgang mit ihren Kindern. Eine beziehungsfördernde Aktivität bil-det dann den Abschluss des Vormittags. Hier erhalten die Kinder und Eltern eine gemeinsame Aufgabe, bei-spielsweise das Gestalten eines Familienwappens. Im Vordergrund steht das gemeinsame Erleben.

Die Eltern fühlen sich gestärktDie BFH zieht nach ihrer Evaluation ein positives Fa-

zit zum Familienklassenzimmer. Die Teilnehmenden mögen die offene und ungezwungene Atmosphäre in der Gruppe.

«Man wird vorurteilsfrei aufgenommen, das ist mir gerade aufgefallen. Egal was man sagt, egal wer man ist, egal was für Probleme es sind, es sind alle herzlich willkommen.» Eine Mutter

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Zudem wird die ressourcenorientierte Herangehens-weise im Familienklassenzimmer hoch gewertet.

«Die ersten paar Kontakte im Familienklassenzim-mer haben mir den Eindruck gegeben, es geht um das Verhalten vom Kind und nicht um irgendeine Diagnose.» Ein Vater

Dabei schätzen die Eltern den Austausch mit den an-deren Familien, welche mit ähnlichen Herausforderun-gen konfrontiert sind. Er trägt dazu bei, dass sie sich weniger alleine fühlen und sich gleichzeitig bei der Lö-sungsfindung gegenseitig unterstützen können.

«Früher habe ich immer gedacht, dass nur mein Sohn in der Schule Probleme macht und der Leh-rer nur bei uns zu Hause anruft. Aber jetzt habe ich mich gut gefühlt. Ich habe gedacht, ah, andere haben auch Probleme.» Eine Mutter

Die Eltern gewinnen Sicherheit in ihren Erziehungs-aufgaben und erfahren eine Stärkung ihrer Handlungs-kompetenz. Das Familienklassenzimmer bietet die Mög-lichkeit, Zeit mit dem eigenen Kind zu verbringen und gemeinsam etwas zu erleben, wodurch die Beziehung gestärkt wird. Dadurch erleben sich die Eltern kompe-tenter und konsequenter im Umgang mit ihren Kindern,

Die Kinder lösen im Familienklassenzimmer Aufgaben und werden von einem Elternteil unterstützt.

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Welchen Nutzen konnten Sie aus der Evaluation für das Familienklassenzimmer ziehen?

Buholzer: Die Erkenntnisse waren für mich als Rektor vor allem aus Gründen der Rechenschaftslegung gegen-über den Behörden und anderen externen Stellen von Bedeutung. Aber auch für die Volksschule Kriens und ihre Mitarbeitenden sind die datengestützten Aussagen sehr wichtig.

Die Themen, die benannt wurden, waren nicht grundsätzlich neu oder überraschend, aber es konnten klar Prioritäten in Bezug auf den Entwicklungsbedarf aufgezeigt werden. Beispielsweise hat sich deutlich ge-zeigt, wie wichtig der Einbezug der Klassenlehrpersonen ist, was mir in dieser Deutlichkeit nicht bewusst war. Auch sind wir davon ausgegangen, dass wir die Eltern und auch die Lehrpersonen bei den Eintrittsgesprächen gut informieren und aufzeigen, um was es geht. Die Eva-luation hat aber gezeigt, dass diese Phase optimiert wer-den muss.

Inwiefern haben die Ergebnisse der Evaluation eine Wei-terentwicklung des Familienklassenzimmers beein-flusst?

Wir machen die in der Evaluation aufgezeigten Punk-te zum Thema, beispielsweise Umgang mit Unruhe stif-tendem Verhalten, Transparenz in Bezug auf die Vorge-

hensweise im Familienklassenzimmer oder wie bereits erwähnt die Vorabklärung und Kriterien bei den Eintrit-ten. Die für mich wichtigste Weiterentwicklung bezieht sich auf die Zusammenarbeit mit den involvierten Lehr-personen. Hier suchen wir noch nach geeigneten Model-len. Die Evaluation hat uns ausserdem Mut gemacht, ein drittes Familienklassenzimmer aufzubauen für die Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe.

Wo sehen Sie weiteren Evaluationsbedarf in Bezug auf das Familienklassenzimmer als Methode?

Wir haben das Familienklassenzimmer für die Se-kundarstufe nach dem gleichen Modell wie die Famili-enklassenzimmer der Primarstufe umgesetzt. Unsere Erfahrungen zeigen jedoch, dass in der Struktur Anpas-sungen vorgenommen werden müssen. Im Familien-klassenzimmer der Oberstufe funktioniert das Arbeiten mit den Zielen nicht, da primär an den Beziehungen gearbeitet werden muss. Insbesondere stellt sich die Frage, mit welchen Methoden mit den älteren Schülerin-nen und Schülern gearbeitet werden soll, da diese nicht aus dem Familienklassenzimmer der Primarstufe über-tragen werden können (z.B. Erlebnispädagogik, neue Medien etc.). Grundsätzlich gilt es zu erarbeiten, ob und wie ein Familienklassenzimmer mit Jugendlichen im Alter von 14 oder 15 Jahren funktionieren kann.

Markus Buholzer, Rektor Volksschule Kriens, war massgeblich an der Einführung des Familienklassenzimmers in Kriens beteiligt. Stephanie Disler hat ihn nach Abschluss der Evaluation befragt.

Weiterentwicklung des Familienklassenzimmers

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können diese besser begleiten, ihnen Sicherheit vermit-teln und sie stützen. Gleichzeitig wird der Austausch zwischen Schule und Elternhaus in vielen Fällen inten-siviert, was ein gemeinsames Auftreten gegenüber dem Kind ermöglicht und beide Seiten entlastet.

Weniger klare Ergebnisse bei den KindernIm Gegensatz zur Entwicklung der Beziehungen äus-

serten sich die Personen, die für die Evaluation inter-viewt wurden, weniger eindeutig zur Veränderung des im Fokus stehenden Verhaltensrepertoires der Kinder. Während bei einigen Kindern eine klare Verhaltensän-derung zu Hause und in der Schule festgestellt wird, ist dies bei anderen weniger zu beobachten.

Die Veränderungen der Kompetenzen der Kinder be-treffen insbesondere das bessere Beachten von Regeln, das Erlangen von mehr Struktur und Zuverlässigkeit bei schulischen Aufgaben und konzentrierteres Arbeiten. Hierbei ist die Arbeit an den Wochenzielen zentral. Auch die Sozialkompetenz im Umgang mit Mitschülerinnen

Methodik der Evaluation

Im Auftrag der Volksschule Kriens evaluierte die BFH das Projekt «Familienklassenzimmer», ein in der Schweiz neuartiges Angebot. Die Evaluation setzte kurz nach der Startphase der beiden Famili-enklassenzimmer im Februar 2014 ein und endete im Juni 2015.

Jedes neu eingetretene Kind, der jeweilige Elternteil sowie die Klassenlehrperson wurden zum Zeitpunkt des Eintritts, des Austritts sowie sechs Monate nach Beendigung der Teilnahme befragt. Die Befragun-gen fanden schriftlich und mündlich statt. Sie wur-den durch Beobachtungen im Familienklassenzim-mer und Gespräche mit Fachkräften in- und ausserhalb des Familienklassenzimmers ergänzt. Dieser mehrdimensionale Blickwinkel zeichnete ein inhaltlich breites Bild der Geschehnisse im Famili-enklassenzimmer und deren Wirkungen.

Gesamthaft konnten 18 Eltern-Kind-Paare und die jeweiligen Klassenlehrpersonen ein erstes Mal bei Eintritt befragt werden. Davon wurden 15 Eltern und Kinder sowie 7 Klassenlehrpersonen bei Ab-schluss des Familienklassenzimmers bzw. bei Ab-schluss der Evaluation befragt. Zudem wurden an den zwei Familienklassenstandorten insgesamt zehn Beobachtungen durchgeführt.

Das Evaluationsprojekt wurde von Dieter Haller, Leiter Abteilung Master in Sozialer Arbeit an der BFH, und Barbara Erzinger, damals wissenschaftli-che Mitarbeiterin, konzipiert und fachlich begleitet. Barbara Erzinger hatte die operative Projektleitung inne.

und Mitschülern sowie den Lehrpersonen verbessert sich teilweise.

In der Evaluation zeigt sich, dass die Kriterien für die Teilnahme am Familienklassenzimmer überprüft wer-den sollten. Die offen gehaltenen Kriterien ermöglichen einerseits allen Familien einen niederschwelligen Zu-gang. Andererseits konnte die Evaluation die Grenzen in der Umsetzung des Angebots aufzeigen, etwa wenn eine Familie aufgrund ausgeprägter finanzieller Notlagen, prekärer Aufenthaltsbewilligung oder Krankheiten von Familienmitgliedern zu sehr mit anderen Themen als der Kindererziehung beschäftigt ist.

Für einige Familien bleibt die Teilnahme am Famili-enklassenzimmer unangenehm. Die Kinder befinden sich häufig in einer Ambivalenz, weil ihnen der Vormit-tag im Familienklassenzimmer gut gefällt und sie gleich-zeitig zu den «normalen» Kindern gehören möchten.

Zusammensetzung der Gruppe entscheidendDie Evaluation zeigt zudem, dass nicht in allen Grup-

penzusammensetzungen ein befruchtender Austausch zwischen Kindern und Eltern entsteht. Je ähnlicher die Situationen und Problematiken der Gruppenmitglieder sind, desto stärker wird die Teilnahme am Familienklas-senzimmer als gemeinsamer Prozess erlebt, was sich wiederum auf die subjektiv erlebten Veränderungen auswirkt. Während bei einer höheren Gruppenidentität mehr an den Beziehungen des Kindes mit seinem schu-lischen und familiären Umfeld gearbeitet wird, liegt der Fokus bei einer loseren Gruppenidentität mehr auf dem Verhalten des einzelnen Kindes.

Somit stellt sich die Frage, wie viel Heterogenität in der Gruppe sinnvoll ist, bzw. wie trotz grosser Heteroge-nität eine Gruppenidentität hergestellt werden kann, damit das Arbeiten an gemeinsamen Themen möglich wird. Daraus folgt, dass eine gewisse Beständigkeit der Gruppe zentral ist.

Somit erweist sich das Familienklassenzimmer als ein wirkungsvolles Angebot, um herausforderndem Ver-halten von Schülerinnen und Schülern durch die ver-stärkte Kooperation von schulischen Akteuren und Fa-milie zu begegnen. Die Evaluation hat Verbesserungs-punkte aufgezeigt, um diese Schulentwicklung weiter voranzutreiben. ▪

Der Schlussbericht steht auf der Website der Volksschule Kriens zum Download zur Verfügung: volksschule-kriens.ch > Förderangebote > Familienklassenzimmer Literatur

– Asen, Eia & Scholz, Michael. (2009). Praxis der Multifamilienthe-rapie. Heidelberg: Carl-Auer.

– Volksschule Kriens. (2013). Familienklassenzimmer an der Volks-schule Kriens. Kriens: Volksschule.

Das Projekt Familienklassenzimmer Volksschule Kriens wurde im Rahmen des BFH­Zentrums Soziale Sicherheit durchgeführt.

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Daniela Reutimann, als Mitglied einer Kindes- und Er-wachsenenschutzbehörde nehmen Sie Ihre Pflicht wahr, Kindern Gehör zu schenken und ihre Äusserungen in-haltlich zu würdigen. Welche Bedeutung hat die Anhö-rung für ein Kind selbst?

Reutimann: In der Anhörung informieren wir ein Kind über anstehende Entscheidungen, die für seine Le-benssituation bedeutsam sind. Es erhält die Gelegen-heit, sich dazu frei zu äussern. So kann es seine Situati-on mitgestalten und dann die Entscheidung besser akzeptieren und mittragen. Die Mitwirkung stärkt das Kind in seiner Person und Rechtsstellung. Statt als ohn-mächtig erlebt es sich als eigenständig und mit seinen Bedürfnissen ernst genommen.

Gerade in hochstrittigen Elternkonflikten geht ein Kind leicht aus dem Blick verloren. Väter und Mütter sind sich zu wenig bewusst, welchen Belastungen sie ihr Kind aussetzen. Durch die Anhörung stelle ich es wieder in den Fokus und hole seine Eltern zurück in ihre Verantwortung, auch um sie für die Zusammenar-beit zu gewinnen. Dabei verstehe ich meinen Auftrag darin, das Kind zu entlasten, zu schützen und zu stär-ken. Die Kindesanhörung ist hierfür das wirksamste In-strument.

Worauf ist in Ihren Augen bei der Anhörung eines Kin-des oder Jugendlichen besonders zu achten?Die Grundvoraussetzungen sind, Kinder zu mögen und eine entspannte und vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen. Eine respektvolle und wertschätzende Hal-tung ist unerlässlich. Egal, wie das Kind daherkommt, ob es wortkarg ist oder sich widerspenstig verhält. Man darf sich nicht von dieser Grundhaltung abbringen las-sen. Dazu zählt auch Unvoreingenommenheit. Sie wird

besonders wichtig, wenn sich die Zusammenarbeit mit den Eltern schwierig gestaltet. Die anhörende Person muss sichergehen, dass sie diese Probleme nicht auf die Interaktion mit dem Kind überträgt. Von genauso gros-ser Bedeutung sind Empathie und ungeteilte Aufmerk-samkeit. Um sich voll auf das Kind einlassen zu können, muss das Gespräch sehr gut vorbereitet sein.

Als Verfahrensleiterin müssen Sie Entscheidungen tref-fen, die von grosser Tragweite für ein Kind sein können. Welchen Wert hat eine Anhörung konkret?

Ich erhalte einen ungefilterten Eindruck von dem Kind. Ich erfahre von ihm direkt, wie es ihm geht und was seine Anliegen sind. Dadurch entsteht Entschei-dungssicherheit, die Sicherheit, einen Beschluss im Sinne des Kindeswohls zu fassen. Gerade weil ein Be-schluss oft einen starken Eingriff in die Persönlichkeits-rechte darstellt, ist es ein grosser Unterschied, über ein Kind zu entscheiden, das seinen Willen in der Anhörung dargelegt hat, gegenüber einem nur aus Akten bekann-ten Kind.

Veranschaulichen Sie den Wert von Kindesanhörungen bitte anhand eines Fallbeispiels?

Ich gebe Ihnen zwei Beispiele. Im ersten sollte ein 13-jähriges Mädchen mit einer psychischen Erkrankung die öffentliche Schule verlassen und fremdplatziert

Soziale Intervention

Mitwirkung statt Ohnmacht Kindesanhörung und Elternpartizipation

Es ist das höchstpersönliche Recht eines Kindes, von klein auf zu Wort zu kommen – in allen Ver-fahren, die es direkt betreffen, wie jenen des Kindesschutzes oder einer Scheidung. Die Rechts-praxis wird dem noch allzu oft nicht gerecht, hauptsächlich aufgrund mangelnder fachlicher Qualifikation. Ein Gespräch über den Wert von Kindesanhörungen und den unterschätzten Nut-zen der Elternpartizipation.

Daniela Reutimann ist Vizepräsidentin der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) Kreuzlingen und Lehrbeauftragte an der BFH. [email protected] Interview Nina Jacobshagen Wissenschaftliche [email protected]

«Mein Auftrag ist, das Kind zu entlasten, zu schützen und zu stärken. Die Kindesanhörung ist hierfür das wirksamste Instrument.»

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werden. Grundlage war ein medizinisches Gutachten. Ich habe das Mädchen zur Anhörung eingeladen und ihm bildhaft anhand eigener Skizzen vier von der Gut-achterin angedachte Lösungen aufgezeigt: die Platzie-rung in einer Pflegefamilie und verschiedene Arten ei-ner stationären Unterbringung. Während des Gesprächs konnte ich mir ein Bild von der Jugendlichen machen und ihre psychischen Probleme wahrnehmen. Trotz ih-rer akuten Krise war sie in der Lage, sich für ein Heim mit integrierter Schulung zu entscheiden.

Im zweiten Beispiel ging es um vierjährige Zwillinge mit starken Entwicklungsverzögerungen. Sie sollten in einer heilpädagogischen Institution platziert werden.

Ich habe mir Fotos von dem Gebäude samt Spielplatz und Haustieren besorgt und für die Jungen auf eine Wand projiziert. Mit wenig Aufwand habe ich im Sinn des Kindeswohls erreicht, dass sie nachvollziehen konnten, wovon ich spreche. Als ich ihnen sagte, dass sie sich das Heim ansehen können, war bei ihnen Neu-gier und eine Grundoffenheit spürbar, die sie mit Wor-ten, aber auch mit Mimik und Verhalten ausgedrückt haben. Wer sich im Kindesschutz und speziell in Kin-desanhörungen weitergebildet hat, weiss, dass Kinder schon mit drei oder vier Jahren einen eigenen, stabilen Willen entwickelt haben.

Eine respektvolle und wertschätzende Haltung sei unerlässlich, sagt Daniela Reutimann.

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Sie geben das Stichwort: Viele, aber längst nicht alle KESB-Mitglieder sind formal für Kindesanhörungen qualifiziert, wie unlängst eine Studie des Schweizeri-schen Kompetenzzentrums für Menschenrechte zeigte, zumindest für die drei darin untersuchten Kantone. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein?

Bei meinen persönlichen Umfragen unter Fachleuten in KESB und Gerichten zeigt sich tatsächlich dieses Bild. Wer ein Scheidungs- oder Kindesschutzverfahren leitet, ist mehrheitlich nicht für Kindesanhörungen aus-gebildet. Dabei vermitteln solche Weiterbildungen aus ser den rechtlichen Grundlagen die relevanten ent-wicklungspsychologischen Kenntnisse. Der Mangel an diesem Wissen und die damit verbundene Unsicherheit sind die wichtigsten Gründe, aus denen ein Kind kein rechtliches Gehör bekommt. Der Verzicht darauf ist aber ein Vollzugsdefizit und verletzt nationales und in-ternationales Recht.

Entwicklungs- und Kinderpsychologie stellen das Wis-sen bereit, wie sich Sprachverständnis und Willensbil-dung entwickeln und vermitteln Methoden einer alters-gerechten Beziehungsgestaltung und Gesprächsfüh-rung. Wie verändert sich die Praxis in den Behörden durch solches Wissen?

Mit einer Weiterbildung schwinden die Befürchtun-gen, ein Kind durch eine Anhörung zu überfordern, zum Beispiel wegen eines Loyalitätskonflikts. Dagegen wächst das Bewusstsein für ihren Nutzen stark an. Mit diesem Bewusstsein steigt die Zahl der angehörten Kin-der. Eine Untersuchung zur Rechtspraxis in Deutsch-land zeigt, dass sich fast die Hälfte der Richterinnen und Richter, die Verfahren in Familiensachen vorsitzen, schon weitergebildet hat. Sie sind von der Notwendig-keit der Kindesanhörung viel mehr überzeugt als ihre Berufskolleginnen und -kollegen ohne Weiterbildung und laden häufiger jüngere Kinder ein.

Sie unterrichten an der BFH im Kurs Kinder anhören und im neuen Kurs Partizipation von Eltern im Verfahren der KESB. Weshalb ist es wichtig, Eltern an den Verfahren teilhaben zu lassen?

Die Partizipation der Eltern soll als oberste Richt-schnur dem Kindeswohl dienen und die Eltern-Kind-Be-ziehung stärken. Denn bei den Eltern hat sich meist schon vor dem Kindesschutzverfahren ein Kontrollver-lust eingestellt. Ist es eröffnet, liegt die Entscheidungs-macht bei der KESB, was die Eltern im Gefühl der Ohn-macht bestärkt. Die Partizipation zeigt ihnen dagegen ihre Verantwortung auf und ermöglicht ihre Mitwir-kung. Nicht nur sie selbst, auch ihr Kind erlebt sie nicht mehr als machtlos, was besonders wichtig ist. Natürlich gibt es Fälle, in denen Eltern nicht einbezogen werden, weil sie das Kind massiv misshandeln oder weil andere schwerwiegende Gründe dagegen sprechen. In allen anderen Fällen halte ich Verfahren mit Elternbeteili-gung für die bestmögliche Weise, einem gestörten Fa-miliensystem zu helfen.

Worauf kommt es an, damit die Elternpartizipation ge-lingt und dem Kind dient?

Soziale Intervention

«Der Verzicht auf eine Kindesanhörung verletzt nationales und internationales Recht.»

Forschungsprojekt zu professionellem Reden mit Kindern

Die BFH erforscht im Projekt «Professionelles Re-den mit Kindern in familiären Krisen», welche Ge-sprächskompetenzen Fachpersonen anwenden können, damit ein Kind seine Sicht und seinen Willen zu äussern vermag. Als Untersuchungsmaterial dienen Videoaufnah-men von Fachleuten in Frauenhäusern im Zweierge-spräch mit einem Kind. Analysen dieser Gespräche sollen darüber Aufschluss geben, wann und wie Kinder ihre Wahrnehmungen, Bewertungen, Wün-sche und Interessen eigenständig zum Ausdruck bringen. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen Methoden der Gesprächsführung, die einem Kind diese freien Äusserungen erleichtern können. Dabei wird der Frage nachgegangen, welche Inter-aktionsmerkmale den Verlauf beeinflussen. Wer setzt beispielsweise die Themen und wie werden Konflikte zwischen den Wahrnehmungen des Kindes und den Eindrücken anderer Personen bearbeitet? Ziel der explorativen Studie sind Erkenntnisse darüber, wie Gespräche mit Fachleuten Kinder bei der Bewältigung familiärer Krisen unterstützen können, und zwar ressourcen- und entwicklungsori-entiert. Um Prävention und Intervention für Kinder in Krisen zu verbessern, müssen professionell Han-delnde nicht nur kindgerechte Gesprächskompeten-zen erwerben und erweitern, sondern auch Kinder kommunikativ befähigen können.

Die Verfahrensleitung kann mit einer respektvollen Haltung entscheidend die Mitwirkung der Eltern beein-flussen. Die Prämisse «Eltern wollen grundsätzlich das Beste für ihr Kind» unterstützt sie dabei. Ganz wichtig ist es, die Eltern von Beginn an gut über das Verfahren, die Partizipationsmöglichkeiten und den Prozess der Urteilsbildung zu informieren. Die Eltern sollen wissen, dass ihre Zusammenarbeit mit der Behörde dem Kind helfen kann, seine Entwicklungsaufgaben zu bewälti-gen. Sie erfahren, was sie dafür im Rahmen der elterli-chen Sorge sicherzustellen und zu verantworten haben.

Weil es Eltern meist schwerfällt, eine Platzierung nachzuvollziehen, verdeutliche ich ihnen mit Praxisbei-spielen, worin die Gefährdung ihres Kindes liegt. Bei der mündlichen Eröffnung einer Entscheidung lege ich die Urteilsbildung offen und weise auf die Aktenstücke hin. Spricht nichts dagegen, können die Eltern die Insti-tution oder Pflegefamilie besuchen und ihrem Kind beim Übertritt helfen, indem sie zum Beispiel das Zim-mer mit ihm einrichten.

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Kurs Partizipation der Eltern im Verfahren der Kindes­ und Erwachsenenschutzbehörde (KESB)Neben den Partizipationsrechten der Eltern im Kindesschutzverfahren sind Bedeutung und Mög-lichkeiten der Elternbeteiligung Inhalt des Kurses. Praxisbeispiele einer gelungenen Kommunikation veranschaulichen, wie sie gestaltet werden kann, insbesondere in schwierigen Situationen und bei Eingriffen in die Elternrechte, z.B. bei Fremdplatzie-rungen.

13. Dezember 2016

Weitere Informationen und Anmeldung soziale-arbeit.bfh.ch Web-Code: K-KES-17

Kurs Kinder anhörenDer Kurs befähigt zur Kindesanhörung im behördli-chen oder gerichtlichen Verfahren. Er vermittelt psychologisches und rechtliches Fachwissen: ent-wicklungspsychologische Grundkenntnisse, Wissen zur kindgerechten Gesprächsführung und Gestaltung von Gesprächssituationen sowie Kenntnisse der Kinderrechte und rechtlichen Rahmenbedingungen von Kindesanhörungen. Durch die Einübung von Gesprächssituationen gewinnen die Teilnehmenden Sicherheit für die Berufspraxis und lernen, kindliche Willensäusserungen zu protokollieren und in der behördlichen Entscheidung zu berücksichtigen.

17./18. November 2016

Weitere Informationen und Anmeldung soziale-arbeit.bfh.ch Web-Code: K-EKS-2

Was verändert sich für die Eltern durch ihre Partizipation?Sie vermittelt ihnen, dass sie für ihr Kind sehr wich-

tige Personen sind und bleiben. Sie nimmt ihnen Ängste und Unsicherheiten, was sie entlastet und damit auch das Kind. Schliesslich gibt sie Perspektiven, denn das Ziel einer Platzierung besteht in der Regel darin, das Kind in seine Familie zu gegebener Zeit rückzuplatzie-ren. Im Idealfall fördert die Partizipation sie in ihrer Erziehungsfähigkeit.

Wie wird sich die Landschaft des Kindesschutzes weiter-entwickeln?

Die Professionalisierung in den Behörden wird weiter fortschreiten. Fachkompetenzen und Erfahrungswissen werden zunehmen, insbesondere in der Kindesanhö-rung, weil der Gewinn durch ihre Mitwirkung immer mehr Anerkennung finden wird. ▪Anmerkung: Die im Interview geschilderten Verfahrensbeispiele von Kindern und Jugendlichen sind aus Gründen des Persönlichkeits-schutzes stark verändert.

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Unter dem Titel «MehrNetzWert» startete Anfang 2015 ein Forschungsprojekt, an dem Forschende der BFH und der Universität Duisburg-Essen beteiligt sind. Das Wortspiel im Projektnamen weist auf zwei Schwer-punkte hin: Erstens fokussiert das Projekt auf das Unter-stützungsgeflecht, welches Fachkräfte rund um Kindes-schutzfälle bilden. Zweitens wollen die Forschenden Mehrwerte generieren, indem sie neues Wissen erarbei-ten und bestehendes Wissen weiterentwickeln und zu-gänglich machen.

Die übergeordneten Projektziele bringen diese Anlie-gen auf den Punkt. Es geht um

– die Erarbeitung empirisch gestützten Wissens über Faktoren, die zum Gelingen bzw. Misslingen der in-terdisziplinär geleisteten Unterstützung beitragen;

– einen hohen Nutzen für die Praxis bei gleichzeitiger Orientierung an wissenschaftlichen Standards.Im Zentrum der Untersuchungen stehen 10- bis

16-jährige Kinder und Jugendliche in Gefährdungssitu-ationen sowie die Unterstützungsphase, die nach der Feststellung einer Gefährdung beginnt und mehrere Monate, oft auch mehrere Jahre dauert.

Fokus Versorgungsraum und EinzelfallIm Kindesschutzgeschehen bildet die Zusammenar-

beit der Beteiligten eine entscheidende Einflussgrösse: Sobald der Behörde eine Gefährdungssituation bekannt wird, formieren sich rund um das Kind und die Familie eine Reihe von Fachkräften unterschiedlicher Instituti-onen und Disziplinen. Die in Gang kommende Arbeit über Institutionsgrenzen hinweg erfordert die Gestal-tung anspruchsvoller Kommunikations- und Steue-rungsprozesse. Im Forschungsprojekt MehrNetzWert werden daher zusätzlich zu den betroffenen jungen

Förderliche und hinderliche Faktoren in Kindesschutzverläufen

Die BFH und die Universität Duisburg-Essen untersuchen gemeinsam die Unter-stützung, welche Kindern und Jugendli-chen in Gefährdungssituationen zukommt. Zielgruppe des Projekts sind die betroffe-nen Kinder mit ihren Familien sowie die Fachkräfte der Bereiche Justiz, Soziale Arbeit, Bildung und Gesundheit, welche die Kindesschutzmassnahmen entschei-dend mitgestalten und mitverantworten.

Birgit Kalter Wissenschaftliche Mitarbeiterin Universität [email protected]

Dieter HallerLeiter Abteilung Master und [email protected]

«Es gibt erst wenig Forschung zur Wirkung von zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen ge-mäss ZGB. Für die Arbeit der KESB ist es jedoch entscheidend zu wissen, welche Massnahmen mittel- und langfristig wie wirken. Deshalb enga-gieren wir uns für das Projekt MehrNetzWert. Gute, praxisbezogene Forschung hat direkt mit dem behördlichen Alltag und seinen Rahmen-bedingungen zu tun. Sie zeigt auf, was mit den vorhandenen Ressourcen möglich ist. Sie nimmt die Erfahrungen aus der Praxis auf und präsen-tiert ihre Erkenntnisse in einer Form, die wieder-um den Transfer in die Praxis unterstützt.»

Patrick Fassbind, Präsident der Kindes- und Er-wachsenenschutzbehörde (KESB) Bern (bis Ende April 2016)

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Menschen auch die Unterstützungsnetzwerke zum Ge-genstand der Untersuchung.

Als Praxispartner des Projekts konnten die Städte Bern, Langnau im Emmental, Essen im Bundesland Nordrhein-Westfalen und St. Wendel im Saarland gewon-nen werden. In jedem der vier Versorgungsräume werden die einzelnen Kindesschutzfälle untersucht: Zum einen werden mittels standardisierter Daten die Merkmale der betroffenen jungen Menschen und ihrer Unterstützung erfasst, um eine quantifizierende Beschreibung der Un-tersuchungspopulation sowie der Kindesschutzinterven-tionen und deren Wirkungen zu erhalten.

Zum anderen beinhaltet das Forschungsprojekt Un-tersuchungsschritte, welche geeignet sind, vertiefend die Perspektiven der betroffenen Kinder und Familien sowie der Fachkräfte zu erfassen. Auf der Basis von In-terviews mit den Kindern und Jugendlichen, mit den Eltern, den Fachkräften und weiteren Beteiligten wer-den die Verlaufsmuster des Kindesschutzgeschehens mittels qualitativer Fallstudien erforscht.

Zur Überprüfung und Verdichtung der so erarbeite-ten Ergebnisse dient in einem letzten Teil des Projekts ein Delphi-Verfahren, in dem rund 30 Expertinnen und Experten der Arbeitsbereiche Kindesschutz, Schulbil-dung, Justiz, Psychiatrie, Sozialpädagogik, Sozialhilfe

und Ethik befragt werden. Geplant ist, das Projekt in der ersten Hälfte 2018 mit einer öffentlichen Tagung abzu-schliessen.

Praxisorientiertes, kommunikatives ForschenIn Zusammenarbeit mit den Institutionen des Kin-

desschutzes in Essen, St. Wendel, Bern und im Emmen-tal soll im Forschungsprojekt MehrNetzWert valides Wissen mit hohem Nutzen für die Praxis erarbeitet wer-den. Konkret werden in der Praxis Informationen gezielt erhoben, mit den Ergebnissen empirischer Analysen und bereits bestehendem wissenschaftlichem Wissen abgeglichen und in angereicherter Form wiederum der Praxis zur Verfügung gestellt.

Diese Ausrichtung fordert von den Beteiligten in der Praxis und an den Hochschulen ein hohes Mass an Kom-munikation. Dem Austausch und der Vertrauensbildung dienen projektintern sowohl regelmässige Treffen der standortbezogenen Arbeitsgruppen als auch gemeinsa-me Tagungen.

Die erste Tagung fand 2015 in Essen statt, wo zwei der Projektbeteiligten – die Universität Duisburg-Essen und das Jugendamt Essen – ihr Wirkungsfeld haben. Mitarbeitende dieser Institutionen gestalteten denn auch hauptsächlich das inhaltliche Programm. Die Gäs-

Im Kindesschutz geht es häufig um überforderte Eltern und um Verwahrlosung.

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te aus der Schweiz und dem Saarland erhielten fundier-te Informationen sowohl über die Geschichte und Sozi-alstruktur der Stadt Essen als auch darüber, mit welchen Mitteln das Jugendamt der Stadt Essen den Kindesschutz organisiert und gestaltet: Auf den Sozialraum ausgerich-tete, fallunspezifische Entwicklungsarbeit wird kombi-niert mit der üblichen Fallarbeit, also der Arbeit mit Kindern und Familien, bei denen eine Gefährdung fest-gestellt wurde oder vermutet wird.

Die angeregten Diskussionen der Tagungsteilneh-menden offenbarten Gemeinsamkeiten und Unterschie-de des Kindesschutzes in der Schweiz und in Deutsch-land. Die Tagung machte erkennbar, dass solche Unter-schiede per se interessant sind und bestätigte das darüber hinausgehende Ziel des Projekts MehrNetzWert, diese Unterschiede im Hinblick auf die Qualitätsent-wicklung der beteiligten Praxispartner aufzuarbeiten und als gewinnbringende Lerneffekte zu nutzen.

Vulnerable ZielgruppeAuch in der Datenerhebung spielen gute Kommuni-

kation und hohes Vertrauen eine wichtige Rolle. Mehr-NetzWert ist – insbesondere in der Schweiz – eines der ersten Forschungsprojekte, welches auch die Perspekti-ve der Adressatinnen und Adressaten des Kindesschut-zes untersucht. Allerdings bilden 10- bis 16-jährige

«Im Rahmen von MehrNetzWert schreibe ich meine Dissertation. Mich interessieren die Bezie-hungen zwischen männlichen Jugendlichen und sozialpädagogischen Fachkräften in der Jugend-hilfe und welche Auswirkungen diese auf die Ressourcen der Jugendlichen haben. MehrNetz-Wert ermöglicht mir einerseits einen direkten Feldzugang und andererseits kann ich erhobene Daten weiterverwerten.

MehrNetzWert strebt operationalisierte Forschungsergebnisse für die Praxis an. Deshalb muss bereits während des Forschungsprozesses eng mit der Praxis zusammengearbeitet werden. Hier kommt mir mein Kontextwissen, welches ich durch meine Praxistätigkeit in der Kinder- und Jugendhilfe erworben habe, sehr entgegen.»

Dominik Bodmer, Projektmitarbeiter BFH

«Projektleiter Dieter Haller besuchte die Verwal-tung des Landkreises St. Wendel und stellte den Mitarbeitenden des Allgemeinen Sozialen Diens-tes und der Jugendamtsleiterin das Forschungs-projekt MehrNetzWert persönlich vor. Dies führte zu grosser Motivation im Team. Synergieeffekte des Projektes münden bereits in die praktische Arbeit des Allgemeinen Sozialen Dienstes im Rahmen von Kindeswohlüberprüfun-gen. So kann nun zusätzlich über einen Frage-bogen, der im Rahmen des Projektes entwickelt wurde, die Situation der Kinder und Jugendlichen in Gefährdungssituationen eingeschätzt werden.»

Dirk Wolter, Mitarbeiter im Allgemeinen Sozialen Dienst des Kreisjugendamtes St. Wendel, Deutsch-land

Kinder und Jugendliche in Gefährdungssituationen eine sehr verletzliche Zielgruppe. Entsprechend ist nachvoll-ziehbar, dass die jungen Menschen auf eine Anfrage für ein Forschungsinterview skeptisch reagieren und sich eher gegen die Teilnahme entscheiden. Hier sind die Forschenden auf die Vermittlung durch professionelle Bezugspersonen angewiesen, die mit Einfühlungsver-mögen und grosser Sorgfalt vorgehen, wenn sie Kinder und Jugendliche zur Teilnahme anfragen. Dank der sorg-fältigen Vermittlungsarbeit unserer Praxispartner konn-ten in den vergangenen Monaten die ersten Erhebungen für die Fallstudien durchgeführt werden.

Der Aufbau der Projektorganisation, insbesondere das Entwickeln von Vertrauen zwischen den Hochschu-len und den vier Praxisorganisationen, hat sich gelohnt. Der transdisziplinäre Projektfokus, der über längere Zeit die am Kindesschutzfall Beteiligten in den Mittelpunkt stellt, sich nicht auf einzelne Unterstützungsschritte begrenzt und auch nicht an den Grenzen einzelner Dis-ziplinen und eines Landes stehen bleibt, erzeugt bereits jetzt – noch während und in der Umsetzung des Projekts – einen Mehrwert für alle Beteiligten. ▪Das Projekt MehrNetzWert wird im Rahmen des BFH­Zentrums Soziale Sicherheit durchgeführt.

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Projektmitarbeitende

Das Forschungsteam des Projekts MehrNetzWert setzt sich aus Fachleuten der Disziplinen Soziale Arbeit, Erziehungswissenschaft, Politologie und Rechtswissenschaft zusammen.

Strategische Leitung: – Prof. Dr. Dieter Haller (BFH) und Prof. Dr. Wolf-gang Hinte (Universität Duisburg-Essen)

Leitung der Umsetzung: – Dieter Haller (BFH) und Birgit Kalter (Universität Duisburg-Essen)

Mitwirkende der BFH: – Dominik Bodmer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter – Prof. Simone Küng Etter, Dozentin – Prof. Dr. Rahel Müller De Menezes, Dozentin

Mitwirkende der Universität Duisburg-Essen: – Julia Raspel, Wissenschaftliche Mitarbeiterin

Julia Raspel und Dominik Bodmer verfassen im Rahmen von MehrNetzWert ihre Dissertationen.

Fachkräfte unterschiedlicher Disziplinen aus den vier Versorgungsräumen:

– KESB Bern: Raffaele Castellani, Sozialarbeiter; Franziska Voegeli, Sozialarbeiterin

– KESB Emmental: Verena Schwander, Juristin und Präsidentin; Silvio Imhof, Sozialarbeiter

– Mitarbeitende des Sozialen Dienstes des Jugend-amts der Stadt Essen: Ulrich Engelen, Werner Flügel, Markus Bresser, Klaus Tanschek und Jürgen Crames

– Mitarbeitende des Sozialen Dienstes des Jugend-amts des Landkreises St. Wendel: Dirk Wolter und Carina Ost

Finanzierung

Das Projekt MehrNetzWert wird in Deutschland von der Stadt Essen finanziell unterstützt. In der Schweiz finanziert die Stiftung Mercator Schweiz das Projekt. Diese Stiftung initiiert Wissenschafts- und Praxisprojekte in den Themenbereichen Bil-dung, Verständigung, Mitwirkung und Umwelt. Im Zentrum des Stiftungszwecks steht die Förderung junger Menschen in der Schweiz.

«Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) leisten einen Beitrag zur sozialen Gerech-tigkeit. Das Projekt MehrNetzWert unterstützt uns schon jetzt bei diesem Auftrag. Durch die regelmässigen Erhebungen für das Projekt, die Interviews mit Kindern und Jugendlichen, invol-vieren wir ihre Sichtweise früher und besser in die Abklärung. In der Vergangenheit war dies trotz des Rechts des Kindes auf Anhörung nicht immer so. Durch das Projekt wird sich diese Involvierung institutionalisieren.»

Silvio Imhof, Vizepräsident der Kindes- und Erwach-senenschutzbehörde (KESB) Emmental

«Wir arbeiten bereits seit vielen Jahren mit der Universität Duisburg-Essen zusammen. Ein Ver-gleich mit einer anderen Stadt oder in diesem Fall einem anderen Land bietet eine zusätzliche Möglichkeit zu überprüfen, wo wir stehen.

Uns interessiert insbesondere die Zielgruppe von MehrNetzWert. Die Gruppe der Kleinkinder bis ins Grundschulalter ist gut erforscht, die Verfahren sind ausdifferenziert – bedingt auch durch die vielen Kinderschutzfälle, die durch die Medien gegangen sind. Aber bei der Altersgruppe 10+, in der andere Formen von Gefährdung vorliegen, gibt es Nachholbedarf.»

Ulrich Engelen, Leiter Soziale Dienste im Jugendamt Essen, Deutschland

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BFH impuls 2/ 2016

Soziale Intervention

WeiterbildungAngebot Datum Web­Code

Kurse zum Thema BeratungFachkurs Motivierende Gesprächsführung August 2016 bis Februar 2017 K-MET-2Fachkurs Systemische Beratung und psychiatrische Diagnosen Oktober 2016 bis Januar 2017 K-BER-5Fachkurs Neuro-Systemische Beratung November 2016 bis März 2017 K-BER-8Fachkurs Systemische Kompetenz in Veränderungsprozessen März bis Juni 2017 K-BER-7Beratungsgespräche 4./5. April, 31. Mai und 1. Juni 2017 K-MET-6Grundlagen der Systemischen Beratung 30./31. Mai und 1. Juni 2016, 8.45–16.45 Uhr K-BER-4Fachkurs Trauma und Beratung Juni bis Oktober 2016 K-BER-2Gesprächsführung mit traumatisierten Menschen 6./7. September 2016, 8.45–16.45 Uhr K-SPE-33Fachkurs Systemisch-lösungsorientierte Beratung mit Kindern und Jugendlichen Neue Daten folgen K-BER-1Fachkurs Elterncoaching Neue Daten folgen K-BER-3

Kurs zum Thema Case ManagementFachkurs Case Management August bis Dezember 2016 K-CM-20

Kurse zum Thema Kindes­ und ErwachsenenschutzBerichterstattung in der Mandatsführung: Einzelcoaching Einzelterminfindung K-KES-11Fachkurs Sozialpädagogische Arbeit mit psychisch belasteten Kindern und Jugendlichen [neu] Mai bis September 2016 K-MET-16Zivilrechtlicher Kindesschutz – Massnahmen und Verfahren 12./13. Mai 2016, 9.00–16.45 Uhr K-KES-9Zu weit weg – zu nah – Prävention von sexuellen Übergriffen [neu] 6. Juni 2016, 9.00–16.45 Uhr K-SSA-8Kindes- und Erwachsenenschutz: Basiswissen für die Soziale Arbeit 10./11. August 2016, 8.45–17.15 Uhr K-KES-14Kindeswohlgefährdung erkennen und angemessen handeln 24./25. August 2016, 9.00–16.45 Uhr K-EKS-9Professionelle Kindeswohlabklärungen – Einführung in ein neues Instrument für die Schweiz (in Kooperation mit der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit) 13./14. September 2016, 9.00–16.45 Uhr K-KES-1Neues Erwachsenenschutzrecht – Massschneiderung 10./11. November 2016, 8.45–17.15 Uhr K-KES-6Kinder anhören 17./18. November 2016, 9.00–16.45 Uhr K-EKS-2Partizipation der Eltern im Verfahren vor der Kindes- und Erwachsenenschutz - behörde (KESB) [neu] 13. Dezember 2016, 9.00–16.45 Uhr K-KES-17Feststellung der Vaterschaft, gemeinsame elterliche Sorge, neues Unterhaltsrecht 30./31. Januar 2017, 8.45–17.15 Uhr K-REC-12Fachkurs Kindesschutz für Fachkräfte in der frühen Kindheit Herbst 2017 K-KES-2Fachkurs Koordinatorin/Koordinator im Familienrat – Family Group Conference September 2017 bis Juni 2018 K-KES-15

Kurse zum Thema Mediation und KonfliktmanagementFachkurs Mediation 12 Kurstage, Start mehrmals jährlich K-MED-1Fachkurs Konfliktmanagement November 2016 bis Juni 2017 K-MED-55Mediative Haltung 2./3. Mai 2016, 8.45–16.45 Uhr K-MED-86Systemische Konfliktanalyse in Organisationen und im öffentlichen Bereich 19./20. Mai 2016, 8.45–16.45 Uhr K-MED-144Scheidungs- und Trennungsmediation – Grundlagen 31. Mai/1./2. Juni 2016, 8.45–16.45 Uhr K-MED-120Umgang mit Diversity in der Konfliktbearbeitung 7./8. Juni 2016, 8.45–16.45 Uhr K-MED-99Gewaltfreie Kommunikation, Vertiefung 13./14. Juni 2016, 8.45–16.45 Uhr K-MED-100Arbeitsplatzkonflikte 16./17. Juni 2016, 8.45–16.45 Uhr K-MED-161Lösungsfokussiertes Arbeiten in der Mediation 22./23. Juni 2016, 8.45–16.45 Uhr K-MED-145Umgang mit Macht und Hierarchie 22./23. August 2016, 8.45–16.45 Uhr K-MED-84Resilienz – Widerstandsfähigkeit im Arbeitsalltag 23. August 2016, 8.45–16.45 Uhr K-MED-160Scheidungs- und Trennungsmediation – Vertiefung 6./7./8. September 2016, 8.45–16.45 Uhr K-MED-122Elder Mediation: Mediation mit älteren Paaren 12./13. September 2016, 8.45–16.45 Uhr K-MED-159Mediation in Organisationen 12./13./14. September 2016, 8.45–16.45 Uhr K-MED-9Den Widerstand einladen – Widerstand als Ressource in der Mediation 19./20. September 2016, 8.45–16.45 Uhr K-MED-162Mediation und systemische Organisationsentwicklung 17./18. Oktober 2016, 8.45–16.45 Uhr K-MED-157Allparteiliches Konflikt-Coaching 1./2. November 2016, 8.45–16.45 Uhr K-MED-98Moderation von Grossgruppen 8./9. November 2016, 8.45–16.45 Uhr K-MED-158

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Soziale Intervention

Angebot Datum Web­Code

Eltern-Jugendlichen-Mediation 14./15. November 2016, 8.45–16.45 Uhr K-MED-57Kurzzeit-Mediation 15./16./17. November 2016, 8.45–16.45 Uhr K-MED-80Erfolgreich und effizient Verhandeln 21./22./23. November 2016, 8.45–16.45 Uhr K-MED-24Einbezug von Kindern in die Mediation 7./8. Dezember 2016, 8.45–16.45 Uhr K-MED-131Weitere Kurse für ausgebildete Mediatorinnen und Mediatoren: mediation.bfh.ch

Kurse im methodischen HandelnEinführung ins wissenschaftliche Arbeiten 14./21. Juni 2016, 8.30–16.30 Uhr

14./21. Oktober 2016, 8.30–16.30 Uhr K-MET-15Fachkurs Praxisausbildung Juli bis Dezember 2016 K-SPE-6Selbst- und Ressourcenmanagement 5./6. April u. 19./20. Juni 2017, 8.45–17.15 Uhr K-MET-17

Kurse zum Thema Kinder­ und JugendarbeitVerantwortung für die offene Kinder- und Jugendarbeit in der Gemeinde. Was heisst das? 9. und 25. Mai 2016, 17.00–20.15 Uhr K-SOZ-23Zu weit weg – zu nah – Prävention von sexuellen Übergriffen [neu] 6. Juni 2016, 9.00–16.45 Uhr K-SSA-8

Certificate of Advanced Studies (CAS)CAS Ausbildung in Mediation I – Grundlagen Einstieg mit dem Fachkurs Mediation C-MED-6CAS Ausbildung in Mediation II – Vertiefung Einstieg mit dem Fachkurs Mediation C-MED-1CAS Mediative Konfliktintervention Einstieg mit dem Fachkurs Mediation C-MET-5CAS Konfliktmanagement Einstieg mit dem Fachkurs Konfliktmanagement C-SOZ-8CAS Systemische Beratung in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit Einstieg z.B. mit dem Fachkurs

Systemisches Gesundheitscoaching C-BER-2CAS Praxisausbildung Einstieg mit dem Fachkurs Praxisausbildung C-SPE-2CAS Case Management August 2016 bis Februar 2017 C-CM-1CAS Systemische Beratung mit Familien, Paaren und Gruppen August 2016 bis Juni 2017 C-BER-1 CAS Klärungshilfe in Konflikten September 2016 bis Juni 2017 C-MED-10CAS Systemische Beratung – Grundhaltungen, Prämissen und Methoden September 2016 bis Juli 2017 C-MET-3CAS Case Management (in Kooperation mit der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit) Oktober 2016 bis Oktober 2017 C-CM-4CAS Mandatsführung im Kindes- und Erwachsenenschutz (in Kooperation mit der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit) Januar bis November 2017 C-KES-1CAS Kindesschutz (in Kooperation mit der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit) Juni 2017 bis Juni 2018 C-KIS-1CAS Täterarbeit – Grundlagen Neue Daten folgen C-OHT-1

Diploma of Advanced Studies (DAS)DAS Case Management Einstieg jederzeit möglich D-CM-1DAS Mediation Einstieg jederzeit möglich D-MED-1

Master of Advanced Studies (MAS)MAS Mediation Einstieg jederzeit möglich M-MED-1MAS Systemische Beratung in der Sozialen Arbeit Einstieg jederzeit möglich M-BER-1

InfoveranstaltungenInfoveranstaltung Weiterbildung Case Management 3. Mai 2016, 17.30–19.00 Uhr IW-CM-3Infoveranstaltung CAS Klärungshilfe in Konflikten 10. Mai 2016, 18.00–19.00 Uhr IW-MED-24Infoveranstaltung Weiterbildung Case Management 21. Juni 2016, 17.30–19.00 Uhr IW-CM-4Infoveranstaltung Ausbildung in Mediation und Konfliktmanagement 22. August 2016, 18.00–20.00 Uhr IW-MED-18Infoveranstaltung Weiterbildung Systemische Beratung 3. Mai 2016, 17.30–19.00 Uhr IW-BER-2Infoveranstaltung Weiterbildung Systemische Beratung 21. September 2016, 17.30–19.00 Uhr IW-BER-3

soziale­arbeit.bfh.ch

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BFH impuls 2/ 2016

Soziale Organisation

Im Rahmen der Nationalfondsstudie «Kooperations-formen und Nutzungsstrukturen in der Schulsozialar-beit» untersuchen die Pädagogische Hochschule Bern und die BFH die Zusammenarbeit zwischen Schulso-zialarbeitenden, Schulleitungen, Lehrpersonen und schulexternen Fachstellen in allen deutschsprachigen Schulen der Schweiz mit Schulsozialarbeit. Das primäre Ziel ist es, Erfolgsfaktoren für eine gelingende Zusam-menarbeit zwischen schulischen und schulexternen Personen und Institutionen aufzuzeigen. Des Weiteren werden die Auswirkungen erfolgreicher Zusammenar-beitsformen auf die Nutzerinnen und Nutzer der Schul-sozialarbeit (Lehrkräfte, Schulleitende, Kinder und Ju-gendliche) identifiziert.

Damit stellt das Projekt den beteiligten Berufsgrup-pen Orientierungswissen bereit, auf dessen Basis sie ihr Handeln abstützen, reflektieren und entwickeln kön-nen. Die Studie ist wichtig, weil sie erstmals die empi-rische Grundlage für eine Gesamtsicht zum Stand der Schulsozialarbeit im deutschsprachigen Raum der Schweiz bereitstellt.

Das Projekt ist breit verankert und wird von Fachex-perten aus verschiedenen Institutionen und Verbänden (Schulsozialarbeitsverband SSAV, Dachverband Lehre-rinnen und Lehrer Schweiz LCH und Verband Schullei-terinnen und Schulleiter Schweiz VSLCH) begleitet und unterstützt. Ab April 2016 können auch Schulleitun-gen, Lehrpersonen und Schulsozialarbeitende durch ihre Teilnahme direkt zum Erfolg dieser Forschung bei-tragen (vgl. Kasten, Seite 36).

Neue Formen interprofessioneller ZusammenarbeitVor dem Hintergrund neuer Herausforderungen für

die Schulen und der zunehmenden Etablierung schul-

Kooperationsformen und Nutzungsstrukturen in der Schulsozialarbeit

Wie arbeiten schulinterne und schul-externe Akteurinnen und Akteure mit der Schulsozialarbeit zusammen? Dieser Frage widmet sich ein vom Nationalfonds unter-stütztes Forschungsprojekt. Es will damit erstmals eine Gesamtschau zur Schulsozi-alarbeit in der Deutschschweiz vermitteln.

Roger Pfiffner Wissenschaftlicher Mitarbeiter [email protected]

Prof. Dr. Ueli HostettlerLeiter Bereich Forschung und Entwicklung PH BernInstitut für Weiterbildung und Medienbildung [email protected]

ergänzender Angebote stellen sich im schulischen All-tag neue Anforderungen an die Arbeitsteilung und Ko-operation verschiedener Berufsgruppen. Die kantona-len Schulgesetzgebungen haben in den vergangenen Jahren die Integration der Kinder und Jugendlichen mit besonderen Bedürfnissen in die Regelklassen vorange-trieben und in den Schulhäusern haben sich eine Reihe von spezialisierten Unterstützungsangeboten etabliert (z.B. Logopädie, Heilpädagogik, Psychomotorik).

Daneben sind seit Ende der 1990er-Jahren die Ange-bote der Schulsozialarbeit zahlenmässig stark angestie-gen (Baier, 2008); im Kanton Bern scheint sich die Verbreitung der Schulsozialarbeit seit 2004 sogar noch zu beschleunigen (Pfiffner, Hofer & Iseli, 2013). Eine Folge davon ist, dass an den Schulen verschiedene Be-rufsgruppen mit identischer Zielgruppe arbeiten, die mit der Verbesserung der Entwicklungsbedingungen von Kindern und Jugendlichen dieselbe übergeordnete Zielsetzung verfolgen (Olk, 2005). Darüber hinaus hat die Schulsozialarbeit häufig einen Auftrag in der Triage und Vermittlung von Ressourcen, wofür sie mit schul-externen Einrichtungen der Jugendhilfe zusammenar-beitet. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Ausgestaltung der Kooperationsformen zwi-schen verschiedenen Akteuren in- und ausserhalb der Schulen. Hier setzt das seit Mitte 2015 laufende For-schungsprojekt an.

Was bedeutet «kooperieren»?Das der Studie zugrundeliegende Verständnis von

Kooperation basiert auf dem «Modell für interdiszipli-näre Kollaboration» und verweist auf einen «effektiven zwischenmenschlichen Prozess, der das Erreichen von Zielen erlaubt, die von individuellen Angehörigen einer

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BFH impuls 2 / 2016

Soziale Organisation

Profession allein nicht erreicht werden können» (Bron-stein, 2003, S. 299; Übersetzung der Autoren). Das Mo-dell beinhaltet fünf zusammenhängende Komponenten einer erfolgreichen interprofessionellen Zusammenar-beit:

– wechselseitige Abhängigkeit und Unterstützung (Interdependenz)

– gemeinsame Aktivitäten – Aufgeschlossenheit und Verständnis für Angehöri-ge anderer Berufsgruppen (Flexibilität)

– geteilte Zielvorstellungen – gemeinsame Überprüfung des Arbeitsprozesses

Eine echte interprofessionelle Zusammenarbeit er-fordert von den Beteiligten, dass sie sich gegenseitig unterstützen und vertrauen, gemeinsam die Entwick-lung von Kindern und Jugendlichen fördern sowie sich über gemeinsame Ziele und effektive Arbeitsprozesse verständigen.

Einflüsse auf Kooperationsformen und Folgen für Zielgruppen

In der Praxis erweist sich eine enge Zusammenarbeit als anspruchsvoll, weil zuerst institutionelle und orga-nisatorische Probleme überwunden werden müssen (Meyers, 1993). Schulkultur und die beteiligten Perso-nen tragen ebenfalls zum Erfolg oder Misserfolg einer Zusammenarbeit bei. Welche Einflussfaktoren in der Studie untersucht werden, ist in der Abbildung auf Seite 36 in vereinfachter Weise dargestellt.

Ein Grossteil der umfangreichen Forschungslitera-tur zu Kooperationen im Bildungs-, Sozial- und Gesund-heitsbereich geht davon aus, dass sich Anstrengungen zur Zusammenarbeit lohnen und einen Nutzen für die Zielgruppen bringen (z.B. Bronstein, 2003). Im For-schungsprojekt wird diese Annahme überprüft, indem unter anderem untersucht wird, ob und inwiefern sich die Art der Zusammenarbeit auf die Früherkennung von sozialen Problemen bei Schülerinnen und Schülern, auf

Verschiedene Berufsgruppen kümmern sich um Kinder und Jugendliche in der Schule.

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BFH impuls 2/ 2016

Soziale Organisation

die Selbstwirksamkeitserfahrung von Lehrkräften im Umgang mit schwierigen Kindern und Jugendlichen, sowie auf die Form der Leistungserbringung durch die Schulsozialarbeit auswirken.

VorgehensweiseGegenstand der Untersuchung sind die Kooperati-

onsformen sowie die Nutzungsstrukturen in der Schul-

Mitwirkung erwünscht

Das vom Schweizerischen Nationalfonds finan-zierte Forschungsprojekt «Kooperationsformen und Nutzungsstrukturen in der Schulsozialarbeit» ver-mittelt eine Gesamtsicht zum Stand der Schulsozi-alarbeit im deutschsprachigen Raum der Schweiz. Beabsichtigt ist die Befragung von mehreren hun-dert Schulleitungen, Lehrerkollegien und Schul-sozialarbeitenden mittels Fragebögen (schriftlich und online).

Schulleitungen und Schulsozialarbeitende werden vom Projektteam ab Frühjahr 2016 telefonisch kontaktiert und zur Teilnahme an der Studie einge-laden. Mit ihrer Teilnahme tragen Schulleitungen, Lehrpersonen und Schulsozialarbeitende direkt zur Generierung von Orientierungswissen für die Pra-xis bei.

Das Projektteam freut sich auf eine grosse Mit-wirkungsbereitschaft von Schulen und Schulsozial-arbeitenden und bemüht sich, den zeitlichen Aufwand für eine Teilnahme an der Studie gering zu halten. Personen, die an der Studie mitwirken möchten, werden gebeten, sich bei den Projekt-mitarbeiterinnen Simone Ambord oder Monique Brunner zu melden.

[email protected]@phbern.ch

Einflussfaktoren auf die Kooperationen und Folgen für die Nutzerinnen und Nutzer

Umweltfaktoren(Ausserschulischer Kontext)

Nutzerinnen und Nutzer der Schulsozialarbeit

Kooperation von Schule und Jugendhilfe

Schule Jugendhilfe

Organisation Schule, Schulsozialarbeit und Jugendhilfe

Individuelle Merkmale der Akteurinnen und Akteure

Nutzung der Schulsozialarbeit

sozialarbeit. Für die Datenerhebung zu diesen zwei Themenbereichen werden unterschiedliche Erhe-bungsinstrumente eingesetzt. Die Kooperationsformen werden bei den Schulsozialarbeitenden, Schulleiten-den und Lehrpersonen mittels Fragebogen erhoben.

Für die Analyse der Nutzungsstrukturen (d.h. Merk-male der Nutzerinnen und Nutzer der Schulsozialarbeit, beteiligte Personen und Institutionen) stützt sich die Studie auf eine zusätzliche Fallerfassung durch die Schulsozialarbeit. Ergänzt wird die Erhebung mit Se-kundärdaten zu den Gemeinden und Schulen. ▪Weitere Informationen zum Forschungsprojekt «Kooperations-formen und Nutzungsstrukturen in der Schulsozialarbeit» finden Sie auf der Projektwebsite der PH Bern (www.phbern.ch/schulsozialarbeit) und in der Projektdatenbank des Schweizerischen Nationalfonds SNF (http://p3.snf.ch/project-156642).

Literatur: – Baier, Florian. (2008). Schulsozialarbeit. In Florian Baier & Stefan Schnurr (Hrsg.), Schulische und schulnahe Dienste. Bern: Haupt.

– Bronstein, Laura R. (2003). A model for interdisciplinary colla-boration. Social Work, 48 (3), 297–306.

– Meyers, Marcia K. (1993). Organizational factors in the integ-ration of services for children. Social Service Review, 67 (4), 547–575.

– Olk, Thomas. (2005). Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule. In Sachverständigenkommission Zwölfter Kinder- und Jugendbericht (Hrsg.), Band 4: Kooperationen zwischen Jugend-hilfe und Schule. München: Verlag Deutsches Jugendinstitut, 9–100.

– Pfiffner, Roger, Hofer, Katrin & Iseli, Daniel. (2013). Schul-sozialarbeit im Kanton Bern. Monitoring 2012. Bern: Berner Fachhochschule, Fachbereich Soziale Arbeit.

Das Projekt Kooperationsformen und Nutzungsstrukturen in der Schulsozialarbeit wird im Rahmen des BFH­Zentrums Soziale Sicherheit durchgeführt.

bfh.ch/socialsecurity

Schulsozialarbeit

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Soziale Organisation

AktuellesDienstleistung

Qualitäts­ und Leistungscheck: Handlungs­empfehlungen für SozialdiensteDie BFH hat im Auftrag des Kantonalen Sozialamts der Gesundheits- und Fürsorgedirektion in vielen berni-schen Sozialdiensten den Qualitäts- und Leistungs-check (QLS) durchgeführt. Basierend auf den Ergebnis-sen hat die BFH elf Handlungsempfehlungen zur Ver - besserung der Kosteneffizienz, des Aufwand-/Ertrags-verhältnisses und der organisatorischen Prozesse von Sozialdiensten zusammengestellt:

1. Volle Auslastung Stellenprozente Sozialarbeit2. Erhöhung des Zeitanteils für klientenbezogene Arbeit3. Fördern von kollegialen Fallbesprechungen4. Verstärkte Kontrolle im Aufnahmeverfahren5. Abklärung Problemsituation in den ersten drei Monaten6. Analyse und Vergleich situationsbedingter Leistungen (SIL)7. Konsequente Geltendmachung von übrigen Rück erstattungen8. Analyse der Prämien für die obligatorische Krankenversicherung9. Analyse des Grundbedarfs10. Analyse der teuersten Sozialhilfe-Fälle11. Unterstützung durch Sozialbehörde

Die Handlungsempfehlungen sind detailliert beschrie-ben abrufbar auf der Website des Kantonalen Sozial-amts. www.gef.be.ch > Soziales > Publikationen Sozialhilfe

CAS Change Management: Veränderungen in Organisationen professionell planen und begleitenOrganisationen verändern sich permanent. Phasen von Stabilität sind selten, Wandel ist der Normalfall. Oft werden Entwicklungsprozesse in sorgfältig geplanten Schritten auf den Weg gebracht und umgesetzt. Manch-mal aber scheinen die Dinge plötzlich und ungewollt eine neue Richtung zu nehmen, sei es aufgrund von äu-sseren Anforderungen oder von interner Dynamik. Wie Führungskräfte und Mitarbeitende Veränderungen pla-nen und begleiten ist Gegenstand von Change Manage-ment. Der CAS-Studiengang vermittelt dazu theoreti-sche Modelle und praktische Instrumente. Nahe an der konkreten Praxis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer geht es darum, mit der begrenzten Steuerbarkeit von Organisationen und Prozessen umgehen zu können und dadurch an Sicherheit und Klarheit zu gewinnen. Der CAS Change Management ist ein Pflichtmodul des MAS Integratives Management.

Weitere Informationen und Anmeldung:soziale-arbeit.bfh.ch, Web-Code: C-SOZ-7

Weiterbildung

Prävention von sexuellen Übergriffen – neuer Kurs im AngebotAusgelöst durch schwere Missbrauchsfälle in sozialen Einrichtungen hat die BFH zusammen mit der Pädago-gischen Hochschule Bern vor zwei Jahren eine gut be-suchte Impulsveranstaltung durchgeführt. Es war stets die Absicht, ein vertiefendes Angebot für Fachpersonen aus Schulsozialarbeit und Jugendarbeit, Schulen und weiteren Einrichtungen anzubieten. Wirksame Präven-tion und Früherkennung setzen voraus, dass sich Lei-tungs- und Fachpersonen systematisch und hartnäckig mit dieser Problematik befassen. Nun kann die BFH ei-nen Kurs anbieten, an dem sich die Teilnehmenden an einem Tag das nötige Wissen holen können, vermittelt durch kompetente und erfahrene Kursleitende. Der Kurs kann auch für betriebsinterne Weiterbildungen ange-fordert werden.

Weitere Informationen und Anmeldung:Zu weit weg – zu nah – Prävention von sexuellen Übergriffen (1 Tag) 6. Juni 2016soziale-arbeit.bfh.ch, Web-Code: K-SSA-8

Weiterbildung

Ausbau des Angebots im Bereich Schulsozialar­beit und JugendarbeitIm Austausch mit Berufsverbänden und Fachpersonen aus der Praxis entwickelt die BFH ihr Kursangebot wei-ter und kann 2016 drei weitere Kurse zum ersten Mal anbieten:

– Mut zu Elternarbeit und Elternbildung (1 Tag) 3. Juni 2016 soziale-arbeit.bfh.ch, Web-Code: K-SSA-9

– Mut zur Arbeit mit Gruppen und Klassen (1 Tag) 27. Juni 2016 soziale-arbeit.bfh.ch, Web-Code: K-SSA-10

– Umgang mit Konflikten, Ausgrenzung und Gewalt in Schulen (2 Tage) 7./8. September 2016 soziale-arbeit.bfh.ch, Web-Code: K-SSA-11

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WeiterbildungAngebot Datum Web­Code

Kurse zum Thema strategisches und operatives Management sowie FührungVerantwortung für die offene Kinder- und Jugendarbeit in der Gemeinde. Was heisst das? 9. und 25. Mai 2016, 17.00–20.15 Uhr K-SOZ-23Fachkurs Führung von Sozialarbeitenden 29./30. August und 17./18. Oktober 2016

plus Coaching K-MAN-4Fachkurs Konfliktmanagement November 2016 bis Juni 2017 K-MED-55

Kurse zum Thema SchulsozialarbeitBeziehungen – Liebe – Sexualität 2. Mai 2016, 9.00–16.45 Uhr K-SSA-3Mut zu Elternarbeit und Elternbildung [neu] 3. Juni 2016, 9.00-16.45 Uhr K-SSA-9Zu weit weg – zu nah – Prävention von sexuellen Übergriffen [neu] 6. Juni 2016, 9.00–16.45 Uhr K-SSA-8Mut zur Arbeit mit Gruppen und Klassen [neu] 27. Juni 2016, 9.00–16.45 Uhr K-SSA-10Schulsozialarbeit: Profil und methodische Vielfalt gewinnen 4 Tage, August bis November 2016,

9.00–16.45 Uhr K-SPE-16Kindeswohlgefährdung erkennen und angemessen handeln 24./25. August 2016, 9.00–16.45 Uhr K-EKS-9Umgang mit Konflikten, Ausgrenzung und Gewalt in Schulen [neu] 7./8. September 2016, 9.00–16.45 Uhr K-SSA-11Neue Medien in der Schulsozialarbeit und Jugendarbeit 19. September 2016, 9.00–16.45 Uhr K-SSA-5

Certificate of Advanced Studies (CAS)CAS Führungskompetenzen August 2016 bis Juni 2017 C-SOZ-3CAS Change Management September 2016 bis März 2017 C-SOZ-7CAS Konfliktmanagement Einstieg mit dem Fachkurs Konflikt management C-SOZ-8

Master of Advanced Studies (MAS)MAS Integratives Management Einstieg mit jedem CAS-Studiengang möglich M-MAN-1

InfoveranstaltungenInfoveranstaltung MAS Integratives Management, CAS Change Management, CAS Führungskompetenzen 17. Mai 2016, 17.15–18.30 Uhr IW-MAN-8

soziale­arbeit.bfh.ch

Soziale Organisation

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Soziale Sicherheit

Besucherin, Klagender oder Kunde? In der Sozialhilfe ist ein Klient nicht einfach Klient. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sind gefordert, dieser Tatsache in ihrem Handeln gerecht zu werden. In seinem Referat an der Tagung «Rechte und Pflichten der Klientel in der Sozial-hilfe: eine Chance für die Sozialarbeit» der Berner Konfe-renz für Sozialhilfe, Kindes- und Erwachsenenschutz (BKSE) von Ende November 2015 zeigt Autor Simon Steger anschaulich, wie dies gelingen kann.

Sozialhilfemassgeschneidert

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen

Drei Bürger in einer finanziellen Notlage ziehen in Richtung Ihres Sozialdienstes. Dort finden sie eine Fach-person, die sich um sie kümmert: Sie.

Nachdem Sie den Anspruch der drei Bürger auf finan-zielle Unterstützung in Eile, aber mit grosser Sorgfalt festgestellt haben, überreichen Sie den Bürgern ein Pa-pier: Darauf stehen Dinge, welche die Bürger tun oder erwarten dürfen und Dinge, die sie tun sollen. Es trägt den Titel «Orientierung über Rechte und Pflichten».

Die drei Bürger lesen darin etwa, dass sie das Recht haben, jene Hilfe zu erhalten, die ihnen ermöglicht, ihre Situation selbständig zu verbessern oder dass Sie als Fachperson auf ihre persönliche Situation eingehen und die Hilfe danach ausrichten. Sie lesen aber auch, dass sie die Pflicht haben alles Zumutbare zu unternehmen, um ihre Notlage aus eigenen Kräften zu beheben oder den Weisungen des Sozialdienstes zu folgen, indem sie ein verlangtes Verhalten zeigen.

Als die Bürger den Sozialdienst einzeln für ein Erst-gespräch aufsuchen, stellen Sie fest, dass sich die drei trotz gleicher Rechte und gleicher Pflichten unterschei-den:

– Der erste Bürger ist ein Besucher: Der Grund, wes-halb der Besucher im Wartezimmer sitzt, ist, weil er Geld erhalten will und Sie ihn zum Gespräch gebeten haben. Er scheint keine Probleme zu haben, kein An-liegen, etwas zu verändern, kein Ziel. Da der Bürger kein Problem hat, das gelöst werden soll, kann auch keine Beratung stattfinden. Es wäre ein Fehler, wenn Sie beginnen würden, Hilfe zu leisten, auch wenn of-fensichtlich ist, dass Probleme vorhanden sind.

– Der zweite Bürger ist ein Klagender: Der Klagende hat eine «Beschwerde», ein konkretes Problem. Er sieht sich in der Opferrolle, aus der heraus er nicht handeln kann. Er macht keine konkreten Schritte,

um etwas zu verändern. Er erwartet, dass Sie ihm in der Beratung eine Lösung bieten. Jede Beschwerde ist ein Zeichen für Sie, dass Sie mit der Hilfe begin-nen können. Allerdings sollten Sie sich zurückhal-ten, ihm Ratschläge zu erteilen.

– Der dritte Bürger ist ein Kunde: Der Kunde gibt zu er-kennen, dass er etwas gegen seine Problemsituation unternehmen will; er kennt sein Ziel und hat Ideen, was er konkret tun könnte, um dieses Ziel zu errei-chen (De Shazer, 2010, S. 104ff.).Je nachdem, in welcher Beratungsbeziehung Sie sich

befinden, werden Sie die persönliche Sozialhilfe mass-schneidern müssen.

Beratung im Pflichtkontext – geht das überhaupt?Der Pflichtkontext ist nicht entscheidend, ob eine

Beratung stattfinden kann oder nicht, denn «‹Freiwillig-keit› ist in der psychosozialen Arbeit nicht als aus-schliessliche Voraussetzung von Beratung zu verstehen im Sinne, dass sich jemand eigenmotiviert, ohne Push- und Pull-Faktoren beraten lässt» (Grossmass, 2011, S. 190). Die Bürger müssen die Beratung demnach nicht eigenständig aufsuchen; der Anstoss dazu kann auch ihre finanzielle Notlage sein.

Wenn wir jedoch einen wirklichen Beratungsprozess anstreben, in welchem die Bürger selber bestimmen und Verantwortung für sich übernehmen können, in ihren eigenen Beobachtungen irritiert werden, sie sich emoti-onal berührt fühlen und neu orientieren können, dann müssen wir gemäss Grossmass folgende Voraussetzun-gen schaffen:

– eine von anderen Aufgaben getrennte, geschützte Gesprächssituation

– vertrauliche Behandlung der mitgeteilten Inhalte (explizit oder situativ)

– Ergebnisoffenheit des Gesprächs (keine oder vorü-bergehend ausser Kraft gesetzte Sanktionen) (Gross-mass, 2011, S. 191ff.).

Simon Steger Wissenschaftlicher Mitarbeiter [email protected]

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Soziale Sicherheit

So können Sie mit dem Besucher arbeiten – Lassen Sie sich von ihm «besuchen», bleiben Sie so freundlich wie möglich, stehen Sie auf seiner Seite und halten Sie Ausschau nach dem, was funktio-niert. Machen Sie ihm am Ende des Gesprächs einige Komplimente, stellen ihm aber keine Aufgabe und laden Sie ihn wieder zu einem baldigen Gespräch ein. Warten Sie darauf, dass er eine brauchbare «Be-schwerde» vorbringt (De Shazer, 2010, S. 104ff.).

– Akzeptieren Sie, dass der Besucher nur deshalb zum Gespräch auf dem Sozialdienst erscheint, weil er Sanktionen zu befürchten hätte, wenn er dem Termin fernbleiben würde. Formulieren Sie dies als Auftrag, ihn dabei zu unterstützen, mit den Anfor-derungen der Sozialhilfe in einer Weise umzugehen, die ihn – unter Wahrung der eigenen Würde und Vorstellungen – zufrieden stellt (vgl. Schmidt, 2005; zitiert nach Gregusch, 2013, S. 314).

– Verstehen Sie den Hilfeprozess als Auftragsdreieck zwischen Bürger, Ihnen als Fachperson sowie der Sozialhilfe (gesellschaftliche Erwartungen, Rechte und Pflichten). Klären Sie Ihren Auftrag und Ihre Rolle, erläutern Sie seine Rechte und Pflichten und daraus folgende Konsequenzen für den Hilfepro-zess, kommunizieren Sie dabei klar und wertschät-zend (vgl. Conen, 2011, S. 93ff.; Eser Davolio, Guhl & Rotzetter, 2013, S. 72ff.; Kähler & Zobrist, 2013, S. 67ff.).

– Sie können nur mit dem Besucher arbeiten, wenn er sie auch tatsächlich besucht, d.h. seine Termine wahrnimmt (vgl. Kanfer, Reinecker & Schmelzer, 2012, S. 480). Sozialhilferechtliche Weisungen kön-nen mit dem Zweck erteilt werden, den Kontakt her-zustellen oder aufrechtzuerhalten.

So können Sie mit dem Klagenden arbeiten – Wenn der Klagende aufgrund seiner Erfolgs- oder Hilflosigkeit Wünsche an Sie richtet, dass Sie seine Situation verändern sollen, versuchen Sie herauszu-finden, welcher konkrete Wille dahinter steckt (Hin-te & Treeß, 2007, S. 46; Raspel, 2014, S. 67ff.).

– Unterstützen Sie den Klagenden dabei, gedankliche Vorstellungen von einem zufriedenstellenden Leben in verschiedenen Bereichen (u.a. Arbeit und soziale Einbindung) zu entwickeln (vgl. Kanfer et al., 2012, S. 180ff.).

– Spielen Sie nicht den «Lieben Gott», indem Sie Ver-antwortung für das Tun (oder Nichtstun) des Kla-genden übernehmen (Kanfer et al., 2012, S. 479); auch wenn Ihnen der Dank gewiss ist, wenn Sie für ihn Dinge erledigen (Hinte & Treeß, 2007, S. 52).

– Würdigen Sie jeden Gestaltungsschritt des Klagen-den als souveräne, autonome Leistung unter schwie-rigen Bedingungen (vgl. Schmidt, 2005; zitiert nach Gregusch, 2013, S. 314). Thematisieren Sie Hinder-nisse, die die Willensfreiheit des Klagenden oder das Leben nach eigenen Werten beeinträchtigen (z.B. Frust, Gleichgültigkeit, Ohnmacht) in der Be-ratung und stärken sie die positive Willensfreiheit (eigene Wahl für das Leben treffen) wenn immer möglich (vgl. Leupold, 2008, S. 86).

So können Sie mit dem Kunden arbeiten – Klären Sie gemeinsam mit dem Kunden die Proble-me, wie sie von ihm definiert werden und lassen Sie ihn diese priorisieren (die drei wichtigsten aus Sicht des Kunden). Machen Sie dem Kunden allfällige da-von abweichende Prioritäten des Sozialdienstes be-kannt (Epstein Rosen & Brown, 2006, S. 21).

– Stellen Sie Fragen zur Möglichkeitskonstruktion, um den Kunden bei der Zielfindung zu unterstüt-zen. Dabei kann unterschieden werden zwischen lösungsorientierten Fragen (z.B. Was machen Sie gern, gut?), problemorientierten Fragen (z.B. Was müssen Sie tun, damit ihr Problem bleibt?) sowie einer Kombination dieser Fragetypen (z.B. Was wür-de besser, wenn das Problem gelöst wäre?). Zudem erweisen sich Vergangenheits- und Zukunftsfragen als nützlich: Welche Unterstützung hat sie bislang unabhängiger, welche noch abhängiger gemacht? (Von Schlippe & Schweitzer, 2007, S. 147; 252)

– Unterstützen Sie ihn im Durchdenken und Festlegen des zukünftigen Handelns, um den angestrebten Zu-stand zu erreichen. Verfolgen Sie dabei das Prinzip der kleinen Schritte (Kanfer et al., 2012, S. 480). The-matisieren Sie aber auch, welche Hürden dabei im Wege stehen könnten (vgl. Schwarzer, 2011, S. 601).

Drei Bürger in einer finanziellen Notlage ziehen in Richtung Ihres Sozialdienstes. Besucher, Kla gender oder Kunde? Wen haben Sie vor sich?

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Soziale Sicherheit

– Besprechen Sie mit dem Kunden periodisch die Umsetzung auf dem Weg zum Ziel, benennen Sie Erfolge, bieten Sie aber auch Hilfe im Umgang mit auftretenden Schwierigkeiten. Bedenken Sie, dass jeder Mensch unterschiedlich viel Zeit für seine Lö-sung braucht, die oft auf Umwegen und mit Abwehr erfolgt (Ritscher, 2005, S. 257).

Sechs Monate später… Sie stellen erfreut fest: Der Besucher ist zum Klagen-

den geworden, der Klagende zum Kunden. Und der Kun-de? Er hat sich von der Sozialhilfe abgelöst und ist von dannen gezogen.

Rechte und Pflichten sind eine Rahmenbedingung, mit der Sozialarbeitende in der Beratung umgehen müs-sen – und auch können. Aus methodischer Sicht dürfte es zentral sein, dass wir uns stets die Frage stellen: Wel-cher der drei Bürger sitzt eigentlich vor uns? ▪

Fachkurs Methodisches Handeln mit Risiko­gruppen

Wie arbeite ich als Praktikerin oder Praktiker im System der sozialen Sicherheit methodisch mit jungen Erwachsenen, Menschen mit psychischen Problemen, Kindern und Familien oder Personen mit Migrationshintergrund? Der Fachkurs fokussiert auf wirksame Handlungsstrategien im Umgang mit Risikogruppen im System der sozialen Sicherheit.

8 Kurstage, August bis November 2016

Weitere Informationen und Anmeldungsoziale-arbeit.bfh.ch Web-Code: K-SOZ-26

Literatur: – Conen, Marie-Luise. (2011). Wie kann ich Ihnen helfen, mich wieder loszuwerden? In Marie-Luise Conen & Gianfranco Cecchin (Hrsg.), Wie kann ich Ihnen helfen, mich wieder loszuwerden? – Therapie und Beratung mit unmotivierten Klienten und in Zwangskontexten (3. Aufl., S. 15–176). Heidelberg: Carl-Auer.

– De Shazer, Steve. (2010). Der Dreh. Überraschende Wendungen und Lösungen in der Kurzzeittherapie (11. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer.

– Epstein Rosen, Laura & Brown, Lester B. (2006). Aufgabenzen-trierte, zeitlich befristete Beratung in der Sozialarbeit. Luzern: Interact Verlag.

– Eser Davolio, Miryam, Guhl, Jutta & Rotzetter, Fabienne. (2013). Erschwerte Kooperation in der Sozialhilfe. Sozialarbeitende im Spannungsfeld von strukturellen Rahmenbedingungen und Professionalität. Basel: edition gesowip.

– Gregusch, Petra. (2013). Auf dem Weg zu einem Selbstverständ-nis von Beratung in der Sozialen Arbeit. Beratung als transpro-fessionelle und sozialarbeitsspezifische Methode (Socialnet Materialien. Reihe 2: Akademische Abschlussarbeiten). Bonn: Socialnet Verlag. Abgerufen von https://www.socialnet.de/materialien/154.php

– Grossmass, Ruth. (2011). Beratung in Zwangskontexten – geht das? In Albert Lenz (Hrsg.), Empowerment. Handbuch für die ressourcenorientierte Praxis (S. 183–202). Tübingen: DGVT.

– Hinte, Wolfgang & Treeß, Helga. (2007). Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe: theoretische Grundlagen, Handlungsprinzipi-en und Praxisbeispiele einer kooperativ-integrativen Pädagogik. Weinheim: Juventa.

– Kähler, Harro Dietrich & Zobrist, Patrick. (2013). Soziale Arbeit in Zwangskontexten: Wie unerwünschte Hilfe erfolgreich sein kann. München: Reinhardt.

– Kanfer, Frederick Howard, Reinecker, Hans & Schmelzer, Dieter. (2012). Selbstmanagement-Therapie. Ein Lehrbuch für die klini-sche Praxis (5. Aufl.). Berlin: Springer.

– Leupold, Michael. (2008). Strebensethik in der Klinischen Sozialarbeit – eine programmatische Anwendung der Philo-sophischen Lebenskunst. Würzburg: Universität Würzburg, Philosophische Fakultät II

– Raspel, Julia. (2014). Können Menschen wollen? Philosophische und neurologische Grundlagen für die Debatte in der Sozialen Arbeit. In Roland Fürst & Wolfgang Hinte (Hrsg.), Sozialraumori-entierung. Ein Studienbuch zu fachlichen, institutionellen und finanziellen Aspekten (S. 67–84). Wien: Facultas.

– Ritscher, Wolf. (2005). Systemische Modelle für die Soziale Arbeit (2. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer.

– Schwarzer, Ralf. (2011). Health Behavior Change. In Howard S. Friedman (Hrsg.), The Oxford Handbook of Health Psychology (S. 591–611). Oxford: University Press.

– Von Schlippe, Arist & Schweitzer, Jochen. (2007). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung (10. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Drei Bürger in einer finanziellen Notlage ziehen in Richtung Ihres Sozialdienstes. Besucher, Kla gender oder Kunde? Wen haben Sie vor sich?

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Soziale Sicherheit

Wie sind Kinder in der Sozialhilfe in verschiedenen Lebensbereichen versorgt? Und wie erleben sie selber ihre Situation? Nehmen sie in gewissen Bereichen Ein-schränkungen wahr und falls ja, wie gehen sie damit um? Diese Fragen standen im Zentrum einer Studie, die vom Fachbereich Soziale Arbeit und der Hochschule der Künste durchgeführt wurde.

Um die Kindheitsperspektive adäquat zu erfassen, wurde mit einer Kombination der beiden Methoden «Cultural Probes» und «Photo Elicitation» gearbeitet (vgl. Glossar, Seite 44). Beide Ansätze verstehen Kinder als handelnde Subjekte, die sich aktiv mit ihrer Lebens-welt auseinandersetzen.

An der Studie nahmen zwölf Kinder im Alter von 10 Jahren teil, deren Eltern Sozialhilfe beziehen. Die Kinder wurden über den Sozialdienst rekrutiert. Fast alle Kinder haben einen Migrationshintergrund, weshalb die Ergeb-nisse auch vor diesem Hintergrund zu betrachten sind.

In Bezug auf den Migrationshintergrund spielen viele Aspekte eine Rolle, die bei Schweizer Kindern weniger zum Tragen kommen oder nicht in derselben Komplexi-tät vorhanden sind. Auch ist es schwierig, bestimmte Lebenssituationen eindeutig auf Armut zurückzuführen, da auch das Leben unter Migrationsbedingungen zu ver-schiedenen Formen von Ausgrenzung führen kann (vgl. Boos-Nünning, 2005, S. 166).Nichtsdestotrotz eröffnete gerade das spezifische Sample die Chance, unterschied-liche Familienkonstellationen unter vergleichbaren Kon-textbedingungen (Migrationshintergrund, Stadtteile, Schulen etc.) eingehend betrachten zu können.

Einblicke in Lebenswelt der KinderFür die Studie wurde mit dem an der Lebenswelt der

Kinder angepassten Spielraumkonzept gearbeitet (vgl. Chassé et al. 2010), das nicht nur die materielle Ausstat-tung (z.B. finanzielle Lage der Familie und Wohnversor-

gung), sondern vier weitere Dimensionen in den Blick nimmt, die für kindliche Lebenslagen von Bedeutung sind: den Kontakt- und Kooperationsspielraum (z.B. fa-miliäre Beziehungen und Kontakte zu Gleichaltrigen), den Lern- und Erfahrungsspielraum (z.B. Schule, aber auch Freizeitaktivitäten), den Regenerations- und Musse spielraum (z.B. Freizeitaktivitäten mit Freundin-nen und Freunden oder der Familie) sowie den Disposi-tions- und Entscheidungsspielraum (Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten, z.B. Mithilfe im Haus-halt oder bei der Betreuung von Geschwistern, aber auch Berufswünsche).

Aus dem Datenmaterial lassen sich in keinem der Bereiche bzw. der Spielräume prekäre Lebenslagen fest-stellen. Im materiellen Versorgungsbereich deuten allerdings die Wohnlage, die Wohnungsgrösse und Woh-nungsausstattung der Familien eher auf eine Unter ver-sorgung hin. Von den Kindern wurden verschiedentlich die begrenzten Platzverhältnisse und wenigen Rück-zugsmöglichkeiten thematisiert.

Kinder sind in der Schweiz überdurch-schnittlich oft von Armut betroffen. Ob Kinder Einschränkungen erleben und wie sie damit umgehen, dazu gab es bis anhin kaum gesicherte Erkenntnisse. In einem Forschungsprojekt der BFH hat ein interdis-ziplinäres Team visuelle und gestalterische Methoden mit Interviews kombiniert, um die Lebenslagen von armutsbetroffenen 10-jährigen Kindern zu untersuchen.

von Kindern in der Sozialhilfe Lebenssituationen

Sanna Frischknecht Wissenschaftliche Mitarbeiterin [email protected]

Pascale Zürcher Wissenschaftliche Mitarbeiterin [email protected]

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Soziale Sicherheit

Du teilst das Zimmer? // Ja und mein Bruder teilt das mit dem anderen Bruder. […] Und das hier ist eigentlich mein Pult und meine Schwester und mein Bruder teilen mein altes Pult.

Dass die Kinder in Siedlungen leben, die über relativ viele Grünflächen mit Spielmöglichkeiten im Freien ver-fügen, vermag die engen Platzverhältnisse in den Woh-nungen etwas zu entschärfen.

Enge Beziehungen

Wie auch andere Studien (z.B. Chassé, Zander & Rasch, 2010) deutlich machen, nutzen die befragten Kinder ihr Netzwerk als Unterstützung bei der Versor-gung. Die Kinder haben sehr enge Beziehungen zu ihren Eltern und Geschwistern. Dabei kann gemäss Boos-Nün-ning (2005, S. 174f.) eine starke familiale Bindung ins-besondere Kindern und Jugendlichen aus Migrationsfa-milien Stabilität, Schutz und Sicherheit bieten. Auf die Unterstützung von Grosseltern hingegen können die Familien in der BFH-Studie – anders als etwa bei den Kindern von Chassé et al. (2010) ohne Migrationsge-schichte – nur selten zählen. Wichtig sind aber auch Beziehungen ausserhalb der Familie.

Sie [die Nachbarin; d.V.] schaut immer zu uns und ist sehr nett, sie ist wie unser Grosi, weil die andere ist im Ausland [nennt das Land; d.V.] und darum sehe ich sie nicht so oft. Das ist schade.

Die Schule ist für die Altersgruppe ein zentraler Erfah-rungs- und Erlebensbereich, wo Freundschaftsbeziehun-gen zu Gleichaltrigen entstehen. In der Literatur wird häufig erwähnt, dass Kinder aus weniger privilegierten

Lebenssituationen Familien weniger in Peer-Gruppen integriert sind. Deut-lich wird dies etwa bei Kindergeburtstagen. Betroffene Kinder nehmen aufgrund der Reziprozität nicht an Kinder geburtstagen teil und veranstalten auch selbst keine solchen (Butterwegge, 2010, S. 37). Die von der BFH befragten Kinder hingegen feiern fast alle zusam-men mit Freundinnen und Freunden und nehmen ihrer-seits an Kindergeburtstagen teil. Neben Geschenken wird von den Kindern dabei gerade der soziale Aspekt – «et-was zusammen mit Freunden machen» – betont.

Ein Blick auf die Freundschaftsbeziehungen der Kin-der zeigt dabei auch, dass die Kinder häufig Kontakt zu Kindern pflegen, die ebenfalls einen Migrationshinter-grund haben. Dies wird durch die Wohnlage oder auch die Beziehungen der Eltern über Diaspora-Gemeinschaf-ten gefördert. In Anlehnung an Boos-Nünning (2005, 174) dürften hier insbesondere der gemeinsame soziale und zum Teil auch kulturelle Hintergrund sowie geteilte Erfahrungen (durch die Migration) in den Familien als Schutzfaktor wirken.

Schulische FörderungAuffällig ist ausserdem, dass die befragten Kinder im

schulischen Bereich stark gefördert und unterstützt wer-den. Die Kinder profitieren entweder von der Unterstüt-zung der Eltern (viele Eltern haben höhere Ausbildun-gen, von denen die wenigsten in der Schweiz anerkannt sind), älterer Geschwister oder nehmen professionelle Unterstützungsangebote in Anspruch.

Also sie [die Mutter; d.V.] hat Lehrerin studiert, aber nicht in der Schweiz, sie kennt nur den Stoff von … [Kind nennt das Herkunftsland der Mutter; d.V.], aber sie hilft mir schon immer, wenn ich etwas nicht weiss, dann wende ich mich an sie.

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Glossar

Cultural Probes Eine partizipative Datenerhebungsmethode, ver-bunden mit einem Set an Kreativaufgaben.

Photo Elicitation Interviews, die auf Fotos und weiteren Aufgaben basieren, die die Kinder im Rahmen der Cultural Probes gemacht haben.

Soziale Sicherheit

Sehr aktiv sind die Kinder auch im ausserschulischen Freizeitbereich; sie nutzen meist mehrere musische und sportliche Angebote. Viele dieser Angebote werden von der Schule vermittelt.

Auf einer Postkarte hielten die Kinder ihre Berufs-wünsche fest. Hoch im Kurs sind bei den Jungen Berufe wie beispielsweise Arzt, Architekt, Ingenieur, Wissen-schaftler. Bei den Mädchen reicht das Spektrum von Spitaldirektorin bis zur Tierpflegerin. Nicht selten sind es nicht verwirklichte Traumberufe der Eltern, in denen sich die 10-Jährigen später sehen. Ein Junge möchte viel Geld verdienen, um es den Eltern zurückgeben zu kön-nen, wie er im Interview erklärt.

Ich würde gerne Fussballer werden oder Arzt. // Warum? // Damit ich viel Geld verdiene und et-was meinen Eltern geben kann.

Chancen für Kinder aus weniger privilegierten Familien

Die Studie zeigt, dass vier Aspekte, unabhängig vom Migrationskontext, Kindern aus weniger privilegierten Familien Chancen eröffnen können:

– emotional und finanziell unterstützende soziale Netzwerke; stabile, unterstützende Familienverhält-nisse und Eltern-Kinder-Beziehungen sowie Freund-schaftsbeziehungen

– schulische Förderung und begleitete oder betreute Freizeitangebote (durch Eltern, Tagesschulen, Auf-gabenhilfe, Vereine)

– vielfältige und kostengünstige bzw. unentgeltliche ausserschulische Aktivitäten und Freizeitangebote, familienunterstützende Massnahmen

– sowie ein kinderfreundliches Wohnumfeld (Aussen-räume) mit Spielmöglichkeiten als Entlastung bei engen Wohnverhältnissen.

Dabei sind die Lebenslagen und die Ausgestaltung der Spielräume immer im Kontext der familiären Situa-tion zu sehen (Chassé, Zander & Rasch, 2010, S. 211). Ein wesentlicher Faktor, ob Kinder Einschränkungen erleben und wahrnehmen oder nicht, ist dabei der elter-liche Umgang mit der Situation – ob es den Eltern also trotz der oft mehrfachen Belastung gelingt, ihrerseits Handlungsmöglichkeiten wahrzunehmen und Defizite in den Lebenslagen auszugleichen. ▪Literatur:

– Boos-Nünning, Ursula. (2005). Kinder und Jugendliche mit Migra-tionshintergrund: Armut und soziale Deprivation. In Margherita Zahnder (Hrsg.), Kinderarmut. Einführendes Handbuch für For-schung und soziale Praxis (S. 161–180). Wiesbaden: VS Verlag.

– Butterwegge, Carolin. (2010). Armut von Kindern mit Migrati-onshintergrund. Ausmass, Erscheinungsformen und Ursachen. Wiesbaden: VS Verlag.

– Chassé, Karl August, Zander, Margherita & Rasch, Konstanze. (2010). Meine Familie ist arm. Wie Kinder im Grundschulalter Armut erleben und bewältigen. Wiesbaden: VS Verlag.

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Soziale Sicherheit

Das von der BFH in Zusammenarbeit mit der Bera-tungsfirma socialdesign und fünf Programmanbietern im Kanton Bern durchgeführte Forschungsprojekt ver-folgt ein ambitioniertes Ziel: Die Wirksamkeit von Inte-grationsprogrammen soll systematisch untersucht wer-den. Dazu werden Teilnehmende der Programme zu drei Zeitpunkten befragt. Die erste standardisierte Befragung findet zum Zeitpunkt des Programmeintritts statt, die zweite rund sechs Monate später zum Zeitpunkt des Pro-grammaustritts und die dritte ein Jahr nach dem Pro-grammaustritt.

Der Untersuchung zugrunde liegt ein von der BFH erarbeitetes Wirkungsmodell (Neuenschwander, Frit-schi & Jörg, 2015). Darin werden alle möglichen Fakto-ren abgebildet, die einen Einfluss auf die intendierten Wirkungen haben. Auf dessen Grundlage werden die statistischen Datenauswertungen vorgenommen.

Erhebungsinstrument liefert zuverlässige Daten290 Teilnehmende haben bei der ersten Befragung

von Anfang März bis Ende November 2015 mitgemacht. Sie waren kurz zuvor in ein Integrationsprogramm ein-getreten. Beim Ausfüllen des Online-Fragebogens stan-den ihnen Mitarbeitende der Programmanbieter bei allfälligen Verständnisschwierigkeiten oder techni-schen Problemen zur Seite.

Ein Hauptziel des Forschungsprojekts besteht darin, ein Instrument zu entwickeln, das die auf den verschie-denen Ebenen des Wirkungsmodells angesiedelten in-dividuellen und institutionellen Einflussfaktoren erfasst und zuverlässig misst. Die bisher gemachten Erfahrun-gen stimmen zuversichtlich: Ein der deutschen oder

Studie zu Integrationsprogrammen in der Sozialhilfe: Erste Resultate

Prof. Dr. Peter NeuenschwanderDozent [email protected]

Prof. Tobias FritschiDozent [email protected]

Reto JörgProjektleiter socialdesign ag, Bern [email protected]

In einer von der Kommission für Technologie und Innovation geförderten Studie werden Teilnehmende von fünf Berner Integra-tionsprogrammen zu drei Zeitpunkten befragt. Ziel ist es, genauere Kenntnisse über die Wirksamkeit der Integrationsprogramme zu gewinnen. Nun liegen Ergebnisse aus der ersten Befragung vor.

französischen Sprache mächtiger Programmteilnehmer oder eine entsprechende Programmteilnehmerin benö-tigt für das Ausfüllen des Fragebogens nicht länger als 25 Minuten. Die dabei gestellten Fragen werden als ein-fach und verständlich beschrieben und erzeugen valide Daten.

Im Folgenden werden einige Zwischenergebnisse aus der ersten Befragungswelle vorgestellt. Sie stammen aus den Angaben von 267 Teilnehmenden, die nach der Da-tenbereinigung für statistische Zwecke verwendet wer-den konnten. Bei den Auswertungen wurde zwischen Teilnehmenden im Bereich der sozialen Integration (SI) sowie Teilnehmenden mit Perspektive auf berufliche Integration (BIP) unterschieden: Angebote im Bereich der sozialen Integration richten sich an Sozialhilfebezie-hende, die mittelfristig kaum eine Perspektive im ersten Arbeitsmarkt haben. In Angeboten im Bereich BIP hin-gegen sind Sozialhilfebeziehende tätig, die sich mittel-fristig auf eine berufliche Integration im ersten Arbeits-markt vorbereiten.

Motivation zu Beginn des ProgrammsGrafik 1 (Seite 46) verdeutlicht, dass die überwiegen-

de Mehrheit der Befragten zu Programmbeginn froh ist, ein Integrationsprogramm besuchen zu können. Auf einer Antwortskala von 1 (trifft nicht zu) bis 5 (trifft voll und ganz zu) erzielt die entsprechende Aussage einen Durchschnitts- bzw. Mittelwert von 4,1. Analog beträgt der Mittelwert bei der negativ formulierten Aussage «Meine Motivation für das Integrationsprogramm ist klein» nur 2,1. Die Grafik zeigt weiter, dass die überwie-gende Mehrheit der Befragten motiviert ist, eine Lehr-

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BFH impuls 2/ 2016

Grafik 1: Motivation der Programmteilnehmenden

▪ Soziale Integration SI (n=95–99) ▪ Perspektive auf berufliche Integration BIP (n=120–139) ▪ Total (n=215–238)

oder Arbeitsstelle zu finden (Mittelwert 4,3), dass es den Befragten aber eher nicht egal ist, um welche Arbeit es sich dabei handelt (Mittelwert 3,1). Weiter bringt die Grafik zum Ausdruck, dass es den meisten Befragten nicht gleichgültig ist, von der Sozialhilfe abhängig zu sein. Das entsprechende Item erzielte nur einen Mittel-wert von 1,6.

Schliesslich wird deutlich, dass von den Sozialdiens-ten offenbar nur selten Zwang ausgeübt wird, wenn es darum geht, Sozialhilfebeziehende in Integrationspro-gramme zu vermitteln. In der Fachwelt besteht weitge-hend Einigkeit darüber, dass Integrationsmassnahmen für Sozialhilfebeziehende nach Möglichkeit nicht gegen deren ausdrücklichen Willen zwangsverordnet werden sollten und dass diese nur dann wirksam sind, wenn von Seiten der Teilnehmenden eine gewisse Motivation vor-handen ist. Massnahmen, die gegen dieses Prinzip ver-stossen, werden in den meisten Fällen kaum zweck-mässig sein.

Die in Grafik 1 dargestellten Ergebnisse veranschau-lichen die Stimmungslage der Befragten zu Beginn ihres sechsmonatigen Einsatzes in einem Integrationspro-gramm. Es wird interessant sein zu beobachten, in wel-che Richtung sich die Motivation der Befragten im Ver-lauf ihrer Programmteilnahme entwickeln wird.

Soziale Befindlichkeit der BefragtenBei einem Integrationsprogramm handelt es sich um

eine Massnahme, die nicht nur die berufliche, sondern auch die soziale Integration von Sozialhilfebeziehenden

bezweckt. Am Anfang des Programms sieht die soziale Befindlichkeit der Befragten folgendermassen aus: Die überwiegende Mehrheit der Befragten ist mit ihren per-sönlichen Beziehungen einigermassen zufrieden. Die entsprechende Frage erzielte auf einer Antwortskala von 1 (nicht zufrieden) bis 10 (sehr zufrieden) einen Durch-schnittswert von 7,7. Rund 27% der Befragten haben sechs Monate vor der Befragung in einem Verein oder Klub mitgemacht. Rund 16% der Befragten fühlen sich ziemlich oder sehr häufig einsam, rund 49% fühlen sich manchmal und rund 35% fühlen sich nie einsam.

Was die Unterstützung durch das soziale Umfeld be-trifft, kommt die Untersuchung zu folgenden Ergebnis-sen (vgl. Grafik 2, Seite 47): Auf einer Antwortskala von 1 (trifft nicht zu) bis 5 (trifft voll und ganz zu) erzielte die Aussage «Ich habe Freunde, auf die ich mich verlassen kann» mit einem Mittelwert von 3,9 den höchsten Wert, gefolgt von der Aussage «Wenn ich krank bin, helfen mir Freunde, Nachbarn oder Angehörige» (Mittelwert 3,7). Weiter erzielten die Aussagen «Ich kann mit niemandem über meine Probleme reden» und «Ich habe viel Stress zuhause» einen Mittelwert von 2,1 bzw. 2,2.

Gesundheitliche Situation beim ProgrammeintrittDer Zusammenhang zwischen gesundheitlichen Be-

einträchtigungen physischer und psychischer Art sowie Armutsbetroffenheit und Erwerbslosigkeit ist hinläng-lich bekannt. Deshalb wird im Forschungsprojekt der Frage nachgegangen, ob sich ein Programmbesuch po-sitiv auf den Gesundheitszustand und das Gesundheits-

Soziale Sicherheit

Ich bin motiviert, eine Lehre oder eine Arbeit zu finden (n=238)

Ich bin froh, dass ich ein Integrations- programm besuchen kann (n=230)

Hauptsache, ich habe Arbeit, egal welche (n=228)

Meine Motivation für das Integrations- programm ist klein (n=216)

Ich besuche das Integrationsprogramm nur, weil ich dazu gezwungen werde (n=215)

Es ist mir egal, von der Sozialhilfe abhängig zu sein (n=218)

1 2 3 4 5

1,9

1,9

3,1

3,13,0

4,1

4,34,5

4,2

4,14,1

1,6

1,61,7

1,9

2,1

2,12,1

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BFH impuls 2 / 2016

Kann in Integrationsprogrammen eine Sozial­rendite realisiert werden?

Der Social Return on Investment (SROI) ist ein neuerer Ansatz mit dem Ziel, den durch (soziale) Projekte geschaffenen gesellschaftlichen Mehrwert finanziell zu bewerten.

Der Verein Arbeitsintegra tion des Kantons Bern hat die BFH beauftragt, die Sozialrendite von Integrati-onsprogrammen in der Sozialhilfe zu eruieren. Im Rahmen dieser Studie wird zuerst untersucht, wel-che unterschiedlichen Ansätze von Kosten-Nutzen-Analysen existieren und welche davon sich für den Bereich der Arbeits integration und die zur Verfü-gung stehenden Daten am besten eignen.

Auf der Grundlage dieser Voruntersuchung verfasst die BFH ein Konzept, das eine Operationalisierung des zu verwendenden SROI-Ansatzes beinhaltet. Im vierten Arbeitsschritt findet schliesslich mit Daten aus dem in diesem Artikel vorgestellten Projekt sowie zusätzlichen Quellen die eigentliche Berech-nung des SROI der Integra tionsprogramme statt.

Grafik 2: Soziale Befindlichkeit der Programmteilnehmenden

▪ Soziale Integration SI (n=91–97) ▪ Perspektive auf berufliche Integration BIP (n=118–120) ▪ Total (n=209–217)

verhalten der Sozialhilfebeziehenden auswirkt. Auf ei-ner Antwortskala von 1 (sehr schlecht) bis 5 (sehr gut) erzielt die Frage «Wie geht es Ihnen im Moment gesund-heitlich?» einen Mittelwert von 3,7. Der schweizerische Durchschnittswert beträgt 4,1 (vgl. Bundesamt für Sta-tistik, 2012). Die Frage «Wie zufrieden sind Sie mit Ihrer Gesundheit?» erzielt auf einer Antwortskala von 1 (nicht zufrieden) bis 10 (sehr zufrieden) einen Mittelwert von 6,6. Bei einer Durchschnittsschweizerin bzw. einem Durchschnittsschweizer ist der entsprechende Wert mit 8,1 etliches höher (vgl. ebd.).

Diese relativ hohen Werte mögen auf den ersten Blick unglaubwürdig erscheinen. Die Praxispartner hingegen haben für dieses Resultat eine einleuchtende Erklärung parat: Gesundheitlich stark beeinträchtigte Sozialhilfe-beziehende werden gar nicht erst in ein Integrationspro-gramm vermittelt. Somit kann dieses Resultat als Indiz für eine effektive Triagierung bzw. für ein wirkungsvol-les Assessment interpretiert werden.

Weiteres VorgehenParallel zur ersten ist inzwischen bereits die zweite,

bis Ende Mai 2016 dauernde Befragungswelle in Angriff genommen worden. Dabei werden die Teilnehmenden kurz vor ihrem Austritt aus dem Integrationsprogramm befragt. Bis zum Redaktionsschluss dieser impuls-Aus-gabe konnten über 100 Zweitbefragungen durchgeführt werden. Im weiteren Projektverlauf ist eine dritte Befra-gungswelle vorgesehen, bei der die ehemaligen Pro-grammteilnehmenden rund ein Jahr nach ihrem Pro-grammaustritt telefonisch durch die BFH befragt werden sollen.

Standardisierte Befragungen haben den Nachteil, dass gewisse Fragestellungen nicht vertieft untersucht werden können und Ergebnisse mitunter schwierig zu interpretieren sind. Deshalb sind im Anschluss an die dritte Befragungswelle zusätzlich fünf Fokusgruppen mit Programmteilnehmenden geplant. ▪

Literatur: – Bundesamt für Statistik. (2012). Statistics on Income and Living Conditions (SILC). Neuchâtel.

– Neuenschwander, Peter, Fritschi, Tobias & Reto Jörg. (2015). Wirken Integrationsprogramme – und wenn ja, wie? SozialAktu-ell, 3, 32–33.

Das Projekt Wirksamkeit von Integrationsprogrammen in der Sozialhilfe wird im Rahmen des BFH­Zentrums Soziale Sicherheit durchgeführt.

bfh.ch/socialsecurity

Soziale Sicherheit

Ich habe Freunde, auf die ich mich verlassen kann (n=214)

Wenn ich krank bin, helfen mir Freunde, Nachbarn oder Angehörige (n=215)

Ich habe viel Stress zuhause (n=209)

Ich kann mit niemandem übermeine Probleme reden (n=217)

1 2 3 4 5

2,2

2,12,0

3,7

3,73,6

3,8

3,94,0

2,1

2,22,2

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BFH impuls 2/ 2016

Weiterbildung

2. Nationale Tagung Gesundheit & Armut – Jetzt anmelden!Armut kann gesundheitliche Probleme verursachen. Er-krankungen können in die Armut führen. Der Zusam-menhang zwischen Armut und Gesundheit ist ein ge-sellschaftlich und politisch relevantes Thema, mit hohem Diskussionsbedarf und Aufforderungscharakter.

Mit der 2. Nationalen Tagung Gesundheit & Armut vom 24. Juni 2016, welche die BFH mit renommierten Part-nern organisiert, wird das Thema für die Schweiz er-neut aufgegriffen. Ziel ist, den Austausch zur Datenlage, zu Praxisbeispielen, über aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und politische Erfahrungen zu ermögli-chen. Die sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheit soll in den öffentlichen Diskurs eingebracht und ent-sprechende Handlungsimpulse sollen gesetzt werden.

Namhafte Referentinnen und Referenten, wie z.B. der Berner Regierungsrat Philippe Perrenoud oder die His-torikerin und Public-Health-Expertin Brigitte Ruckstuhl, stecken den Rahmen im breiten Themenfeld ab, 19 Workshops ermöglichen den Teilnehmenden, ausge-wählte Aspekte zu vertiefen und zu diskutieren.

Das BFH-Zentrum Soziale Sicherheit twittert unter @bfh_sosec und #gesundheitundarmut live aus der Ta-gung.

Weitere Informationen und Anmeldung: soziale-arbeit.bfh.ch/gesundheit

Aktuelles

48Soziale Sicherheit

Weiterbildung

Soziologie im Alltag: Einüben eines analytischen Blicks Alltagsphänomene durch eine soziologische Brille zu betrachten, kann dabei helfen, Situationen besser einordnen zu können. Gerade im Feld der Sozialen Si-cherheit kann dieses Schärfen von Wahrnehmen und analytischem Beobachten zu einer Entlastung der Fach personen führen. Der neue Kurs von Prof. Dr. Mar-tin Graf bietet einen praxisrelevanten soziologischen Blick auf Alltagsphänomene. Sie schulen dabei Ihre Denkmöglichkeiten, erweitern und relativieren Ihre Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten. Dieser Kurs ist in dieser Form in der Weiterbildungslandschaft ein-zigartig.

Weitere Informationen und Anmeldung: soziale-arbeit.bfh.ch, Web-Code: K-SOZ-31

Forschung

Früherkennung von Überlastungen in Bauern­familienAgrotreuhänderinnen und -treuhänder beraten Bauern-familien unter anderem in finanztechnischen, betriebs-wirtschaftlichen oder erbrechtlichen Fragen. Die Bera-tungsbeziehungen bestehen oft über längere Zeit. Ein neues Forschungsprojekt der BFH verfolgt deshalb das Ziel, die aktuelle und potenziell mögliche Rolle von Agro treuhandstellen bei der Früherkennung von sozia-len Problemen und Überlastungssituationen in Bauern-familien darzustellen – zum Beispiel bei familiären Konflikten, Krankheiten, Todesfällen oder finanziellen Schwierigkeiten. Im Vordergrund stehen die Fragen, welche Probleme beobachtet werden, inwiefern diese Beobachtungen thematisiert werden und ob es zu Ver-mittlungen ins professionelle Unterstützungssystem kommt. Dazu werden Agrotreuhänderinnen und -treu-händer in der Deutschschweiz online befragt. Das Pro-jekt wird vom Fachbereich Soziale Arbeit in Zusammen-arbeit mit dem Treuhandverband Landwirtschaft Schweiz und der Hochschule für Agrar-, Forst- und Le-bensmittelwissenschaften HAFL realisiert. Die Ergeb-nisse liegen voraussichtlich Anfang 2017 vor.

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Angebot Datum Web­Code

Kurse zum Thema Sozialhilfe, Sozialversicherungen und ArbeitsintegrationSoziologie im Alltag: Einüben eines analytischen Blicks [neu] 9./10. und 23./24. Juni 2016, 8.45–16.45 Uhr K-SOZ-31Beratung von jungen Erwachsenen 25./26. August 2016, 8.45–16.45 Uhr K-SPE-2Fachkurs Methodisches Handeln mit Risikogruppen August bis November 2016 K-SOZ-26Beratung von Menschen mit psychischen Problemen 22./23. September 2016, 8.45–16.45 Uhr K-SOZ-27Beratung von Menschen mit Migrationshintergrund 19./20. Oktober 2016, 8.45–16.45 Uhr K-SOZ-29Sozialversicherungsrecht 2./3. und 21./22. November 2016,

8.45–16.45 Uhr K-REC-1Arbeit mit Kindern und Familien 23./24. November 2016, 8.45–16.45 Uhr K-SOZ-30Fachkurs Arbeitsintegration März bis Mai 2017 K-SOZ-28Fachkurs Sozialhilfe Mai bis Juni 2017 K-SOZ-22Fachkurs Sozialversicherungsrecht Daten 2017 folgen K-SVE-2

Kurse zum Thema OpferhilfeGesprächsführung mit traumatisierten Menschen 6./7. September 2016, 8.45–17.15 Uhr K-SPE-33Fachkurs Opferhilfe Januar bis September 2017 K-SPE-1

Kurse zum Thema SozialpolitikEinführungskurs für Mitglieder von Sozialbehörden im Kanton Bern / Region Thun und Berner Oberland 12. Mai 2016, 8.45–17.00 Uhr K-SOZ-10Einführungskurs für Mitglieder von Sozialbehörden im Kanton Bern / Regionen Bern Mittelland, Seeland, Oberaargau/Emmental 16. Juni 2016, 8.45–17.00 Uhr K-SOZ-11Einführungskurs für Mitglieder von Sozialbehörden im Kanton Bern 24. August 2016, 8.45–17.00 Uhr K-SOZ-8Vertiefungskurs 2: Kosteneffizienz und Kostenrechnung in der Sozialhilfe 6. Juni 2016, 17.00–20.15 Uhr K-SOZ-15Vertiefungskurs 3: Strategische Sozialplanung in der Gemeinde durch die Sozialbehörde 10. November 2016, 17.00–20.15 Uhr K-SOZ-16Vertiefungskurs 4: Interne und externe Kommunikation der Sozialbehörde 15. November 2016, 17.00–20.15 Uhr K-SOZ-17Verantwortung für die offene Kinder- und Jugendarbeit in der Gemeinde. Was heisst das? 9. und 25. Mai 2016, 17.00–20.15 Uhr K-SOZ-23

Kurs für SachbearbeitendeSozialversicherungskenntnisse für Sachbearbeitende 23./24./25. August 2016, 8.45–16.45 Uhr K-ADM-2

TagungNationale Tagung Gesundheit & Armut 24. Juni 2016, 9.00–17.00 Uhr T-SOZ-13

Certificate of Advanced Studies (CAS)CAS Opferhilfe Beginn mit jedem Fachkurs Opferhilfe C-SPE-1CAS Soziale Sicherheit Start Frühjahr 2017 C-REC-2CAS Soziale Arbeit im sozialen Sicherungssystem Start jederzeit möglich C-SOZ-9

soziale­arbeit.bfh.ch

Weiterbildung

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Dank der Nationalen Strategie Palliative Care, der Initiativen von Kantonen und Gemeinden und vieler engagierter Menschen gibt es heute vermehrt Einrich-tungen und Unterstützungsangebote für Patientinnen und Patienten am Lebensende und deren Angehörige. Am Fachsymposium, das vom Nationalen Forschungs-programm NFP «Lebensende» und dem Universitären Zentrum für Palliative Care am Inselspital mitgetragen wurde, interessierte die Frage, welche Wirkungen und Nebenwirkungen die zunehmende Professionalisie-rung auf das Zusammenspiel zwischen Profis, Angehö-rigen und Gemeinden hat. Erfahren die Betroffenen, die Angehörigen und die freiwilligen Helferinnen und Hel-fer eine Unterstützung oder findet möglicherweise eher eine Bevormundung statt?

Kritische Sichtweise auf die ProfessionalisierungDie erste Referentin, die Philosophin und Theologin

Nina Streeck, tätig am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich, sprach von einer kritischen Professionalisierung. Ihr Referat widmete sich dem engagierten Versprechen eines guten Sterbens durch eine ganzheitliche Fürsor-ge von Palliative Care. Die professionelle Palliative Care stehe sich bei der Erfüllung dieses hohen Ideals mit ihren eigenen normativen Sterbeleitbildern selbst im Weg. Streeck verwies auf einen Widerspruch zweier Annahmen in der Palliative Care: Dass das Sterben für jeden einzelnen Patienten bzw. für jede Patientin und deren Angehörige selbstbestimmt sein sollte und dass das Sterben auch einer bewussten Auseinandersetzung mit dem Tod bedürfe. Kritisch hinterfragte sie, was denn passiere, wenn sich die Betroffenen nicht mit der Sterbediagnose konfrontiert sehen, keine Entschei-dungen über das eigene Lebensende treffen und sich schon gar nicht in die Rolle eines professionell betreu-ten Sterbenden hineinversetzen wollen. Wird mit der Professionalisierung der Palliative Care und der umfas-senden Betreuung durch medizinische, psychologi-

sche, spirituelle und sozialarbeiterische Unterstützung der Druck zur bewussten Auseinandersetzung mit dem Lebensende zunehmen?

Sichtweise der AngehörigenDas Referat des Soziologen Beat Sottas, Leiter von

sottas formative works, bestätigte und relativierte zu-gleich die Befürchtungen von einem Zuviel an Professio-nalität. Im Fokus seiner Studie standen die pflegenden Angehörigen, welche zusammen mit den Patientinnen und Patienten eine missglückte oder gelungene Profes-sionalisierung hautnah miterlebten. Gemäss seinen Un-tersuchungen tendierten Berufsfachleute dazu, kom-plexe Pflegesituationen auf ein Zweierverhältnis zwi-schen Pflegefachperson und Patient zu reduzieren. Aus Sicht der Angehörigen sehe die Realität aber komplett anders aus, da gäbe es eine enorme Vielfalt von Akteu-ren und Dienstleistungsangeboten. Im häuslichen Kon-text liege die Verantwortung hauptsächlich bei den pfle-genden Angehörigen, da nur wenige Stunden pro Tag strukturiert durch Berufsfachleute abgedeckt würden. Die pflegenden Angehörigen seien in einer Pflege- sowie Managerrolle zugleich, sie suchen und koordinieren die verschiedenen involvierten Stellen. Gemäss den Studi-energebnissen sei ein Wechsel von einer paternalisti-schen zu einer partizipativen Haltung der Berufsfach-leute gegenüber den pflegenden Angehörigen notwen-dig. Berufsfachleute tendierten dazu, pflegende Angehörige als Ko-Patientinnen und -Patienten und nicht als Ko-Produzentinnen und -Produzenten zu be-trachten. Das müsse sich ändern.

Gemeindenahe Palliative CareKompetenzen aus der Bevölkerung im Umgang mit

dem Lebensende betrachteten der Palliativmediziner Steffen Eychmüller und die Soziologin Franzisca Domei-sen-Benedetti. Steffen Eychmüller berichtete über das internationale Projekt «Neighborhood Network in Pallia-tive Care». Das primäre Ziel des Projekts war, die Bevöl-

In der palliativen Betreuung übernehmen immer mehr Fachpersonen vormals von Laien ausgeübte Funktionen. Was bedeutet diese Professionalisie-rung der Palliative Care für das Zusammenspiel zwischen Profis, Angehörigen und Gemeinden? Um diese Frage hat sich das Fachsymposium der Forschungsplattform Palliative Care Deutsch-schweiz gedreht, das Ende August 2015 im Insel-spital Bern stattfand.

in der Palliative CareAuswirkungen der Professionalisierung

Institut Alter

Daniela WittwerWissenschaftliche [email protected]

Dr. Claudia MichelWissenschaftliche [email protected]

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Institut Alter

kerung in der Betreuung von Schwerkranken und sterbenden Menschen zu befähigen sowie einen kosten-effizienten Palliative-Care-Service aufzubauen. In Anleh-nung an das internationale Projekt stellte Franzisca Domeisen-Benedetti die Ergebnisse des Projektes «Loka-le Netzwerke der Palliative Care und Integration von Frei-willigen» vor, das zwischen 2007 und 2009 am Kantons-spital St. Gallen durchgeführt worden war. Das Projekt strebte einen partizipativen Ansatz mit einem ausgewo-genen Verhältnis zwischen Profis und Angehörigen an. Der Integration von Freiwilligen in lokalen Netzwerken wurde eine hohe Priorität eingeräumt. Aus dem Projekt entstand ein Handbuch mit Empfehlungen für eine ge-meindenahe palliative Versorgung. Daraus entwickelten sich diverse Foren in der Ostschweiz, woran sich nicht nur Fachpersonen, sondern auch engagierte Personen aus den Gemeinden beteiligten. Aus diesem Engagement entwickelte sich in der Zusammenarbeit mit der Stadt St. Gallen eine professionelle Fachstelle für gemeindena-he Palliative Care. St. Gallen ist für Schweizer Verhältnis-se sicherlich ein Vorzeigebeispiel in Sachen Zusammen-spiel zwischen Profis, Angehörigen und Gemeinden.

Illusion medizinischer MachbarkeitAm Fachsymposium hatte Peter Jüni, damaliger Lei-

ter des Instituts für Hausarztmedizin BIHAM an der Uni-versität Bern, das Schlusswort. Palliative Care bedeute für ihn innezuhalten und ehrlich zu reflektieren. Als Mitarbeitender einer professionellen Palliative Care müsse man sich auch eingestehen können, dass ein gu-tes Sterben nicht immer möglich sei. Keine noch so gut organisierte Struktur könne die Realität des Sterbens eliminieren. Eine bestimmte Ehrlichkeit den Betroffe-nen gegenüber sei entscheidend, statt eine Illusion von medizinischer Machbarkeit aufrechtzuerhalten. Das durchgeführte Fachsymposium habe sich genau dieser kritischen Reflexion der Grundsätze und Reichweiten von Palliative Care gewidmet. ▪

Die Paneldiskussion am Fachsymposium der Forschungsplattform Palliative Care Deutschschweiz

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Institut Alter

Die BFH hat ein Bewegungsmodell für die Altersarbeit entwickelt, das den Fokus auf sinnstiftende Alltagsgestaltung legt. Wäh-rend der vergangenen drei Jahre ist seine Wirksamkeit evaluiert worden. Das Fazit: Bewegungsbasierte Altersarbeit ist förder-lich für eine sinnstiftende Alltagsgestaltung in Altersheimen.

Bernhard Müller [email protected]

Dr. Regine FankhauserWissenschaftliche Mitarbeiterin [email protected]

Gesundheitsentwicklung und Stürze sind Themen, die – nicht zuletzt aus Kostengründen – im Fokus der Altersarbeit stehen. Nur können weder die Gesundheits-entwicklung noch die Stürze und die damit verbundene Angst direkt bearbeitet werden.

Hingegen können körperlich eingeschränkte alte Menschen durch befähigende Bewegungsschulung un-mittelbar eine positive Wirkung ihres Tuns erfahren: die Erfahrung, eine schwierige und wichtige Alltagsaktivi-tät, beispielsweise vom Boden aufstehen, ausführen zu können und sich dieses Können auch zuzutrauen. Ver-bunden mit diesem Zutrauen ist die Erfahrung von Sinn-haftigkeit der Alltagsgestaltung. Sie liegt in der Förde-rung der körperlichen Selbständigkeit und der Stärkung der geistig-psychischen Selbstbestimmung.

Bewegungsbasierte Altersarbeitfördert sinnstiftende Alltagsgestaltung

Sinn als Orientierungsgrösse im AlltagMit dem Älterwerden – insbesondere verbunden mit

Unterstützungsbedürftigkeit und konfrontiert mit der Endlichkeit des eigenen Lebens – stellt sich deutlicher als in früheren Lebensphasen die Frage nach dem Sinn des Lebens. Gesucht sind Antworten auf einer Ebene, die über eine reine Ergebnisorientierung wie Leistung, Ziel, Zweck oder Nutzen hinausgehen.

Vaclav Havel, ehemaliger tschechischer Staatspräsi-dent und Autor, hat einmal gesagt: «Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut herauskommt. Hoff-nung ist die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es herauskommt.» In Anlehnung daran geht es bei der Sinnfrage nicht um die Hoffnung, dass das Leben gut ausgeht. Vielmehr geht es um die Gewissheit, dass das Leben Sinn hat, egal wie es ausgeht.

Sinn ist eine Orientierungsgrösse, die in der Gegen-wart, im Alltag verankert ist. Sinnhaftigkeit entsteht für alte Menschen aus dem, was sie im Alltag tun, erleben, erfahren und auf der übergeordneten Ebene ihrem Le-ben als bedeutsam zuschreiben können.

Sinnstiftende AlltagsgestaltungIm Zentrum des am Institut Alter entwickelten Bewe-

gungsmodells steht eine sinnstiftende Alltagsgestal-tung. In der Bewegungsschulung alter Menschen wer-den fünf eigenständige Lehrinhalte miteinander ver-bunden (vgl. Abbildung 1, Seite 53):

(1) «Bewegung ist Bildung»: Das bewegungsbasierte Bildungssystem beruht auf Maietta-Hatch Kineasthetics, in welchem in einem umfassenden Sinn Bewegung in Verbindung mit Kognition bearbeitet wird.

(2) «Lebenswelt als Bildungssystem» bietet ein ganz-heitliches Analyseinstrument, um menschliche Lebens-welten verstehen zu lernen.

(3) «Ästhetik eigener Bewegung als Tanzerfahrung» beschreibt Tanz als direkte und natürliche Art, sich zu bewegen, ohne dass irgendeine Autorität diesem Tun eine bestimmte Form der Ästhetik aufzwingt.

Rund vier Monate dauerte der Bewegungskurs für Heimbewohne-rinnen und -bewohner, Mitarbeitende, Angehörige, Freiwillige und Kinder.

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Institut Alter

(4) «Ressourcen im alltäglichen Sozialraum» fokus-siert auf Willens- und Ressourcenerkundung unterstüt-zungsbedürftiger Menschen in ihrem alltäglichen Sozi-alraum.

(5) «Eigensprache als Zugang zu sich selbst»: In Ge-sprächen, welche sich an der Eigensprache (Idiolekt) eines Menschen orientieren, werden die sehr persönli-chen Verbindungen und emotionalen Verankerungen seiner (Schlüssel-)Worte als Ressourcen zur Verände-rung wirksam.

Breit angelegte WirkungsevaluationDa es sich bei diesem Bewegungsmodell um einen

neuen Ansatz für die Altersarbeit handelt, wurde es in einem breit angelegten, dreijährigen Forschungsprojekt in sieben Alters- und Pflegeheimen des Kantons Bern evaluiert. Die Intervention umfasste jeweils einen zwölf-teiligen, rund vier Monate dauernden Bewegungskurs. Die Kursgruppe bestand aus Heimbewohnerinnen und Heimbewohnern, Mitarbeitenden, Angehörigen, Frei-willigen und Kindern.

In der Studie wurde untersucht, inwiefern Heimbe-wohnende durch eine bewegungsbasierte Schulung ihre Bewegungskompetenz bei der Ausführung von wichti-gen Alltagsaktivitäten (z.B. aufstehen von einem Stuhl, gehen, Treppe steigen oder vom Boden aufstehen) ver-bessern können. Zudem interessierte, welchen Einfluss diese Schulungen auf die Sturzbedenken der Bewohne-rinnen und Bewohner sowie der Mitarbeitenden, Ange-hörigen und Freiwilligen haben.

Dazu wurden die Bewohnerinnen und Bewohner je-weils vor (Assessment 1) und nach Abschluss (Assess-ment 2) der zwölfteiligen Bewegungsschulung bei der Ausführung von bestimmten Alltagsaktivitäten gefilmt.

Die Videos wurden anhand eines im Rahmen der Studie entwickelten Analysetools ausgewertet.

Die Sturzbedenken der Bewohnerinnen und Bewoh-ner wurden mit einer auf die Bedürfnisse der Studie angepassten Version eines im geriatrischen Kontext häufig verwendeten Fragebogens erhoben (Short FES-I). Die Frage nach den Bedenken wurde zusätzlich in den Kontext von zwei Szenarien gestellt: a) Stellen Sie sich vor, Sie sind alleine und machen die Aktivität (Szenario allein) und b) Stellen Sie sich vor, jemand ist bei Ihnen und Sie machen die Aktivität (Szenario begleitet). Die Sturzbedenken der Mitarbeitenden, Angehörigen und Freiwilligen wurden ebenfalls mit dem angepassten Fra-gebogen erhoben und zwar im Hinblick auf ihre Beden-ken, dass die Bewohnerin oder der Bewohner hinfallen könnte.

Zunehmende Bewegungskompetenz Insgesamt konnten von 36 Bewohnerinnen und Be-

wohnern Videoaufnahmen aus beiden Assessments analysiert werden. Bei 34 Personen konnte nach der Bewegungsschulung, also vier Monate nach dem ersten Assessment, in mindestens zwei Alltagsaktivitäten eine Verbesserung der Bewegungskompetenz beobachtet werden. Dies zeigte sich beispielsweise darin, dass die Heimbewohnerinnen und Heimbewohner eine für sie schwierige Alltagsaktivität mit weniger Anstrengung und differenzierterem Gebrauch der Bewegungsressour-cen in den Gelenken ausführten als bisher. Zudem konn-ten sie die Verlagerung des eigenen Gewichts häufig wesentlich besser selber kontrollieren. Dabei spielt die benötigte Zeit für die Durchführung der Aktivitäten kei-ne so eindeutige Rolle wie in etablierten Leistungstest, wo häufig eine Verbesserung mit einem schnelleren

Abbildung 1: Bewegungsmodell «Bewegungsbasierte Alltagsgestaltung»

Sinnstiftende Alltagsgestaltung

(3) Ästhetik eigener Bewegung als Tanzerfahrung

(1) Bewegung ist Bildung (5) Eigensprache als Zugang zu sich selbst

(2) Lebenswelt als Bildungssystem

(4) Ressourcen im alltäglichen Sozialraum

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Ausführen gleichgesetzt wird. Bei Alltagsaktivitäten ist es normal, wenn sie mal schneller, mal langsamer, in Zwischenschritten oder sogar mit Innehalten ausgeführt werden.

Interessanterweise sind die Bedenken der Mitarbei-tenden, Angehörigen und Freiwilligen, die alten Men-schen könnten hinfallen, deutlich grösser als die Beden-ken der Bewohnerinnen und Bewohner selbst (vgl. Ab-bildung 2). Dieses Resultat ist insofern für die Praxis bedeutsam, als sich die Angst der Betreuungspersonen auf die Bewohnerinnen und Bewohner übertragen könnte und diese dadurch verunsichert werden. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie dann tatsächlich stürzen. Die Bewegungsschulungen hatten den positi-ven Effekt, die Bedenken der Mitarbeitenden signifikant zu senken. Damit könnten solche Schulungen einen wichtigen Beitrag zur Sturzprophylaxe leisten.

Ein Erfolgserlebnis für alle

«An einem Tag fiel der Lift aus und vier Menschen mit Rollatoren waren blockiert. Ich habe ihnen vorgeschlagen, die Treppe hinunterzugehen. Sie haben abgelehnt, sie könnten das nicht. Dann haben wir es gewagt und alle hatten ein Erfolgs-erlebnis. Vom Kurs hatte ich den Mut, das anzubieten. Ich habe sie nach unten begleitet. Das war selbstverständlich. Dann reagiert man auch so, wenn eine Situation da ist, überlegt man ja nicht noch lange. Das war gut. Nein, ich hatte währenddessen keine Bedenken. Einfach gespannte Aufmerksamkeit. Vorher waren grosse Bedenken der Bewohnerinnen da und nachher einfach Freude.» Frau L., 88 Jahre alt

Dieses Zitat einer Heimbewohnerin und Kursteilneh-merin illustriert, welches Wirkungspotenzial die Schu-lung in bewegungsbasierter Alltagsgestaltung haben kann. Sie hat sich befähigt, ihren Mitbewohnerinnen eine zutrauende Unterstützung anzubieten. Dadurch konnten alle fünf Frauen selbständig die Treppen hi-nuntergehen. Das Zutrauen der geschulten Bewohnerin zu ihrer Begleitfähigkeit und ihre Erwartung, dass diese Begleitung möglich ist, war Voraussetzung dafür, dass die begleiteten Frauen ihrerseits während des Treppen-steigens Zutrauen entwickelten, sowohl zu ihren Bewe-gungsfähigkeiten als auch zu ihren Erwartungen, dass sie die Aktivität tun können.

Das Beispiel veranschaulicht ein weiteres essenziel-les Resultat der Studie. Ausschlaggebend für die erfolg-reiche Ausführung von Alltagsaktivitäten waren nicht nur die Bewegungs- resp. Begleitfähigkeiten der betei-ligten Menschen. Mindestens ebenso wichtig waren geistig-psychische Faktoren wie Vertrauen in Form von Zutrauen und Sinnhaftigkeit der Aktivitäten. Und nicht zuletzt war es der soziale Anlass, sich als Mensch unter Menschen zu erfahren. Auf die Frage nach dem Sinn ih-res Lebens sagte diese Heimbewohnerin: «Mensch zu sein. Mensch zu werden.» ▪Der Schlussbericht zur Evaluationsstudie «Bewegungsbasierte Altersarbeit in Alters- und Pflegeheimen des Kantons Bern» steht unter alter.bfh.ch/forschung zum Download zur Verfügung.

Abbildung 2: Sturzbedenken (0 = keine Bedenken, 3 = sehr grosse Bedenken) pro Teilnehmer­Kategorie

allein: Assessment 1

Assessment 2

begleitet: Assessment 1

Assessment 2

allein: Assessment 1

Assessment 2

begleitet: Assessment 1

Assessment 2

allein: Assessment 1

Assessment 2

begleitet: Assessment 1

Assessment 2

Bewohnerinnen und Bewohner

Mitarbeitende

Angehörige und Freiwillige

0 1 2 3

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WeiterbildungAngebot Datum Web­Code

Kurse zu den Themen Familiale Pflege, Betreuung, BeratungAllein lebende Menschen mit Demenz [neu] 6. Juli 2016, 8.45–16.45 Uhr K-A-59 Erfassung der Lebensqualität bei Demenz (H.I.L.DE) 7. Juli 2016, 8.45–16.45 Uhr K-A-10Demenz, Kultur und Ethik 15./16. August 2016, 8.45–16.45 Uhr K-A-26Demenz im gesundheits- und sozialpolitischen Kontext 12./13. September 2016, 8.45–16.45 Uhr K-A-1

Fachkurse Support für Angehörige in Betreuungssituationen 12 Tage, November 2016 und August 2017 K-A-43Lebensgestaltung in familiären Betreuungssituationen 8 Tage, November 2016 und August 2017 K-A-40

Certificate of Advanced Studies (CAS)CAS Altern im gesellschaftlichen Kontext Juni 2016 bis Januar 2017 C-A-4CAS Altern – systemisch betrachtet Oktober 2016 bis Mai 2017 C-A-3CAS Angehörigen-Support kompakt November 2016 bis September 2017 C-GER-1CAS Demenz und Lebensgestaltung – Grundlagen und konzeptionelles Handeln November 2016 bis November 2017 C-GER-3CAS Gerontologie als praxisorientierte Wissenschaft Januar bis September 2017 C-A-5

Diploma of Advanced Studies (DAS)DAS Demenz und Lebensgestaltung November 2016 bis November 2018 D-GER-3

Master of Advanced Studies (MAS)MAS Gerontologie – Altern: Lebensgestaltung 50+ Einstiegsmöglichkeit mit jedem CAS M-GER-1

InfoveranstaltungInfoveranstaltung Master-, Diploma-, Zertifikats-Studiengänge des Instituts Alter (in Bern) 28. Juni 2016, 18.15–20.00 Uhr IW-A-9

alter.bfh.ch

Institut Alter

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Berner FachhochschuleFachbereich Soziale Arbeit Hallerstrasse 103012 Bern

Telefon +41 31 848 36 00

[email protected]

Studium– Bachelor und Master in Sozialer Arbeit

Weiterbildung– Master, Diploma und Certificate of Advanced Studies– Kurse– Betriebsinterne Weiterbildungen

Dienstleistungen – Evaluationen und Gutachten– Entwicklung und Beratung– Bildung und Schulung

Angewandte Forschung und Entwicklung – Soziale Intervention– Soziale Organisation– Soziale Sicherheit