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IN DER FERNE, SO NAH DAS TSCHECHIEN-HEFT Nr. 07 Juni 2003 G 1203

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IN DER FERNE, SO NAHDAS TSCHECHIEN-HEFT

Nr. 07 Juni 2003

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fluter 08 Im September 2003:Gewalt

fluter 09 Im Dezember 2003:Gesundheit

leuchtet ein.

ABOS:WWW.FLUTER.DE/ABO ODER FAX: 0611/9 03 02 81

Leserbriefe:fluter – Magazin der Bundeszentralefür politische Bildung.SV Medien-Service GmbH,Emmy-Noether-Straße 2, Bauteil E,80992 München,[email protected]

Die nächsten Hefte:

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INHALT

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Liebe Leserin, lieber Leser,

Wir fuhren zehn Tage hin, dann besuchten uns die Franzosen, und das bedeutete, dass erstensständig Unterricht ausfiel und zweitens jeden Abend irgendwo eine Party stattfand. Und

nebenbei begruben wir, ohne es zu wissen, die Feindschaft zweier Länder.“ Christoph Amend (29)beschreibt in seinem Generationen-Buch „Morgen tanzt die ganze Welt – Die Jungen, die Alten,der Krieg“ (München 2003), wie die große europäische Politik in den Alltag hinein wirkte undFrüchte trug. Eine solche Normalität war den Tschechen und Deutschen nicht geschenkt.Erst 1989 öffnete sich die Grenze, die Europa teilte. Austausch, Begegnungen, Gespräche wurdenmöglich. Die vielen dunklen Kapitel der gemeinsamen deutsch-tschechischen Geschichte verlang-ten danach. Den Besuch des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker nutzte der tschechoslowa-kische Präsident Václav Havel zu seiner bewegenden Rede vom 15. März 1990: „Leiden verpflich-tet zu Gerechtigkeit, nicht zu Ungerechtigkeit“, sagte er. Ein großer Satz, zur Orientierung be-stimmt für alle, die die Versöhnung wollen. Deutsche, die ihre Heimat verloren haben, wollen sieund finden mehr und mehr Partner im Nachbarland.Rückblick auf das vergangene Jahrhundert mit seinem versöhnlichen Ausklang: Man muss seineschreckliche Geschichte kennen, um zu wissen, wie gut die Zeiten sind, in denen wir heute leben– hier in Europa: Kein Krieg, keine Volks- und keine Völkerverhetzung, kein Gesinnungsterror vonStaats wegen.Ab 2004 gehört Tschechien zur Europäischen Union. Ein Land lädt ein, entdeckt zuwerden. Das, was lange fern war, ist nah, kommt noch näher. Berührungsängste? – Halten wir esnur mit dem berühmtesten aller Tschechen, Josef Schwejk: „Ham mir nur niemand um nichts kei-ne Angst!“ Dieter Golombek

INHALT/EDITORIAL

Seite 4 Besondere Kennzeichen:Was in Tschechien jeder kennt.

Seite 6 Reportage: Nationalsport Eishockey.

Seite 11 Spaßeshalber: Der Schwejk im Tschechen.

Seite 12Interview: Günter Verheugen.

Seite 14Landliebe: Reise durch Land und Literatur.

Seite 22Heimatkunde:Antonia Goldhammervon der Sudetendeutschen Jugend.

Seite 24Regelrecht: Essen und EU.

Seite 26Vorstellungsgespräche:Was ist Tschechien?

Seite 32 Zeichensetzung: Der Selbstmord vonZdeněk Adamec.

Seite 36Projekte I: Tschechisch lernen.

Seite 37Impressum

Seite 38Lexikon: Wer, was, wann?

Seite 44Fahrprüfung: Fit für Prag?

Seite 46Projekte II: Tschechen treffen.

Seite 48 Filmentwicklung:Auf den Spuren des tschechischen Films.

Seite 54 Mit Vergnügen: Eine gute Zeit in Prag.

Seite 56Ältestenrat: Mit Richard von Weizsäckerund Jir í Grusa.

Seite 58Sprechstunde: Tschechisch für Anfänger.Fo

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Inhalt 11.06.2003 10:10 Uhr Seite 3

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LANDESTEILE

„Ich dachte, dass wir dann jetztein Paar sein könnten. Aber dieJungs in der Band haben mirgesagt, dass ich doch schon eineFreundin habe. Und mir wurdeklar, dass es stimmt.“ Diese Sätzekennt jeder junge Tscheche. Siestammen vom FrauenlieblingJiří Macháček aus dem Kultfilm„Samotáři“ („Die Einsamen“).Macháček ist der Moritz Bleib-treu Tschechiens: 36 Jahre, groß,volle Lippen, braune Augen, tiefeStimme. Macháček hat nicht nureinen Jura-Abschluss, er spieltaußerdem auch noch in derpopulären Band mig 21.

Ein wichtiges Wort in Tschechienist „pivo“. Pivo heißt Bier, aberpivo ist nicht gleich pivo. Beson-ders beliebt ist das „Gambrinus“,ein leicht bitteres Helles aus Pil-sen. Für die Bestellung wich-tig: Nimmt man ein „desítku“(„zehn“) oder ein „dvanáctku“(„zwölf“)? Damit sind nicht Al-koholprozente gemeint, sondernBiergrade – die sagen etwas überBierwürze und Malzgehalt aus.Wer das Stärkere bevorzugt, wirdsich ein „dvanáctku“ bestellen.

Was den Spaniern ihre Tapas,sind den Tschechen „Utopence“ –die „Ertrunkenen“. Utopencesind dicke Würste, die mit Zwie-belscheiben und Gewürzen ineiner Essiglake „ertränkt“ wer-den, um dann im Bauch eineshungrigen Biertrinkers versenktzu werden. Wichtig: „Utopenceund Bier, das rat ich dir. Utopen-ce und Wein, das lass sein.“

Montag, 23.00 Uhr, PrivatsenderNova: Es läuft „Tele Tele“, einetschechische Version der Come-

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Ertrunkene Würstchen, der Hun-dert-Škoda und ein Komiker,der die Flinte mal wirklich insKorn wirft: Was in Tschechienjeder kennt und in Deutschlandnoch kaum einer gehört hat.

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dy-Show „switch“ oder der„Wochenshow“, mit enormenEinschaltquoten. Drei Schau-spieler und eine Schauspielerinkommentieren Nachrichten undimitieren bekannte Personen,Bilder und Zitate werden ausdem einen Zusammenhang ge-rissen und in den nächsten ein-gepasst. Da kann es dann schonvorkommen, dass sich zwei an-getrunkene Abgeordnete beieinem Bier über ihre Wochen-enderlebnisse austauschen, nurunterbrochen von einer lallen-den Moderatorin, oder dass dertschechische Präsident VáclavKlaus vor einer Debatte über dieGelbsucht jedem Teilnehmer dieHand schüttelt und dazu sagt:„Jetzt hast du sie.“

Morgens halb zehn in Tschechi-en: Wen der kleine Hungerpackt, der greift zum Rohlík.Das ist ein längliches, handlichesBrötchen, an dem schon zahnlo-se Kinder lutschen. In einerordentlichen tschechischen Fa-milie ist ein Frühstück ohneRohlík mit Streichkäse undWurst unvorstellbar. Marmeladegeht aber auch.

Vor knapp zehn Jahren, kurznach der Wende, schrieb derLiteraturstudent Michal Vieweghwährend der Semesterferien einBuch über die Zeit des Sozia-lismus: „Blendende Jahre fürHunde“ („Báječná léta pod psa“)wurde ein großer Erfolg, weil esdie Menschen mit seinen Erin-nerungen an die sozialistischeRepublik gleichzeitig zum Lachen und Weinen brachte.Seitdem sind es blendende Jahrefür Viewegh, der vom Literatur-

studenten zum populärstentschechischen Autor der Gegen-wart wurde. Als literarischerNachwuchsstar gilt dagegen die24-jährige Studentin Petra Hůlo-vá, die von einer Reise in dieMongolei so viele Eindrückemitbrachte, dass sie daraus denRoman „Erinnerung für meineGroßmutter“ („Paměť mojí ba-bičce“) machte.Anhand von dreiFrauengenerationen beschreibtsie darin die mongolische Ge-sellschaft.

Wegen seines stampfenden Lauf-stils „Die Lokomotive“ genannt,war er schon zu Lebzeiten eineLegende: Emil Zátopek. Bei denOlympischen Spielen 1952 inHelsinki gewann er innerhalbvon acht Tagen Gold über 5 000und 10 000 Meter sowie imMarathon – eine bis heute uner-reichte Leistung. Zátopek stellteinsgesamt 18 Weltrekorde aufund trainierte sogar nachts, imtiefen Schnee, mit schwerenStiefeln und Taschenlampe.„Wenn du rennen willst, lauf ei-ne Meile, wenn du ein anderesLeben erleben willst, lauf einenMarathon“, sagte er einmal nacheinem Rennen.Vor zwei Jahrenstarb Emil Zátopek mit 78 Jah-ren in Prag, Tausende kamen zuseinem Begräbnis.

Reflex bedeutet auch im Tsche-chischen die Reaktion auf einenReiz, zudem ist es der Name desbekanntesten Gesellschaftsmaga-zins. Es erscheint immer mitt-wochs, kommt in Layout undInhalt dem Stern nah, ist aber nurhalb so dick. Die tschechischeBild heißt Blesk – und weil siemit viel Bildern und wenig Text

funktioniert, hat man auch ohneTschechisch-Kenntnisse etwasvon ihr.

So richtig können sich dieTschechen nicht entscheiden,wer für sie die populärste Schau-spielerin ist: Aňa Geislerová (23)oder Tatiana Vilhelmová (24).Geislerová ist eine rotgelockteSchönheit, sie ist Model undFilmstar, Typ Esther Schweins,nur besser. Die hübsche Brünet-te Tatiana Vilhelmová macht sichneben dem Film auch als Büh-nenschauspielerin einen Namen.In diesem Jahr wurde sie auf derBerlinale zum „Shooting Star“Tschechiens gekürt.

Cvičky zählen zu den Kindheits-und Jugenderinnerungen derTschechen. Ohne diese wei-ßen Stoffschuhe mit rutschigerGummisohle durfte man dieSchulturnhalle nicht betreten.Ob Junge oder Mädchen – jedermusste sie tragen, sonst gab eseinen Eintrag ins Klassenbuch.

Boleslav Polívka, 54, ist der be-kannteste Komiker Tschechiens.Am liebsten veranstaltet er Hap-penings, die er „Schattenwerfen“oder „Wirf die Flinte ins Korn“nennt. Grundregel dabei: Alleswortwörtlich nehmen.

Was in der BRD der Volkswagenund in der DDR der Trabi war,das war in der ČSSR der Škodabeziehungsweise „škodovka“. Fürdie Tschechen und Slowakenwar das Modell Š 100, genannt„stovka“ („hundert“) aber nurüber eine Warteliste erhältlich.Das attraktive Grün gab es au-ßerdem nur gegen Zuschlag.

Weltberühmt in Tschechien

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REPORTAGE

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Am Sonntag, dem 22. Februar1998, saß Lukáš Pech vormittagsbei seiner Großmutter auf demSofa. Der Fernseher lief, wie in

fast jedem Wohnzimmer und in fast jederKneipe in Tschechien an diesem Sonntag-vormittag. 3,5 Millionen Tschechen verfolg-ten live, wie tausende Kilometer entfernt, inNagano, ihre Eishockey-Nationalmannschaftum olympisches Gold spielte. Am Endegewann die Tschechische Republik eins zunull gegen Russland, in ganz Tschechienlagen sich die Menschen in den Armen,auch Lukáš umarmte seine Großmutter. „Eswar ein großer Moment“, sagt er.Lukáš Pech ist 19 Jahre alt, seine Haare sindauf halbe Streichholzlänge geschnitten, seinGesicht ist klein und prägnant. Er könnteMitglied einer Boygroup sein. Er ist es nichtund könnte dennoch bald als Poster intschechischen Mädchenzimmern hängenund Menschen dazu bringen, sich in den Ar-men zu liegen: Lukáš ist die Hoffnung destschechischen Eishockeys.Lothar Martin ist der Eishockey-Expertevon Radio Prag und sagt: „Eishockey hat fürTschechien eine riesige Bedeutung. DieTschechen behaupten, dass dieses Spiel ihrerMentalität auf den Leib geschneidert ist, weiles auf Technik, Spiellust und schöpferischeFähigkeiten ausgerichtet ist. Die Tschechen

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Eishockey ist in Tschechien das, was Fußball in Deutschland ist: Nationalsport.Wer jungist, träumt von einer eigenen großen Karriere, wer etwas älter ist, kann Geschichtenvon früher erzählen:Von 1969, als Eishockey auch Politik war, oder von 1998, als einFinalsieg ein ganzes Land jubeln ließ. Lukáš Pech ist einer von den Jungen, der diealten Geschichten kennt – und von dem man sich wohl bald einige neue erzählen wird.

Die den Löwen tragen

kots, Helme und Kufen sind an einem ande-ren Ort in der Stadt verstaut. Durch Karls-bad weht Sommerwind. Der HC EnergieKarlovy Vary spielt in der höchsten tschechi-schen Eishockeyliga, in der Extraliga. Lukášwar für den HC in der vergangenen Saisonsieben Mal auf dem Eis, er steht vor demSprung von den Junioren zu den Erwachse-nen. „Mein Traum war immer, in der Extra-liga zu spielen“, sagt er. Dieser Traum wirdwahr, ein anderer Schritt dagegen wird ihmwohl verwehrt bleiben: ein Platz in derNHL, der National Hockey League in Nord-amerika.Der Weg dorthin führt über eine Draft-Liste. Diese Liste erstellen Talentsichter, diein Amerika und Europa die besten Nach-wuchsspieler beobachten.Wer gut genug ist,landet in dieser Aufreihung, aus der die ame-rikanischen Vereine sich junge Spieler su-chen, deren Rechte sie sich sichern.Wer aufder Liste weit oben steht, ist einem Traumnah: In der NHL verdienen Spieler dasSechzigfache dessen, was sie in der Extraligaverdienen können. Etwa hundert Tschechenspielen derzeit in der NHL.Aber weil Lukášnur 171 Zentimeter groß ist, ist er zu kleinfür die Liste, zu klein für die NHL.Die „Pension Hestia“ am Stadtrand vonKarlsbad. Ein vierstöckiger Plattenbau, mitSatellitenstadt-Charme, 150 Schüler oder

bezeichnen sich gern als Meister der Impro-visation.“ Zehn Mal wurde TschechienWeltmeister, sechs Mal davon gemeinsammit den Slowaken als „Tschechoslowakei“.Dazu das Gold von Nagano, das für dasSelbstbewusstsein der jungen RepublikTschechien eine ähnliche Bedeutung hatwie der deutsche Fußball-Weltmeister-schaftssieg von Bern 1954. Die Spiele dertschechischen Mannschaft in Nagano wur-den wegen der Zeitverschiebung im Fernse-hen in den Morgenstunden übertragen, „abdem Viertelfinale wurde bei den Partien dertschechischen Mannschaft in fast allen Schu-len quasi der Unterricht ausgesetzt, und dieSchüler hockten vor der Glotze in ihrenUnterrichtsräumen“, erzählt Martin. Nichtnur, dass das Finale 3,5 Millionen Tschechenlive verfolgten – das Land hat 10 MillionenEinwohner –, bei der Rückkehr des Teamsnach Prag standen 150 000 Menschen Spa-lier, vom Flughafen bis in die Stadt.Es ist Trockenzeit in Karlsbad (Karlovy Vary).Das Eisstadion hat gerade kein Eis, zwischenApril und Juni werden auf einem Parkettbo-den Kondition und Koordination trainiert.Auch Lukáš Pech, Mittelstürmer beimHockeyclub Energie Karlovy Vary, muss aufdas Parkett. Lukáš spricht man „Lukasch“. Inder Umkleide lehnen 40 Eishockeyschlägeran einer Wand. Brust- und Knieschützer,Tri-

Text: Peter Wagner______Fotos: Bert Heinzlmeier______

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REPORTAGE

Studenten wohnen hier, 30 davon sind Nachwuchstalente des HC Energie, denender Verein Unterkunft, Essen und 5000 Kronen Taschengeld finanziert, gut 165Euro. Ein 200-Gramm-Steak mit Pommes ist in der Stadt für vier Euro zu haben.Lukáš hat sich nach dem Kick auf dem Stadionparkettboden und nach dem Kraft-training ein rotes Shirt ohne Ärmel übergezogen. Die Adern seiner muskulösenOberarme treten noch klarer vor. „Mein Ziel ist die Profi-Karriere in der Extra-liga. Später möchte ich dann eine Familie haben und ein Haus bauen“, sagt er ru-hig. Lukáš redet keinen Firlefanz, er redet überhaupt wenig, sein Leben kreist nurum Puck und Eis. Nachtleben gibt es eigentlich nicht, um spätestens elf Uhrschließt die „Pension Hestia“ die Türen. Für Lukáš sind womöglich mal zwei Bieram Wochenende drin, mehr nicht. Hobbys? „Basketball, Fußball.“ Klavier spielenhätte ihn mal interessiert, sagt er noch. Es klingt ein wenig ausgedacht, damit mannicht nur über Sport redet.Träumt er von der Nationalmannschaft? „Das wäre dieBelohnung für die Arbeit in den Jahren vorher.“ Wie wichtig ist das Geld? „Jedermeiner Altersgenossen denkt ans Geld, das man im Eishockey verdienen kann.“Will er in die NHL? Tschechien verlassen? „Ich will hier wohnen bleiben. Spätervielleicht ins Ausland.Aber nur zum Reisen.“ Und die NHL? Er zuckt die Schul-tern und weiß: die Größe.Abgehakt.Vielleicht spiegelt sich darin eine Form von Zielstrebigkeit und Duldsamkeit, dietschechische Spieler ausmacht. Beim HC Energie bescheinigt Manager BronislavPíša, 33, Lukáš genau dies: Er habe Disziplin, Hingabe, eine gute Einstellung. „Vie-le setzen alles auf eine Karte, wenn sie zwischen 15 und 20 Jahre alt sind, obwohlsie vielleicht wissen, dass sie es nicht zum Extraliga-Spieler schaffen können“, sagtPíša. Oft verzweifeln die Jungen daran. „Für die bricht eine Welt zusammen, wennsie doch eine Ausbildung machen müssen.“ Lukáš macht die Ausbildung nebenbei,dafür sorgt der HC Energie. Er wird Koch werden. Mit vier Jahren stand Lukášzum ersten Mal auf Kufen und war ab dem vierten Schuljahr in einer „Sportklas-se“, die zu den besten in Tschechien gehörte. Sein Vater erkannte das Talent undbrachte Lukáš zu einem Freund, der früher Eishockey-Nationalspieler war. DieIdee von einer Profi-Karriere nahm Formen an. Der Vater hätte das früher selbstgern gemacht, nur ließ ihn der Großvater nicht. Nun soll Lukáš tun, was dem Vaterverwehrt war: Karriere machen im tschechischen Eishockey, vielleicht zum natio-nalen Star werden, auf Fan-Poster gedruckt werden.Ein Poster wie das von Dominik Hašek, ehemaliger Nationaltorwart, NHL-Spie-ler, von dem Otto Němec sagt: „Er ist ein absoluter Gott.“ Hašeks Poster hängt inder Fankneipe des HC Energie, zwei Straßen vom Karlsbader Eisstadion entfernt.Němec hatte die Gründung eines Fanclubs angeschoben, er verbringt viel Zeit inder Fankneipe. Eishockey ist in seinen Augen weit mehr als ein Sport und Zeitver-treib, es ist Teil der tschechischen Geschichte. „Der Kommunismus brachte uns ei-ne moralische Verwüstung“, sagt er. „Jetzt, wo jeder auf sich selbst gestellt ist, gibt

es einen wahnsinnigen Impuls für das Leben. DieseEuphorie ist wichtig, schon weil es mit der Wirtschaftso langsam weiter geht.“ Und dann erzählt er von1969. Weltmeisterschaft in Schweden. Sowjetuniongegen Tschechoslowakei.Sowjetische Panzer waren ein Jahr zuvor bis in diePrager Innenstadt gefahren und hatten den im PragerFrühling aufkeimenden Freiheitsdrang der Tschecho-slowakei gestoppt. „Eishockey war ab dem Momentdie einzige Möglichkeit, gegen die Besatzungsmachtzu demonstrieren. Das Spiel hatte eine politische Di-mension für jeden Einzelnen.“ Die Tschechoslowakeibesiegte die Sowjetunion bei der WM in Schwedenzweimal. 2:0 und 4:3. „In Stockholm für Prag“, lautetedas Motto der tschechoslowakischen Nationalmann-schaft. „Zehntausende sind auf die Straßen gegangenund haben gefeiert. Es war ein Schlüsselmoment“, sagtOtto Němec. Wie viele andere kann auch er heutenoch die Namen derer aufzählen, die damals die Rus-sen schlugen: Dzurilla, Nedomanský, Suchý, Holík,Jiřík, Golonka, Bednář ...Heute sitzt Vladimír Bednář auf einer Couch im VIP-Raum des HC Energie über dem Eisstadion, lässig denrechten Arm auf die Lehne gestreckt, neben ihmLukáš. Bednář war Lukáš’ Juniorentrainer, 1969 stander gegen die Sowjetunion in Stockholm als Verteidigerauf dem Eis. „Damals war die Sowjetmannschaft diebeste der Welt“, sagt er und unterstreicht das Gewichtdes Sieges. „Wir hatten im ersten Spiel gewonnen,und normalerweise muss nach dem Spiel der Verlierer

In Stockholm für Prag –die Sowjets verweigernden Handschlag

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Tschechien lebt für Eishockey: die Kleinen, die einmal große Spieler werden wollen, die jungen Spieler wie Lukás Pech, die einmal für die tschechischeNationalmannschaft aufs Eis wollen – und die alten Helden wie Vladimír Bednár, der einst gegen die UdSSR spielte und Geschichte schrieb.

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kommen und dem Sieger die Hand reichen. Die Sowjets sind aber nicht gekom-men.“ Der Händedruck fiel aus, die Sowjets mussten sich die Nationalhymne desSiegers anhören. Ein großes Stück weit war der Sieg Rache. Sport und Politikmischten sich, noch mehr im zweiten Spiel. „Fast die ganze Mannschaft hatte sichmit einem Klebestreifen den Stern auf den Trikots abgeklebt. Das Symbol desKommunismus.“ Nur das Wappen des tschechischen Löwen war noch zu sehen.Lukáš schmunzelt, als er Bednář zuhört. „Ich höre diese Geschichten gern, sie sindEishockeygeschichte“, sagt Lukáš. Bednář spielte, bis er 37 Jahre alt war. Er hattezwei Augenoperationen, seine Nase war zwölf Mal gebrochen, acht Zähne wurdenihm ausgeschlagen,Wunden in seinem Gesicht mehrmals genäht, mit 100 Sticheninsgesamt, auch Arme, Beine und einzelne Finger hat er sich schon gebrochen.„Aber der Schutz der Spieler ist besser geworden“, sagt Bednář und lächelt milde.Das ist zu sehen, wenn Lukáš sich für ein Foto Knie- und Schienbeinpolster an-legt, eine Hose überzieht, die ihn um Hüfte und Oberschenkel wie einen Sumo-Ringer aussehen lässt. Brust- und Ellenbogenschutz, Handschuhe,Trikot. Fertig istder Nachwuchsspieler, der in Tschechien bleibt, um dort ein nationaler Star zuwerden, der nicht in der NHL spielen kann und will, wo ihn die tschechischenFans nur noch im Fernsehen sehen könnten.Vielleicht wird er ein Teil der tsche-chischen Identität, wenn ihm 5000 Fans im Karlsbader Stadion zujubeln, wenner ein Tor gegen den diesjährigen Meister Sparta Prag erzielt, zu einer kleinenBerühmtheit wird und besser verdient als die meisten seiner Altersgenossen.Wahrscheinlich erlebt er also nicht eine Geschichte wie jene, die der erfahreneNachwuchstrainer Jiří Ryžuk, 41, aus Sokolov bei Karlsbad erzählt. 1994 gründeteer gemeinsam mit einigen Partnern die Pro Hockey Academy in Marienbad (Ma-riaánské Lázne). Dort werden Eishockey-Talente, Jungs und Mädchen, bis maximal16 beziehungsweise 13 Jahren, von einem internationalen Trainerstab ausgebildet,zu dem auch schon Gasttrainer wie die deutschen NHL-Stars Marco Sturm undJochen Hecht gehörten.Vor seiner Zeit an der Academy trainierte Ryžuk TomášVoukoun, einen Torwart. Mit 16, erzählt Ryžuk, kam Tomáš zu einem Klub in dieExtraliga. Mit 18 holte ihn ein amerikanischer Club nach Amerika in ein so ge-nanntes „Farmteam“, in dem Nachwuchstalente spielen. Dann verpflichteten ihndie Montreal Canadians für die NHL. Dann: erster Einsatz, erstes Drittel – vierTore kassiert. Noch im Flugzeug erfährt Tomáš, dass er in das Farmteam zurückmuss. Zu der Zeit war er 19 Jahre alt. „Da hat er gemerkt, was er für den Sport tunmuss“, sagt Jiří Ryžuk. Er habe an sich gearbeitet.Vom ersten Farmteam ins zwei-te Farmteam.Von dort wieder NHL. Heute ist er 27 Jahre und erster Torhüter beiden Nashville Predators, einem Neuling in der NHL.Ryžuk sieht seinen Eleven zu, die in einer Schulturnhalle in Sokolov ihre Koordi-nation trainieren: über einen Balken balancieren, dabei mit jeder Hand einen Ballauf den Boden dribbeln; mit einem Hockeyschläger einen Ball halten und gleich-zeitig mit dem Fuß dem Gegenüber einen Ball zukicken. „Kondition, Technik,Taktik und Psyche“, daran wird trainiert, sagt Ryžuk. „Das Durchsetzungsvermö-gen entscheidet.Wenn ein Junge einen Schlag auf das Schienbein bekommt, weint,sich auswechseln lässt – und kurz darauf wieder bei mir steht und sagt:‘Trainer, ichwill wieder spielen!’ Dann hat er mentale Stärke.“ Tschechien ist neben Russland,der Slowakei und Finnland eines der Länder, in dem ungewöhnlich viele Eis-hockeytalente aufwachsen. Ryžuk hat dafür eine Erklärung. „Ein Schweizer Trai-ner erklärte mir einmal, wie schwierig es für ihn ist, NHL-Spieler zu formen.“Warum? „Die jungen Spieler sind einfach nicht hungrig genug, weil sie für dasLeben so viele Perspektiven haben.“ In Tschechien gebe es weniger Perspektiven,sagt Ryžuk. Eine der besten biete das Eishockey. Und wenn sich Bronislav Pisa, derManager des Vereins HC Energie,Vladimír Bednář, der WM-Held von 1969, undJiří Ryžuk, der Nachwuchstrainer, nicht sehr täuschen, hat Lukáš Pech beste Per-spektiven. Eines Tages könnte auch er das tschechische Nationaltrikot tragen – unddafür sorgen, dass sich Großmütter und Enkel in den Armen liegen.

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REPORTAGE

In der Fankneipe des HC Energieerinnern sie sich noch heute an die Hel-den von 1969: Dzurilla, Nedomansky,Suchy – Otto Nemec (re.) und seinSohn Vit kennen ihre Namen alle. Oben:Pension Hestia, Lukás’ Wohnheim.

Lukás’ Traum – einmalmit dem tschechischenLöwen auf der Brust

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HINTERGRUND

Protokoll: Marian Blasberg, Holger Holzer______Foto: Dominik Asbach______

Alles klar, Herr Kommissar?Der SPD-Politiker Günter Verheugen, 59, ist seit 1999 als Kommissar

für die Erweiterung der EU zuständig. Sein Brüsseler Büro hat er zu einer

Art Galerie umfunktioniert. Die Wände zieren, jeweils für sechs Monate,

Kunstwerke aus einem der zehn künftigen Mitgliedsländer.Auf dem Foto

steht er vor Slowenien. Ein Gespräch über die Erweiterung, die Skepsis

der Tschechen und die Frage, ob nicht jeder selbst bestimmen sollte, wie

krumm seine Gurken sind.

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Herr Verheugen, werden Sie auf dem Wenzelsplatz in Prageigentlich von Autogrammjägern behelligt?Aber ja, ich verstecke mich ja nicht.Wenn ich Zeit habe, dann lau-fe ich herum, und dann ergibt es sich, dass die Bürger auf mich zukommen. Haben Sie etwa das Gegenteil vermutet?Wir dachten, die EU-Kommissare sind in den neuen Bei-tritts-Ländern genauso unbekannt wie hier.Mein Bekanntheitsgrad in Deutschland ist immer noch sehr hoch,in Mittel- und Osteuropa erkennt mich eigentlich fast jeder.Trotzdem wundert uns Ihre Popularität in Tschechien.Václav Klaus, immerhin der Präsident, hat die EU unlängstnoch eine Art „Diktatur“ genannt.Er hat nun mal eine andere Vorstellung von der Zukunft Europas.Anstelle einer politischen Union sähe er lieber eine Freihandelszone.Aber vergessen Sie nicht, dass Klaus, damals noch als Regierungs-chef, den Beitrittsantrag eingereicht und nun, als Präsident, den Ver-trag unterzeichnet hat. Dennoch ist die Lage in Tschechien kompli-zierter als anderswo. Die euroskeptischen Kräfte sind dort stärker.Worüber sorgen sich die Menschen?Sie befürchten, ihre nationale Souveränität zu verlieren, ihre kultu-relle Identität. Die Sorgen sind verständlich, denn die Zeit, in derihnen von außen vorgeschrieben wurde, was zu tun ist, ist nochnicht allzu lange her.Nun wird ihnen freilich zum Beispiel vorgeschrieben, wel-che Krümmung ihre Gewürz-Gurken haben sollen. Sinddie Sorgen also nicht berechtigt? Das ist ein wunderbares Beispiel. Gerade deutsche Politikerschimpfen immer wieder, wie verrückt das alles ist, selbst Krüm-mungsgrade von Gurken zu bestimmen. Eines Tages habe ich danngesagt: Schauen wir doch mal, was geschieht, wenn wir das wirk-lich abschaffen.Wissen Sie, was das Ergebnis war? Großes Geschreibei den Herstellern und im Handel. Denn gäbe es diese Regelnnicht, müssten sie die Dinger wieder aus dem Fass verkaufen.Vielesehen einfach nicht, dass es solche Handelsklassen immer gab, nursind es heute nicht mehr nationale, sondern europäische.Vielleicht wollen die Tschechen nicht darauf verzichten,die Gurkenkrümmung selber festzulegen?Für den europäischen Binnenmarkt müssen einheitliche Regelngelten, sonst wäre es ja kein Binnenmarkt. Den aber brauchen wiralle, ganz besonders die Tschechen. Im Prinzip ist es so: Die EU istein System, in dem die Mitglieder Souveränität gemeinsam aus-üben. Und gerade für die kleineren Länder ist die Integration dereinzige Weg, um überhaupt noch etwas mit ihrer Souveränitätanfangen zu können. Nationale Traditionen oder kulturelle Eigen-heiten gehen dabei nicht verloren.Dennoch prägen inzwischen auch in Prag mehrere McDo-nald’s das Stadtbild.Das stimmt und gilt leider für ganz Europa.Vor kurzem spazierteich durch Nitra, eine slowakische Stadt mit langer Brautradition.Der Reihe nach kam ich vorbei an einer Pizzeria Venezia, einemEiscafé Romana, einem Irish Pub und einer typisch slowakischenKneipe, wo ich einkehrte und – ein Heineken trank. Darin aber ei-ne Folge der europäischen Integration zu sehen, ist falsch. Es istvielmehr eine Folge global operierender Unternehmen.Was hat dann ein 18-jähriger Pilsener vom EU-Beitritt?Tschechien wird bald neben Luxemburg das einzige reine Binnen-land der EU sein, ein idealer Standort also. Durch die wirtschaft-liche Entwicklung steigern sich seine Lebens-, Berufs- undWohlstandschancen ganz massiv. Er erhält freien Zugang zu ganzEuropa und kann arbeiten oder studieren, wo er will.Wie sieht es andersrum mit jungen Deutschen aus? Wasbringt uns die Erweiterung?

Das ist in der Tat ein Problem. Es gibt ein enormes Missverhältnisin der Bereitschaft junger Tschechen, nach Deutschland zu kom-men, und der junger Deutscher, nach Tschechien zu gehen.Wennsie sagen, wir fahren ein Wochenende nach Prag, ernten sie überallbegeisterte Zustimmung. Fragen sie aber, ob jemand für ein hal-bes Jahr einen Schüleraustausch mitmachen und in einer tsche-chischen Familie leben möchte, dann ist das Echo leider sehr be-scheiden.Woran liegt das?Schwer zu sagen. Ich könnte mir vorstellen, dass es mit der Sprachezu tun hat. Doch eigentlich müssten Sie das eher wissen.Eben nicht.Wir dachten, Sie ...Ich weiß es aber nicht. Ich bin zu alt dazu. Als ich jung war, wäreich begeistert gewesen, für sechs Monate in die Tschechoslowakeizu gehen, doch damals ging das nicht.Vielleicht denken viele: Hinter der Grenze ist hinterm Mond.Möglich, vielleicht ist es auch eine ganz traurige Geschichte, undes hängt einfach mit den bescheideneren Lebensverhältnissen zu-sammen.Was wäre eigentlich, wenn sich ein Land wie Tschechiengegen den EU-Beitritt entscheidet? Das wird wohl nicht geschehen. Das Land würde sich isolieren undseine Attraktivität als Wirtschaftsstandort verlieren.

Ziehen Sie einen Fall wie diesen gar nicht in Betracht? Wenn ein Land den Beitritt ablehnt, bleibt es draußen, und nur dieanderen treten bei. Was sollen wir anderes tun, als die demokrati-sche Entscheidung eines Volkes zu respektieren? Dabei wäre es womöglich gar nicht so schlecht, wenn daseine oder andere Land nicht beitreten würde. Die Debatteum den Irak-Krieg hat gezeigt, wie schwierig es ist, allein15 Staaten unter einen Hut zu kriegen.Dass Europa in der Irak-Frage nicht mit einer Stimme gesprochenhat, liegt daran, dass Außenpolitik nach wie vor Sache der nationa-len Regierungen ist. Da prallen Interessen aufeinander. Ich bin miraber sicher, hätte es in der Union eine gemeinsame Position gege-ben, wäre keins der neuen Länder davon abgewichen. Der Zwangzu mehr Gemeinsamkeit wird in einem Europa der 25 um einigesstärker werden, gerade in der Außenpolitik. Denken Sie an unsereneuen Nachbarn. Zypern etwa liegt nur zwanzig Flugminuten voneinem der größten Krisenherde der Welt entfernt. Ebenso drin-gend, nicht nur vor dem Hintergrund der Erweiterung, ist aber ei-ne andere Aufgabe. Der ganze EU-Apparat wirkt immer noch sehrundurchsichtig.Wir müssen unsere Arbeit transparenter machen.Was ist mit Ihrer Arbeit? Sie haben mal gesagt, 20 000Rechtsakte in die Tat umzusetzen, sei nicht so sexy.Das mag stimmen. Aber dafür war zum Beispiel gerade der türki-sche Außenminister da, wir haben lange über Menschenrechtegesprochen. Die Arbeit unterscheidet sich schon sehr von der aufnationaler Ebene. Ich muss mich nicht durch tausend Partei-gremien kämpfen, bis etwas passiert, ich bin mehr unterwegs. An-dererseits ist alles etwas abgehobener. Man verliert ein bisschen denKontakt zur Basis.Vergessen Sie dabei, woher Sie kommen? Nein, in einer multikulturellen Umgebung wie hier werden Siesich Ihrer Herkunft sogar viel stärker bewusst. Und mein Projekt,die Erweiterung, hat so starke historische Bezüge zu Deutschland,dass ich ohnehin nicht vergessen könnte, woher ich komme.

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Da prallen Interessen aufeinander.

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LANDLIEBE

Unser Fotograf Peter Neusser wurde in Brünn (Brno) geboren und war nochnicht mal drei Jahre alt, als seine Familie 1969 nach Deutschland kam. Seit1989 fährt er jedes Jahr mehrmals in seine Heimat, um Freunde und Verwandtezu besuchen und um zu fotografieren. In diesem Frühjahr war er wiederunterwegs, um uns das Land zu zeigen, in dem die Melancholie zu Hause ist.

Strahlende Augen erblickeneine strahlende Welt

Tschechisches Sprichwort

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ES GIBT EIN ZIEL, ABER KEINEN WEG.DAS,WAS WIR WEG NENNEN, IST ZÖGERN.

Franz Kafka

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SAG DIE WAHRHEIT, ABER DU MUSST WISSEN,WIE DU ENTKOMMEN KANNST.Tschechisches Sprichwort

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WER GOTT INS FENSTER GESCHAUT HAT, LANGWEILT SICH NIE.Milan Kundera

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WAS DU HEUTE NICHT BESORGEN MUSST, DAS VERSCHIEBE AUF MORGEN.SO GEWINNST DU EINEN FREIEN TAG.

Tschechisches Sprichwort19

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SCHÖN IST, WAS TSCHECHISCH IST.Tschechisches Sprichwort

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WIR LEBEN IN EINER WELT, IN DER ALLES MÖGLICH IST UND NICHTS GEWISS.Václav Havel

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HEIMATKUNDE

Manchmal kommt dieErinnerung in Farbenzu Antonia Goldham-

mer. Im Weiß der gestärktenGardinen, die jede Hausfrau inTeplitz zweimal die Wochewusch, wegen des braunenRauchs aus den Fabrik-Schlo-ten. Oder im Gelb der Blumenaus dem Park und im Grün derBäume dort. Die Erinnerung istdann so bunt, dass es Antoniascheint, als kenne sie Teplitz ge-nau. Sie ist sicher, dass es einschöner Ort ist.Aber sie weiß esnicht. Sie war noch nie dort.Nicht einmal die Erinnerungensind ihre eigenen. Es sind die ih-res Großvaters, der in Teplitzaufwuchs, gut 50 Kilometersüdlich von Dresden, in Nord-böhmen, vor langer Zeit. Abertrotzdem sind die Erinnerungenso bunt. „Seltsam, nicht wahr?“,fragt Antonia. Seltsam ist es inder Tat, so wie manches an An-tonia Goldhammer seltsam ist.Sie leidet mit australischen Abo-rigines und mit deutschen Neo-Nazis, sie schätzt Amnesty Inter-national und Edmund Stoiber,sie verabscheut die Faschistenund die Linken von der ZeitungNeues Deutschland. Sie ist 19 Jah-re alt, und wer sie fragt, für wassie nun eigentlich einsteht, demsagt sie: „Ich bin in der Sudeten-deutschen Jugend“, in der SdJ.Dann wartet sie. Angriffslus-tig, mit einem abschätzendenLächeln, um die Wirkung ihresSatzes abzuwarten. Sie findet esimmer interessant, wie daraufreagiert wird.

Denn kaum ist dieses Wort he-raus, sieht sich Antonia mit einemVorurteil konfrontiert, groß undmächtig: Aha, Sudetendeutsche,das sind doch diese alten Nazismit den bescheuerten Trachten,die sonst niemand mehr trägt,mit den dämlichen Liedern, diesonst niemand mehr singt, undden überkommenen Vorstellun-gen, die sonst niemand mehrhat. Es ist das Vorurteil von ei-nem „Haufen sich selbst bemit-leidender revanchistischer Trach-tenfuzzis“, wie Antonia sagt. Siefängt dann immer gleich an, sichzu verteidigen: dass sie keinNeo-Nazi ist, dass ihre HeimatBayreuth in Bayern ist und nichtTeplitz, dass sie da auch nie hinziehen wollen würde, dass einigeihrer besten Freunde Tschechensind, und dass sie auch überhauptkeine Trachten mag, außer viel-

leicht ihr bayerisches Dirndl. Soverteidigt sie sich dann. Aber ei-gentlich will sie sich gar nichtverteidigen. Sie würde viel lieberetwas über ihre SudetendeutscheJugend sagen, über ihre Ziele,ihre Arbeit. Dazu kommt es sel-ten. Es schwingt einfach so vielmit im Wort „Sudetendeutsche“.Der Grund dafür liegt in derVergangenheit. Die Sudeten-deutschen lebten früher in ei-nem Gebiet, das heute zurTschechischen Republik gehört.Nach dem Zweiten Weltkriegsind sie von dort vertriebenworden. Sie verloren ihre Hei-mat, ihren Besitz. Es geschah vielLeid in dieser Zeit, das hat vieleSudetendeutsche bitter gemacht.Sie schlossen sich zusammen. Sieforderten ihre Heimat zurück,ihren Besitz, und sie fordertenSühne für ihr Leid, oft in hartenWorten.Viele vergaßen über ihrLeid, dass auch die Deutschenviel Leid nach Tschechien ge-bracht haben, im Zweiten Welt-krieg und davor. Ein bisschenwar es so, als ob für die Sudeten-deutschen die Geschichte erst1945 zu beginnen schien, so sehrhatten sie sich in ihr Leid verbis-sen.Antonia kennt dieses Gefühlder Verbissenheit.Denn manchmal kommt die Er-innerung auch in Schwarz-Weiß, in den Farben alter Filme.Im düsteren Grau von Men-schen, die mit Bündeln auf demRücken fliehen, die Angst imGesicht, und im hellen Scheinvon Menschen, die an Laternen-Pfählen baumeln, aufgehängt,

und brennen wie Fackeln. Dasist die Erinnerung an die Vertrei-bung. Sie hat sie nicht erlebt,aber in ihrer Familie ist viel da-rüber gesprochen worden. In derSchule hat sie sich im Ge-schichts-Unterricht sehr geär-gert. „Ich hatte den Eindruck,wir machen 400 Jahre ZweitenWeltkrieg“, sagt sie, und dass sichjeder den Nazi-Verbrechen stel-len müsse, aber niemand stellesich der Vertreibung. „Jetzt ha-ben wir sehr viel Zeit gehabt,die Nazi-Verbrechen aufzuarbei-ten – es wird Zeit, die anderenDinge zu sehen“, sagt sie. Es istein harter Satz. Ein Satz, der esVorurteilen über Sudetendeut-sche leicht macht. Antonia weißdas, sie schiebt sofort weitereSätze hinterher: „Ohne das jetztgegenüberzustellen oder aufzu-wiegen. Jedes Leid ist schlimm.Ich bin nur gegen Vergessen.“Denn ohne Erinnerung, sagt sie,gebe es keine Aussöhnung.Und Aussöhnung ist eines derZiele der SdJ, zu deren Aufzäh-lung Antonia in Gesprächen vorlauter Verteidigung oft nichtkommt. Die Aussöhnung mitTschechien. Andere Ziele sind:Einstehen gegen jede Art vonVertreibung. Ein vereintes Euro-pa. Menschenrechte. „Das sindso blumige Begriffe“, sagt Anto-nia, „mir sind sie sehr wichtig.“Sie hat sich vor einiger Zeit mitdem Schicksal der Aboriginesauseinandergesetzt, mit derenGeschichte von Vertreibung inder eigenen Heimat. Auch Am-nesty International schätzt sie

Höchstensein Dirndl VON DEN SUDETEN-

DEUTSCHEN WEISS

MAN MEIST NUR,

DASS SIE VERTRIEBEN

WURDEN, SICH

JEDES JAHR AN

PFINGSTEN TREFFEN

UND MIT DEM

EU-BEITRITT DER

TSCHECHISCHEN

REPUBLIK PROBLEME

HABEN.ANTONIA

GOLDHAMMER IST

IN DER SUDETEN-

DEUTSCHEN JUGEND.

SIE WEISS MEHR.

Text: Roland Schulz______Foto: Olaf Tiedje______

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sehr. Eingetreten wäre sie daaber nicht, da war ihr die SdJnäher, wegen der Geschichteihrer Familie, wegen der Erinne-rungen, in Farbe und Schwarz-Weiß. Obwohl sie manchmalmit dem Erwachsenenverbandder SdJ, der SudetendeutschenLandsmannschaft, hadert.Die Landsmannschaft veranstal-tet an jedem Pfingsten eingroßes Treffen. Für Antonia sinddiese Treffen eine Zeit der inne-ren Zerissenheit. Einerseits musssie sich dort manchmal anhören,dass Menschen wie sie Verräterseien, weil sie mit dem Räuber-staat Tschechei anbandelten. Dasrichtet sich gegen Zeltlager, diedie SdJ zusammen mit tschechi-schen Jugendlichen veranstaltet.Andererseits erlebt sie Momentewie den vor zwei Jahren: Dastand sie auf einer Bühne, inihren Händen lag die Traditions-fahne der SdJ, neben ihr standEdmund Stoiber und sprach zuden Sudetendeutschen. Antoniawusste genau, dass unten im Pub-likum auch Sudetendeutsche sit-zen, die noch heute in Liederndavon singen, dass ihre Herzenentflammt seien, die Heimat imOsten wiederzugewinnen, umjeden Preis. Es war eine seltsameSituation. Antonia verzieht dasGesicht schon beim Gedankenan solche Lied-Texte, eigentlichfindet sie auch Traditionsfahnenseltsam. „Aber ich könnte michnicht erinnern“, sagt sie, „dassich jemals etwas Richtigeres ge-tan hätte als dort oben zu ste-hen.“ Danach hat sie alle großen

Zeitungen gekauft, um zu lesen,was sie schreiben. Seitdem ist siemit den Linken von der ZeitungNeues Deutschland fertig. Diehätten ihr damals zu verlogenberichtet, sagt sie, so als ob alleSudetendeutsche Revanchistenwären und Nazis. Das stimmt sonicht, findet sie. Nur eine Grup-pe verabscheut Antonia wie wenig auf der Welt: den Witiko-bund. „Die sagen Dinge, da zer-reißt es mir das Herz.“ Einmalist sie auf einem Sudetendeut-schen Treffen in eine Veranstal-tung von denen gegangen, dahätte sie am liebsten geschrieenwegen der ganzen Hetze dort.Hat sie dann auch gemacht,danach war sie schnell draußenaus dem Saal. Irgendwie, sagt sie,

taten ihr die alten Leute, die da einem Hetz-Redner zujubelten, aberauch Leid. Sie glaubt, dass viele nur dahin gingen, weil dort ihr Leidanerkannt werde. „Die nutzen ihre Verletztheit aus“, sagt sie.Ihr Traum, sagt Antonia, sei die deutsch-tschechische Aussöhnung,ehrlich und von Herzen. „Versöhnung statt Revanche“, diesen Slo-gan will sie zum nächsten Sudetendeutschen Treffen auf ein T-Shirtdrucken, zusammen mit der tschechischen, der deutschen und dersudetendeutschen Fahne. Es gibt auch ein Lied zu diesem Slogan,„Die Zukunft sind wir“ – „My jsme budoucnost“, das die SdJ aufihren deutsch-tschechischen Zeltlagern singt, in beiden Sprachen.Antonia glaubt fest daran, dass die Jugend die Zukunft ist, die Aussöhnung schaffen wird. „Wir sind nicht so emotional vor-belastet“, sagt sie, „aber es wird nicht einfach.“ Die SdJ hat sehr wenige Mitglieder. Rund 1500 seien es, „aber ich sag’s mal ehrlich:Der harte Kern sind 20 Leute. Bayernweit.“ 20 Menschen für die Aussöhnung. „Es ist aber nicht wichtig, wie viele wir sind – es istwichtig, was wir machen“, sagt Antonia: an Pfingsten das Treffen derSudetendeutschen. Dann das SdJ-Zeltlager in Tschechien. Und da ist noch Teplitz. Antonia will da jetzt mal hinfahren, nach Teplice,in der Tschechischen Republik, sich endlich neue Erinnerungen holen, eigene.

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Zum SattwerdenWelche Suppe auch immer – man sollte nicht zu viel davon essen,da anschließend das Hauptgericht folgt, in der Regel Fleisch mitKnödeln. Das kann ein „Kerzenbraten“ (svíčková) sein, gebrateneRinderlende mit Preiselbeeren und Knödel (knedlíky). Wie dasSchwein muss auch das Rind vor dem Braten vorschriftsmäßig ge-schlachtet werden – mit einem Bolzenschuss, da die EU seit Januar2001 die Durchtrennung der Wirbelsäule beim Schlachten vonRindern verbietet, um eine mögliche Verteilung von BSE-Erre-gern auszuschließen. Ein anderes beliebtes Hauptgericht ist dertraditionelle Schweinebraten (vepřo-knedlo-zelo) mit Knödelnund Weißkohl (zelí). Hauptsache mit Knödeln – die tschechischeKnödelkultur ist gewaltig. Als unersättliche Soßenschlucker be-kannt, werden böhmische Knödel aus Mehl, alten Semmeln, Eiernund Milch hergestellt. Eine weit verbreitete Legende ist es übri-gens, dass die EU es den Tschechen in Zukunft verbieten würde,ihr Gulasch wie bisher ein paar Tage ziehen zu lassen.

Zum GenießenEin beliebtes Dessert sind süße Knödel: puderzuckerige Quark-knödel oder gefüllte Obstknödel (ovocné knedlíky).All diese Knö-

del gibt es auch im Supermarkt als Fertigpackung zu kaufen.Aufder Verpackung muss erkennbar sein, wie viel Prozent der sogenannten „wertgebenden“ oder kaufentscheidenden Zuta-ten enthalten sind, verlangt die QUID (Quantitative In-halts-Deklaration)-Regelung der EU. In einer Packung„Aprikosenknödel“ müssen also tatsächlich Aprikosen ent-

halten sein. Stehen die Aprikosen bei den Zutaten an ersterStelle, sind auch wirklich viele in der Packung. Steht dagegen

Zucker vorne, sollte man die Knödel vielleicht doch besser selbstmachen, der tatsächliche Anteil an Früchten ist dann geringer.Natürlich wird nicht immer nur zu Hause am gedeckten Tisch ge-gessen. An Würstelbuden gibt es zum Beispiel gegrillte Klobassen(klobásy) oder heiße Bockwürste (párky) mit Senf. Auf der Ver-packung von Würten aus dem Supermarkt muss ausgewiesen sein,ob es sich um eine Wurst aus Fleisch oder aus Schlachtnebenpro-dukten wie Herz oder Darm handelt. Und wer in der BäckereiKolatschen (kolácky) kauft, ein kleines rundes Hefegebäck mitMarmelade, Pflaumen- oder Apfelmus gefüllt, kann sich auf EU-Reinheitskriterien für diese Füllungen verlassen, die festlegen,welche Zusatzstoffe bei der Herstellung verwendet werden dürfen.

Zum RunterspülenUnd was gibt’s zu trinken? Bier. Mit 163 Litern pro Jahr und Kopfsind die Tschechen Spitzenreiter unter den europäischen Biertrin-kern. Da es kein Reinheitsgebot wie in Deutschland gibt, ist zumBeispiel die Zugabe von Zucker zur Erhöhung des Alkohol- undKohlensäuregehalts im Bier erlaubt. Gut möglich, dass dem dannein Becherovka, ein Karlsbader Becherbitter, folgen muss. Na dann:Prost. Oder auf Tschechisch: „Na zdraví“.

Eine ordentliche Mahlzeit beginnt mit einem „Dobrouchut’“ („Guten Appetit“) und einer Suppe (polévka).Tsche-chische Suppen sind keine klaren Brühen, sondern richtige

Eintöpfe, in denen manchmal – sei es aus Gründen des Ge-schmacks oder aus Sparsamkeit – Dinge mitgekocht werden, diemanche vielleicht in den Mülleimer werfen würden: zum BeispielInnereien, die in die Kuddelsuppe (dršťková) kommen. Beliebt sindErbsensuppe (hrachová),Weißkohlsuppe (zelná) oder Kartoffelsup-pe mit Pilzen (bramborová). Dafür, dass die Bramborová auch inZukunft nicht aus gefährlichen Gen-Kartoffeln gemacht wird, sor-gen bald EU-Richtlinien.Verschiedenen Umfragen zu Folge leh-nen über 70 Prozent der Bevölkerung aller EU-Mitgliedsstaatengentechnisch veränderte Nahrungsmittel ab – auch ein Grunddafür, dass alle Gen-Kartoffeln hinsichtlich möglicher Umweltrisi-ken getestet werden, ehe sie auf den Markt kommen. Dabei geht essowohl um die Verträglichkeit wie auch um die Wahrung der Ar-tenvielfalt. Noch lieber als Kartoffelsuppe wird die Knoblauchsup-pe (česnečka) gegessen, die mit Kartoffeln, Lauch, Zwiebeln, Kass-ler und vielen Knoblauchzehen zubereitet wird – und die sichauch hervorragend als Katerfrühstück eignet.Wer aber nach durch-zechter Nacht mit roten Augen einen großen Bund Knoblauchkauft und doch nur eine kleine Portion Suppe zubereitet, wirdnicht alle Knollen brauchen. Wenn der Knoblauch nicht nacheiniger Zeit alt wird, könnte er mit ionisierenden Strahlen be-handelt worden sein. Das macht ihn nicht etwa radioaktiv– die verwendete Strahlungsenergie ist dafür zu gering –,aber das Auskeimen der Knoblauchknollen wird damit ver-hindert. Allerdings kann man dann sein tatsächliches Alter nichtmehr erkennen. Damit mit diesem Trick nicht alter Knoblauch alsfrischer verkauft wird, gibt es eine EU-Richtlinie: Eine Strahlen-behandlung muss deutlich erkennbar ausgewiesen sein.

Zum HinlegenIm früher als „Schweinemonat“ bezeichneten Dezember kommtdie „Arschbrühe“ (prdelačka) auf den Tisch. Diese Suppe wird ausall den Teilen des frisch geschlachteten Schweins zusammenge-braut, die sich nicht verwursten lassen. Die einzige Ausnahme istder Schweinekopf, der nicht in die Suppe kommt, sondern gekochtund am Silvesterabend Punkt Mitternacht verzehrt wird.Angeblichbringt es Glück, das neue Jahr mit einem Schweineohr zu begin-nen. Die „Arschbrühe“ wird auch gern verschenkt, und diese Gabebedeutet so viel wie „Ich mag dich – werde satt und dicker!“ BeimSchlachten nach EU-Richtlinien gilt, dass „Fleisch, das zum Ge-nuss für Menschen bestimmt ist, stets in zugelassenen Schlachthö-fen gewonnen worden sein muss“. Dort braucht das Schwein vordem Schlachten Platz: Bei einem Mastschwein mit einem Durch-schnittsgewicht von über 100 kg muss das mindestens ein Quadrat-meter uneingeschränkt nutzbare Bodenfläche sein – es muss dieMöglichkeit haben, sich mühelos hinlegen zu können.

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Dobrou Chut’ Die Sache ist gegessenBIER ZU SCHWEINEBRATEN UND VON BABIČKAS,

ALSO GROSSMÜTTERN, GEBACKENE BÖHMISCHE

KNÖDEL – IN TSCHECHIEN WIRD GERN GUT UND

DEFTIG GEGESSEN.ABER WIE WIRD DAS,WENN

AUCH IN TSCHECHIEN EU-RICHTLINIEN GELTEN?

Text: Barbara Streidl______Foto: Mierswa/Kluska______

essen_EU 21.07.2003 17:59 Uhr Seite 1

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GRENZVERKEHR

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VORSTELLUNGSGESPRÄCHE

IN EINEM UNBEKANNTEN LAND ...Tschechien, jaja, schonklar – Kafka, Prag,Wenzelsplatz.Aber sonst?Sonst ist Tschechienden meisten Deutschenfremd. Zum Kennen-lernen erzählen hieracht junge Tschechen vonihrer Heimat: vomGeist der Berge, MuttersErdbeerknödeln undden drolligen Fragen nachdem König.

„Ich arbeite seit vier Jahren bei JANA. Wir betreuen 60 Bordelleim bayerisch-tschechischen Grenzgebiet, beraten die Frauen, ver-teilen Kondome und bieten kostenlose HIV-Tests an. Die Kundender Prostituierten sind fast ausschließlich Deutsche. Es kommen äl-tere, wohlhabende Männer, die ihren Frauen daheim wahrschein-lich gesagt haben, sie würden nur mal tanken fahren, aber auch 20-jährige Jungen, die im Bordell eine Art Party feiern. Insgesamtkommen, schätzen wir, täglich rund 300 deutsche Männer über diebayerisch-tschechische Grenze. Die Prostituierten hier verlangenweniger Geld als die Prostituierten in Deutschland. Neben Tsche-chinnen arbeiten auch Frauen aus Weißrussland, Moldawien, der

Ukraine oder Rumänien in den Bordellen. Diese Frauen sind sehrarm, haben in ihrer Heimat oft eine Familie, die sie versorgen müs-sen. Sie kommen hierher, arbeiten ein paar Monate als Prostituierteund schicken das Geld nach Hause zu ihren Kindern. Eine Bäuerinaus der Ukraine ist so lange anschaffen gegangen, bis sie genugGeld zusammen hatte, um eine Kuh zu kaufen. Wenn Tschechienzur EU gehört, wird sich die Prostituierten-Szene vermutlich lang-sam nach Osten verlagern, zur neuen EU-Außengrenze. Die Preisein Tschechien werden sich an das Preisniveau in Deutschland an-gleichen, die Prostituierten werden mehr Geld verlangen. Für dieDeutschen ist das Ganze dann wohl nicht mehr attraktiv.“

Lenka Kurcová, 26, arbeitet als Streetworkerinbeim Aids-Präventionsprojekt JANAin Domažlice. Sie betreut Prostituierte imdeutsch-tschechischen Grenzgebiet

MEIN_TSCHECHIEN 21.07.2003 18:28 Uhr Seite 2

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„Ich war während meines Studiums drei Mo-nate in England auf dem Land. Mir hat das Biergefehlt, aber mehr noch Kino, Konzerte undClubs. So was merkt man ja eher, wenn manmal weg ist.Als ich nach Prag zurückkam, habeich mich auf die Stadt gefreut. Hier ist es wun-derschön, die Stadt hat eine Atmosphäre, die duerst richtig wahrnimmst, wenn du von irgend-wo zurückkommst. Was ich überhaupt nichtvermisst habe: tschechisches Fernsehen, Zei-tungen und die Menschen. Für Engländer istFußball sehr wichtig. Also kannten die auchunsere tschechischen Fußballer. Ich glaube, dassdie Engländer den Tschechen ähnlich sind. Erstdenkt man, sie sind reserviert, aber dann be-grüßen sie dich freundlich und unterhaltensich mit dir.“

Jiří Sklenar, 25, studiertMusikprodukion in Prag

WESENSVERWANDT

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„Die tschechische Kultur ist einerseits noch ori-ginär, andererseits schon sehr verwestlicht. In derbildenden Kunst, im Theater und der Musik hatTschechien eine selbstständige Kultur, die in Euro-pa eingebunden ist und Kontakte zu Europa hat.Gleichzeitig nähern wir uns in unserer Alltagskul-tur dem Amerikanischen an. Damit meine ichnicht nur McDonald’s, sondern auch, dass über-wiegend amerikanische Filme in den Kinos undamerikanische Lieder in den kommerziellen Ra-diosendern laufen. Die Menschen gehen in Multi-

plexkinos, essen mittags Fastfood. Alle drei Jahregehen sie dann auch mal ins Nationaltheater, damitsie das Gefühl haben, Kultur zu erleben. Frühersind die Tschechen auf ihre Hütten gefahren, inden 70er Jahren haben sich fast alle Tschechen einegekauft. Heute verbringen sie das Wochenende imEinkaufszentrum. Aber es gibt etwas im Leben derTschechen, das sich nie ändern wird: Man gehtabends in die Kneipe und trinkt Bier. Ich mache esgenauso: Tagsüber benutze ich mein Gehirn undnachts zerstöre ich es.“

Jaroslav Schovanec, 25,Werbetexter bei Young&Rubicam inPrag

FEIERABEND

VORSTELLUNGSGESPRÄCHE

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Richard Krajčo, 25, Schauspieler und Sänger der Rock-band Kryštof

„Schöne Frauen, Eishockey, gutes Bier und frittierter Käse – daskommt mir als Erstes in den Sinn, wenn ich an Tschechien den-ke. Aber eigentlich fühle ich mich mehr der Gegend verbunden,in der ich aufgewachsen bin, als dem Land Tschechien. Ich kom-me aus Ostrau (Ostrava), einer Industriestadt in Nordmähren. ZuPrag verhält sie sich etwa so wie Manchester zu London. DieStadt ist eher grau, aber wenn man sich ins Auto setzt, erreichtman schon nach ein paar Kilometern eine der schönsten Land-schaften Tschechiens. Leider ist in Ostrau vom Stahlbau außerverfallenen Fabriken nicht viel übrig geblieben. Es gibt wenigArbeit und viele Probleme. Politiker und Wirtschaftsbosse spre-chen von neuen Herausforderungen und einem nötigen Wandel,aber sie tun nichts. Das macht mich wütend, denn ich habe dasGefühl, dass sich für die Menschen in Ostrau alles zum Schlech-ten wendet. Wegen meiner Arbeit als Sänger und Schauspielerhabe ich eine Wohnung in Prag, aber ich fahre so oft es geht nachHause. Ostrau zieht mich an wie ein Magnet. Die Menschen dortsind es gewohnt, auf vieles zu verzichten.Vielleicht gehen sie des-halb so herzlich und aufrichtig miteinander um.“

Lenka Vochocová, 24, Studentin, be-treut ehrenamtlich einen behinder-ten Jungen

„Ich erhoffe mir einiges vom EintrittTschechiens in die Europäische Union:Wir werden den anderen Menschen inEuropa näher sein. Und sie werden etwasNeuem begegnen, das sie noch nicht ge-sehen haben. Manchmal bin ich wirklichüberrascht, welche Fragen einem so ge-stellt werden: Habt ihr noch eine Monar-chie oder schon einen Präsidenten? Seidihr ein Entwicklungsland? Gibt es beieuch Handys? Da merkt man, dass dieMenschen in Europa nichts über uns wis-sen. In der EU sollte Tschechien sichdafür einsetzen, dass nicht nur die westli-chen Werte wie Konsum und Industriegelten. Ich mag an Tschechien besondersdie Gemeinschaftlichkeit und den Zu-sammenhalt.“

KÖNIG UNTERSCHIED

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Lucie Vachová, Miss Tschechien 2003„Immer wenn ich woanders bin, vermisse ich tschechische Erdbeerknödel.“

Jan Beránek, 33,Vorsitzender der Grünen Partei Tschechiens

Für Jan Beránek gibt es zwei Tschechien:Prag und den Rest der Republik. Und erweiß sehr genau, welches Tschechien ermag. „In Prag gibt es keinen Geist. DieMenschen sind überheblich, ambitiös“, sagter. Prager würden nur von der „Provinz“reden, wenn sie alles andere außer Pragmeinen. Jan Beránek dagegen liebt dieProvinz. Vor allem das Grenzgebiet zurSlowakei, hier wurde er geboren. Er magdie Berge dort: „Sie haben Geist.“ Und erfreut sich, dass Tschechien diese Natur mitin die Europäische Union bringt. „Denndas fehlte bisher.“

MAHLZEIT

MITBRINGSEL

VORSTELLUNGSGESPRÄCHE

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Karolína Kurková, 19, wurde in Děčín (Tetschen) in derdamaligen Tschechoslowakei geboren. Sie gehört zu denweltweit erfolgreichsten Models. Ihren Durchbruch erlebtesie im Februar 2001, als sie das jüngste Covergirl in derGeschichte der amerikanischen Vogue war.

Was fällt dir als Erstes ein, wenn du an Tschechien denkst?Gutes Essen, meine Familie und meine Freunde.Welches Essen denn genau?Das schwere böhmische Essen, das meine Mutter macht. Am liebsten esse ich Truthahn mit Kraut und Knödeln. Und Pfannku-chen mit Heidelbeermarmelade und Sahne. Mein Lieblingsge-tränk ist allerdings deutscher Apfelsaft – den vermisse ich sehr,wenn ich in Amerika bin, weil er so schwer zu bekommen ist.Fühlst du dich in Tschechien immer noch zu Hause?Gerade durch das viele Reisen merke ich, wie sehr ich an Tsche-chien hänge. Ich reise zwar in wirklich tolle Länder, aber zu Hau-se bin ich tatsächlich nur in Tschechien. Schließlich sind dort diewichtigsten Menschen in meinem Leben: meine Familie undmeine Freunde.Was sollten wir unbedingt über Tschechien wissen?Dass das Essen toll ist, dass das tschechische Bier das beste der Weltist, dass dort herzliche und wunderbare Menschen wohnen. Unddass es sich wegen der schönen Landschaft wirklich lohnt, auchmal was anderes als Prag zu besuchen. Pardubice zum Beispiel istsehr sehr schön, ich bin da in der Nähe geboren. In Pardubice be-kommt man übrigens auch den besten Lebkuchen der Welt.Bekommst du etwas Bestimmtes zu hören, wenn du sagst,dass du Tschechin bist?Es macht die Leute neugierig. Und alle sagen mir, wie gut ihnenPrag gefällt.Was ist für dich typisch tschechisch?Unabhängig sein, optimistisch. Mutig. Wir vertrauen in das, waswir glauben und versuchen immer, unser Bestes zu geben.

CHARAKTERTYP

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ZEICHENSETZUNG

Text: Susanne Klingner______Fotos: Peter Neusser______

Morgen ist euer Leben wie immer

Denkmal auf dem Wenzelsplatzin Erinnerung an Jan Palach.Genau hier hatte sich Palach 1969angezündet – Zdenek Adamecmacht es ihm Jahre später nach.

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Das Letzte, was Zdeněk Ada-mec am Morgen des 6. März2003 sah, war der Wenzels-platz in Prag. Dort stehengroße prächtige Hotels an-

einander gereiht, Bäume säumen den Platz,über den das Reiterstandbild des HeiligenWenzel wacht.Vielleicht setzte sich ZdeněkAdamec auf die Stufen des Nationalmu-seums, bevor die Sonne aufging. Vielleichtweinte er oder sprach sich Mut zu.Vielleichtrauchte er eine Zigarette oder blinzelte indie Sonne. Sicher ist: Eine halbe Stundenach Sonnenaufgang, um halb acht, ging erauf eine der beiden kleinen Terrassen amNationalmuseum, übergoss sich mit Benzinund zündete ein Streichholz an.Im Polizeibericht steht: Zdeněk Adamecsprang brennend von der Terrasse und bliebauf der Treppe darunter liegen. Zwei Passan-ten versuchten, die Flammen mit ihrenJacken zu ersticken, ein Polizist versuchte esmit einem Feuerlöscher. Eine Frau gab zuProtokoll: „Als ich das sah, dachte ich,jemand würde einen Film drehen. Aber dawaren keine Kameras, erst dann verstand ichden Horror.“ Adamec wurde in ein Kran-kenhaus auf die Intensivstation gebracht. ImObduktionsbericht steht: kein Alkohol, kei-ne Drogen.Vierzig Minuten, nachdem er dasStreichholz entzündet hatte, war er tot.Zdeněk Adamec war 18 Jahre alt. Es warkein Zufall, dass er sich auf dem Wenzels-platz vor dem Nationalmuseum anzündete.Am 16. Januar 1969 hatte sich genau dortder Student Jan Palach angezündet, um ge-

gen den Einmarsch der Truppen des War-schauer Paktes in die damalige Tschecho-slowakei zu demonstrieren. Der 20-jährigePalach wurde zum stillen Nationalhelden,seine Beerdigung zu einer Massendemons-tration für Freiheit und Demokratie. In dendreieinhalb Monaten nach Palachs Tod ver-brannten sich weitere 28 Tschechoslowaken.Seitdem zündeten sich immer wieder jungeMenschen an, ein oder zwei im Jahr. Dochim Frühling dieses Jahres waren es sechs.Zdeněk Adamec war der erste von ihnen.Der Schüler hinterließ zwei Abschiedsbrie-fe. Einen an seine Eltern, den anderenmachte er im Internet öffentlich und über-schrieb ihn mit „The Action Called Torch2003“, Fackel 2003. Jan Palach nannte sich1969 „Torch N° 1“. Zdeněk Adamecschreibt in seinem Abschiedsbrief: „SeitNovember 1989 hat sich für uns nicht sehrviel verändert. Sicher, wir können jetzt sa-gen, ob wir einen Politiker mögen odernicht, ohne dafür mit Arbeit in Uranminenbestraft zu werden. [...] Aber die so genann-te Demokratie, für die wir gekämpft haben,ist nicht die wirkliche Demokratie. Sie istlediglich eine Regierung, die Herrschaftvon Angestellten, Geld und Machtmen-schen. Die Welt ist korrumpiert von Geld.“Er schreibt über die Ungerechtigkeiten zwi-schen reichen und armen Menschen, überUmweltverschmutzung und die Medien.Und an einer Stelle schreibt er: „Diese Tatwird für euch auch nur eine weitere Infor-mation sein. Und morgen ist euer Lebenwie immer.“

Jaroslava Moserová ist 73 Jahre alt, Senatorin,und sitzt in einem kleinen Büro im PragerSenatsgebäude. Sie sagt: „Natürlich hat esAdamec dem Palach nachgemacht. Er woll-te, dass sich die Menschen an ihn erinnern.“Moserová war die Ärztin, die Palach an dendrei Tagen behandelte, an denen er nochlebte, nachdem er sich angezündet hatte.Dreißig Jahre lang hat sie als Spezialistin fürBrandverletzungen gearbeitet, am liebstenwill sie nicht über diese Zeit sprechen. Alssie es doch tut, ringt sie mit ihrer Fassung.Ihre Augen werden traurig, die Frau wirktkleiner als sie ohnehin schon ist. AdamecsTod holt alte Bilder zurück, die sie eigent-lich verdrängen wollte. „Ich habe zu vielgesehen,” sagt sie „diese Art des Sterbens istso schrecklich.“ Nachdem Jan Palach zu ihr in die Klinikeingeliefert wurde, bekam er sehr viele Brie-fe. „Jeder hatte damals Verständnis dafür, wasPalach getan hatte“, sagt die Senatorin. „Esgab einfach keine andere Möglichkeit zuprotestieren. Palach wollte etwas tun, dasjeder im Land und auf der ganzen Welt er-fahren würde.“ Also hat er sich angezündet.Sie glaubt nicht, dass sich nach Zdeněk Ada-mecs Tod etwas ändern wird. Als Palach denTod als Protestform wählte, wurden dieMenschen mutiger. „Aber die Zeit war eineandere“, sagt Jaroslava Moserová. Heute kön-ne jeder – zumindest theoretisch – in diePolitik gehen und sich engagieren.Trotzdemhat Jaroslava Moserová Mitgefühl mitZdeněk: „Er hat es wirklich ernst gemeint.Er war ein sehr sensibler Mensch.“

In Tschechien verbrannten sich in diesem Frühjahr sechs Menschen im Altervon 18 bis 50 Jahren – aus unterschiedlichen Motiven. Die Serie der Selbstmordebegann Anfang März mit dem Schüler Zdeněk Adamec. Eine Spurensuche.

JAN PALACH

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ZEICHENSETZUNG

Der Direktor der technischen Oberschule inPelhřimov, Josef Koch, erfuhr am 6. Märzgegen Mittag vom Tod seines Schülers.Pelhřimov ist eine kleine Stadt in Südböh-men, rund 150 Kilometer südöstlich vonPrag gelegen. Eingesunken sitzt der 48-jährige Schulleiter in einem Sessel im Direk-torenzimmer. Auch noch Wochen nachZdeněks Tod ist er betroffen. „Es machtmich traurig, weil ein junges Leben soschrecklich zu Ende ging.“ Nachdem diePolizei in seinem Büro war, redete er mitden Schülern. „Wir sagten ihnen einfach dieWahrheit. Was passiert war und wie.“ DerDirektor gab den Schülern den Abschieds-brief zum Lesen. „Dann war es ganz still.“Die Schüler wollten nicht diskutieren. Bis zudem Zeitpunkt, als Adamec sich mit Benzinübergoss, hatten sie das relativ sorgenfreieLeben, das man führt, wenn man in einerKleinstadt auf eine höhere Schule geht.Er war im zweiten Jahrgang der technischenOberschule und im Schülerrat. Josef Kocherzählt, dass Zdeněk Adamec immer guteNoten gehabt habe, dass er völlig unauffälliggewesen sei. Erst als es zu spät war, ist ihmaufgefallen, dass sich der Junge mehr für dasGeschehen an der Schule interessierte alsandere: „Wenn Lehrer beeinander standen,ist er hingegangen und hat gefragt, worumes geht.“ Details wie dieses bekamen erstnach dem 6. März eine Bedeutung. „Vielekleine Steinchen, die für sich allein unbe-deutend waren, haben sich wie ein Mosaikzusammengefügt“, sagt Koch.

Wenn in Pelhřimov die Schule aus ist, tref-fen sich einige Schüler jeden Tag in einerKneipe. Sie unterhalten sich dann über dieSchule, lästern über andere oder raucheneinfach nur. Teenagernachmittage. ZdeněkAdamec kam nie hierher. Er hatte keineFreunde. Nach dem Unterricht fuhr er mitdem Bus zurück nach Humpolec, wo er mitseinen Eltern wohnte, und setzte sich dortan seinen Computer.Auch wenn keiner der Schüler mit ZdeněkAdamec befreundet war, bekannt war er ih-nen doch. „Er sah aus wie ein Wissenschaft-ler, und man konnte sich einfach nicht mitihm unterhalten“, sagt Milan, der mit ihmauf dieselbe Schule ging. Sie nannten ihn ei-nen Streber, nahmen ihn nicht ernst, spra-chen nicht mit ihm. Er sei ab und zu sogarmit dem Lehrer in die Klasse gekommen.Zdeněk verbrachte die Nachmittage zuHause. Er betreute die Internetseite der„Darkers“, einer Gruppe, die sich in die Pro-gramme zur Stromversorgung der Stadthackte und ganze Anlagen lahm legte. An-geblich hat er außerdem im Internet eineAnleitung veröffentlicht, wie man eineBombe baut. Das sagen die Schüler inPelhřimov. Am Morgen des 6. März erzähl-ten sie sich, dass irgendetwas passiert sei. DasGerücht geht um, dass am Tag zuvor die Po-lizei wegen der Sache mit den „Darkers“ beider Familie Adamec war und Zdeněk mit ei-ner Gefängnisstrafe von zwei Jahren drohte.Zdeněks Vater, Zdeněk Adamec Senior, vonBeruf Grabsteingraveur, wohnt mit seiner

Jaroslava Moserová. 1969 behandelte siePalachs Brandverletzungen, heute versucht siesich Adamecs Entscheidung zu erklären.

Am Morgen des 6. Märzerzählten sich Zdeněks Mitschüler, dass irgendetwaspassiert sei.

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Frau in einer Wohnung im Neubauviertel vom Humpolec, 15 Kilometer vonPelhřimov entfernt, eine gute Stunde mit dem Bus von Prag. Neun Etagen istjede der rot-weißen Plattenbauten hoch. Die Wohnung der Adamecs liegt imErdgeschoss, an den Fenstern sind die Jalousien heruntergelassen.Herr und Frau Adamec reden nicht mehr mit den Menschen von der Presse.Doch als sie sich noch äußerten, da machte Zdeněk Adamec Senior der Polizeischwere Vorwürfe: „Sie haben ihn unter Druck gesetzt, damit er ihnen Infor-mationen über die „Darkers“ gibt“, erklärte er der tschechischen ZeitungVysočina. „Sie drohten ihm mit zwei Jahren Gefängnis, dabei sagte mir ein An-walt, er müsse nur mit einem halben Jahr rechnen.“ Seine Frau sagte: „Zdeněkdachte, wenn er im Gefängnis sei, würde er keine Bücher, keine Schule, keinInternet haben – und damit kein Leben.“ Es gibt viele Erklärungen für den Selbstmord. Für die Senatorin JaroslavaMoserová waren es „globale Probleme“. Für den Schulleiter Josef Koch „poli-tische, ökologische und persönliche Probleme“. Karel Humhal sagt: „Mankann es nicht sagen.“ Der Psychologe hat eine Praxis in Prag. Er kann nichtfassen, dass sich jemand für die schlimmste Art zu sterben entscheidet.Trotz-dem versucht er, diese Art von Selbstmord, der nicht im Geheimen passiert,sondern für die Öffentlichkeit bestimmt ist, zu verstehen. „Ich glaube, für jun-ge Menschen ist es derzeit schwierig, sich an die Gesellschaft anzupassen, weiles gerade so viele Umbrüche gibt.“ Die Systeme hätten sich geändert, auch dieWerte, die Menschen in Tschechien seien enttäuscht. Nach der Wende 1989blieben die Kader in den entscheidenden Positionen die gleichen. „Für jungeMenschen heißt das: Es wird sich nichts ändern.“ Am Ende aber findet auchder Psychologe Karel Humhal keine Antwort auf die Frage:Warum tut jemandso etwas? „Sich heute selbst zu verbrennen, passt nicht in den historischenKontext. Die Umstände sind zurzeit nicht so außergewöhnlich.“ Nicht so wie1969, wie bei Palach. Doch die Probleme seien viel weniger fassbar geworden.Am 5. März 2003 verließ Zdeněk Adamec wie jeden Morgen sein Elternhaus.Ob er mit dem Bus fuhr oder mit einem Mitglied der „Darkers“, weiß niemandgenau, es gibt beide Versionen.Aber statt in die Schule nach Pelhřimov fuhr ernach Prag, lief dort durch die Stadt, einen ganzen Tag und eine ganze Nachtlang. Dass nach ihm gesucht wurde, weil man ihm sagen wollte, er würde wegender „Darkers“-Webseiten nicht belangt werden, erfuhr er nicht mehr. Amfrühen Morgen des 6. März ging Zdeněk Adamec zum Wenzelsplatz.

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ROJEKTE I

„Znečištění vzduchu“ und„Skleníkový efekt“ schreibt der16-jährige Thomas Jacob auf einBlatt Papier. Im Geografie-Un-terricht werden Luftverschmut-zung und Treibhauseffekt behan-delt.Was viele Schüler schon aufDeutsch schwer begreifen, lerntThomas auf Tschechisch. Seitder fünften Klasse besucht er dasFriedrich-Schiller-Gymnasiumim sächsischen Pirna. Dort, 25Kilometer von der tschechischenGrenze entfernt, wurde 1998das erste und bislang einzigedeutsch-tschechische Gymnasi-um Deutschlands gegründet.Neben 450 Schülern, die andem Gymnasium ganz regulärihr Abitur machen, besuchen150 Schüler binationale Klassen,in denen jeweils 15 Deutscheund 15 Tschechen gemeinsamlernen. In einigen Fächern wieSport, Musik und Informatikwerden die Schüler auf Deutschunterrichtet, in Kunst auf Tsche-chisch. Geografie lernen dieDeutschen auf Tschechisch unddie Tschechen auf Deutsch. Die

Hochschulreife, die die Schüler am Ende der zwölften Klasse bekom-men, wird in beiden Ländern anerkannt.Thomas bereut das mühevolle Vokabel-Lernen nicht. „Man erweitertseine Berufschancen“, sagt er, „es kann doch kaum jemand Tsche-chisch. Und wenn das Land erst mal zur EU gehört, werden Leutewie wir dringend gebraucht.“ Nach dem Abitur will er Medizinstudieren, einige Semester davon in Tschechien. Auch Sarah Ulbig,seine Mitschülerin, ist überzeugt, die richtige Schule gewählt zuhaben: „Ich mag den Klang der tschechischen Sprache, und ichmöchte ganz einfach meinen Teil zur Verständigung beitragen.“Überall im Schulhaus sind neben den deutschen Bezeichnungenauch die tschechischen zu lesen. „Orientační plán“ steht über demWegweiser durchs Schulhaus und „Ředitel Pan Wenzel“ an der Türdes Schulleiters Bernd Wenzel. „Die Ausbildung ist hart“, gibt Wen-zel zu, „Tschechisch ist eine wirklich schwere Sprache.“ Trotzdemsei er sicher, dass sich die Anstrengung für seine Schützlinge lohnt.Gerade im Hinblick auf den Beitritt Tschechiens zur EU lägen dieVorteile auf der Hand. „Ich sage immer“, beginnt Bernd Wenzel ei-nen Satz, den er sich offenbar für Journalisten-Besuche zurechtgelegthat, „während die Nachbarn sich noch distanziert über den Garten-zaun unterhalten, haben die Kinder schon das Loch zum gemeinsa-men Spielen entdeckt.“Ganz so einfach ist es dann aber doch nicht. „Wenn die Lehrer nichtdarauf achten, dann trennen sich die Deutschen und die Tschechen“,sagt Sarah Ulbig. Die Tschechin Markéta Šmídová, die in die gleicheKlasse wie Sarah und Thomas geht, sieht das genauso. „Es gibt unterden 15 deutschen Schülern in unserer Klasse drei oder vier, die wirk-lich den Kontakt zu uns Tschechen suchen, mit den anderen habenwir fast nichts zu tun.“ Markéta wohnt im Internat in der PirnaerAltstadt.Von den 87 Schülern, die dort derzeit leben, sind 75 Tsche-

chen und nur zwölf Deutsche.Wenn abends auf dem HofFederball oder Tischtennis ge-spielt wird, komme nur ganz sel-ten ein deutscher Mitschülervorbei, erzählt Markéta.Auch die 16-jährige Sarah fandes in den ersten Jahren schwie-rig, mit den Tschechen insGespräch zu kommen: „Da wardiese Sprachbarriere. Es hat sicheinfach keiner getraut zu reden.“Inzwischen hat sie Freundschaf-ten geschlossen, sitzt im Unter-richt meist neben einer tsche-chischen Mitschülerin und gehteinmal die Woche ins Internat.Das tue den Sprachkenntnissengut, ist Sarah überzeugt, und siekann auch schon Erfolge vor-weisen: „Wenn ich abends imBett liege, überlege ich oft, obich mich mit meinen Freundenauf Deutsch oder Tschechischunterhalten habe. Für mich istinzwischen alles eins.“

Mehr Informationen unter:www.schillergymnasium-pirna.deoder Telefon: 03501/52 85 12

FÜR GUTE NOTEN

AUF DEM FRIEDRICH-

SCHILLER-GYMNASIUM

IN PIRNA REICHT

ES NICHT, DEN STOFF

EINMAL VERSTAN-

DEN ZU HABEN – WEIL

IN ZWEI SPRACHEN

UNTERRICHTET WIRD.

Das Loch im Gartenzaun

Sarah und Thomas

Texte & Foto: Dana Toschner

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SPRACHKURSEViele Universitäten in Tschechien bieten im Sommer Tschechisch-Sprachkurse für Anfänger undFortgeschrittene an, kombiniert mit Ausflügen und Begegnungen mit Muttersprachlern. ZweiBeispiele: Ein Sprach- und Kulturkurs an der Karl-Universität in Prag vom 4. bis 29.August kostet 910Euro inklusive Studienmaterial und kulturellen Aktivitäten, jedoch ohne Unterkunft. Auf die Som-merschule der Masaryk-Universität in Brno (Brünn) vom 25. Juli bis 22. August kann man für 950US-Dollar inklusive Unterkunft, Verpflegung und Exkursionen gehen. Weniger kostenintensiveSprachkurse bieten zum Beispiel deutsche Volkshochschulen an.Kontaktadressen und Links zu Universitäten gibt es unter www.czech-berlin.de; www.vhs.de

BERUFSPRAKTIKAUnter dem Motto „A je to! – Auf geht’s!“ hat die Organisation Tandem ein Austauschprogramm fürberufliche Praktika gestartet. Auszubildende und arbeitslose Jugendliche können in Tschechien inHandwerksbetrieben, in der Gastronomie oder der Verwaltung arbeiten. Jan-Ole Bibow (20) ausLübeck hat es ausprobiert: „Ich mache eine Ausbildung zum Bau- und Metallmaler und war mit eini-gen Mitschülern für zwei Wochen in Hostinne in Nordböhmen. Wir haben dort mit tschechischenMaler-Lehrlingen auf Baustellen gearbeitet. Obwohl es mit der Sprache etwas schwierig war, hat dieZusammenarbeit gut geklappt – wir haben uns Handzeichen gegeben und einzelne Wörter gelernt.“Mehr Informationen unter www.tandem.org oder Telefon 09 41/58 55 70

NEMECKÁ SKOLA V PRAZE – DEUTSCHE SCHULE PRAGIn der Deutschen Schule Prag werden seit 1990 Schüler von der ersten bis zur 13. Klasse unterrichtet.Die Schulleiterin Eva Neumann-Roedenbeck über ihre Schule:Wer besucht die Deutsche Schule Prag?Vor allem deutsche Schüler, deren Eltern in Tschechien arbeiten, und die Kinder der Botschaftsmitar-beiter.Aber es gibt auch Schüler aus Russland,Vietnam, Kroatien und den Niederlanden.Alle werdenauf Deutsch unterrichtet und können hier das deutsche Abitur machen.Kommen die Schüler gar nicht mit Tschechen und der tschechischen Sprache in Kontakt?Doch, natürlich. Seit zwei Jahren nehmen wir tschechische Schüler auf, die zunehmend in Deutschunterricht werden und neben dem tschechischen auch das deutsche Abitur machen können. Für diedeutschen Schüler ist Tschechisch bis zur achten Klasse Pflichtfach.Können Schüler aus Deutschland an Ihrer Schule ein Austauschjahr verbringen?Theoretisch ist das möglich, aber wir hatten noch keine Anfragen.Ab und zu absolvieren Lehramtstu-denten aus Deutschland hier ein Praktikum.Mehr Informationen unter www.dsp-praha.cz oder Telefon 00 42/0/235 31 17 25

NEISSE-UNIVERSITYDie Technische Universität Wroclaw (Breslau) in Polen, die Technische Universität Liberec (Reichen-berg) in Tschechien und die Fachhochschule Zittau/Görlitz (Deutschland) in der Euroregion Neisse ha-ben die „Neisse-University“ gegründet, in der deutsche, tschechische und polnische Studenten gemein-sam lernen. Die Universität hat kein festes Haus:Wer sich in den bisher einzigen Studiengang Informa-tions- und Kommunikationsmanagement einschreibt, verbringt sein erstes Studienjahr in Liberec, daszweite in Wroclaw und das dritte in Zittau/Görlitz. Die Regelstudienzeit bis zum Bachelor beträgt sechsSemester, eine Weiterführung des Studiums zum Master-Abschluss ist möglich. Die Unterrichtsspracheist Englisch, im jeweiligen Land werden zudem die Grundlagen der Landessprache vermittelt.Mehr Informationen unter www.neisse-uni.org oder Telefon 0 35 83/61 18 89

Tschechisch lernen

IMPRESSUM

fluter – Magazin der Bundeszentralefür politische Bildung,Ausgabe 07, Juni 2003

Herausgegeben von der Bundes-zentrale für politische Bildung(bpb), Berliner Freiheit 7,53111 Bonn, Telefon: 01888-515-0

Redaktion: Dr. Dieter Golombek (verantwortlich),Bundeszentrale für politischeBildung ([email protected]),Berthold L. Flöper,Dirk Schönlebe (Koordination),Dirk von Gehlen, Alexandra Pieper(Chefin vom Dienst),Thomas Kartsolis (Art Direction)

Texte und Mitarbeit: Marian Blasberg, Barbara Eschlwech,Dirk von Gehlen, Jirí Grusa,Holger Holzer, Sasa Huberová,Jan Keith, Susanne Klingner,Friederike Knüpling, Christoph Koch,Joyce Mariel, Eva Marz, Tobias Peter,Nikolaus Röttger, Julia Schneider,Roland Schulz, Susanne Sitzler,Barbara Streidl, Dana Toschner,Peter Wagner, Sebastian Wehlings,Heiko Zwirner

Fotos und Illustrationen: Dominik Asbach, Bert Heinzlmeier,Flin, Mierswa/Kluska,Peter Neusser, Paso, Olaf Tiedje,Frank Weichselgartner

Herzlichen Dank an:Adalbert-Stifter-Verein (Peter Becher),Brücke/Most-Stiftung (Daniel Kraft),Tschechisches KulturzentrumMünchen (Jan Sicha, Marika Velicova)

Redaktionsanschrift / Leserbriefe:fluter – Magazin der Bundeszentralefür politische Bildung.SV Medien-Service GmbH,Emmy-Noether-Straße 2, Bauteil E,80992 München,Telefon: 089-2183-8327; Fax: 089-2183-8529; [email protected]

Satz+Repro: IMPULS GmbH,Taubesgarten 23,55234 Bechtolsheim

Druck: R. Oldenbourg GrafischeBetriebe Druckerei GmbH

Vertrieb, Bestellungen undAbbestellungen: UniversumVerlagsanstalt GmbH KG,Taunusstraße 54, 65183 Wiesbaden;Telefon: 0611-90 30-267,Fax: 0611-90 30-277;E-Mail: [email protected]

Papier: Dieses Magazin wurdeauf umweltfreundlichem, chlorfreigebleichtem Papier gedruckt.

ISSN 1611-1567 Bundeszentrale fürpolitische [email protected]; www.bpb.de

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EHRSTELLE

Wie es war, und was es istDie Geschichte der Tschechischen Republik im letzten Jahrhundert ist auch die Geschichte Europas: die Geschichte von Krieg,Vertreibung und Minderheiten. Die Beziehungen zu Deutschland sind geprägt durch die Schlüssel-Ereignisse der Jahre 1918, 1938und durch die des Zweiten Weltkriegs und dessen Ende. Die Jahre 1968 und 1989 setzten Zeichen für das Ende der Teilung Europas.

Beneš-Dekrete, die: Sammelbezeichnung für 143 Rechtsnormen,die durch den tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Beneš(1884-1948) von 1940 bis 1945 erlassen und durch die tschecho-slowakische Exilregierung vorbereitet worden sind. Der Erlass vonDekreten war notwendig geworden, da infolge der Zerstörung undBesetzung der Tschechoslowakei durch das NS-Regime seit 1938eine Verfassungsnot entstanden war. Einige der Dekrete sind bisheute umstritten, da sie 1945 die Entrechtung und Enteignung derdeutschen und der ungarischen Minderheit regelten und alsGrundlage der Vertreibung der Sudetendeutschen dienten. ImApril 2002 erklärte das tschechische Parlament die Wirksamkeitder Dekrete einstimmig für erloschen, die sich aus ihnen ergeben-den Rechts- und Eigentumsverhältnisse jedoch als unantastbar.Böhmische Dörfer, die: umgangsspr.; Redewendung, mit der seitdem 16. Jhd. unbekannte oder unverständliche Dinge bezeichnet

werden. Entstand, weil viele böhmische Ortsnamen für Deutschefremd klangen und schwer auszusprechen waren. Richtig ge-bräuchlich seit dem Dreißigjährigen Krieg, als Böhmen so starkverwüstet wurde, dass es kaum noch unzerstörte Dörfer gab. Dahergalt als B. Dorf auch etwas, das es eigentlich nicht mehr gab. InTschechien sind B. Dörfer „Spanische Dörfer“.Botschaftsflüchtlinge, die: Sammelbezeichnung für ca. 4000DDR-Bürger, die sich im Sommer 1989 in die Botschaft der BRDin Prag flüchteten. Am 30.9.1989 machte ein nicht zu Ende ge-sprochener Satz von Außenminister H.-D. Genscher Geschichte:Genscher verkündete vom Balkon der Prager Botschaft: „Ich binheute gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass Ihre Ausreise...“.Dass die Ausreise genehmigt worden war, ging im Jubel unter.Budweis: (České Budějovice), Hauptstadt des südböhmischenKreises, 93 500 Einwohner, am Zusammenfluss von Moldau (Vlta-

Der Exil-Politiker T.G. Masaryk unterzeichnet am 18.Oktober 1918 die tschechoslowakische Unabhängigskeitserklärung in Philadelphia.

Lexikon 21.07.2003 18:07 Uhr Seite 2

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va) und Maltsch (Malše) gelegen. Zu Unrecht kaum bekannt we-gen seiner schönen Altstadt mit Schwarzem Turm, Samson-Brun-nen und St. Nikolaus Kathedrale. Zu Recht sehr bekannt als tradi-tionsreiche Brauereistadt und Herkunftsort des Budweis (Budvar)– das nichts mit dem amerikanischen „Budweiser“ zu tun hat.Charta 77, die: Bürgerrechtsgruppe in der Tschechoslowakei. Ge-gründet 1977, aktiv bis 1990, 1992 aufgelöst. Unter Berufung aufdie Schlussakte der Konferenz von Helsinki von 1975 forderte dieGruppe die tschechische Regierung 1977 dazu auf, die Einhaltungder Menschenrechte in der Tschechoslowakei zu gewährleisten.Das Charta-77-Papier wurde von über 200 Personen, vor allemIntellektuellen, Universitätsangehörigen und Kirchenvertreternunterzeichnet. Führende Mitglieder und Sprecher der C. waren→ Václav Havel, der Philosophieprofessor Jan Patočka sowie derehemalige Außenminister der Tschechoslowakei Jiří Hájek.

Dubček, Alexander: Politiker, *Uhrovec 27.11.1921, † Bratislava7. 11.1992. D. beteiligte sich 1944 am slowakischen Nationalauf-stand, machte nach dem Zweiten Weltkrieg Karriere in der Kommu-nistischen Partei und wurde am 6.1.68 erster Generalsekretär desZentral-Komitees der Tschechoslowakischen KP. Er begann ei-nen Reformprozess, der unter dem Stichwort „Sozialismus mitmenschlichem Antlitz“ berühmt wurde. D. wurde zur Symbolfigurdes → Prager Frühlings, wurde nach dem Einmarsch der Trup-pen des Warschauer Paktes verhaftet, im April 1969 abgesetzt undim Mai 1970 aus der Partei ausgeschlossen. Fortan arbeitete erin der Forstverwaltung. D. starb an den Folgen eines ungeklärtenVerkehrsunfalls.Gott, Karel: *Pilsen 14.7.39 als Sohn eines Elektrotechnikers. ImAnschluss an eine Elektrikerlehre absolviert er ein 5-jähriges Ge-sangsstudium, aus dem er als Romantischer Tenor hervorgeht. Sei-

E. Hácha, Staatspräsident des 1939 errichteten „Protektorats Böhmen und Mähren“, kondoliert Hitler beim Staatsbegräbnis für Heydrich am 9. Juni 1942 in Berlin.

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EHRSTELLE

nen ersten Hit in Deutschland hatte er 1967 mit „Weißt Du wo-hin?“ (Doktor Schiwago). „Einmal um die ganze Welt“ und „Bie-ne Maja“ machten ihn berühmt – man nennt ihn seither „Die gol-dene Stimme aus Prag“. In Tschechien im Februar 2003 einigeWochen lang als Nachfolger für Präsident Václav Havel gehandelt.Havel, Václav: Schriftsteller und Politiker, *Prag 5.10.1936. Sohneiner bekannten Prager Unternehmerfamilie, der nach der kom-munistischen Machtübernahme im Februar 1948 ihr Eigentumentzogen wurde. H. wurde vom Regime eine höhere Ausbildungverweigert, daher arbeitete er als Chemielaborant und machte ineiner Abendschule Abitur. Mit 19 Jahren begann er zu publizieren,im Prager Frühling stellte er sich den einmarschierenden Truppendes Warschauer Paktes entgegen. H. war einer der Gründer undSprecher der → Charta 77, wegen seines Engagements für vom Re-gime Verfolgte wurde er 1979 zu Gefängnis verurteilt, das er 1983

aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig verlassen konnte. H. wareine der führenden Persönlichkeiten der → Samtenen Revolution,am 29.12.1989 wurde er zum letzten Präsidenten der Tschechoslo-wakei, am 26.1.1993 zum ersten Präsidenten der TschechischenRepublik gewählt. Dieses Amt hatte er bis zum 2.2.2003 inne.Kafka, Franz: Schriftsteller *Prag 3.7.1883, † Kierling 3.6.1924.Aus bürgerlicher jüdischer Kaufmannsfamilie stammend studierteK. Jura an der Universität Prag, danach war er von 1908 bis 1922als Versicherungsjurist tätig. 1908 erschien K.s erste Publikation, imSeptember und Dezember 1912 vollendete er zwei seiner berühm-testen Romane: „Das Urteil“ und „Die Verwandlung“. K.s Werkfand zu seinen Lebzeiten nur wenig Beachtung.Klaus,Václav: *Prag 19.6.1941. Seit 28.2.2003 Präsident der Tsche-chischen Republik. Studierte Ökonomie des Außenhandels, von1970 bis 1987 bei der Tschechoslowakischen Staatsbank tätig,

Deutsche Soldaten nach der Zerstörung Lidices im Juni 1942.

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wandte sich K. 1989 der Politik zu und wurde zunächst Finanzmi-nister, 1991 stellvertretender Ministerpräsident der Tschechischenund Slowakischen Föderativen Republik. K. war von 1992 bis 1997Ministerpräsident der Tschechischen Republik, 1991 war er einerder Mitbegründer der Bürgerlichen Demokratischen Partei(ODS), deren Vorsitz er bis Dezember 2002 inne hatte. Im Februar2003 wurde K. Nachfolger von V. Havel als tschechischer Präsident.Lidice: Ort im Mittelböhmischen Kreis, etwa 500 Ew. L. wurdeam 10.6.1942 von der SS als Rache-Akt für das Attentat auf denstellvertretenden Reichsprotektor für Böhmen und Mähren, R.Heydrich, völlig zerstört. Den Ew. wurde vorgeworfen, die At-tentäter unterstützt zu haben. Die männlichen Ew. über 16 Jahrewurden erschossen (etwa 190), die Frauen in das KZ Ravensbrückgebracht. 98 Kinder wurden zum Zwecke der „Eindeutschung“ inSS-Lager deportiert. 1946 wurde der Ort wieder aufgebaut.

Masaryk, Tomáš Garrigue: tschechischer Staatsgründer, *Hodo-nin/Südmähren 7.3.1850, †Lány/Böhmen 14.9.1937. Nach einemPhilosophiestudium in Wien lehrte M. von 1882 bis 1897 als Pro-fessor an der Tschechischen Universität Prag. 1915 gründete er inParis mit Edvard Beneš und Milan Štefánik den tschechoslowaki-schen Nationalrat und setzte sich bei den Alliierten für die Grün-dung eines eigenen Staates ein.Von 1918 bis 1935 war M. ersterPräsident der Tschechoslowakei.Münchner Abkommen, das: Am 29.9.1938 in München zwi-schen dem Deutschen Reich, Großbritannien, Frankreich und Ita-lien geschlossenes Abkommen. Ohne Beteiligung der Tschechoslo-wakei beendete das M. scheinbar die durch Hitlers ultimative Dro-hungen entstandene Kriegsgefahr. Gemäß dem M. mussten dieüberwiegend von Deutschen bewohnten Grenzgebiete Böhmens(Sudetendt. Gebiete, 28 643 qkm, 3,63 Mio. Einwohner) an das Dt.

Sudetendeutsche warten in Prag im April 1945 auf ihre Deportation.

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EHRSTELLE

Reich abgetreten werden.Am 15.3.1939 wurde auch der Rest desLandes besetzt und hieß „Protektorat Böhmen und Mähren“. Derschlimmste Terror ist mit dem Namen R. Heydrich verbunden.Am 5.8.1942 erklärten der britische Außenminister Eden und derFührer der tschechoslowakischen Exilregierung Beneš das M. füraufgehoben.Prager Fenstersturz, der: 1) Anhänger von J. Hus stürmten am30.7.1419 das Prager Rathaus, befreiten einige ihrer Glaubens-genossen und warfen Ratsherren aus dem Fenster. 2) Böhmi-sche Protestanten stürzten am 23.5.1618 zwei kaiserliche Statthal-ter und einen Schreiber aus einem Fenster der Prager Burg, daRekatholisierungsmaßnahmen die garantierte Religionstoleranzgefährdete. An den F. schloss sich der Böhmische Aufstand an,der Auftakt des Dreißigjährigen Krieges war. 3) Am 10. März 1948stürzte der damalige tschechoslowakische Außenminister JanMasaryk, Sohn von → T.G. Masaryk, aus dem Fenster und starb.Offiziell war es Selbstmord, wahrscheinlich jedoch ein Mord der

Geheimpolizei, da Masaryk ein Gegner der kommunistischenMachtübernahme war.Prager Frühling, der: Sammelbezeichnung für Versuche der Kom-munist. Partei der Tschechoslowakei 1968, das bestehende Systemzu liberalisieren. Der P. wurde durch den Einmarsch von Truppendes Warschauer Paktes gewaltsam beendet.Samtene Revolution, die: Bezeichnung für den Sturz des kom-munistischen Systems der Tschechoslowakei im Herbst 1989. Ein-geleitet von einer Demonstration von rund 15 000 Studenten am17.11.1989, die brutal niedergeworfen wurde und Massendemons-trationen der Prager Bevölkerung mit bis zu 800 000 Teilnehmernzur Folge hatte. Am 19.11. schlossen sich zwölf Oppositionsgrup-pen, darunter die → Charta 77, zum Bürgerforum zusammen. Am24.11. trat Parteichef Jakeš zurück, am 27.11. verlieh ein General-streik den Forderungen nach Rücktritt von Staatspräsident Husák,Durchführung freier Wahlen, uneingeschränkter Religionsausü-bung sowie Verurteilung des Einmarsches der Warschauer-Pakt-

Tschechoslowakischer Widerstand gegen die Invasionstruppen des Warschauer Paktes, die den Prager Frühling 1968 niederschlagen.

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Truppen von 1968 Nachdruck.Am 10.12. vereidigte Husák in sei-ner letzten Amtshandlung eine neue Regierung, in der erstmalsnicht-kommunistische Politiker die Mehrheit bildeten.Schweißband, weißes, das:Von den in Deutschland wahrschein-lich populärsten tschechischen Sportlern getragenes Accessoire.Der Tennisspieler Ivan Lendl (*Ostrava 7.11.1960), der 1983erstmals die Nummer eins der Tennisweltrangliste war, machte dasSchweißband in den 80er Jahren populär. Als der Fußballer TomasRosický (*Prag, 04. 10. 1980) im Januar 2001 erstmals für BorussiaDortmund in der Bundesliga auflief, erlebte das Schweißband eineRenaissance. Rosický trug eines am rechten Handgelenk.Statistik, die: Einwohner: 10,3 Millionen, davon rund eine Milli-on in Prag; Größe: 78 866 qkm; Hauptstadt: Prag; Bruttoinlands-produkt: 13 300 Euro (2001); Arbeitslosenquote: 8,8% (2002);Inflationsrate: 2,0% (2002); Haupthandelspartner: Deutschland,Slowakei, Russland, Österreich; Bodenschätze: Uran, Braunkohle,Eisenerz, Graphit, Silber.

Vertriebenen, die: gemäß einer in der UN gebräuchlichenDefinition Personen, die als Folge von innerstaatlichen bewaffne-ten Auseinandersetzungen und Bürgerkriegen, Menschenrechts-verletzungen oder natürlichen und anderen menschlich verursach-ten Katastrophen zum Verlassen ihres gewöhnlichen Aufenthaltsor-tes gezwungen wurden. Im engeren Sinn deutsche Staatsangehöri-ge oder deutsche Volkszugehörige, die ihren Wohnsitz in den ehe-maligen deutschen Ostgebieten hatten und diese im Zusammen-hang mit den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs infolge Vertrei-bung, Ausweisung oder Flucht verloren haben. Vom Gebiet derTschechoslowakei wurden bis 1947 etwa 2,9 Millionen so ge-nannte Sudetendeutsche vertrieben.

Václav Havel (stehend) und Alexander Dubcek (li.) bei einer Sitzung des Bürgerforums am 22.11.1989 in Prag.

Mehr zu Gesellschaft, Politik und Geschichte Tschechiensin den Informationen zur politischen Bildung 276, 3/2002.Bestellung unter [email protected]

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FAHRPRÜFUNG

Wie vermeidest du es, Opfer der Taschendiebe zu werden?a) Den Fotoapparat lässig über der Schulter, den Geldbeutel in derGesäßtasche, stellst du dich auf der Karlsbrücke ins Gedränge undwidmest einige Minuten deine Aufmerksamkeit dem Stadtplan.b) Du hältst dich von anderen Touristen fern, weil Taschendiebesich als Touristen verkleiden. Den Reiseführer liest du nur in derTelefonzelle. Statt zu fotografieren, mischst du dich mit einemZeichenblock unter die einheimischen Künstler.c) Aus einem Kostümverleih besorgst du dir eine landestypischePolizeiuniform.

Wo kannst du gut und preiswert essen?a) In einem amerikanischen Fastfood-Restaurant schlägst du dirjeden Tag den Bauch voll. Du ahnst nicht mal, dass du von diesemGeld eine Literaturprofessur hättest stiften können.b) In einem Kellerrestaurant isst du Kuttelflecksuppe mit Brot.Vielleicht merkt der Kellner beim Kerzenschein nicht, dass du ihmauf die ohnehin moderate Rechnung zu wenig Geld gegeben hast.c) Du weigerst dich, in einem Nobelrestaurant am Wenzelsplatzdie Rechnung zu begleichen, weil die Zitronen in deinem Sorbetnicht der EU-Nahrungsmittelrichtlinie AXV 29/15 ZpV 73entsprochen haben.

Du willst mit dem Taxi zum „Goldenen Gässchen“fahren, ohne den fünffach überteuerten Fahrpreiszu bezahlen. Aber wie?a) Höflich reichst du dem Taxifahrer die Hand und stellstdich erst mal vor: „Hello, I’m a German tourist and I’m inyour lovely town for the very first time.You may be surpri-sed, but I don’t know anything here.“b) Du ziehst die vom Fremdenverkehrsverband herausge-gebene Liste mit den Preis-Richtwerten für Taxifahrteninnerhalb Prags heraus und liest sie dir aufmerksam durch.c) Du steigst hinter dem Fahrer in das Auto, drückst ihmblitzartig einen Kugelschreiber in den Nacken undmurmelst die Buchstaben KGB.

Wie lernst du bei einem gepflegten und günstigenGetränk ein paar Einheimische kennen?a) Du vertraust ganz einfach auf die handverlesenen Tipps

aus dem Polyglott-Reiseführer.b) Du stellst dich vor das Tor einer Fabrik und folgst den heraus-kommenden Arbeitern. Denn:Wo die Einheimischen hingehen, istes immer gut.c) Du gehst in eine Kneipe ohne Fenster, dafür aber nur mit Tsche-chen und rufst laut die Worte „Ice Hockey“ und „Nagano“. Durufst nicht die Worte „Golden Goal“ und „Oliver Bierhoff“.

Wo schläfst du?a) „Ich habe da eine besonders billige Unterkunft übers Internetgebucht. Da waren zwar keine Fotos abgebildet, aber das hat be-stimmt nichts zu bedeuten.“b) Zur Begeisterung deines Sozialkundelehrers beginnst du einhalbes Jahr vorher eine Brieffreundschaft zu einem Jugendlichenaus Prag, den du jetzt im Sinne der Völkerfreundschaft besuchst.c) Wozu schlafen?

Wie gelingt es dir, die Sehenswürdigkeiten in Ruhe anzuse-hen, ohne die ganzen anderen lästigen Touristen?a) Du bist höflich, zurückhaltend und zuvorkommend – undhoffst, dass die anderen Touristen sich ein Beispiel an dir nehmen.b) Du stehst bereits um 4 Uhr in der Früh auf und ziehst mit

Prag für Profis Bist du ein guter Rucksack-Tourist? Merk dir, wie deine Reaktionin den verschiedenen Situationen sein würde. Am Endesiehst du, welchem Typ du am ehesten entsprichst – je nachdem,ob du überwiegend a, b oder c als Antwort gewählt hast.

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AUFLÖSUNG:Typ A) Der tumbe KulturteutoneDu bist das ideale Opfer für jede legale und illegaleAbzocke legaler und illegaler Art.Wenn man dir in ei-nem Souvenirladen einen Stapel Schmierpapier alsnoch unveröffentlichtes und handschriftliches Kafka-Originalskript anbietet, greifst du dankend zu. Dirkönnte man auch eine überteuerte Currywurst mitPommes und Coca Cola als tschechisches Nationalge-richt andrehen. Hast du schon mal erwogen, nacktdurch Prag zu ziehen? Dann würde dir wenigstens nurnoch deine Körperbehaarung geklaut.

Typ B) Der gut vorbereitete LangweilerDu treibst den Stadtführer in den Wahnsinn, weil duihn alle drei Minuten unterbrichst, um seine Aus-führungen zu verbessern oder um „unverzichtbare De-tails“ zu ergänzen. Du weißt Bescheid und bist auf alleWidrigkeiten so gut vorbereitet, dass du eigentlich nurnoch davor Angst haben musst, von einem urplötzlichabstürzenden, heuballengroßen Meteoriten getroffenoder von Außerirdischen entführt zu werden. AberHalt! Kann man sich dagegen vielleicht versichern?

Typ C)Der risikofreudige AbenteurerDu reist jeden Tag, so als wär’s der letzte. Du bist kon-taktfreudig und schließt überall schnell neue Bekannt-schaften: im Souvenirladen, im Taxi, im Boxring, aufder Showbühne und im Knast. Manchmal läufst du allerdings auch Gefahr, Bekanntschaft mit den Fäustender Einheimischen zu schließen. Vorsicht aber vor al-lem bei Wetten – in einigen Milieus ist nicht auszu-schließen, dass Einsätze wie „Wenn du dreimal beimHütchenspiel verlierst, musst du elf Jahre als Leibeige-ner in meinen Bleiminen in der Mongolei arbeiten“ernst gemeint sind.

Taschenlampe und einer Thermoskanne Tee ausgerüstet los.c) Ein achtlos in einer Ecke abgestelltes Täschchen, ein laut ticken-der Wecker und ein kurzer Drohruf – schon ist die Polizei so frei,die Prager Burg weiträumig für dich abzusperren.

Auf der Karlsbrücke schmettert ein blasser Engländer Brit-popstücke zu Akustikgitarrenklängen.Was tust du?a) Du denkst nicht dran, ihm Geld zu geben.Wenn du schon malhier bist, willst du lieber Karel Gott und nicht Oasis hören.b) Du gibst ihm ein paar Münzen, denn im ARD-Kulturweltspie-gel haben sie gesagt, dass diese Art von Unterhaltung den „freien,lebendigen Charakter“ der Stadt widerspiegelt.c) Du sprichst alle hübschen Passantinnen an und behauptest, derManager des Typen zu sein.Weil ihr für euren nächsten MTV-Vi-deodreh noch Tänzerinnen bräuchtet, bittest du sie um ihre Tele-fonnummern. Dem Engländer gibst du eine davon ab.Vielleicht.

Beim Geldwechsel verlangt der Händler 12 Prozent Kom-mission.Was denkst du?a) Das hat schon seine Richtigkeit, schließlich ist es eine „handlingcharge“. Das Schild „no commission“ war also durchaus korrekt.b) Du verlässt den Laden und schreibst nach deiner Rückkehr einewarnende Mail an alle Reiseführer-Redaktionen.c) Du lässt ihn stehen, besorgst dir beim nächsten Bankautomatenmit deiner EC-Karte so viele tschechische Kronen wie möglichund zockst jetzt selbst Touristen ab.

Deine Deutschlehrerin hat gesagt, Kafkas Prag wartet aufdich.Wie näherst du dich ihm?a) Für den Preis eines Champagner-Frühstücks trinkst du Tee auseiner Porzellantasse mit Kafka-Signet und isst ein Stückchen Torte,auf das mit Sprühsahne Kafkas Gesichtszüge gezeichnet sind.b) An Kafkas Grab rezitierst du romantische Stellen aus seinenBriefen an Milena, die dir deine Lehrerin zuvor mit rotem Stiftmarkiert hat.c) Ein Hypnotiseur ohne Hemd, aber mit Brusthaartoupet ver-spricht, dich für 2000 Kronen mit grunzenden Gesängen, einerpendelnden Taschenuhr und einem ominösen Zaubertrank in dasPrag des Jahres 1910 zu befördern.

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ROJEKTE II

Barbora, was machen Tschechen an-ders als Deutsche?Im Großen sind die Ziele dieselben: erfolg-reich sein, sich selbst eine gewisse Unab-hängigkeit schaffen. Aber im Detail findetman schon etwas: Wir duschen in der Re-gel abends – ich kenne keinen Deutschen,der das nicht morgens tun würde. Undwährend hier die Semmeln in zwei Hälftengeteilt und dann belegt werden, brechenwir Tschechen Teile davon ab. In Deutsch-land wird die Freizeit aktiver genutzt, mangeht aus, fährt weg, trifft Freunde. InTschechien dagegen gibt es so etwas kaum.Freizeit heißt für die Familie meistensfernsehen, unternommen wird wenig.Wenn die Unterschiede nur im Detailliegen – warum sind sich dann diejungen Generationen in Deutschlandund Tschechien eher fremd?Das liegt an der schwierigen Vergangen-heit, die die beiden Länder miteinanderhaben, und an dem Bild, das die Medienvermitteln.Wir haben drei Monate lang diezwei jeweils seriösen größten Tageszeitun-gen – Süddeutsche Zeitung und FAZ sowieMladá Fronta DNES und Lidové Noviny –verglichen. In Tschechien wurde 150 Malüber das Nachbarland berichtet. Dabeiging es meist um den Wohlstand, aber auchimmer noch darum, dass Deutschland 1938den Krieg begonnen hat. Umgekehrt wur-

de nur 80 Mal über Tschechien berichtet,dabei wurden wir meist als nationalistischdargestellt und als Volk, das sich nicht mitseiner Geschichte auseinandersetzen kann.Wie kann sich das ändern?Es sollte nicht nur klischeehaft über denanderen berichtet werden. Und neben denMedien kann es nur die Jugend schaffen,eine Brücke zu schlagen. Deshalb bin ichbeim Jugendforum.Wir sind je 20 Vertreterim Alter zwischen 16 und 26 Jahren – älterdarf man nicht sein – aus Deutschland undTschechien, die alle zwei Jahre neu gewähltwerden. Momentan arbeiten wir in den Ar-beitsgruppen Medien, Geschichte und Ju-gendarbeit, wo wir im jeweiligen Bereichdie Gegensätze und Schwierigkeiten, aberauch die Gemeinsamkeiten der Ländererarbeiten.Was war bisher der größte Erfolg desJugendforums, und wo gibt es nochProbleme?Wir haben es geschafft, dass sich die Ju-gend-Organisationen der tschechischenParteien demnächst an einen Tisch setzen,um eine gemeinsame Haltung zu den sogenannten Beneš-Dekreten einzunehmen.Außerdem haben wir es unserem starkenpolitischen Rückhalt zu verdanken, dasswir bei den Gesetzesentwürfen für dieSchulreform in Tschechien ein wenig mit-reden können.Aber wir stoßen auch an dieGrenzen der Bürokratie beider Länder. FürStudenten ist es oft schwer, ein Visum zubekommen, Auslandssemester werden nurselten anerkannt. Ein weiteres Beispiel:Deutsche und tschechische Jugendlichemachten eine Radtour entlang der Grenze.Als ein tschechischer Bus die Teilnehmer inDeutschland wieder abholen sollte, durfteer nicht über die Grenze, weil er leer war.Also musste er einige Eltern zum Mitfahrenbewegen, dann durfte er einreisen. Wir ha-ben diese Beispiele gesammelt und im Deut-schen Bundestag einigen Ministerialbeamtenpräsentiert. Hoffentlich bewirkt das etwas.

Barbora Procházková, 24, ist stell-vertretende Sprecherin des Deutsch-Tschechischen Jugendforums. Siewurde in Prag geboren und studiertseit vier Jahren in Hamburg.Hier erklärt sie, was ihr an Tschechenund Deutschen auffällt undwas sie im Jugendforum macht.

Abendduscher und Semmelbrecher

Das Deutsch-Tschechische Ju-gendforum wählt am 15. Sep-tember seine neuen Vertreter.Zweimal jährlich gibt es einTreffen mit allen Mitgliedern;die Arbeitsgruppen treffen sichzudem etwa dreimal pro Jahr.Bewerbungen an:IDORHeinrich-Rockstroh-Straße 1095615 MarktredwitzWeitere Informationen unterwww.jugendforum.ahoj.infooder bei Barbora Procházková:040/38 61 19 47

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Fahrradtouren,Theaterspielen, Kurzfilme drehen –wo man Tschechen und Tschechinnen begegnen kann.

die Tschechische Republik sowie über dieMinderheitenproblematik in Osteuropa –und unter www.tschechien-portal.info gibtes alles über Tschechien und die deutsch-tschechische Zusammenarbeit.Telefon: 03 51/43 31 40

MEDIENAKADEMIEIm Rahmen des Seminars „Krieg undFrieden in der Informationsgesellschaft“arbeiten deutsche und tschechische Ju-gendliche vom 6. bis 12. Juli an einer inter-aktiven Website, drehen einen Kurzfilmund machen eine Wochenzeitung. DerWorkshop kostet 95 Euro. Weitere Infor-mationen gibt es unter www.jugendbil-dungsstaette.org oder bei Jürgen Schöber-lein,Telefon: 0 99 72/ 94 14 20.Wer sich vorallem für das Internet interessiert, kannbeim Aufbau der Homepage www.ahoj.orghelfen. Diese deutsch-tschechische Platt-form, die in Zusammenarbeit mit der Or-ganisation Tandem entsteht, soll den Dialogder Jugendlichen fördern. Zudem werdenden Mitarbeitern regelmäßig Internet-Weiterbildungsseminare angeboten.

„DAS EI“Deutschechische Kultur – was aussieht wieein Schreibfehler, ist das kulturpolitischeZiel, das das Theaterpädagogische ZentrumNürnberg in der Grenzregion erreichen

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SOMMERLAGERDie Aktion Sühnezeichen Friedensdienstee.V. bietet jedes Jahr Sommerlager inTschechien an. Für zwei bis drei Wochenreisen etwa 18 deutsche Jugendliche ab 18Jahren zum Beispiel nach Terezín (The-resienstadt), wo an der Gedenkstätte dieHochwasserschäden beseitigt werden sol-len, oder nach Olomouc (Olmütz), umdort der Jüdischen Gemeinde bei derFriedhofspflege zu helfen. Die Teilnehmerwohnen in Gemeindezentren, Schulenoder im Zelt. In der Regel hilft auch einetschechische Gruppe bei der Arbeit mit.Verpflegung und Unterkunft kosten 130,für Studenten, Auszubildende und Arbeits-lose 100 Euro, um die Anreise muss mansich selbst kümmern. Mehr unter www.asf-ev.de oder Telefon 030/28 39 51 83.

KULTURTAGEMehr über Tschechien kann man vom 24.Oktober bis zum 9. November 2003 aufden fünften Tschechischen Kulturtagen derBrücke/Most-Stiftung in Dresden erfah-ren. Neben Lesungen und Ausstellungenwerden auch Seminare wie ein Schnupper-Kurs Tschechisch oder ein Gespräch mitehemaligen Kriegsgefangenen angeboten.Zudem gibt es auf der Homepagewww.bruecke-most-stiftung.de mehr überdie deutsch-tschechischen Beziehungen,

Treffpunkte

Wir sind dabei

„In der Europäischen Union sehe ich den ersten historischen Versuch, Ordnung auf einerBasis der Gleichberechtigung aufzubauen. Dies könnte enorm wichtig sein, denn es würdedie Konflikte ausschließen, die wir aus der Vergangenheit kennen. Wenn wir bei uns Frieden schaffen, dann wäre das ein bedeutender Beitrag für den Frieden in der Welt. Eshätte keinen Sinn zu bestreiten, dass die Aufnahme von zehn osteuropäischen oder postkommunistischen Ländern der Europäischen Union eine gewisse Komplikation brin-gen wird. Aber diese Komplikation ist gering im Vergleich zu dem langfristigen Gewinnder Erweiterung.“ (Václav Havel)

Informationen zu europäischen Jugendprogrammen sowie zum EU-Aktionsprogramm „Jugend für Europa“ unter:www.eurodesk.orgwww.europa.eu.int/comm/youth/program/index_en.htmlwww.webforum-jugend.de

will. Deutsche und tschechische Jugendli-che sollen selbst die (Er-)Finder dieser Kul-tur sein, das Zentrum kümmert sich umGeld und die professionelle Umsetzung.Etwa vier Mal jährlich werden Theater-stücke inszeniert, an denen Jugendliche ausbeiden Ländern mitarbeiten. Zu jedemProjekt finden zwei Workshops statt (zweiMal acht Tage für 75 Euro inklusive Ver-pflegung und Übernachtung). „Das Ei“bietet auch Praktika an. Informationen:www.tpz-dasei.de oder unter Telefon:09 11/3 23 66 93.

JUGENDCLUB COURAGE16- bis 26-jährige Jugendliche aus Frank-reich, Deutschland und Tschechien führtder Jugendclub Courage im kommendenJahr während einer dreiwöchigen Reise zu-sammen. Gemeinsam gehen sie eine Wochelang auf die Suche nach deutschen Wurzelnin Tschechien, fahren in Deutschland eineWoche lang mit dem Rad durch das Ruhr-gebiet und erleben dann in Frankreich daseuropäische Zusammenwachsen. AnfangJuli diesen Jahres gibt es einen Workshop,bei dem alle Interessierten helfen können,die Reise zu organisieren. Für kostenloseAnreise und Unterkunft ist gesorgt. Fragenbeantwortet André Wilger, Telefon:02 08/85 63 26 oder per E-mail unter [email protected].

Projekte_2 21.07.2003 18:11 Uhr Seite 3

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ILMENTWICKLUNG

Text: Sebastian Wehlings, Heiko Zwirner______ Fotos: Peter Neusser______

Von Märchen und MenschenJahrelang sind deutsche Kinder mit tschechischen Kinderfilmen groß geworden –

sie lachten über Friedrich und Friedrich, fürchteten sich ein wenig vor dem Zauberer Rumburakund ließen sich von Pan Tau verzaubern. Gedreht wurden diese Filme

in den Barrandov Studios in Prag. Heute ist dort vieles anders.Aber nicht alles.

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Barrandov2 21.07.2003 17:58 Uhr Seite 2

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as ist er.“ Frau Vitvarová zieht den braunen Umhangzwischen einem Bärenfell und einem Zwergenkostümhervor. „Es ist lange her, dass jemand nach ihm gefragt

hat.“ Verstaubt sieht er aus.Aber wer diesen Mantel überwirft, ge-langt damit ins Märchenland und wieder zurück. Millionen Kin-der haben es gesehen. Jetzt hängt der Mantel zwischen 240 000anderen Kleidungsstücken im größten Kostümfundus Europas.Wir sind in den Barrandov Studios, ein paar Autominuten von derPrager Innenstadt entfernt.Aus einem kleinen Kofferradio schep-pern tschechische Schlager. Es riecht seltsam. „Das sind die Che-mikalien, mit denen die Kleider eingesprüht werden. Damit dieMotten sie nicht auffressen“, sagt Eriška Vitvarová. Sie arbeitet seitdreißig Jahren hier und hat in dieser Zeit die schönsten Märchen-filme und Kinderserien der Welt mit Kostümen versorgt: „PanTau“, „Luzie – der Schrecken der Straße“, „Der fliegende Ferdi-nand“ und „Drei Nüsse für Aschenbrödel“ wurden in den Bar-randov Studios gedreht; manche von ihnen in Koproduktion mitdem Westdeutschen Rundfunk. Der braune Mantel war einmaleine der wichtigsten Requisiten in „Die Märchenbraut“. Der ge-meine Zauberer Rumburak konnte mit ihm zwischen dem Reichder Märchen und unserer Welt hin- und herreisen und hat soChaos und Verwirrung gestiftet. Mit seinen Gehilfen Stink, Stankund Stunk hat er versucht, die Sieben Zwerge zur Revolution an-zustiften.Arme Studenten hat er in Standuhren verwandelt – unddie gingen dann auch noch nach.Das Besondere an den tschechischen Kinderfilmen war: Märchen-welt und Wirklichkeit waren nie weit voneinander entfernt.Wun-der ereigneten sich in Hochhaussiedlungen und auf Schulhöfen,in Taxen und in Kaufhäusern. Jedem konnte etwas Fantastischespassieren. So wie der einsamen Luzie, bei der eines Tages Friedrichund Friedrich einzogen, zwei Knetmännchen, die nichts als Unfugim Kopf hatten. Figuren wie Rumburak, Pan Tau und die beidenFriedrichs wurden in den Barrandov Studios zum Leben erweckt.In den 70ern und 80ern waren sie die bekanntesten Botschafterder Tschechoslowakei. „Heute ist vieles anders“, sagt Frau Vitvaro-vá, „unsere Kunden kommen jetzt vor allem aus dem Ausland.“Seit die kommunistische Herrschaft 1989 endete, ist aus denehemals staatseigenen Studios ein modernes Dienstleistungsunter-nehmen geworden. Auf dem weitläufigen Gelände reihen sichgraue Hallen aneinander, in denen gebohrt und gehämmert wird.Amerikanische Filme wie „Mission Impossible“, „Triple X“ und„Die Bourne Identität“ wurden in den Barrandov Studiosgedreht. In einem der Studios wird die tschechische Version von„Wer wird Millionär?“ produziert, nebenan entstehen Werbespotsfür Bacardi und Black & Decker. Auf einer freien Fläche amRande des Geländes sind Dutzende Bauarbeiter damit beschäftigt,ein historisches Dorf aufzubauen. Für die passende Waldkulisserammen sie gewaltige Tannen in den Boden. Demnächst wird deramerikanische Schauspieler Robin Williams in dieser Szenerie dieHauptrolle in dem Film „Die Gebrüder Grimm“ spielen. DieMärchenwelt wird in den Barrandov Studios nun nach denRegeln Hollywoods inszeniert.Für die meisten tschechischen Filmemacher sind die Studios zuteuer geworden. Früher wurden hier bis zu vierzig Filme im Jahr

gedreht, heute sind es nur noch zwei oderdrei. Und wenn es Herrn Kukal nicht gäbe,dann wohl noch nicht einmal die. DušanKukal ist der künstlerische Leiter der Studi-os, ein freundlicher Mann mit einem rundenroten Gesicht und grauem Vollbart. „Tsche-chien ist ein Märchenland“, sagt er und zeigtauf die Plakate, die hinter seinem Schreib-tisch hängen. Es sind Poster von Kinder-filmen, deren Produktion er in den letztenJahren ermöglicht hat. „Dieser hier heißt,Glück in der Hölle’. Karel Gott spielt darinden Teufel.“ Dann erzählt er, wie er dazu ge-kommen ist, Märchenfilme zu machen: „Daswar noch zu Zeiten des Kommunismus. Alsjunger Regisseur hatte ich einen Film übereinen Spitzel gemacht. Das hat der staat-lichen Zensur nicht gefallen.“ Herr Kukal

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uzies Knetkameraden: Friedrich und Friedrich

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ILMENTWICKLUNG

sowjetische Truppen die Tschechoslowakeibesetzten und den Prager Frühling beende-ten, verließen viele Künstler das Land. DerSchriftsteller Milan Kundera ging nach Parisund wurde später mit „Die unerträglicheLeichtigkeit des Seins“ weltberühmt, MilošForman wurde mit Filmen wie „Einer flogüber das Kuckucksnest“ zum gefeiertenHollywood-Regisseur. Herr Vorlíček warein Jahr nach dem Einmarsch der Russenmit seiner Frau und seinen beiden Kindernin München: „Wir hätten im Westen bleibenkönnen“, sagt er und dreht das Saftglas inseiner Hand, „aber dann haben wir uns dochins Auto gesetzt und sind zurück nach Hau-se gefahren. Als wir einreisten, hat uns derGrenzbeamte nur angeschaut und den Kopfgeschüttelt. Er konnte wohl nicht verstehen,dass jemand eine solche Gelegenheit vergibt.Ich habe es nie bereut.“Seitdem hat Herr Vorlíček 25 Kinofilme undnoch mal so viele Fernsehproduktionen ge-dreht.Viele davon waren Märchenfilme. Sielaufen heute immer noch. „Drei Nüsse fürAschenbrödel“ wird auch in Deutschland je-des Jahr zu Weihnachten gezeigt. „Mein Pu-blikum wächst immer wieder nach“, sagt er.

bekam Berufsverbot. Sechs Jahre lang. Da-nach fing er an, Drehbücher für Kinderfil-me zu schreiben. „Da haben die Behördennichts dagegen gehabt“, sagt er, „das ist janur für Kinder, haben sie wohl gedacht.“ So wie ihm erging es auch anderen Filme-machern in der Tschechoslowakei. Der Kin-derfilm war ein Zufluchtsort für sie, an demsie ungestört arbeiten konnten. „Vielleichtgab es bei uns deshalb so viele Märchen-filme“, sagt er, „die Zensur hat nur einge-griffen, wenn wir den Kindern zu bunteKleidung angezogen haben. Das war ihnenzu westlich. Bei uns war ja alles Grau, Grünund Braun.“ Aber auch wenn die Behördendie Inhalte der Drehbücher überprüften, sowar es damals doch einfacher, Filme zu ma-chen, meint Herr Kukal. Der Staat finanzier-te die Filmindustrie: „Nach der Revolutionbrach hier alles zusammen. Es gab zwarmehr Freiheit, aber kein Geld mehr.“ Viele Filmleute verloren ihre Arbeit. VáclavVorlíček gehört zu den wenigen, die nachder Wende weiterarbeiten konnten. Als Re-gisseur von Klassikern wie „Die Märchen-braut“ und „Drei Nüsse für Aschenbrödel“bekam er Angebote aus dem Ausland. Der-zeit arbeitet er mit einem deutschen Produ-zenten an einer Verfilmung der Geschichtevom „Kalif Storch“.Wir treffen ihn im CaféSlavia in der Prager Innenstadt. Herr Vor-líček ist 73 Jahre alt, aber seine Augen strah-len wie die eines jungen Mannes. Er bestellteinen Multivitaminsaft und zeigt auf einenTisch am Fenster: „Da drüben saß ich, alsich zum ersten Mal hier war“, sagt er. „1937war das, mit meinen Eltern. Präsident Mas-aryk war gestorben. Wir sahen dem Trauer-zug zu.“ Später ist er immer wieder ins CaféSlavia gekommen. Oft hat er mit Freundenhier gesessen und über neuen Geschichtengebrütet. „Viele meiner besten Ideen sindhier entstanden“, sagt der Mann, der Rum-burak und den Zaubermantel berühmt ge-macht hat. Einmal war er kurz davor, dasCafé Slavia für immer zu verlassen, um imWesten sein Glück zu suchen. 1968, als

Märchen behandelnProbleme ausder Wirklichkeit.

Václav Vorlícek

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ILMENTWICKLUNG

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Kinos. Ihr Film „Výlet“, eine Geschichteüber eine alte Frau, die mit der Asche ihresverstorbenen Mannes durch die Provinzreist, war ein großer Erfolg. Nellis kam nichtohne Umwege zum Film: „Früher habe ichmein Geld damit verdient, in einem Orche-ster Querflöte zu spielen. Danach habe icheinen Abschluss in englischer und amerika-nischer Literatur gemacht. Am Theater habeich auch gearbeitet.“Nellis gehört zu der Generation von tsche-chischen Filmemachern, die in der neuenFreiheit aufgewachsen sind. Sie konnte tunund lassen, was sie wollte. Keine Zensur-behörde hat ihr etwas vorgeschrieben. Aberin dieser neuen Freiheit musste sich ihreGeneration erst einmal zurechtfinden, sagtsie: „Früher hatten alle einen gemeinsamenGegner: die Unterdrückung. Nach der Re-volution ist dieser Feind verschwunden. Diejungen Filmemacher mussten sich plötz-lich neue Gegner, neue Themen suchen.“ Sieselbst hat ihre Gegner schon gefunden. „Ichkämpfe mit meinen Filmen gegen die

Sprachlosigkeit, gegen die Unfähigkeit, Ge-fühle zu artikulieren.“ Sie zupft am Reißver-schluss ihrer Motorradjacke. „Das sind Din-ge, gegen die man jeden Tag kämpfen muss.“Wie alle jungen Tschechen ist Alice Nellismit Aschenbrödel, Pan Tau und Rumburakgroß geworden. „Die Bösen trugen immerspitze, schwarze Hüte“, sagt sie und schmun-zelt. Nie würde sie jedoch auf die Idee kom-men, selber ein Märchen zu drehen. „Ichmache Filme über das, was ich sehe underlebe, ich erzähle kleine, persönliche Ge-schichten“, sagt sie.Fiese Zauberer, die mit einem braunenMantel Chaos und Verwirrung stiften wol-len, haben es derzeit schwer in Tschechien.Die jungen Regisseure interessieren sichheute einfach für andere Dinge, erklärtNellis. „Die einen beschäftigen sich mithistorischen Themen und versuchen, dieGeschichte unseres Landes aufzuarbeiten.Andere finden es schick, von Drogenexzes-sen, Gewalt und menschlichen Abgrün-den zu erzählen.“ Frau Nellis zieht denReißverschluss ihrer Motorradjacke zu. „Einbisschen schade ist das schon. Denn eigent-lich haben viele dieser Filme weniger mitdem wirklichen Leben in Tschechien zu tunals die alten Kinderfilme.“

Früher hatten alle ei-nen gemeinsamen Gegner:

die Unterdrückung.

Alice Nellis

„Die Mutter, die mit meinen Filmen aufge-wachsen ist, sagt zu ihren Kindern: Das müsst ihr sehen! Und offensichtlich gefällt esauch den Kindern.“ Für diesen Erfolg hat ereine Erklärung: „Es sind zwar Märchen, abersie behandeln Probleme aus der Wirklich-keit. Fast immer geht es um die Konfliktezwischen Eltern und Kindern. Der alte,strenge König und der wilde, junge Prinz.Das sind ewige Themen.“ Und so lange manihn lässt, wird er weiter Kinderfilme drehen:„Stopp! werde ich erst aus dem Krematori-um rufen“, sagt er und lacht.Im Café Slavia gibt es eine Tür, durch dieman zur Filmhochschule im selben Gebäudegelangt. Herr Vorlíček war einmal Leiter die-ser Schule. Das ist lange her. Im Treppenhausriecht es nach Farbe und Handwerkern. DasGebäude ist frisch renoviert.An den Wändenhängen großformatige Gruppenfotos derAbschlussklassen. Alice Nellis, eine jungeFrau mit Kurzhaarschnitt und roter Motor-radjacke, hat es auf keines dieser Fotos ge-schafft. „Ich bin von der Schule geflogen,weil ich zu oft gefehlt habe.“ Sie lächelt.Denn heute unterrichtet sie hier und bringtden Regiestudenten bei, wie man Schau-spieler führt. Die 31-Jährige zählt zu denHoffnungsträgern des neuen tschechischen

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DIE PUPPENSPIELERINIvana Marcinová alias DJ IM CyberWelcher ist der beste Club in Prag?Das Roxy. Das ist ein ganz schlicht einge-richteter Laden, in dem es nur um dieMusik geht. Da gehen Leute hin, die fei-ern wollen, und nicht diese Angeber mitGoldketten und Slippern. Ich lege da auchab und zu auf, immer Drum’n’Bass. Don-nerstags spiele ich immer im Punto Azul,einer kleinen, aber sehr netten Kneipe.Was machst du außer auflegen?Ich habe mal eine Fernsehsendung für Ju-gendliche moderiert, aber vor der Kamerahabe ich mich nicht wohl gefühlt. Jetztmache ich öfters Interviews mit Musikernfür unsere Website www.shadowbox.cz. Dagibt es zwar kein Geld, aber dafür arbeiteich mit meinen Freunden zusammen undbin Teil eines tollen Projekts.Kannst du vom Plattenauflegen leben?Ja. Ich lege ja auch in Wien, Budapest oderKöln auf. Außerdem mache ich beimTheaterstück „Discopigs“ mit. Da spieleich einen DJ. Am Ende des Stücks stelltsich heraus, dass der DJ alles gelenkt hat.Wie ein Puppenspieler.Roxy Praha, Dlouhá 33; Punto Azul, Kroftova 1

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MIT VERGNÜGEN

Um aus Städtereisen das Beste herauszuholen, sollteman wissen, wo man abseits der Reiseführertippseine gute Zeit haben kann. Das ist in Prag nicht andersals in Paris, Madrid, London oder Berlin.Sechs Vorschläge, wo man nach der Besichtigung desGoldenen Gässchens stilvoll untertauchen kann.

DER WILDESTE CLUB Gäbe es noch Schwingtüren, dann käme man sich vorwie in einem Western Saloon, so sehr riecht es imAkropolis nach Gesetzlosigkeit. Man trifft hierSurvival-Künstler mit knurrenden Kettenhunden,Elvis-Doppelgänger und Frauen, die so aussehen, alskönnten sie ganze Kegelclubs unter den Tisch trin-ken. Viele tragen Sonnenbrillen, vielleicht weil diemintgrüne Wandfarbe anders nicht zu ertragen ist.Zwischen den Tischen stehen Glaskästen voll mit Alt-metall, von der Decke hängen Lampen wie eiserneElefantenzähne. Die Kellner mit ihren blauen Latzho-sen sehen aus wie Gabelstaplerfahrer, in gewaltigenKrügen servieren sie dunkles Bier. Von zwei Uhrmorgens an wird hier auf den Tischen getanzt. DasAkropolis liegt im Stadtteil Žižkov, abseits der Pfadeder Touristen. Der Weg dorthin lohnt sich.Akropolis, Kubelíkova 27

FLUSSFAHRTUm die Karlsbrücke herum ist Prag unge-fähr so angenehm wie ein überfüllter Auf-zug: Auf der Uferstraße herrscht Dauerstau,Reisegruppen quetschen sich schweißgeba-det durch die Gassen, in denen es Blumen-vasen, Flaschenöffner und Aschenbecher mitFranz-Kafka-Motiven zu kaufen gibt. Nur50 Meter entfernt aber paddeln die Entenentspannt auf der Moldau.Am späten Nach-mittag auf die Flussinsel am Nationaltheaterzu gehen und sich ein Tretboot zu mieten,ist das Erholsamste und Romantischste, wasman im Sommer in Prag machen kann.S.P.L.A.V., Tret- und Ruderbootverleih an derMoldau; Öffnungszeiten: täglich 12–19 Uhr; imSommer 10–21 Uhr

Wie es euch gefällt

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POPSTARSKryštof ist die bekannteste Band Tschechiens. Und wer ihrletztes Album v silocarách hört, versteht, warum. Sänger Ri-chard Krajčo, der aussieht wie eine Mischung aus Brad Pittund Campino, hat eine Stimme, die einen erreicht, auchwenn man kein Wort Tschechisch versteht. Manchmal klingtKryštof fast wie Coldplay, ihre Live-Konzerte gelten als dasBewegendste, was man abgesehen von einem Eishockey-Endspiel in Tschechien erleben kann. Wenn Krajčo keineMusik macht, steht er auf der Bühne des Nationaltheaters.Ein begnadeter Schauspieler ist er nämlich auch.Kryštof: V siločarách (EMI)Richard Krajčo spielt den Mercurio in „Romeo und Julia“.Deutschsprachige Informationen zu Spielplan und Eintrittspreisenunter www.narodni-divadlo.cz

SCHALLPLATTENSich in Prag die neuesten CDs zu kau-fen, ist keine besonders gute Idee – diemeisten Neuerscheinungen sind nochteurer als bei uns.Wer aber gebrauchteVinyl-Platten sucht, der wird im MusicAntiquariat seine Freude haben. Be-sonders beeindruckend ist die gewal-tige Auswahl an Heavy-Metal-Klassi-kern und Raritäten der Neuen Deut-schen Welle. Viele dieser Platten kos-ten auf deutschen Flohmärkten einVermögen.Music Antiquariat, Národní třída 25,Palác Metro Passage, 1. Stock. Öffnungs-zeiten: Mo bis Sa, 10.30 bis 19 Uhr

ESSEN UND FEIERNVon der Einrichtung darf man sich nichtverwirren lassen. Das Radost FX sieht mitseinen mit Edelstein verzierten Spiegelnund den dunklen Deckenventilatoren zwaraus wie ein orientalischer Nachtclub. Aberhier wird sehr gute und sehr günstige italie-nische Küche serviert.Wer nach dem Essennur wenige Stufen hinabsteigt, steht in ei-nem der ältesten Clubs der Stadt, der im-mer noch eine sichere Adresse für einenguten Ausgehabend ist. Besonders emp-fehlenswert sind die Soultrain-Abende, andenen Klassiker von Marvin Gaye undCurtis Mayfield gespielt werden.Radost FX, Bělehradská 120

Texte: Sebastian Wehlings, Heiko Zwirner______ Fotos: Peter Neusser (5), Escape/EMI______

unser_prag 21.07.2003 18:13 Uhr Seite 3

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Herr von Weizsäcker, wie sieht die EU in 20 Jahren aus?Wir werden keine Vereinigten Staaten von Europa bilden. Das löstja immer gleich die Assoziation aus, in Europa würde eine neueNation entstehen, wie in den Vereinigten Staaten von Amerika.Aber wir werden die schon vorhandenen gemeinsamen Institutio-nen weiter ausbauen.Wird das dann mehr sein als ein wirtschaftlich motivierterZusammenschluss?Was wir bisher an wirklicher Integration geschaffen haben, voll-zieht sich weitgehend auf wirtschaftlichem Gebiet. Aber es ist einKurzschluss zu sagen, dass sei doch bloß Wirtschaft und habe mitPolitik nichts zu tun. Man muss nicht so weit gehen zu sagen, dieWirtschaft wird automatisch eine politische Vereinigung mit sichbringen. Klar ist aber, dass schon der erste Schritt in die Euro-päische Gemeinschaft, die Montanunion, nur scheinbar einwirtschaftlich begründeter Schritt war. In Wirklichkeit war er aberein zutiefst politischer, weil es darum ging, in Zukunft Kriegegegeneinander zu verhindern.Bei den jüngsten Meinungsverschiedenheiten in der Irak-Krise war von einer politischen Union aber wenig zu sehen.Es ist sinnlos zu sagen, die politische Union der Europäer habeversagt. Natürlich hat sie versagt, sie besteht ja noch gar nicht.Aber

wir kommen ihr schrittweise näher. Es mag noch theoretischklingen, was gegenwärtig im europäischen Verfassungs-Konventberaten wird – aber noch vor drei Jahren wären solche Beratungenim Rahmen eines Konvents überhaupt undenkbar gewesen. Aufdie Dauer wird der Weg zu einer politischen Union unausweich-lich und erfolgreich sein. Auf die Dauer heißt: Wir haben bisherschon 50 Jahre gearbeitet, und das wird vielleicht noch mal Jahr-zehnte dauern.Werden die deutschen Beziehungen zu Polen oder Tsche-chien eines Tages so gut sein wie die zu Frankreich?Die deutsch-französischen Beziehungen sind gut, die Deutschenwissen über Frankreich mehr als die Franzosen über Deutschland,so groß ist das Interesse der Franzosen an uns nicht. Im deutsch-polnischen Verhältnis wird das gegenseitige Interesse intensiversein. Und die deutsch-tschechischen Kontakte sind heute schongut, bei allen Schwierigkeiten.

Trotz der kontroversen Debatte im EU-Parlament um dentschechischen EU-Beitritt wegen der Beneš-Dekrete?Über die Beneš-Dekrete werden wir uns nicht explizit einigenkönnen. Bei den Beitrittsverhandlungen hat man sich vollkommennotwendiger- und vernünftigerweise darauf verständigt, dass es ei-nen Zwist in der Bewertung dieser Schritte in der Vergangenheitgibt, den man erkennt und nicht zum Gegenstand der Verhandlun-gen zum Beitritt der Tschechischen Republik zur EuropäischenUnion macht. Selbstverständlich darf und muss man sagen, dass esein Unrecht ist, was mit den Vertriebenen geschehen ist. Aber dasist doch etwas vollkommen anderes als die Forderung, dass dieTschechen nur beitreten dürfen, wenn die Beneš-Dekrete formellaufgehoben werden. Das ist gegen das eigene Interesse, gegen dasInteresse der jungen Generation in Deutschland und Tschechien,so etwas zu vertreten. Es geht jetzt nicht um die Vergangenheit,sondern um die Zukunft.

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ÄLTESTENRAT

Richard von Weizsäcker wurde 1920 in Stuttgart geboren. 1938 begann erin Berlin ein Jura-Studium, das er wegen seiner Einziehung zur Wehr-macht unterbrechen musste und erst 1950 abschließen konnte. Weizsäckertrat 1954 in die CDU ein, von 1981 bis 1984 war er RegierenderBürgermeister von West-Berlin, von 1984 bis 1994 Bundespräsident.

Wie sieht die EU der Zukunft aus? Waswird aus den deutsch-tschechischenBeziehungen? Und was hat König Georg vonPodiebrad damit zu tun? Zwei Ansichten.

Es geht jetzt nicht um die Vergangenheit

ältestenrat 21.07.2003 17:51 Uhr Seite 38

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Geschichte der Europäischen Union fixier-te, lässt hoffen, dass sich Rückfälle in dereuropäischen Welt, weder als Tragödien,noch als Phrasen, wiederholen. Und dassder alte Kontinent soweit gealtert ist, umendlich weise zu sein.Es ist mir jedoch klar, dass trotz der sorgfäl-tigen Vorbereitung innerhalb des europäi-schen Hauses – es wurden neue Stockwer-ke gebaut, Möbel umgestellt, sodass sich dieneuen Mieter wohl fühlen und die altennicht eingeschränkt – dieses Vorhaben einebeträchtliche Prüfung darstellt. Persönlichbin ich allerdings viel mehr Optimist alsRealist – also auch ein träumendes Wesen.Ich glaube soweit an die europäische Reife,dass ich nicht nur an die wachsende Fähig-keit der europäischen Mieter, miteinanderzu kommunzieren, glaube, sondern zudemdaran, das bewohnte Haus auch als gemein-same Sache zu präsentieren. Denn ohne einsolches Auftreten wird es in seiner Umge-bung nicht respektiert werden. Ich denke,ich kann dies in diesem Augenblick für alleBeitrittskandidaten sagen: Es ist unsergrößtes Interesse, die Unterschiede zwi-schen alten und neuen Mietern so schnellwie möglich zu beseitigen. Genauso wiedie alten Ressentiments.Es muss auch nicht betont werden, dass ei-ne schnelle und problemlose Ratifizierungder Erweiterung in den einzelnen nationa-len Parlamenten eine Art Reifezeugnis dar-stellt. Dies wird davon zeugen, wie schnelles uns gelingen wird, jene alten Ressenti-ments zu überwinden, und zwar nicht nurauf dem Papier – sondern auch in unserenKöpfen. Ohne dass wir einer dem anderen

In Tschechien hat man schon vor Jahr-hunderten von der europäischen Ein-heit geträumt – noch zu Zeiten, als die-

ser Kontinent keine amerikanische Kon-kurrenz kannte. Der tschechische KönigJiří z Podébrad hat nach dem Fall Konstan-tinopels 1453, angesichts der osmanischenBedrohung und basierend auf den Ideender herausragenden deutschen und italieni-schen Rechtsgelehrten Martin Mair undAntonio Marini, ein umfassendes Sicher-heitskonzept geschaffen, das die europäi-schen Länder einen sollte. Wie aber dasdeutsche Sprichwort verheißt – Träumesind Schäume – konnte eine solche Torheitnicht ohne Strafe bleiben. Georg wurde inpäpstliche Obhut überstellt und ein halbesJahrhundert nach seinem Tode standen dieTürken vor Wien. Diese kleine Geschichtemag als Illustration verdeutlichen, dass esvon den Träumen zur Realität in Europabisweilen etwas weiter ist als in anderenTeilen der Welt.Über diese träumerische Tradition hinwegzählten die Tschechen stets eher zu denEurorealisten – was sie sich bis heute be-wahrt haben. Auch sie ahnten, dass dieKriege auf dem Kontinent nur durch eineeuropäische Integration überwunden wer-den können. Dieses konnte aber erst durchden Fall des Eisernen Vorhanges und derdefinitiven Überwindung des „Jalta-Syn-droms“ (Auf der Konferenz von Jalta imFebruar 1945 wurde quasi der sowjetischeHegemonialanspruch auf Osteuropa sank-tioniert, Anm d. Red.) verwirklicht werden.Die Unterschrift in Athen vom 16. April,die zugleich die größte Erweiterung in der

Einig sich zu einigenVorschriften machen: zum Beispiel überdie einzig wahre Interpretation der eigenenVergangenheit. Genau darin liegen die al-ten Rezepturen und Klänge, ja Bemühun-gen, dass dieses Haus nur aus unifiziertenWohnungen bestehen soll – selbstverständ-lich ganz in unserem Sinne und keinesfallsin einem des Nachbarn.Vielleicht liegt das Problem darin, dass wirzwar von einer gemeinsamen Außen- undSicherheitspolitik reden, uns darunter abereine Einheitspolitik vorstellen – etwa, wiees Henry Kissinger formulierte, eine einzi-ge Telefonnummer für die EU. Uns auf ei-ne solche Nummer zu einigen ist natürlichein langer Prozess, und wohl noch für län-gere Zeit eher in der „Kategorie der Träu-me“ zu suchen. Für unsere Umgebungwerden wir erst eine effektive und verlässli-che Union darstellen, wenn wir es schaffen– und ich darf es mit den Worten einestschechischen Politikers der Masaryk-Ärasagen – „uns zu einigen, dass wir uns eini-gen“. Die Welt wird uns ohne eine solcheEinheit nicht als verlässlichen Partnerwahrnehmen. Sie wird ständig zwischen ir-gendeinem alten und neuen Europa diffe-renzieren wollen. Sie wird weiterhin einöstliches Ende Westeuropas suchen, oderauch ein westliches Ende von Osteuropa,ohne zu bemerken, wie töricht diese Sucheist – sofern, und daran glaube ich ganz fest,in einigen Monaten dieses gemeinsame eu-ropäische Haus von Tallin bis Lissabon undNikosia bis Dublin reichen wird. Und diesist kein Traum. Dies ist Realität, von derKönig Georg von Podiebrad und seine Be-rater nicht einmal zu träumen wagten.

Jirí Grusa wurde 1938 in Pardubice (Pardubitz)geboren. Nach einem Philosophie- und Ge-schichtsstudium in Prag arbeitete er bis zuseinem Berufsverbot 1970 als Schriftsteller undJournalist.1981 wurde er während einesAuslandsaufenthaltes gegen seinen Willen aus-gebürgert,wohnte seither in Bonn und bekam1983 die deutsche Staatsbürgerschaft. Von 1990bis 1997 war Grusa Botschafter der CSFR unddann Tschechiens in Deutschland, seit 1998 ister tschechischer Botschafter in Österreich.

ältestenrat 21.07.2003 17:51 Uhr Seite 39

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PRECHSTUNDE

Die Theorie Tschechisch ist eine slawische Sprache, so wie Russisch oder Kroatisch. Obwohl sie fürdeutsche Zungen manchmal unaussprechlich erscheint, ist sie erlernbar. Es gibt zweigrundlegende Regeln.Erstens: Tschechische Mädchen erkennt man am Nachnamen. Auch dann, wenn man denVornamen noch nie gehört hat und ihn nicht einordnen kann. Alle Frauen in Tschechienhaben von Geburt an die Endung -ová oder -á an ihren Nachnamen.Wie zum Beispiel SašaHuberová – wörtlich: die Frau von Huber. Der Einheitlichkeit halber wird das -ová auchan nicht-tschechische Namen angehängt, in Tschechien heißt Claudia Schiffer also ClaudiaSchifferová.Zweitens: Die Tschechen lieben Verniedlichungen. So machen sie aus Hana gerne Hanička,aus Václav wird Vašek und dann Vašík.Worte, die auf -ček, oder -íčko enden, sind in der RegelVerniedlichungsformen und bedeuten so viel wie „-chen“.

6 LEKTIONEN:KENNEN LERNEN AUFTSCHECHISCH

Die PraxisTschechisch ist gar nicht so kompliziert. Diefolgenden Lektionen beweisen es. Und:Viele Tschechen sprechen etwas Deutschoder Englisch. In eckigen Klammern wirdim Folgenden die Lautsprache der Sätzedargestellt. Wenn das Mädchen den Jungenanspricht, ändert sich sprachlich gar nichts.

Lektion 1:In der Kneipe sitzt ein hübsches Mäd-chen/ein hübscher Junge alleine da. Dumöchtest bei ihm/ihr sitzen. Du fragst:„Ahoj, můžu si přisednout?“, das heißt„Hallo, kann ich mich dazu setzen?“ undklingt so: [Ahoj, muschu si prschisednout?]

Das hübsche Mädchen/der hübsche Jungeschaut auf und sagt: „Ja, klar.“ Das heißt: „Jo,jasně“ und klingt so: [ Jo, jasnije.]Wenn du allerdings weniger Glück hast,klingt es so [Ne.Tady ije usch obsaseno, vole*.Bjesch do prdele]. Das heißt dann: „Nein. Hierist schon besetzt, Idiot.Verpiss dich.“

Lektion 2:Du stehst im Club an der Bar, neben dir einejunge Tschechin. Du möchtest sie kennenlernen. Du fragst: „Jak se jmenuješ?“,Das heißt: „Wie heißt du?“ Und klingt so[Jak se ijemnujesch?]Sie lächelt freundlich und sagt: „Ich bin

Jitka.“ Das heißt: „Já jsem Jitka“ und klingtso: [Jaa ijsem Jitka.]

Lektion 2a:Da Jitka dir sympathisch ist, möchtest du ihreinen Drink spendieren. Du fragst: „To jevedro! Chceš něco k pití?“ Das heißt: „Dasist eine Hitze hier. Magst du was trinken?“Und klingt wie: [To ije wedro. Chcesch nijeco kpitjii?]

Lektion 2b:Du hast dich spontan in Jitka verliebt undfragst: „Můžu tě políbit?“. Das heißt: „Kannich dich küssen?“ und klingt so: [Muschu tijepoliebit?]

Lektion 2c:Jitka kann dich nicht besonders gut leiden.Mit angeekeltem Gesicht sagt sie dir: „Strčprst skrz krk!“. Das klingt wie ein typischerZungenbrecher und ist auch einer. Es heißt:„Steck den Finger durch den Hals.“ [Strtschprst skrs krk!]

Lektion 3:Du bist enttäuscht und musst erst mal wastrinken. Du gehst an die Bar und sagst: „Ještědvě piva, prosím.“ Das heißt: „Noch zweiBier, bitte“ und klingt so: [Ieschtie dvije piva,prosiem.]

Lektion 4:Du hast die beiden Biere allein getrunken.Jetzt fühlst du dich nicht besonders wohl.Deshalb gehst du wieder zurück zum Tresenund fragst den Barkeeper: „Je mi spatně. Kdejsou tady toalety, prosím?“ Das heißt: „Mirist schlecht.Wo sind hier die Toiletten?“ Undklingt so: [Ije mnie schpatnije. Kde ijsou tadytoalety, prosiem?]

Lektion 5:Du kommst zurück von der Toilette. Andeinem Platz an der Bar steht eine jungeTschechin. Du fragst vorwitzig: „Už jepozdě. Půjdem ke mě nebo k tobě?“ Dasheißt : „Es ist schon spät. Gehen wir zu miroder zu dir?“ und klingt so: [Usch ije pozdije.Puhjdem ke mie nebo k tobie?]

Sie lächelt und sagt: „Aber keineKnutschflecken.“ Das heißt „Ale žádnýcucfleky!“ und klingt so: [Ale schadniizuzflecky.]

Lektion 6:Das geht dir dann doch zu schnell. Duverlässt den Club, fährst zum Bahnhof undsagst am Schalter: „Jednu jízdenku doBerlína, prosím.“ Das heißt: „Eine Fahrkartenach Berlin, bitte.“ Und klingt so: [Ijednuijiesdenku do Berliena, prosiem?]

(*Vole (Bulle) sagen Jungs oft und Mädchen ab und zu. Es kann Kumpel heißen, aber auch Idiot. Das erkennt man am Tonfall.)

Sprachführer 21.07.2003 18:11 Uhr Seite 2