Inklusion oder Exklusion welchen Weg verfolgt das … · Leitlinie und klare Orientierung für die...

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Inklusion oder Exklusion welchen Weg verfolgt das aktuelle Sozialrecht Fachtagung Lebenshilfe Trier Prof. Dr. Gabriele Kuhn-Zuber Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin

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Inklusion oder Exklusion –

welchen Weg verfolgt das

aktuelle Sozialrecht

Fachtagung Lebenshilfe Trier

Prof. Dr. Gabriele Kuhn-Zuber

Katholische Hochschule für Sozialwesen

Berlin

Paradigmenwechsel in der

Behindertenpolitik

Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 GG 1994

2001

2002

2006

SGB IX – Rehabilitation und Teilhabe

behinderter Menschen

Behindertengleichstellungsgesetz

(BGG)

Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

(AGG)

Ziele des SGB IX (§ 1)

1. Förderung der Selbstbestimmung

2. Förderung der gleichberechtigten

Teilhabe am Leben in der Gesellschaft

3. Vermeidung von Benachteiligungen

4. Berücksichtigung der besonderen

Bedürfnisse behinderter Frauen und

Kinder

Leistungen zur Teilhabe sollen (§ 4 Abs. 1 SGB IX)

1. die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern,

ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu

mildern,

2. Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit oder

Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern

oder eine Verschlimmerung zu verhüten sowie den

vorzeitigen Bezug anderer Sozialleistungen zu vermeiden

oder laufende Sozialleistungen zu mindern,

3. die Teilhabe am Arbeitsleben entsprechend den Neigungen

und Fähigkeiten dauerhaft zu sichern oder

4. die persönliche Entwicklung ganzheitlich zu fördern und die

Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie eine möglichst

selbständige und selbstbestimmte Lebensführung zu

ermöglichen oder zu erleichtern.

Ziele der

Behindertenrechtskonvention

Förderung, Schutz und Gewährleistung

des vollen und gleichberechtigten

Genusses aller Menschenrechte und

Grundfreiheiten durch alle Menschen

mit Behinderungen

Achtung der Würde von Menschen mit

Behinderungen

Zentrale Forderung der

Behindertenrechtskonvention

• Schutz vor Diskriminierung

• Barrierefreiheit

• Selbstbestimmung

Inklusion

Fördert das deutsche Sozialrecht

Inklusion oder Exklusion?

1. Verständnis von Behinderung (Art. 1 Abs.

2 BRK)

2. Gleichberechtigung und

Nichtdiskriminierung (Art. 5 BRK)

3. Freie und unabhängige Lebensführung

(Art. 19 BRK)

4. Inklusive Bildung (Art. 24 BRK)

Denkschrift der Bundesregierung zur BRK 1. Verständnis von Behinderung

„Auf innerstaatlicher Ebene sind die rechtlichen Definitionen von „Behinderungen“ zu

beachten, für die die spezifischen innerstaatlichen Rechtsordnungen maßgebend sind.“

2. Nichtdiskriminierung

„Die Vorschriften (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, § 1 SGB IX, § 1 BGG, § 33c SGB I, § 2 AGG u.ä.)

setzen das verfassungsrechtliche Benachteiligungsverbot für den sozialrechtlichen bzw.

öffentlich-rechtlichen Bereich auf der einfachgesetzlichen Ebene um.“

3. Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft

„Das Neunte Sozialgesetzbuch (SGB IX) unterstützt mit seinen Grundsätzen das Ziel des

Artikel 19. So bestimmt § 9 Absatz 3 SGB IX, dass Leistungen und Dienste und Einrich-

tungen den Leistungsberechtigten möglichst viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung

ihrer Lebensumstände lassen und ihre Selbstbestimmung fördern. Bei der Entscheidung über

Leistungen und bei der Ausführung von Leistungen zur Teilhabe sind nach § 9 Abs. 1 SGB IX

berechtigten Wünschen der Leistungsberechtigten zu entsprechen. Unter Berücksichtigung

der Interessen der Leistungsberechtigten und den Umständen des Einzelfalls verfolgt das

SGB IX das Prinzip, ambulante vor stationären Leistungen zu erbringen.

4. Bildung

„Kinder und Jugendliche mit Behinderungen bzw. sonderpädagogischen Förderbedarf sollen

im Rahmen integrativer Bildung allgemeine Schulen besuchen, wenn dort die notwendige

sonderpädagogische und auch sachliche Unterstützung sowie die räumlichen

Voraussetzungen gewährleistet sind, die Förderung aller Schülerinnen und Schüler muss

sichergestellt sein….“

Das deutsche Sozialsystem fördert und

unterstützt die Ziele und Grundsätze

der Behindertenrechtskonvention und

bedarf nur kleinerer Änderungen

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Ergebnis:

Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft – Der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung zur

Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (2011)

• Prinzip der Inklusion wird

Leitlinie und klare Orientierung

für die praktische Umsetzung

• Inklusion heißt Gemeinsamkeit

von Anfang an

• Schaffung einer inklusiven

Arbeitswelt

• Gestaltung eines inklusiven

sozialen Nahraums – Vielfalt

an Wohnformen, barrierefreie

Kultur- und Freizeitangebote

• Weitentwicklung von

Präventions-, Gesundheits-,

Pflege- und Reha-Angeboten

Probleme im aktuellen Sozialrecht

1.gegliedertes Leistungssystem

2.Behinderungsbegriff

3.Mehrkostenvorbehalt

Gegliedertes Leistungssystem

Gesetzliche Krankenkassen Bundesagentur für Arbeit

Gesetzliche

Unfallversicherung

Gesetzliche

Rentenversicherung

Träger der

Kriegsopferfürsorge

(Versorgungsämter)

Träger der Jugendhilfe

Sozialhilfeträger

Jobcenter

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Das Verständnis von Behinderung

Menschen sind behindert,

wenn ihre körperliche

Funktion, geistige Fähigkeit

oder seelische Gesundheit

mit hoher

Wahrscheinlichkeit länger

als sechs Monate von dem

für das Lebensalter

typischen Zustand

abweichen und daher ihre

Teilhabe am Leben in der

Gesellschaft beeinträchtigt

ist.

(§ 2 Abs. 1 SGB IX)

Zu den Menschen mit

Behinderungen, zählen

Menschen, die langfristige

körperliche, seelische,

geistige oder

Sinnesbeeinträchtigungen

haben, welche sie in

Wechselwirkung mit

verschiedenen Barrieren

an der vollen, wirksamen

und gleichberechtigten

Teilhabe an der

Gesellschaft hindern

können.

(Art. 1 Abs. 2 BRK)

Behinderung als Leistungsvoraussetzung für

Teilhabeleistungen

Behinderung nach

§ 2 Abs. 1 SGB IX

Wunsch- und Wahlrecht

versus

Mehrkostenvorbehalt

§ 9 SGB XII: (2) 1Wünschen der Leistungsberechtigten, die sich auf die

Gestaltung der Leistung richten, soll entsprochen werden, soweit sie

angemessen sind. … 3Der Träger der Sozialhilfe soll in der Regel

Wünschen nicht entsprechen, deren Erfüllung mit

unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden wäre.

§ 9 SGB IX: (1) 1Bei der Entscheidung über die Leistungen und bei der

Ausführung der Leistungen zur Teilhabe wird berechtigten Wünschen

der Leistungsberechtigten entsprochen.

Bildung – Art. 24 BRK

Anspruch: Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit

Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne

Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu

verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives

Bildungssystem (engl. inclusive education system) auf allen

Ebenen und lebenslanges Lernen mit dem Ziel…

(Die Vertragsstaaten stellen sicher), dass … Menschen mit

Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der

Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen,

hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht (engl. inclusive,

quality and free … education; frz. un enseignement … inclusif, de

qualité et gratuit..) an Grundschulen und weiterführenden

Schulen haben…

Wirklichkeit: Beispiele (aus Landesschulgesetzen)

§ 29 Schulgesetz Brandenburg: (2) Sonderpädagogische Förderung sollen

Grundschulen, weiterführende allgemein bildende Schulen und Oberstufenzentren

durch gemeinsamen Unterricht mit Schülerinnen und Schülern ohne

sonderpädagogischen Förderbedarf erfüllen, wenn eine angemessene personelle,

räumliche und sächliche Ausstattung vorhanden ist oder nach Maßgabe gegebener

Finanzierungsmöglichkeiten geschaffen werden kann.

Sozialgericht : Die Eltern der Antragstellerin haben ihr Wahlrecht gem. Art. 41 Abs.

1 Satz 3 BayEUG zugunsten einer Regelschule ausgeübt. Die Schule steht als

schulischer Lernort zur Verfügung, auch der Schulaufwandsträger hat der

Aufnahme zugestimmt. „Allerdings ergibt sich hieraus nicht zwingend auch die

Verpflichtung des Sozialhilfeträgers, die Beschulung an der Regelschule im

Rahmen der Eingliederungshilfe zu unterstützen; vielmehr sind die

Voraussetzungen für die bei einer inklusiven Beschulung erforderlichen

zusätzlichen Maßnahmen unabhängig nach den hierfür geltenden Vorschriften zu

prüfen. … Neben den Interessen der Antragstellerin ist dabei sozialhilferechtlich

auch zu berücksichtigen, dass der Sozialhilfeträger, wenn er Mittel in dieser

Größenordnung aufwende, auch dem Steuerzahler gegenüber verpflichtet ist, diese

Mittel zweckentsprechend im Sinne einer Erreichung der Eingliederungsziele

einzusetzen.“ (SG Augsburg vom 7.9.2011, S 15 SO 110/11)

Landessozialgericht: „…inwieweit sich für den Fall der Beurteilung der

Beschulung in der Regelschule als angemessene Schulbildung aus dem sog.

Mehrkostenvorbehalt des § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB XII eine Einschränkung ergibt. …

Unter angemessener Schulbildung ist alles zu verstehen, was der Erreichung des

Ziels, der Integration in die Gesellschaft, dient. Wie auch sonst in der Sozialhilfe ist

Einstehensgrund für den Träger der Sozialhilfe die Deckung des „notwendigen

Bedarfs“. Bedarf und Angemessenheit sind zwei aufeinanderbezogene Größen,

gelegentlich ist auch von Eignung und Notwendigkeit die Rede.

(LSG Bayern, Beschluss vom 2.11.2011, L 8 SO 164/11 B ER)

Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung

in die Gemeinschaft – Art. 19 BRK

Anspruch: Anerkennung des gleichen Rechts aller Menschen mit

Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie

andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben

Notwendigkeit, wirksame und geeignete Maßnahmen

zu treffen, um Menschen mit Behinderungen dieses

Recht und ihre volle Einbeziehung in die

Gemeinschaft zu erleichtern

Wirklichkeit: § 13 SGB XII

(1) Die Leistungen können entsprechend den Erfordernissen des Einzelfalles für die Deckung des Bedarfs außerhalb von Einrichtungen (ambulante Leistungen), für teilstationäre oder stationäre Einrichtungen (teilstationäre oder stationäre Leistungen) erbracht werden. Vorrang haben ambulante Leistungen vor teilstationären und stationären Leistungen ... Der Vorrang der ambulanten Leistung gilt nicht, wenn eine Leistung für eine geeignete stationäre Einrichtung zumutbar und eine ambulante Leistung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist.

„Für die Entscheidung ist daher maßgeblich… ob der Wunsch der

Unterbringung in einer betreuten Wohngemeinschaft

unverhältnismäßige Mehrkosten verursacht, §§ 9 Abs. 2 Satz 3, 13

Abs. 1 Satz 3 SGB XII. Das Wohnen in der betreuten

Wohngemeinschaft verursacht … unverhältnismäßige Mehrkosten; da

dem Antragsteller eine Unterbringung in der von der Antragsgegnerin

angebotenen stationären Einrichtung zumutbar ist, schlägt dieser

Kostenvergleich … zum Nachteil des Antragstellers aus.“

„… (Gegen den Umzug wird vorgebracht), dass der Antragsteller in

dem Wohnheim nicht die optimale Betreuung erfahren werde, wie er

sie jetzt in der … betreuten Wohngemeinschaft erhalte. Selbst wenn

dies zuträfe, wäre die fehlende optimale Betreuung kein Grund gegen

den Umzug. Denn im Rahmen einer Sozialhilfegewährung erhalten

die Leistungsberechtigten die erforderliche und ausreichende – nicht

optimale – Versorgung, um ein menschenwürdiges Leben zu führen.“

LSG Niedersachsen-Bremen vom 14. Juli 2009, L 8 SO 108/09 B ER

1. Achtung der dem Menschen

innewohnenden Würde, seiner

individuellen Autonomie,

einschließlich der Freiheit,

eigene Entscheidungen zu treffen sowie seiner Unabhängigkeit

2. Nichtdiskriminierung

3. volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und

Einbeziehung in die Gesellschaft

4. Achtung der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen

und Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt

und der Menschheit

5. Chancengleichheit

6. Zugänglichkeit

7. Gleichberechtigung von Mann und Frau

8. Achtung des Rechts auf Wahrung der Identität

Zur Erinnerung: die Grundsätze der BRK

Deshalb auch…

1. Zugänglichkeit zu Gesundheitsleistungen (Art. 25

BRK)

2. Zugänglichkeit zu Habilitations- und

Rehabilitationsdiensten und -programmen (Art. 26

BRK)

3. individuelle Versorgung mit qualitativ hochwertigen

Hilfsmitteln und technischen Hilfen (Art. 4 Abs. 1 lit

g), Art. 20 lit b), Art. 26 Abs. 3 BRK)

4. Zugang zu Beschäftigung und Beruf

usw.

Fazit 1. Das Verständnis von Behinderung muss auch im deutschen

Sozialrecht konsequent dem menschenrechtlichen Ansatz

folgen und die Würde des behinderten Menschen, seine

individuelle Autonomie und Unabhängigkeit und sein Rechte

auf Selbstbestimmung und Chancengleichheit

berücksichtigen.

2. Die Sozialleistungsträger müssen die tatsächlichen und

leistungsrechtlichen Voraussetzungen sicherstellen, um die

Selbstbestimmung behinderter Menschen und ihre soziale

Inklusion in der Gesellschaft zu fördern und zu unterstützen.

3. Eine freiheitliche, gleichberechtigte soziale Inklusion in das

Leben der Gemeinschaft, in alle Bereiche des

gesellschaftlichen Lebens kann nicht unter dem Vorbehalt

einer möglichen Finanzierung stattfinden. Die Durchsetzung

von Menschenrechte darf nicht an fiskalische Bedingungen

geknüpft werden.

„Gleichheit ohne Chancengleichheit ignoriert die

unterschiedlichen Ausgangsbedingungen, die

behinderte Menschen oft haben.

Gleichheit ohne Zugänglichkeit bedeutet Tore für

Behinderte zu öffnen, ohne die Barrieren zu

beseitigen, die vor ihnen stehen. Und

Gleichheit ohne Inklusion bedeutet Assimilation um

den Preis der Unterdrückung oder der

Vernachlässigung von Differenzen, die wichtig für

die Identität oder die Entwicklung der einzelnen

Menschen sind.“ Theresia Degener: „Die UN-Behindertenrechtskonvention als

Inklusionsmotor“