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Winfried Böhm /Michel SoËtard JEAN-JACQUES ROUSSEAU DER PÄDAGOGE

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Winfried Böhm / Michel SoËtard

JEAN-JACQUES ROUSSEAUDER PÄDAGOGE

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Winfried Böhm / Michel SoËtard

JEAN-JACQUES ROUSSEAUDER PÄDAGOGE

Einführung und zentrale Texte

Ferdinand SchöninghPaderborn · München · Wien · Zürich

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Umschlagabbildung:Jean-Jacques Rousseau, Pastell von Maurice Quentin de La Tour (1753)

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1. Rousseau – die Wasserscheide der abendländischen Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

2. Rousseau – ein Mann der Widersprüche . . . . . . . . . . . . 13 3. Rousseau – der „musikalische Denker“ . . . . . . . . . . . . . 19 4. Rousseau – und das Bild des Erziehers . . . . . . . . . . . . . 27 5. Rousseau – Individualist oder Personalist? . . . . . . . . . . . 33 6. Rousseau – der Seher und Träumer . . . . . . . . . . . . . . . . 45

B. Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

1. Rousseaus Erziehungsprojekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 a) Th eorie und Praxis – Psychologie und Träumerei . . . 59 b) Erziehung durch die Natur oder durch

die Gesellschaft ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 c) Das Glück des Menschen steht über dem Wissen

und der Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2. Die Prinzipien der Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 a) Die drei Erziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 b) Kopf, Herz und Hand zusammenführen . . . . . . . . . 81 c) Dem Gang der Natur aufmerksam folgen . . . . . . . . 84 d) Das Hauptziel der Natur nie übersehen:

die Selbstbildungskraft des Menschen . . . . . . . . . . 88

3. Den neuen Bürger bilden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 a) Der Mensch – das handelnde Wesen . . . . . . . . . . . 91 b) Der Contrat social als das politische Ideal . . . . . . . . 94 c) Die unvermeidliche Enttäuschung im Kontakt mit

der politischen Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 d) Mann und Frau oder:

Die Identität der Geschlechter in ihrem Personsein 101

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6 Inhaltsverzeichnis

4. Rousseaus Auseinandersetzung mit dem Christentum . 107 a) Die Zweifelsnacht des savoyischen Vikars . . . . . . . . 107 b) Die neue Grundlage: das moralische Gewissen . . . . 109 c) Das Problem der Erbsünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 d) Der Pädagoge muss auch mit dem Übel arbeiten . . . 124

5. Rousseaus widersprüchliche Nachfolge(r) . . . . . . . . . . . 129 a) Das Urteil Pestolozzis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 b) Das Phänomen des Rousseauismus . . . . . . . . . . . . . 130 c) Der Rousseau der Reformpädagogen . . . . . . . . . . . . 133 d) Pädagogik und Erziehungssystem . . . . . . . . . . . . . . 136

6. Rousseau – der „Bekenner“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 a) Die Konfession des ersten „Menschen der Natur“ . . 143 b) Der einsame Spaziergänger oder:

Das Glück eines philosophischen Lebens . . . . . . . . 144

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

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Vorwort

Dieses Lern- und Studienbuch über den Pädagogen Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) besteht aus zwei Teilen: einer Einführung in sein Denken und einer Textauswahl aus seinen für die Pädagogik be-sonders einschlägigen Schriften. Beide Teile ergänzen sich wechselsei-tig und wiederholen nicht noch einmal das an der anderen Stelle Aus-geführte. Das Buch erwuchs aus zahlreichen Begegnungen und Gesprächen der beiden Autoren – einem deutschen Pädagogen und einem französischen Erziehungsphilosophen. Dabei ist die Einfüh-rung aus der gemeinsamen Sicht der beiden Autoren erwachsen, und auch die Textauswahl erfolgte auf der Basis von deren individueller Vertrautheit mit den Schriften Rousseaus.

Da sich beide Autoren in ihrer langen akademischen Lehrtätigkeit immer wieder mit dieser (nach beider Überzeugung) zentralen Figur der abendländischen Pädagogik befasst haben, fl ossen auch Teile aus ihren früheren Forschungen in dieses Buch ein. Darauf nicht zurück-zugreifen, wäre beiden als ausgesprochen töricht erschienen.

Unsere Darstellung Rousseaus fühlt sich nicht irgendeiner Lehrmei-nung verpfl ichtet, noch folgt sie unbedingt gängigen Mustern, sondern sie bemüht sich ausdrücklich um jene Eigentümlichkeit, die angesichts der unüberschaubaren Literatur über Rousseau noch möglich und im Hinblick auf die immer noch (und immer wieder) recht kontroverse Diskussion über Inhalt und Bedeutung seiner Pädagogik notwendig ist.

Beide Autoren sind sich nicht nur darüber einig, dass Rousseau nicht nur eine Zentralfi gur in der Geschichte der (abendländischen) Pädago-gik darstellt, sondern dass er ein Denker geblieben ist, an dem sich die Geister, und zwar nicht nur die pädagogischen, nach wie vor scheiden.

Für alle, die sich für Erziehung interessieren, und für alle, die sich in dem weiten Feld der Pädagogik orientieren wollen (oder müssen), kann es daher kaum einen besseren Einstieg geben als über den ebenso anstößigen wie provokativen Denker Jean-Jacques Rousseau. Sein 300. Geburtstag am 28. Juni 2012 mag darüber hinaus ein weiterer Anlass sein, sich seiner zu erinnern und sein Erziehungsprojekt und seinen Traum von einer gelungenen Erziehung zu vergegenwärtigen. Mit diesen beiden Worten sind zugleich jene beiden Punkte bezeich-net, um die unsere Einführung und die ausgewählten Texte kreisen: die Erziehung nicht als eine gegebene Tatsache, sondern als ein aufge-gebenes Projekt und nicht als eine (technisch) herstellbare Realität, sondern als ein zu verwirklichender Traum.

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AEinführung

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1. Rousseau – die Wasserscheide der abendländischen Pädagogik

Von dem britischen Philosophen und Mathematiker Alfred North Whitehead stammt die pointierte Aussage, die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas laute, diese bestünde aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon. Es erschiene gewiss nicht zu gewagt, dem eine ähnlich kühne Th ese zur Seite zu stellen. Ohne große Mühe könnte man eine Pädagogik vor und eine Pädago-gik nach Rousseau unterscheiden, und diese Unterscheidung würde nicht nur nicht eines tieferen Sinnes entbehren, sondern im Gegenteil einen erheblichen historischen und systematischen Erkenntnisgewinn mit sich bringen.

Als einer der ersten hat diesen Gedanken schon Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) formuliert, als er 1809 in seiner sog. Lenzbur-ger Rede über die Idee der Elementarbildung Rousseau „als Wende-punkt der alten und neuen Welt in der Pädagogik“ bezeichnete und hinzufügte, dieser habe mit herkulischer Kraft die Fesseln des Geistes gesprengt „und gab das Kind sich selbst und gab die Erziehung dem Kin-de und der menschlichen Natur zurück.“ Aber – und das darf man nicht überlesen (siehe dazu den Text 5a in unserer Auswahl) – Pestalozzi bemerkte gleichzeitig, mit dieser kopernikanischen Wende sei Rous-seau „besonders von den Erziehern fast ohne Ausnahme missver-standen“ worden, so dass er nur „abgöttische Verehrer, oder blödsinni-ge Erklärer oder erbitterte Gegner“ fi nden konnte, und so sei sein „Emil“ „in seiner erhabenen, als Th atsache der Kultur welthistorischen Bedeutung (…) ein versiegeltes Buch“ geblieben.1

Lag Pestalozzis Maß für dieses Urteil in der Rousseau zugeschriebe-nen „Entdeckung des Kindes“ als Subjekt der Erziehung (und nicht mehr als deren Objekt), hat ein bedeutender Autor aus dem 20. Jahr-hundert, der französische Philosoph und Pädagoge Jacques Maritain (1882-1973), ganz ähnlich geurteilt und Rousseau als einen geistigen „Vater der modernen Welt“ bezeichnet.2 Aber Maritains Maß war da-bei ein ganz anderes, nämlich Rousseaus Epoche machende Kritik an der „starken Vernunft“3 und die Rehabilitierung der Kriterien des Fühlens, des Wollens und der Phantasie.

1 Johann Heinrich Pestalozzi: Sämtliche Werke, 22. Band, Zürich 1979, S. 176. (Kursiv von uns. W.B./M.S.)

2 Jacques Maritain: Trois Réformateurs. Luther – Descartes – Rousseau, Paris 1937. 3 Zur Unterscheidung zwischen einer „starken“ und einer „schwachen“ Vernunft sie-

he vor allem Gianni Vattimo e Pier Aldo Rovatti: Il pensiero debole, Milano 1983.

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12 A Einführung

Deren Geschichte reicht von Platons Eros über die christliche Neu-bewertung der Liebe (gegenüber dem Wissen), den mittelalterlichen Streit über den Vorrang von Intellektualismus (Denken) oder Volun-tarismus (Wollen), den esprit de fi nesse und die Logik des Herzens (ge-genüber der Logik der Geometrie) bei Blaise Pascal, die Konfrontation zwischen dem Historismus (dem geschichtlich Kontingenten) bei Giambattista Vico und dem Mathematizismus (dem genau Berechen-baren) von René Descartes bis zum Durchbruch des Nichtrationalen (gegenüber der einseitigen Dominanz des Rationalen) bei Sören Kier-kegaard, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud. Rousseau war dabei nicht nur Zeuge, sondern zugleich maßgeblicher Protagonist jener hi-storischen Zuspitzung dieses Gegensatzes, in der einerseits die Göttin Vernunft auf den Altar gehoben wurde und sich andererseits die Kräf-te des Irrationalen mächtig Geltung verschaff ten.

Der bedeutende italienische Erziehungsphilosoph Giuseppe Flores d`Arcais (1908-2004) hat deshalb in Rousseau einen Vorläufer vieler jener Widersprüche gesehen, die unsere Gegenwart bis heute durch-ziehen, und gleichzeitig eine Figur, in der sie sich auf geradezu exem-plarische Weise inkarniert haben.4

Rousseau, dem eine so zentrale Stellung in der Geschichte der Päd-agogik eingeräumt wird – von seinem großen Einfl uss auf Kant, Marx, Adorno und andere ganz zu schweigen -, war nicht nur ein erklärter Denker in Widersprüchen, sondern auch (und zudem nach seinem Selbstzeugnis) ein Mensch der Paradoxien. Vielleicht könnte man – um noch ein drittes Maß in Anschlag zu bringen – die Wasserscheide, welche seine Person in der abendländischen Erziehungsgeschichte markiert, dahingehend bestimmen, dass es nach ihm eigentlich nicht mehr möglich ist, zumindest nicht mehr möglich sein sollte, die Erzie-hung (und analog auch die Politik, womöglich sogar alle Wissenschaf-ten und Künste) anders als in Paradoxien zu denken.5

4 Giuseppe Flores d`Arcais: Rousseau und die Vorwegnahme der Widersprüche der Gegenwart, in: Jean-Jacques Rousseau und die Widersprüche der Gegenwart, hrsg. von Winfried Böhm und Frithjof Grell, Würzburg 1991, S. 39-48.

5 Siehe dazu Winfried Böhm: Geschichte der Pädagogik von Platon bis zur Gegenwart, München 32010.

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2. Rousseau – ein Mann der Widersprüche

Dass Rousseau eine gespaltene Persönlichkeit und ein Mann der Wi-dersprüche war, das wird nicht nur dem Leser seiner autobiographi-schen Schriften (und es sind deren einige) deutlich, sondern das er-fährt man selbst bei einer noch so oberfl ächlichen Lektüre seiner Texte, ganz gleich, welche man heranzieht. Der große Rousseau-Inter-pret Jean Starobinski hat den eindrucksvollen Versuch unternommen, das Welt- und Menschenbild Rousseaus ganz von dieser gespaltenen Persönlichkeit her aufzuschlüsseln und zu erklären.6 Und Peter Gay hat Rousseau als einen Denker gekennzeichnet, den man sich kaum widersprüchlicher vorstellen kann: als einen gefeierten Bühnenautor, der über das Th eater herzieht; als einen pädagogischen Moralisten, der seine eigenen Kinder (angeblich) ins Findelhaus gibt; als einen leiden-schaftlich über Religion Philosophierenden, der aus recht zweifelhaf-ten Gründen mehrmals die Konfession wechselt; als einen Aufklärer, der sich selber von einengenden Zwangs- und Wahnvorstellungen nicht zu befreien weiß; als einen Panegyriker der Freundschaft, der sich mit jedermann zerstreitet und sein Leben schließlich als verein-samter Misanthrop beendet. Peter Gay hat Rousseau vor allem aber auch als einen liebenswerten musikalischen Dilettanten vorgestellt, der sich gleichwohl mit Frankreichs größtem Musiker seiner Zeit – ge-meint ist Rameau – befehdet; der bemerkenswerte musiktheoretische Schriften vorlegt; über 300 Musikartikel zu Diderots und d`Alemberts Enzyklopädie beisteuert; mit dem „Le Devin du Village“ eines der am meisten aufgeführten Singspiele seines Jahrhunderts schreibt und komponiert (welches dann 1765 in Paris den kleinen Mozart zu seiner Oper „Bastien et Bastienne“ inspiriert); der das am weitesten verbrei-tete Wörterbuch der Musik in seiner Zeit verfasst; der sich erkühnt, der Pariser Akademie der Wissenschaften eine neue musikalische No-tationsweise anzubieten (welche die Töne statt durch Noten durch Ziff ern darstellt); der musikologische Aufsätze publiziert, welche in einer Geschichte der musikalischen Werkbetrachtung bis heute ihren Platz behaupten können etc. etc.

Rousseau, dessen gesamtes Werk als ein Preislied auf die Natur gelesen werden kann, war selbst – auch das einer der großen Antagonismen

6 Jean Starobinski: La Transparence et l`Obstacle; deutsch u.d.T. Eine Welt von Wi-derständen, München 1988.

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– von der Natur nur wenig begünstigt worden. Er war kurzsichtig und schwerhörig; seine Redeweise war (im krassen Gegensatz zu seinem Schreibstil!) schwerfällig und behäbig; die (typisch französische) Bega-bung zu spontaner geistvoller Formulierung ging ihm ab. Ein chroni-sches Blasenleiden brachte ihn in manche peinliche Situation und ließ ihn Gesellschaften immer mehr meiden. Auch als Liebhaber war dem Autor eines der einfl ussreichsten Liebesromane seiner Zeit, der „Nou-velle Heloïse“, nur wenig Erfolg beschieden; fast alle seiner amourösen Abenteuer endeten ernüchternd; seine Th érèse hat er sich wohl mehr aus Selbstbescheidung genommen, und sie blieb für ihn stets nur eine Art von „complément“.

Rousseau, der nach eigener Aussage lieber ein Mensch der Paradoxien als einer der Vorurteile sein wollte, hat wie kaum ein anderer die Er-ziehung revolutioniert. Dabei gab es in seinem ganzen Leben nicht ein einziges Ereignis, das ihn zum Pädagogen gemacht oder gar qualifi -ziert haben könnte. Seine kurze Lyoner Tätigkeit als Privaterzieher der beiden Kinder des Hauses de Mably war ein katastrophaler Fehlschlag, von dem Rousseau aus der späteren Rückschau meint, er habe dabei sicherlich mehr profi tiert als seine beiden Zöglinge. Die fünf Kinder, die ihm seine Lebensgefährtin Th érèse angeblich gebar (diese Tatsache ist historisch freilich unbestätigt) – eine Dienstmagd, die er in einem Wirtshaus kennengelernt hatte und mit der er bis zu seinem Tode zu-sammenlebte -, gab er angeblich regelmäßig ins Findelhaus. Von sei-nen Versuchen als Musiklehrer weiß man, dass er Musik zu unterrich-ten begann, um sie auf diese Weise selbst zu erlernen. Sieht man von einzelnen Episoden als Gesangslehrer ab, liegen Hinweise auf andere pädagogische Erfahrungen nicht vor. Wir fi nden lediglich das Be-kenntnis, dass er Kinder stets gern gehabt habe, aber man darf wohl hinzufügen, sofern sie nicht erzogen werden mussten. In der neunten Promenade seiner Rêveries, der „Träumereien eines einsamen Spazier-gängers“, erklärt er, er verdanke seine Kenntnis des menschlichen Her-zens vor allem dem Vergnügen, mit dem er Kindern stets zusah und sie betrachtete.

Und dennoch schreibt dieser Mann 1762 mit seinem „Emil“ einen dickleibigen Erziehungstraktat in fünf Büchern, welcher – oberfl äch-lich betrachtet – eine nur schwer verdauliche Mischung aus theoreti-schen Prinzipien, psychologischen Beobachtungen, erzieherischen Anekdoten und romantischen Erzählungen (beispielsweise die Idylle zwischen Emil und Sophie) darstellt. Rousseau selbst bezeichnet das Buch gleich in den ersten Zeilen des Vorworts als eine „formlose und fast zusammenhanglose Sammlung von Betrachtungen und Beobach-

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tungen“ (siehe dazu den Text 1a in unserer Auswahl), welche die be-geisterten Verehrer der ein Jahr zuvor erschienenen „Nouvelle Heloï-se“ enttäuscht, die philosophischen Leser des „Contrat social“ aus der Fassung bringt und den verdutzten Pädagogen schlichtweg aus den Händen gleitet. Dennoch bezeichnet er den „Emil“ als die beste und wichtigste seiner Schriften, welche ihn zwanzig Jahre des Nachden-kens und drei harte Arbeitsjahre gekostet habe.

„Emil oder Über die Erziehung“ ist wesentlich eine theoretische Schrift, die nichts mit einer bestimmten Praxis der Erziehung zu tun hat. Die Idee soll nicht durch die Bedingungen ihrer praktischen An-wendung befl eckt werden. Auch das unterstreicht Rousseau bereits im Vorwort, wenn er erklärt, er wolle sich nur mit der absoluten Güte des Projekts beschäftigen und jegliche Überlegungen über seine prakti-sche Anwendung außer Acht lassen. So macht er sich über jenen Vater lustig, der damit prahlte, sein Kind mit dem „Emil“ in der Hand zu erziehen, und er spottet: „Armer Vater! Armes Kind!“ Zum Glück blieb es Rousseau erspart mitzuerleben, welches Drama sein abgötti-scher Verehrer Pestalozzi bei seinem einzigen Sohn heraufbeschwor. Nicht nur gab er ihm aus Anbetung für Jean-Jacques den Vornamen Jakob, sondern er versuchte ihn auch streng und buchstabengetreu nach der (vermeintlichen) Lehre Rousseaus zu erziehen. Das Ergebnis war mehr als tragisch: zuerst brachte ihn der Vater um den Verstand, dann zerstörte er sogar sein Leben. Pestalozzis Tagebuch über die Er-ziehung seines Sohnes gehört zu den bedrückendsten Texten der Päd-agogik und zu jenen leider viel zu oft überhörten Warnungen vor dem Irrtum, Rousseaus reinen Th eorieentwurf praktisch „umsetzen“ oder „anwenden“ zu wollen.

Der „Emil“ ist – musikalisch gesprochen – der dritte Satz einer Th eorie-Symphonie, die mit dem sog. Ersten Diskurs von 1750 über die Wissenschaften und Künste beginnt. Die dort vertretene Th ese schlägt den fortschrittsoptimistischen Vertretern der Aufklärung gera-dezu ins Gesicht: Die Entwicklung der Wissenschaften und Künste gewährleistet keineswegs das Glück der Menschen; zu viele Beispiele aus der Geschichte beweisen das. Freilich zog diese Th ese sogleich ein Paradox nach sich. Es scheint doch nicht zu leugnen zu sein, dass das Wissen für den Menschen unentbehrlich ist und dass der Fortschritt der Wissenschaften und der Technik den Wohlstand der Menschen ständig erhöht (hat). Aber sogleich taucht die Frage auf, ob dieser wissenschaftlich-technische Fortschritt und die damit verbundenen materiellen Vorteile die Sitten und die Moral der Menschen verbessert haben oder ob sie nicht im Gegenteil sogar eine Gefahr für sie gewor-den sind.

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