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1 Max Fuchs Das gute Leben in einer wohlgeordneten Gesellschaft Bildung zwischen Kultur und Politik - Eine Skizze

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Max Fuchs

Das gute Leben in einer wohlgeordneten Gesellschaft

Bildung zwischen Kultur und Politik - Eine Skizze

Stand: 24.6.2018

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Inhalt

Vorwort 3

1. Einleitung 5

Teil 1: Die wohlgeordnete Gesellschaft 13

2. Anthropologische Grundlagen 15

3. Politische Ordnungsformen: Real- und ideengeschichtliche Hinweise 22

4. Die gute Gesellschaft 39

5. Die gute Wirtschaft 52

6. Die wohlgeordnete Gesellschaft und der gute Staat: Kriterien 66

Teil 2: Dimensionen eines guten Lebens 72

7. Anthropologische Grundlagen 74

8. Konzepte eines guten Lebens in der Geschichte 77

9. Das gute Leben in seiner Vielfalt – weitere Überlegungen 85

10. Lebensformen, Lebensführung und das gute Leben 89

Teil 3: Bildung und das Projekt des guten Lebens 96

11. Ein Zwischenfazit und der Begriff der Bildung 96

12. Bildung als Lebensführungskompetenz – Grundlagen 111

13. Politische und/oder kulturelle Bildung? 131

14. Pädagogische Institutionen 141

Schlussbemerkungen 144

Literatur 146

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Vorwort

Es gibt wohl kaum einen Menschen, der sich nicht wünscht, ein gutes Leben zu führen. Doch was bedeutet dies überhaupt? Fragt man unterschiedliche Menschen nach ihren Wünschen und Zielen, so werden einige Ziele recht häufig auftauchen: Gesundheit, ein langes Leben, genügend Geld, Glück, Liebe und Freundschaft, Frieden und Freiheit.

Fragt man weiter, dann wird man sicherlich auch auf Unterschiede stoßen. So sehen die einen etwa beruflichen Erfolg und ein hohes Einkommen, vielleicht sogar einen Lottogewinn als maßgeblich für ihr Verständnis von Glück an, andere streben vielleicht gesellschaftliches Ansehen an. Die einen haben möglicherweise nur sich selbst und ihr eigenes individuelles Leben im Blick, während andere sich um das Schicksal anderer Menschen (Familie, Freunde, vielleicht sogar die Menschheit als Ganzes) sorgen. Bestand in früheren Zeiten das Glück darin, ein gottgefälliges Leben zu führen, so haben sich auch die individuellen Glücksvorstellungen im Zuge der Moderne ausdifferenziert.

Wenn diese offenbar notwendige Ausdifferenzierung bereits nur bei dem einen genannten Elemente eines guten Lebens, nämlich Glück, zu finden ist, dann wird man erwarten müssen, dass es eine ähnliche Ausdifferenzierung auch bei anderen Vorstellungen darüber gibt, was man mit einem guten Leben meint.

Bereits bei diesen ersten vorläufigen Überlegungen wird deutlich, wie stark Vorstellungen eines guten Lebens eingebunden sind in gesellschaftliche Kontexte. Diese Erkenntnis formulieren verbreitete Sprichwörter, wenn es etwa heißt, dass der Frömmste nicht in Frieden leben könne, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt (so bereits Friedrich Schiller in seinem Wilhelm Tell).

Bei der Frage nach dem guten Leben ist es also notwendig, gleichzeitig die Frage danach zu stellen, wie die Gesellschaft beschaffen sein muss, damit ein solches gutes Leben auch ermöglicht wird. Damit eröffnet sich jedoch ein weiterer Fragehorizont, den die Menschen reflektieren, seit sie Bewusstheit über ihre Lebensbedingungen erlangt haben.

Für die frühen Philosophen war eine Trennung dieser beiden Fragestellungen nicht denkbar. Fragen der gewünschten politischen Ordnung wurden immer auch im Hinblick darauf diskutiert, in welcher Beziehung eine solche Ordnung zu dem Leben des Einzelnen steht.

In einer pädagogischen Perspektive ist es dabei von größtem Interesse, darüber nachzudenken, in welcher Weise Bildung und Erziehung zu beidem einen Beitrag leisten können: zur Führung eines guten Lebens, was immer dies bedeuten mag, und zur Schaffung einer gesellschaftlichen Ordnung, die eine solche individuelle Lebensführung unterstützt.

Wir haben es also mit drei Themenbereichen zu tun, die aufs engste miteinander zusammenhängen: der Frage nach dem Subjekt, der Frage nach der gesellschaftlichen und politischen Ordnung und nicht zuletzt der Frage nach der geeigneten pädagogischen Unterstützung.

Aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive muss man sehen, dass Politik und Pädagogik zwei

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Seiten derselben Medaille sind (Fuchs 2017). Man kann zudem die Realgeschichte der Entwicklung von Subjektivität, der gesellschaftlichen und der politischen Entwicklung in den unterschiedlichen historischen Epochen nachzeichnen und man kann untersuchen, inwieweit diese Prozesse in der Philosophie und später in Einzelwissenschaften theoretisch reflektiert wurden.

Man wird dabei erkennen, dass es immer Visionen sowohl über das gute Leben als auch über die wohlgeordnete Gesellschaft gegeben hat, an denen man die realen Entwicklungen gemessen hat. Es liegt auf der Hand, dass die realen Entwicklungen in den genannten Bereichen nie den Visionen entsprachen. Die daraus entstehende Unzufriedenheit war eine wichtige Motivation für beide Felder: für die Entwicklung neuer Ziele und Visionen sowie für entsprechende Interventionen in der Praxis.

Der vorliegende Überblick versucht, einige dieser Entwicklungen in ihren jeweiligen Zusammenhängen zu beschreiben. Von besonderem Interesse ist dabei die Frage, inwieweit sich Vorstellungen eines „starken Subjekts“ (Fuchs 2016, Taube u. a. 2017), das (sozialverträgliche) Visionen eines guten Lebens realisieren will, in dieser Entwicklungsgeschichte finden lassen. Insbesondere interessiere ich mich für die Frage, was der Einzelne tun kann, um Situationen, die nicht seinen Vorstellungen einer wohlgeordneten Gesellschaft entsprechen, zu verändern (Fuchs 2018) und in welcher Weise die Erziehungswissenschaft hierbei helfen kann (Bernhard/Rothermel 2018, Fuchs/Braun 2018).

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1. Einleitung

Warum gutes Leben und eine wohlgeordnete Gesellschaft zusammen gehören

In den letzten Jahren häufen sich die Fragen danach, wie wir leben sollen. Man fragt danach, wie die individuelle Lebensgestaltung sein soll, wobei Hintergrund dieser Frage oft genug eine ökologische Sorge darüber ist, in welchem Zustand wir die Welt an die nachfolgenden Generationen übergeben. Man verfolgt dabei etwa den Gedanken, dass es die individuelle Lebensführung ist, mit der man einen eigenen Beitrag dazu leisten kann, dass sich der Zustand der Welt nicht noch weiter verschlechtert. Natürlich fragt man auch nach einer geeigneten Politik, die bei der Umsetzung des Zieles hilft. Insbesondere rückt dabei das zurzeit praktizierte neoliberale Wirtschaftssystem in den kritischen Blick. Dies geht immer häufiger so weit, dass dessen Untauglichkeit und Inhumanität als unverträglich mit den Zielen und Werten unserer politischen Ordnung angesehen wird (vgl. etwa Dux 2013 oder Taylor 2001).

Auch in der Philosophie und in den Wissenschaften spielt die Frage nach einer geeigneten Lebensführung eine immer größere Rolle. So wurde schon vor Jahren eine Studie mit dem programmatischen Titel „Gut leben statt viel haben“ (BUND/Miserior 1996) veröffentlicht. Der Hintergrund dieses Slogans liegt auf der Hand: Es geht auch hierbei um einen verschwenderischen Lebensstil vor allen Dingen in westlichen Ländern, der keine Rücksicht auf die Knappheit vorhandener Ressourcen nimmt.

Allerdings geht dieser Slogan noch weiter, denn er formuliert einen Gegensatz zwischen materiellem Reichtum und Lebensqualität. Denn das Tragische des kritisierten materialistisch orientierten Lebensstils besteht darin, dass er ein vermutlich verfolgtes Lebensziel – zumindest nicht im Selbstlauf – gerade nicht zu realisieren gestattet: nämlich ein gutes Leben zu sichern.

Natürlich stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, wie und mit welcher Begründung das Attribut „gut“ bei dem Konzept des guten Lebens inhaltlich gefüllt werden soll. Wenn man sich ein wenig damit beschäftigt, stellt man fest, dass diese Frage immer schon die Menschheit - und dies in allen Kulturen (vgl. den kulturübergreifenden Überblick in Fletcher 2017) - beschäftigt hat. Es geht um Lebensqualität, es geht um Glück und ein erfülltes Leben.

Offensichtlich bricht der genannte Slogan mit der bislang immer wieder propagierten scheinbaren Selbstverständlichkeit, dass materieller Reichtum eine hinreichende Bedingung für ein gutes Leben ist. Dies kann man durchaus als Fundamentalkritik nicht bloß an bestimmten Formen der Lebensführung, sondern generell an der gesellschaftlichen und ökonomischen Ordnung unserer Gesellschaft betrachten. Denn unser kapitalistisches System der Marktwirtschaft beruht genau auf dieser Annahme, dass materieller Erfolg und materieller Reichtum hinreichende Bedingungen für ein sinnerfülltes Leben sind. Das kritische Nachdenken über diese Annahme und ihre Infragestellung hat also durchaus systemsprengende Qualität.

Geht man allerdings in der Geschichte des Kapitalismus in seine Frühzeit zurück, untersucht man also etwa die Theoretisierungsversuche von Adam Smith in seiner Konzeption von Kapitalismus (Smith 1978),

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dann stellt man fest, dass man zu dieser Zeit sehr viel weniger grobschlächtig für diese damals neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung plädiert hat. Denn Adam Smith war kein Ökonom, sondern Moralphilosoph und er wurde durch die Entwicklungen seiner Zeit zu seiner Theoriearbeit motiviert. Es ging um die Grundprobleme menschlichen Zusammenlebens, die insbesondere in der Moderne in den Mittelpunkt des Nachdenkens rückten: Es ging um Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit, es ging um Frieden und Wohlergehen.

Die geniale, wenn auch utopische Idee von Smith bestand darin, dass er den Menschen nicht idealisierte, sondern mit seinen Fehlern und seiner Sündhaftigkeit sah (Egoismus, Gier etc.), er aber in dem neu zu entwickelnden kapitalistischen Wirtschaftssystem eine Chance sah, dass genau auf der Basis dieser Charakterschwächen Gemeinwohl entstehen könnte.

Allerdings hat die Geschichte gezeigt, dass der Kapitalismus als Wirtschaftssystem zum einen über eine starke Überlebenskraft verfügt, allerdings nicht im Selbstlauf die von Adam Smith und anderen gewünschten humanistischen Ergebnisse erbringt. Allerdings streitet man sich heute mehr denn je nicht nur über diesen Befund, sondern auch an möglichen Therapievorschlägen scheiden sich die Geister. Während die einen ihre Hoffnung vollständig auf eine wirtschaftliche Entwicklung setzen, die wenig oder gar nicht von außen – etwa vom Staat – beeinflusst wird, sind andere der Überzeugung, dass nur eine straffe staatliche Steuerung des Marktgeschehens die ungerechten Auswüchse dieses Systems verhindern kann.

Es geht also immer wieder um die Erkenntnis, dass bei aller Autonomie in der individuellen Lebensführung, die als Errungenschaft der Neuzeit verstanden werden kann, eine Gestaltung entsprechender entwicklungsfördernder Rahmenbedingungen notwendig ist. Es geht also darum, wie die jeweilige Gesellschaft beschaffen ist, welche Entwicklungschancen bzw. Entwicklungshindernisse sie für die individuelle Lebensführung bereithält.

Man wird daher einen Blick auf die jeweilige Gesellschaft, auf fördernde oder schädliche Kontexte werfen müssen. Denn die Trennung zwischen Individuum und Gesellschaft ist bestenfalls eine analytische. Alle zentralen Werte und Zielstellungen, die man möglicherweise im Rahmen eines „guten Lebens“ anstrebt und benötigt, haben eine individuelle und eine gesellschaftliche Seite. Man denke etwa an Werte wie Freiheit, Frieden oder Gerechtigkeit, die nur in einem gesellschaftlichen Kontext sichergestellt werden können und die eine entscheidende Rahmenbedingung dafür sind, dass man sein eigenes Projekt des guten Lebens realisieren kann.

Der Einzelne ist hierbei gleichzeitig Täter und Opfer, insofern er zunächst einmal gesellschaftliche Rahmenbedingungen akzeptieren muss, diese aber zugleich durch sein eigenes Handeln immer wieder mit produziert.

Auch dieser Gedanke hat eine lange Tradition im philosophischen Denken. Denn immer wieder hat man danach gefragt, wie auf der einen Seite eine ideale politische und Gesellschaftsordnung aussehen kann und wie auf der anderen Seite der Einzelne beschaffen sein muss, der in dieser Gesellschaft lebt und deren Ordnung er letztlich auch mit produziert. In der griechischen Antike sprach man in diesem Kontext von Tugenden. Solche Tugenden sollten in entsprechenden pädagogischen Prozessen entwickelt werden. Die Tugendkataloge korrespondieren daher mit Gütekriterien einer guten Gesellschaft. Es geht um

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Menschlichkeit und Gerechtigkeit, um Mut und Mäßigung, um Weisheit und Wissen (Rippe/Schader 1998).

Das zentrale Interesse des vorliegenden Textes zielt genau auf diesen Zusammenhang zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft und die Rolle der Pädagogik in dieser Beziehung. Es geht mir dabei um die Gegenwart einer modernen Gesellschaft wie Deutschland mit der politischen Ordnung einer parlamentarischen Demokratie. Allerdings schlage ich einen historischen Weg ein, um zu zeigen, dass die wesentlichen Elemente, die unsere politische Ordnung ausmachen, eine lange Geschichte haben und zum Teil in harten Auseinandersetzungen erkämpft werden mussten.

Man wird dabei zur Kenntnis nehmen müssen, dass die historischen Traditionen der unterschiedlichen Elemente, die heute zu unserer demokratischen Grundordnung gehören, sehr unterschiedlich sind, weswegen es immer wieder auch zu Spannungen zwischen den verschiedenen demokratischen Grundwerten und Institutionen kommt.

Die Basis einer politischen Gestaltung von Gesellschaft wird in entsprechenden Dispositionen des Einzelnen gesehen. Ein Blick in die Anthropologie zeigt, dass und wie sich die Fähigkeiten zur Kommunikation, Koordination und Kooperation entwickelt haben. Dabei ist die heute praktizierte Trennung unterschiedlicher Disziplinen wie Ökonomie, Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft und Gesellschaftswissenschaft recht jungen Datums, die zwar aus arbeitsökonomischen Gründen verständlich ist, die aber zu Fehleinschätzungen führen kann, wenn man diese Trennung verabsolutiert. In historischer Perspektive kann man vielmehr von einer Ko-Evolution dieser unterschiedlichen Bereiche sprechen.

Die Arbeit besteht aus drei Teilen. Ein erster Teil befasst sich mit der gesellschaftlichen und politischen Seite des individuellen Lebens. In einem zweiten Teil werden die Diskurse um das Konzept des guten Lebens zumindest ein Stück weit rekonstruiert. In beiden Teilen wird danach gefragt, auf der Basis welcher anthropologischen Grundlagen sich die vorgestellten Konzepte haben entwickeln können. Ich versuche dabei, sowohl die Real- als auch die Ideengeschichte sowie das Verhältnis zwischen beiden im Blick zu behalten, auch wenn dies in unserem Zusammenhang bestenfalls kursorisch geschehen kann. In einem dritten Teil wird die Frage nach dem guten Leben und den dazu notwendigen gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen unter dem Aspekt der Bildung aufgegriffen.

Anthropologische Grundlagen: Der Mensch als soziales und politisches Wesen und die selbstbestimmte Lebensführung

Der Mensch ist sich selbst immer das größte Rätsel gewesen. Diese These lässt sich zumindest in dem Umfang bestätigen, wie es Zeugnisse des Menschen aus früheren Zeiten gibt. Dies betrifft schriftliche Überlieferungen, etwa die frühgriechischen Schriften von Homer oder Hesiod aus dem ersten vorchristlichen Jahrtausend. Auch in anderen Kulturen finden sich entsprechende Zeugnisse, wobei man diese nicht auf schriftliche Überlieferungen beschränken muss. Allerdings kann man immerhin etwa viertausend Jahre zurückgehen, um schriftliche Überlieferungen zu der Frage der guten Gesellschaft und des guten Lebens zu finden. So dokumentieren Becher/Treptow (2000, 17ff.) einen um 2300 vor der

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Zeitwende entstandenen Fürstenspiegel (im Wesentlichen eine pädagogische Anleitung für gutes Regieren für den Pharao) von Ptahotep, dem Wesir unter dem Pharao Isesis.

Allerdings ist diese Beobachtung keineswegs besonders bemerkenswert. Denn man muss sehen, dass der Mensch in seiner Frühzeit überwiegend damit beschäftigt war, seinen Lebensunterhalt zu sichern. Um dies tun zu können, musste er Erfahrungen mit diesen Tätigkeiten sammeln und reflektieren.

Diese handelnde Aneignung von Welt, diese Reproduktion als Einzelner bzw. in seiner jeweiligen Gruppe ist zugleich ein entscheidender Motor bei der Entwicklung seiner menschlichen Eigenschaften. Man kann auf die Auge-Hand-Koordination hinweisen, was wiederum die Freistellung der Hände zur Voraussetzung hatte. Dies wiederum war Ergebnis des aufrechten Gangs. Diese Entwicklungsgeschichte des Homo Sapiens Sapiens ist vielfach beschrieben worden, zuletzt etwa in der „Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift“ (Parzinger 2015, Kapitel I und II; sie auch Fuchs 2017).

Der frühe Mensch war Jäger und Sammler – und benötigte hierfür bereits Erkenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen. Eine frühe Arbeitsteilung beim Jagen unterschied das Treiben der Tiere vom Jagen im engeren Sinne. Später sprach man von der neolithischen Revolution und meinte damit den Übergang zum Ackerbau verbunden mit der neuen Lebensform der Sesshaftigkeit. Damit war auch ein erheblicher Entwicklungssprung im Bereich der geistigen Fähigkeiten verbunden.

Diese hier kurz skizzierte Geschichte der Menschwerdung gehört nicht unbedingt zu dem Interessensgebiet dessen, was man (philosophische) Anthropologie nennt (vgl. Bohlken/Thies 2009). Hierbei geht es vielmehr um Vorstellungen und Konzeptionen, die sich der Mensch von sich selbst macht. Solche gibt es in großer Zahl, da man davon ausgehen kann, dass jede Kultur, die in der Vergangenheit existiert hat oder die heute vorzufinden ist, eine eigene Vorstellung vom Menschen und von der Welt, in der er lebt, entwickelt hat. Es geht um mehr oder weniger durchdachte Bilder von Menschen, die jeweils unterschiedliche Begründungen finden. Dabei waren diese Welt- und Menschenbilder über lange Zeit hochspekulativ (vgl. Fuchs 1998).

Aber auch solche mythologischen Erzählungen über sich und die Welt können als Versuch verstanden werden, eine gewisse Ordnung herzustellen. Auch dies darf als anthropologisches Wesensmerkmal des Menschen verstanden werden: der Versuch, sowohl in der Realität als auch im Geistigen eine Ordnung herzustellen, die im Wesentlichen den Zweck hat, sich selbst zu verstehen und sich in der Welt zurechtzufinden. Es geht also um die Suche nach Sinn und Sinnhaftigkeit, ebenfalls ein Wesensmerkmal menschlichen Lebens.

Man kann die Entwicklungsgeschichte des Menschen in einer dreifachen Perspektive betrachten. Eine Naturgeschichte des Menschen, die Phylogenese der Gattung Mensch, endet dort, wo der Mensch beginnt, die Bedingungen seines Überlebens selber zu schaffen. Diesen Prozess bezeichnet man als Kultur, sodass man davon sprechen kann, dass der Mensch ein kulturell verfasstes Wesen ist. Noch vorhandene tierhafte Instinkte sterben allmählich ab und werden ersetzt durch eine reflektierte Konstruktivität der Lebensbedingungen. Begleitet wird diese handelnde Gestaltung von Welt durch geistige Prozesse, bei denen die Suche nach Sinnhaftigkeit eine wichtige Rolle spielt.

Der Soziologe und Philosoph Günter Dux (2013, 66) beschreibt dies wie folgt:

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„Unter dieser Lebensform bleibt es nicht bei einer reflexiven Form der Lebensführung, durch die das Subjekt sich Wissen von der Welt verschafft, sich seines Handlungsvermögens vergewissert, ein Bewusstsein erwirbt, durch sein Handeln etwas ausrichten zu können in der Welt, Ziele zu setzen, Ziele zu verfolgen und zu erreichen oder was man sonst an praktischen Fertigkeiten nennen mag – die Reflexivität des Subjekts richtet sich in der Weise auf sich selbst, dass das Subjekt sich seiner Stellung im Universum zu vergewissern sucht. Wer bin ich? Wie muss ich mein Leben führen, wenn ich der oder die bin, der oder die ich sein will.“

Wesentlich für den Entwicklungsprozess des Menschen ist dabei die Dialektik von Aneignung und Vergegenständlichung. Durch tätige Gestaltung der Welt gestaltet er sie im Sinne seiner Lebenserhaltung, wobei nachfolgende Generationen alleine durch den Umgang mit dieser gestalteten Welt sich die darin vergegenständlichten geistigen Kräfte aneignen können. Daraus ergibt sich der kumulative Prozess, dass nämlich nicht jede neue Generation wieder am Nullpunkt der Entwicklung anfangen muss.

Die Weitergabe dieser kulturellen Errungenschaften geschieht über den Einzelnen, was bedeutet, dass jeder einzelne Mensch die Gelegenheit bekommt und auch nutzen muss, sich den jeweiligen Wissens- und Kenntnisstand – in den Grenzen seiner Möglichkeiten – anzueignen: Auch die Entwicklung der Gemeinschaft oder sogar der Gattung Mensch basiert auf der Entwicklung des Einzelnen, auf der Ontogenese.

Daraus erklärt sich, dass Entwicklungstheorien, die für den einzelnen Menschen entwickelt worden sind, auch eine Rolle spielen bei der Erklärung sozialer Prozesse und Entwicklungen. So wird von den verschiedensten Autoren die Entwicklungstheorie von Jean Piaget (in vielerlei Hinsicht kompatibel mit den Ansätzen von Wygotzki) bei der Erklärung sozialer und historischer Prozesse angewandt (etwa von Günter Dux in den angegebenen Büchern, siehe auch Eder 1980 oder Oesterdiekhoff 1997).

Der Mensch muss also tätig werden, muss sich mit anderen zusammenschließen, muss in der Lage sein, sich vorhandene kulturelle Entwicklungsstände anzueignen, muss sich mit anderen organisieren, absprechen, gemeinsame Ziele setzen, zu realisieren versuchen und die Erfolge oder Misserfolge zu evaluieren.

Der Mensch ist also ein soziales Wesen, das auf die Kommunikation, Kooperation und Koordination angewiesen ist. Dies bedeutet aber auch gleichzeitig, dass er sich nicht bloß um die Gestaltung seines eigenen, individuellen Lebens kümmern muss, sondern dass er zugleich gemeinsam mit den anderen Regeln des Zusammenlebens und Zusammenagierens entwickeln muss.

Dies muss man sich nicht unbedingt als reflektierten Diskursprozess vorstellen, sondern es wird sich – insbesondere in der Frühzeit des Menschen – eher um eine Art Erfahrungslernen handeln, bei dem erfolgreiche Handlungsstrategien zur Gewohnheit werden und sich der Einzelne diese Gewohnheiten

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aneignet. Dabei dürfte der frühe Mensch schon die Erfahrung gemacht haben, dass der Mensch im „Zwiespalt seiner Möglichkeiten“ (so der Untertitel von Thurn 1990) lebt, er also sowohl produktive als auch destruktive Tendenzen hat.

Vor diesem Hintergrund erscheint eine Auflistung sinnvoll, die der englische Rechtswissenschaftler und Rechtsphilosoph Herbert Hart – allerdings für eine spätere Zeit – aufgestellt hat:

1. Der Mensch ist verwundbar, andererseits neigen Menschen zu Gewalttätigkeit. Deshalb bedarf es politischer Beschränkungen von Gewaltanwendung, Tötung und Körperverletzung und es bedarf der zu ihrer Durchsetzung notwendigen rechtlichen und moralischen Institutionen.

2. Die Menschen sind annähernd gleich stark. Andererseits gibt es immer Individuen, die ihre Machtmöglichkeiten dazu nutzen, andere zu unterdrücken, vor allem von Natur aus Stärkere. Deshalb bedarf es eines Systems wechselseitiger Selbstbeschränkungen und Kompromisse ebenso wie Institutionen zur Durchsetzung von Verträgen und Schutzversprechungen.

3. Der Altruismus des Menschen ist begrenzt. Menschen sind nicht ausschließlich, aber doch weitgehend egoistisch motiviert. Deshalb bedarf es gesellschaftlicher Normen der Solidarität, insbesondere mit den von Natur aus Schwächeren, sowie eines Anwaltssystems, das altruistisches Handeln (bzw. Handeln mit altruistischen Konsequenzen) auch aus egoistischen Gründen lohnend erscheinen lässt.

4. Die Menge der Güter ist begrenzt. Andererseits sind die Bedürfnisse des Menschen in vielen Hinsichten grenzenlos. Es bedarf deshalb einer institutionell abgesicherten Wirtschaftsordnung, die die produzierten Güter so verteilt, dass keiner zu kurz kommen.

5. Einsichtsfähigkeit und Willensstärke des Menschen sind begrenzt. Es bedarf eines Systems von Institutionen, die Normverstöße aufdecken und sanktionieren.“ (Zitiert nach Bernbacher in Jörke/Ladwig 2009, 180 f.)

Diese Liste gesellschaftlicher Regelungsnotwendigkeiten, auf die ich im ersten Teil dieses Textes noch (kritisch) eingehen werde, kann ergänzt werden durch eine Liste von menschlichen Fähigkeiten von Martha Nussbaum (in Zusammenarbeit mit Amartya Sen), deren Realisierung im Sinne der Autorin ein „gutes Leben“ ausmachen sollen:

1. „Fähig zu sein, bis zum Ende eines vollständigen Lebens leben zu können, so weit, wie es möglich ist; nicht frühzeitig zu sterben oder zu sterben, bevor das Leben so vermindert ist, dass es nicht mehr lebenswert ist.

2. Fähig zu sein, eine gute Gesundheit zu haben; angemessen ernährt zu werden; angemessene Unterkunft zu haben; Gelegenheit zur sexuellen Befriedigung zu haben; fähig zu sein zur Ortsveränderung.

3. Fähig zu sein, unnötigen und unnützen Schmerz zu vermeiden und lustvolle Erlebnisse zu haben.

4. Fähig zu sein, die fünf Sinne zu benutzen; fähig zu sein, zu fantasieren, zu denken und zu

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schlussfolgern.

5. Fähig zu sein, Bindungen zu Personen außerhalb unserer selbst zu unterhalten; diejenigen zu lieben, die uns lieben und sich um uns kümmern; über ihre Abwesenheit zu trauern; in einem allgemeinen Sinn lieben und trauern sowie Sehnsucht und Dankbarkeit empfinden zu können.

6. Fähig zu sein, sich eine Auffassung des Guten zu bilden und sich auf kritische Überlegungen zur Planung des eigenen Lebens einzulassen

7. Fähig zu sein, für und mit anderen leben zu können, Interesse für andere Menschen zu zeigen, sich auf verschiedene Formen familialer und gesellschaftlicher Interaktion einzulassen.

8. Fähig zu sein, in Anteilnahme für und in Beziehung zu Tieren, Pflanzen und zur Welt der Natur zu leben.

9. Fähig zu sein, zu lachen, zu spielen und erholsame Tätigkeiten zu genießen.

10. Fähig zu sein, das eigene Leben und nicht das von irgendjemand anderen zu leben.

10a. Fähig zu sein, das eigene Leben in seiner eigenen Umwelt und in seinem eigenen Kontext zu leben.“ (Nussbaum 1993, 339 f.)

Man spricht von einem „aristotelischen Sozialdemokratismus“, den Martha Nussbaum hier in ihrer schwachen Anthropologie vertritt. Ich komme später darauf zurück.

Das Nachdenken über den Menschen war notgedrungenerweise in früheren Zeiten hochgradig spekulativ. In der Neuzeit, spätestens seit dem 18. Jahrhundert, nutzte man nach und nach die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus den Natur- und Humanwissenschaften. Insbesondere spielte (seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) die Entwicklungstheorie von Darwin eine wichtige Rolle.

Die Anthropologen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie etwa Max Scheler und speziell Helmuth Plessner und dann auch Arnold Gehlen konnten in ihren philosophischen Überlegungen zum Wesen des Menschen auf viele wissenschaftliche Erkenntnisse der Biologie und Verhaltenswissenschaft zurückgreifen.

Aktuell ist es eine evolutionäre Anthropologie, so wie sie etwa in den Schriften von Michael Tomasello vorgestellt wird, in denen bislang bloß spekulative Aussagen über den Menschen durch empirische Studien entweder widerlegt oder auch gestützt werden. Es betrifft insbesondere die Bedingungen der Möglichkeit des Menschen, überhaupt soziale Beziehungen einzugehen. Es betrifft die Fähigkeit zur Sprache und ihrer Entwicklung, die schon immer als basal im menschlichen individuellen und sozialen Leben angesehen wurde. Mit Sprache erfasst der Mensch auf symbolische Weise die Wirklichkeit, macht sie sich verfügbar und kann die Grenzen von Raum und Zeit überwinden. Tomasello zeigt, in welcher Weise sich Sprache auf der Basis der frühen Kommunikationsform des Zeigens entwickeln konnte. Mit Tomasello kann man auch verstehen, dass es zum einen die Möglichkeit ist, Absichten mitzuteilen und zu erkennen, die den Menschen auch von höchstentwickelsten Tieren unterscheidet (Intentionalität).

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Zudem bewegt sich nur der Mensch (mit anderen) in einem gemeinsam geteilten „Aufmerksamkeitsrahmen“, in dem sich die Kommunikationspartner bewegen (vgl. zustimmend das neueste Buch von Charles Taylor 2017, 114ff.). Ebenfalls konnte er zeigen, dass der Mensch keineswegs immer schon das egoistische Wesen war, so wie es oben in dem Katalog von Hart formuliert wurde: es gibt – gerade in den frühen Jahren – das Überwiegen eines altruistischen Verhaltens.

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Teil 1: Die wohlgeordnete Gesellschaft

Geeignete gesellschaftliche Rahmenbedingungen können die Realisierung des Projektes des guten Lebens zwar begünstigen, allerdings nicht garantieren. Es stellt sich sogar die Frage, ob ein gutes Leben nicht auch in einer schlechten Gesellschaft möglich ist. Adorno hat dies bekanntlich vehement bestritten. Doch was meint dieser Begriff einer „wohlgeordneten Gesellschaft“ überhaupt?

In einer eher grundsätzlichen Weise kann man danach fragen, welche Rolle überhaupt Ordnung im menschlichen Leben spielt. Wie bei fast allen der in diesem Text behandelten Begriffe gibt es auch hierbei nicht bloß unterschiedliche Meinungen, sondern es gibt auch sehr verschiedene reale Entwicklungen. In anthropologischer Perspektive kann man zeigen, dass menschliches Leben eine gewisse Form von Ordnung benötigt, weil erst diese eine notwendige Verhaltenssicherheit gibt. Man kann allerdings auch viele Beispiele in der Geschichte finden, wo unter der Perspektive einer Herstellung einer gesellschaftlichen Ordnung die Freiheitsräume des Einzelnen empfindlich eingegrenzt wurden. Daher ergibt sich eine Spannung zwischen der Notwendigkeit eines Mindestmaßes von Ordnung und einer letztlich inhumanen Überbetonung.

Dieses Spannungsverhältnis ist der Grund dafür, dass die Frage nach der Wohlordnung, also einer notwendigen und angemessenen gesellschaftlichen Ordnung, die eine Entwicklung des Einzelnen unterstützt und nicht verhindert, geradezu im Mittelpunkt des politischen Denkens seit der Antike steht. Anregend ist es hierbei, nicht nur über Qualitätskriterien für die „Güte“ von Staat, Gesellschaft oder Wirtschaft nachzudenken: Möglicherweise gibt es der Phantasie auch einen Anstoß, über Merkmale eines schlechten Staates, einer schlechten Gesellschaft oder einer schlechten Wirtschaft nachzudenken.

Ein zweites Problem besteht darin, was denn „Gesellschaft“ eigentlich bedeutet und welche Bereiche man hierbei unterscheiden muss. Unter den meisten Wissenschaftlern ist es Konsens, dass sich die moderne Gesellschaft von früheren Gesellschaften unter anderem durch ihre funktionale Differenzierung unterscheidet: Unterschiedliche Gesellschaftsfelder entwickeln eine Eigenständigkeit und (relative) Autonomie mit eigenen Regelungsprinzipien. Für eine historische Betrachtung bringt dies das Problem mit sich, dass Begrifflichkeiten, die man zur Beschreibung der modernen Gesellschaft entwickelt hat und die dort sinnvoll sind, für vormoderne Zeiten untauglich sind.

Wenn man heute also sowohl die gesellschaftlichen Teilbereiche wie Politik, Wirtschaft, Gemeinschaft und Kultur (und diese wiederum in ihren Teilbereichen wie Wissenschaft, Religion oder Kunst) verbunden mit den jeweils bereichsspezifischen Diskursen unterscheidet und sinnvoll danach fragen kann, was jeweils eine gute Politik, eine gute Wirtschaft, eine gute Kultur und ein gutes gesellschaftliches Zusammenleben bedeuten könnte, so ist diese Unterscheidung für vormoderne Zeiten letztlich sinnlos, da man gesellschaftliches und individuelles Leben stets in einem engen Zusammenhang sah und kulturelle, ökonomische und politische Prozesse eine Einheit bildeten.

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Und doch unterscheidet Michael Mann (1990 ff.) in seiner mehrbändigen „Geschichte der Macht“, die er in der Frühgeschichte der Menschheit beginnen lässt, ideologische, ökonomische, militärische und politische Impulse und Entwicklungstendenzen, legt also ein Begriffsraster an, das zunächst einmal nur für die moderne Gesellschaft entwickelt worden ist.

Wenn man diese Unterscheidung als sinnvoll betrachtet, dann stellt sich als nächstes die Frage, ob man unter diesen verschiedenen Entwicklungsdimensionen eine Hierarchie herstellen und ob man etwa eine von ihnen als den entscheidenden Entwicklungsmotor für die gesamte gesellschaftliche Entwicklung identifizieren kann. Bekanntlich sehen Vertreter des historischen Materialismus in der ökonomischen Dimension der Gesellschaft den zentralen Entwicklungsmotor. In unserem Kontext muss diese Frage nach der Priorität nicht interessieren, wir können vielmehr von dem Konzept einer Ko-Evolution ausgehen, was bedeutet, dass sich die unterschiedlichen Entwicklungsdimensionen wechselseitig beeinflussen und in ihrer Entwicklung vorantreiben.

Entwicklung bedeutet hierbei keineswegs ein geradliniger linearer (teleologischer) Prozess hin zu einer parlamentarischen Demokratie westlicher Prägung, ganz so wie es Winkler (2009, 20) formuliert: „Die Geschichte des Westens ist keine Geschichte des ununterbrochenen Fortschritts in Richtung auf mehr Freiheit.“

Es steht dabei in diesem Text der westliche Entwicklungsweg im Mittelpunkt:

„Zusammen mit den Ideen von den unveräußerlichen Menschenrechten, der Herrschaft des Rechts und der repräsentativen Demokratie gehört die Gewaltenteilung zum Kernbestand dessen, was wir als das normative Projekt des Westens oder die westliche Wertegemeinschaft bezeichnen können.“ (21)

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2. Anthropologische Grundlagen

Der Mensch als soziales und politisches Wesen

In der Geschichte des Nachdenkens darüber, was die Gründe für politisches Handeln sind und wie dieses dann jeweils realisiert wird, argumentieren die verschiedensten Autoren mit der Spezifik der menschlichen Natur. Wenn der Mensch ein kulturell verfasstes Wesen ist, was bedeutet, dass er handelnd die Bedingungen seines Überlebens herstellen muss, dann ergibt sich hieraus unmittelbar, dass er dies nicht als Einzelner, sondern nur in einer sozialen Gruppe tun kann. Eine solche Gruppe muss miteinander kommunizieren, sie muss gemeinsam planen und – um erfolgreich zu sein – die jeweiligen Aufgaben festlegen. Kurz: Man muss Entscheidungen treffen und man braucht Regeln, wie diese Entscheidungen zu treffen sind. Eine allgemeine Begriffsbestimmung von Politik bedeutet daher genau dies: das Zustandekommen verbindlicher Entscheidungen in einer sozialen Gruppe.

Bekanntlich geht der Begriff der Politik auf die griechische Polis zurück, wobei es nicht uninteressant ist, dass hierbei weder ein Territorium noch bestimmte Institutionen gemeint sind, sondern die Menschen, die kommunikativ die notwendigen Entscheidungen erarbeiten. Da hierbei nur ein Teil der Bewohner der Polis mitwirken kann – bekanntlich sind Frauen, Sklaven, Metöken und andere ausgeschlossen –, erfasst dieser Begriff auch nur einen eher kleinen Teil der Einwohner.

Die Notwendigkeit von Regeln reicht natürlich weit in die Frühzeit des Menschen zurück, sodass man von einer notwendigen Politik auch zu einer Zeit sprechen kann, als es diesen Begriff noch gar nicht gab. Sobald man allerdings begonnen hat, über das politische (als spezifisches soziales) Handeln nachzudenken, unterstellte man genau dies: dass der Mensch von Natur aus ein soziales und ein politisches Wesen ist. Dabei wird man davon ausgehen können, dass es bei diesem gemeinsamen politischen Handeln weniger um solche abstrakten Werte wie Gemeinwohl ging, sondern es ging um einen wohlverstandenen Egoismus: Man wusste, dass man nur gemeinsam das gewünschte Ziel, nämlich die Sicherung des eigenen Überlebens, erreichen kann. Basis dieses Prozesses ist also die Struktur menschlicher Bedürfnisse:

„Beginnen wir mit der menschlichen Natur. Die Menschen sind rastlos, zielorientiert und rational, sie sind bestrebt, ihren Genuss an den schönen Dingen des Lebens zu mehren, und sie sind fähig, die dazu erforderlichen Mittel herauszufinden und von ihnen Gebrauch zu machen. Zumindest ist die Zahl derer, die so verfahren, groß genug, um jene Dynamik in Gang zu setzen, die menschliches Leben kennzeichnet und dies mit einer Geschichte versieht, die anderen Arten fehlen. Diese charakteristischen Eigenschaften der Menschen sind die Quelle aller Phänomene, die ich in diesem Buch beschreibe. Sie sind die ursprüngliche Quelle von Macht.“ (Mann 1990, 1. Band, 19)

Michael Mann schreibt seine Geschichte der Gesellschaftlichkeit des Menschen als Geschichte der Macht. Macht ist auch das Wesenselement der menschlichen Entwicklung in den Arbeiten von Günter Dux (2000, 2013).

So sieht es auch das „Handbuch Anthropologie“:

„Macht und Gewalt stellen Grundformen menschlichen Zusammenlebens dar. Doch der Machtbegriff ist

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schwer zu fassen. Es sind vor allem drei Fragen, die in Philosophie und Wissenschaft immer wieder aufgeworfen, aber bis heute nicht endgültig beantwortet worden sind: (1) Was ist Macht? (2) Ist das Streben nach Macht dem Menschen als solchem angeboren oder wird er von den gesellschaftlichen Verhältnissen zur Macht gezwungen? (3) Wie lassen sich die destruktiven Wirkungen des Machtstreben verhindern?“ (Bohlken/Thies 2009, 375).

Die erwähnte Unklarheit der Begrifflichkeit führt dazu, dass es nicht bloß eine Vielzahl unterschiedlicher Machttheorien gibt (vgl. Berger 2009), sondern dass es auch immer wieder Abgrenzungsprobleme zwischen den verwandten Begriffen der Macht, der Gewalt, der Herrschaft oder des Einflusses gibt. Macht hat etwas mit der Durchsetzung von individuellen Interessen „gegen Widerstreben“ (so die berühmte Definition von Max Weber) zu tun. Herrschaft, so wiederum Max Weber, sei die „Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ (ebd., 13)

Macht hat einen schlechten Ruf, was man vor dem Hintergrund dieser Definitionen auch erkennen kann: Macht wendet sich gegen die Interessen von anderen.

Doch gibt es auch eine andere Sichtweise von Macht, die diese als Möglichkeit versteht, etwas gestalten zu können: Macht ist in diesem Sinne eine Befähigung zum Handeln (so der Artikel „Macht“ von Dirk Jörke in Bohlken/Thies 2009, 376 f.). In diesem Sinne ist Macht allgegenwärtig und quasi ein konstituierendes Element eines jeglichen sozialen Handelns. So ähnlich formuliert dies auch Michel Foucault in seinen Überlegungen zur Macht.

Neben der Assoziation von Macht mit körperlicher Gewalt, die hiermit infrage gestellt wird, ist der Hinweis auf den programmatischen Slogan des Barockphilosophen Francis Bacon interessant: Wissen ist Macht. Es sind also auch besondere Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Macht verleihen. Später ist es Besitz oder gesellschaftlicher Status, die eine Quelle der Macht sind.

In seinem Studium der Geschichte der Macht stellt sich Michael Mann immer wieder die Frage, wie es dazu kommt, dass Macht nie symmetrisch verteilt ist. Es sind immer wenige, die die Macht über viele andere haben. Seine Antwort: Die Mehrheit wehrt sich nicht gegen unzumutbare Machtansprüche, weil sie nicht organisiert ist. Die Organisiertheit wird so zu einer entscheidenden Quelle von Macht, was wiederum anthropologisch begründet werden kann, da nur ein koordiniertes Vorgehen aller den gewünschten Handlungserfolg erbringt. Dies gilt – wie oben erwähnt – bereits in der Frühzeit der Menschheit. Doch oft genug wehrt man sich auch gegen nicht akzeptierte Machtansprüche und man leistet Widerstand (vgl. Fuchs 2018).

Der Hinweis auf die notwendige Regelhaftigkeit sozialen Handelns macht aufmerksam auf ein weiteres wichtiges Element in der sozial-kulturellen Evolution des Menschen: das Recht. Heute spricht man von vier Funktionen, die das Recht hat:

– Ordnungsfunktion

– Gerechtigkeitsfunktion

– Herrschaftsfunktionen

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– Herrschaftskontrollfunktion (vgl. Wesel 1997, 49).

Diese vier Funktionen beziehen sich allerdings auf die heutige Situation. Doch findet man Vorformen dieser Funktionen auch schon in der Frühgeschichte der Menschheit. Der Rechtshistoriker Uwe Wesel (1997) beginnt seine Geschichte des Rechts mit dem Hinweis darauf, dass von den mindestens 2 Millionen Jahren der Existenz des Menschen dieser nur etwa 10.000 Jahren nicht als Sammler und Jäger gelebt habe (17). Aber auch die Gemeinschaften der Sammler und Jäger haben ihre Regelsysteme (wobei man immer wieder auf die Forschungen der Ethnologen seit dem 19. Jahrhundert zurückkommt).

Auf der Basis solcher Studien kam man zu dem überraschenden Ergebnis:

„Die Menschen arbeiten 2-4 Stunden täglich. Viel Müßiggang gibt es, viel Schlaf, auch am Tage, zeitweise Hunger, aber nicht so viel wie heute. Sie sind sehr fröhlich, produzieren und konsumieren für den Tag, haben keine Vorstellung von Zeit und planen nicht für die Zukunft wie die Ackerbauern. Die Abhängigkeit vom Jagdglück ist nicht so groß, wie man gewöhnlich meint, denn Fleisch macht nur 20-40 % ihrer Diät aus, der Rest ist pflanzliche Nahrung, sind Beeren, Wurzeln, Blätter, Lianen, Nüsse.“ (18)

Die Jäger leben in Horden, die wiederum nach dem Prinzip der Verwandtschaft aufgebaut sind. Es gibt Horden mit und ohne Anführer und man geht davon aus, dass Entscheidungen – etwa darüber, ob man weiter wandern soll – gemeinsam getroffen werden. Eigentum spielt noch keine große Rolle. Diese erste „Überflussgesellschaft“ findet ihr Ende mit dem Übergang zur Sesshaftigkeit. Diese erfordert Planmäßigkeit bei der Produktion von Lebensmitteln, es gibt Konflikte und Prozeduren, wie Konflikte gelöst werden:

„Recht verändert seinen Charakter im Laufe der Zeit. Am Beginn der Entwicklung bildet es eine kaum zu trennende Einheit mit Religion, Moral und Sitte. In der Antike hat es sich von der Religion weitgehend getrennt, weil die Herrschaft ihren Charakter veränderte, mit der es inzwischen verbunden war. Nicht mehr der König mit seiner religiösen Legitimation war Träger von Recht, sondern Volksversammlungen und Senate.“ (46).

Und weiter:

„Wenn man Moral als die Gesamtheit der Überzeugungen von Gut und Böse versteht, die sich unten in der Gesellschaft selbst entwickeln. Und wenn man Politik als Ordnungsgefüge begreift, das sich von Staats wegen, also von oben her, über die Gesellschaft legt, was schon in ihrem Namen zum Ausdruck kommt und seit Platon und Aristoteles so verstanden worden ist: Politik kommt vom griechischen polis, vom Staat. Wenn das also so zu sehen ist, dann wird deutlich, warum Recht und Moral immer weiter auseinandergetrieben, warum die Einheit von Recht und Politik immer stärker wurde. Weil Recht nämlich immer weniger von unten her, von der Gesellschaft, sondern immer mehr von oben bestimmt wird, vom Staat.“ (47

Nun sind wir erst in der Frühgeschichte der Menschheit und müssen noch eine ganze Weile warten, bis die griechischen Philosophen anfangen, über die richtige Ordnung in ihrer Polis nachzudenken. Es ist auch die Frage, ob man hierbei bereits von einem Staat sprechen kann. Ich erinnere an die obigen Ausführungen über die Problematik der Anwendung moderner Begriffe auf vormoderne Situationen.

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Doch versteht man, was Wesel hier zum Ausdruck bringt: Es gibt ein notwendiges Auseinanderklaffen von Moral und Recht sowie von Recht und Gerechtigkeit, wobei es eine enge Verbindung zwischen Moral und Gerechtigkeit gibt und das Recht, insbesondere das später gesetzte Recht, sehr viel mit der oben genannten Funktion als Herrschaftsinstrument zu tun hat.

Neben dem Recht als wichtigem Element, Ordnung im Sozialen zu schaffen, spielt die Ökonomie eine wichtige Rolle. Ökonomie bedeutet zunächst einmal nur das Sichern des Überlebens. Dies kann – wie bei den Jägern und Sammlern – dadurch geschehen, dass man einfach weiterzieht. Immerhin weiß man, dass Jäger- und Sammlergesellschaften ein großes Gelände brauchen, um überleben zu können.

Die Existenzsicherung kann aber auch dadurch geschehen, dass man Nachbarstämme überfällt und sich deren Vorräte aneignen.

Mit der Sesshaftigkeit ergeben sich weitere Probleme, die im Hinblick auf den sozialen Frieden zu klären sind. Es stellt sich nunmehr verschärft die Frage des Eigentums. Zu erinnern ist etwa an die deutliche Aussage von Jean-Jacques Rousseau in seiner berühmt gewordenen Preisschrift:

„Der erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf den Gedanken kam zu sagen „Dies gehört mir“ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viele Schrecken wären dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand die Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: „Hütet euch, den Betrüger Glauben zu schenken; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass zwar die Früchte allen, aber die Erde niemandem gehört“.

Offensichtlich haben nur die späteren Sozialisten auf Rousseau gehört, alle anderen Philosophen, die sich mit der Frage einer guten politischen Ordnung befasst haben, gingen vielmehr davon aus, dass persönlicher Besitz die Basis für das Recht auf Mitgestaltung sein muss. Daher sprach man bei diesen Konzeptionen auch von einem Besitzindividualismus, der offensichtlich bis heute eine gewisse Attraktivität behalten hat (MacPherson 1973)

Welche Modelle und Theorien liegen nunmehr vor, mit denen man die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft beschreiben kann? Auf die entsprechenden philosophischen Ansätze in Schriftkulturen gehe später ein. Immerhin erfasst die Textsammlung von Gerd Becher und Elmar Treptow (2000) nicht bloß die Texte aus der griechischen und römischen Antike, sondern sie nimmt auch Texte sowohl aus den viel älteren Kulturen Ägyptens und Babylons sowie Texte aus China oder Persien auf.

Heute stützen sich zahlreiche Autoren auf die Erklärungskraft (entsprechend modifizierter) Evolutionstheorien im Anschluss an Charles Darwin. Ein gutes Beispiel liefert das Buch „Evolution der Politik“ von Hannes Wimmer (1996). Er betont die basale Rolle von Kommunikation bei der Entstehung der Gattung Mensch. Er sieht einen qualitativen Sprung in dem Übergang von der Jäger- und Sammlergesellschaft hin zur Sesshaftigkeit. Er versteht unter Politik das Finden bindender Entscheidungen (116) und setzt dieses Politikverständnis ab von alternativen Vorstellungen wie etwa „Politik als Klassenkampf“ (Marx/Engels), „Politik als Herrschaft“ (Max Weber), Politik als „authoritative

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allocation of values" (David Easton) oder Politik als "goal attainment" (Talcott Parsons).

In diesem Entwicklungsprozess spielt das Recht, spielt die Ökonomie, spielt die Religion eine Rolle, wobei es – zumindest in unserem Zusammenhang – müßig erscheint, hierbei Prioritäten zu formulieren. Wie erwähnt geht Michael Mann in seiner Geschichte der Macht von dem IEMP-Modell aus (I: ideological; E: economic; M: military; P: political), wobei es immer wieder um Wechselbeziehungen zwischen diesen vier Quellen der Macht geht. Dies ist es, was Wimmer „Ko-Evolution“ von Gesellschaft und Politik nennt.

Zur Ko-Evolution von Politik, Gesellschaft, Ökonomie und Recht

Man kann in der Geschichte viele Beispiele dafür anführen, dass Entwicklungen in dem einen der in der Überschrift genannten Felder zwangsläufig Entwicklungen in anderen Feldern nach sich gezogen haben. Dazu werden in dem vorliegenden Text auch Beispiele genannt.

Einen wichtigen Hinweis auf die Zusammengehörigkeit und Interdependenz der genannten Bereiche kann man etwa darin sehen, dass man zwar für jeden dieser Bereiche eine spezifische historische Darstellung geben kann, dass diese Darstellung jedoch immer auch die Entwicklung in anderen Feldern mit einbezieht und auch einbeziehen muss. So schreibt der oben zitierte Michael Mann eine Geschichte der Gesellschaft als Geschichte der Macht, legt aber – wie erwähnt – einen engen Zusammenhang von Ökonomie, Politik, Militär und Ideologie zugrunde. Der Zusammenhang lässt sich auch daran erkennen, dass eine Vernachlässigung dieser Beziehungen zu erheblichen Störungen in der Gesellschaft führt.

So lässt sich etwa zeigen, dass Weltreiche zwar durch militärische Interventionen entstanden sind, aber durch die Vernachlässigung im Aufbau geeigneter politischer, Verwaltung und rechtlicher Strukturen auch wieder zusammenbrachen. Uwe Wesel (2007) schreibt eine Geschichte des Rechts, die man jedoch zugleich als politische, soziale und Kulturgeschichte lesen kann. Wolfgang Reinhard (1999) wiederum schreibt eine Geschichte der Staatsgewalt, die notwendigerweise auch eine Sozialgeschichte und eine Geschichte des Rechts wird. Analoges gilt für die „Historische Soziologie der Wirtschaft“ von der Gertraud Mikl-Horke (1999), die zwar eine Darstellung der Real- und Ideengeschichte der wirtschaftlichen Entwicklung ist, die wiederum als politische, Sozial- und Rechtsgeschichte gelesen werden kann.

Dies bedeutet, dass man in einem historischen Zugriff auf soziale Prozesse eine weite Perspektive braucht, was auch schon deshalb notwendig ist, weil die Ausdifferenzierung und Spezialisierung unterschiedlicher Wissenschaftsbereiche jüngeren Datums ist und man bis in die Neuzeit Fragen der Politik, der Ökonomie, der Philosophie und des Rechts immer zusammen behandelt hat.

Dies gilt auch für die Geschichte der Pädagogik, die auch dann, wenn man sich auf eine Ideen- oder Geistesgeschichte der Erziehungswissenschaft konzentrieren will, nur dann verständlich wird, wenn man zeigt, auf welche gesellschaftlichen Problemlagen die jeweiligen Erziehungskonzeptionen reagiert haben.

Allerdings ergibt sich daraus der Streit oder zumindest die Frage danach, inwieweit es exogene oder endogene Faktoren sind, die die Entwicklung vorantreiben. Natürlich soll nicht bestritten werden, dass es auch immanente Problemlagen sind, die zu neuen Erkenntnissen führen können. Dies gilt insbesondere

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in den Geisteswissenschaften, bei denen es sogar notwendig ist, immer wieder die geistige Ebene von ihrem Bezug zur Realität zu trennen. Ein Beispiel dafür bietet die Mathematik. Natürlich sind es immer wieder praktische Probleme, die die Denkanstrengungen der Wissenschaftler/innen herausfordern. Doch viele wichtige Entwicklungsimpulse in der Mathematik konnten erst dann entstehen, als man diese von ihrem Anwendungsbezug gelöst hat. So entstanden neue Formen mathematischer Theorien, die interessanterweise trotz ihrer zeitweiligen Ablösung von Anwendungszusammenhängen später sehr viel bessere Erklärungskraft in der Anwendung auf reale Gegebenheiten entfalten konnten.

Ein Beispiel dafür, wie zwangsläufig die Berücksichtigung unterschiedlicher Dimensionen in der gesellschaftlichen Entwicklung war, ist etwa die Entstehung der Vereinigten Staaten. In ideologischer (bzw. weltanschaulicher) Hinsicht ging es darum, dass insbesondere Auswanderer aus England einen Platz suchen, wo sie ohne staatliche Einmischung und gesellschaftliche Diskriminierung ihre Religion ausüben konnten. Diesen Platz wiederum mussten sie von den Ureinwohnern erobern und immer wieder durch militärische Interventionen absichern. Es entstand zudem recht bald die Notwendigkeit, eine politische und rechtliche Ordnung für die entstehenden neuen Gemeinwesen zu finden, damit sowohl das Zusammenleben einigermaßen konfliktfrei verlaufen und das gewünschte politische Ziel von Freiheit auch realisiert werden konnte. Zum andern sollte sich eine Ökonomie entwickeln, die sich auf eine zuverlässige rechtliche Basis stützen musste, wollte sie erfolgreich sein. Dass es hierbei erhebliche Konflikte bis hin zu einem späteren Bürgerkrieg zwischen unterschiedlichen Interessenslagen gegeben hat, ist bekannt und zeigt die Ambivalenz und Fragilität bei dem Versuch, eine tragfähige gesellschaftliche Ordnung zu schaffen, die Zustimmung von allen findet.

Ein anderes Beispiel sind Eroberungszüge von Napoleon. Man kann hierbei durchaus von einer Verselbstständigung militärischer Interessen sprechen, wobei offensichtlich insbesondere bei der Eroberung des Ostens zu wenig bedacht wurde, welche politischen, ökonomischen und rechtlichen Strukturen zur Erhaltung der Macht geschaffen werden mussten und dann auch aufrecht zu erhalten waren. Für Kontinentaleuropa wiederum hat der imperialistische Grundzug der napoleonischen Politik insbesondere in Deutschland dazu geführt, dass es zu einem Ende des Duodezfürstentums kam und eine rationale und durchdachte Rechtsordnung zwangsweise durchgesetzt wurde, von der man später deutlich profitierte.

Im Hinblick auf die moderne Gesellschaft haben die Gründungsväter der entstehenden Soziologie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausführlich diesen Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen untersucht. Es gab dabei verschiedene Ansätze, jeweils andere Felder als prioritär für die Entwicklung anzusehen. Bekanntlich haben Marx und Engels das Wechselspiel von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als Motor der gesellschaftlichen Entwicklung gesehen. Anders ist der Ansatz von Max Weber, der in der Kultur und speziell in der Religion die wesentliche Antriebskraft für die Gesellschaft dar. Einige Jahrzehnte früher hatte bereits der Basler Kulturhistoriker Jacob Burckhardt das Wechselspiel der drei Wirkungsmächte Kultur, Staat und Religion als Motor der gesellschaftlichen Entwicklung gesehen.

Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons, der sicherlich der einflussreichste Soziologe im 20. Jahrhundert war, hat auf der Grundlage der Theorie der Gründungsväter der Soziologie rund um die Jahrhundertwende 1900 seine funktionalistische Theorie der modernen Gesellschaft entwickelt. Er

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unterscheidet die vier Subsysteme Politik, Gemeinschaft, Kultur und Ökonomie mit jeweils eigenen Kommunikationsmedien (nämlich jeweils Macht, Solidarität, Sinn und Geld). Reinhard Münch (z. B. 1991) hat auf der Basis dieses Ansatzes den Gedanken eines ständigen Wechselspiels zwischen den vier Bereichen („Interpenetration“) vertieft und im Detail untersucht, in welcher Weise jeder einzelne dieser vier Bereiche sowohl die anderen drei Bereiche beeinflusst bzw. von diesen beeinflusst wird.

Dabei kann man sehen, dass immer wieder jeder einzelne dieser Bereiche versucht, innerhalb der betreffenden Gesellschaft eine gewisse Vorreiterrolle zu bekommen, was zeitweise durchaus gelingen kann, was aber letzten Endes zu erheblichen Problemen in dieser Gesellschaft führt.

Einige aktuelle Probleme lassen sich mithilfe dieses Instrumentes besser verstehen. So spricht man im Moment von einer Wiederkehr der Religion, was nicht bloß in islamisch geprägten Ländern der Fall ist, sondern was auch etwa in fundamentalistischen christlichen Sekten in den Vereinigten Staaten zu beobachten ist. Dabei gibt es einen erheblichen religiösen Einfluss auf die Politik, was sowohl im Land selbst zu Konflikten führt (etwa bei der Frage der Geburtenkontrolle), was aber auch in der Außenpolitik zu einem aggressiven Verhalten führen kann.

Ein anderes Problemfeld betrifft die neoliberale Ausrichtung der westlichen Gesellschaften. Hier scheint eine bestimmte Form des ökonomischen Denkens die anderen Bereiche der Politik, des Sozialen und auch der Kultur dominieren zu wollen. Allerdings ist zu bedenken, dass der Neoliberalismus keineswegs bloß eine bestimmte ökonomische Auffassung ist, sondern dass er ein bestimmtes Menschen- und Gesellschaftsbild vertritt, sodass man von einem durchaus universalistischen Anspruch auf Gesellschaftsgestaltung ausgehen muss.

Die Frage, die in diesem Zusammenhang heute diskutiert wird und diskutiert werden muss, besteht darin, inwieweit die Politik ihre durchaus vorhandenen Gestaltungsmöglichkeiten auch im Hinblick auf die Wirtschaft wahrnimmt. Dabei sind die Signale aus der Wirtschaft durchaus widersprüchlich. In Zeiten der Finanzkrise gab es einen starken Ruf nach einer – vor allem finanziellen - Intervention des Staates, der allerdings nach erfolgter milliardenschwerer Hilfeleistung sofort wieder verstummte. Welche verheerenden und inhumanen Auswirkungen eine solche neoliberale Sichtweise auf die Gesellschaft auf den Einzelnen hat, hat etwa in den letzten Jahren immer wieder der amerikanische Kulturwissenschaftler Richard Sennett (etwa 1998) in seinen Büchern beschrieben.

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3. Politische Organisationsformen in der Geschichte und die Demokratie

Das Politische und der Staat: Eine erste Annäherung

Bislang bin ich von einem sehr allgemeinen Begriff des Politischen ausgegangen, der insgesamt die Entscheidung über verbindliche Regelungen des Sozialen erfasst. Im Laufe der menschlichen Geschichte bilden sich hierbei Gewohnheiten und Verhaltensstandards, entstehen Institutionen, werden Visionen und Zielvorstellungen entwickelt, artikuliert sich Kritik am Bestehenden mit möglichen Folgen für das bislang praktizierte System.

Insbesondere ist es der Staat, der immer mehr in den Mittelpunkt rückt. Allerdings hat man es auch in diesem Fall wieder in einem breiten Spektrum unterschiedlicher Vorstellungen und Definitionen zu tun:

„Als Erfahrungsträger und Projektionsfläche für politische Erwartungen entzieht sich der Staatsbegriff einer eindeutigen Definition. Er ist vielmehr Gegenstand und Medium der theoretischen wie praktischen Auseinandersetzung – in der Gegenwart nicht weniger als in der Vergangenheit. Es gibt daher keine Einigung in der Bestimmung seines Bedeutungsgehalts.“ (Roth 2003, 17).

In einer Fußnote (a.a.O.) weist Klaus Roth auf die klassische rechtswissenschaftliche Begriffsbestimmung hin, die im Hinblick auf den Staat das Staatsgebiet, das Staatsvolk und die Staatsmacht unterscheidet. Dass diese Begriffsbestimmung unbefriedigend ist, zeigt Roth am Beispiel der Mafia oder eines Kohlekartells, bei dem ein spezifisches, auf dem betreffenden Gebiet lebendes Volk ebenfalls mithilfe einer bestimmten Macht beherrscht wird.

Für die einen ist der Staat identisch mit dem eingangs zitierten weiten Verständnis des Politischen, so dass bereits zu einer sehr frühen Zeit in der Geschichte der Menschheit von einem Staat gesprochen wird. Andere engen das Verständnis des Staates auf die Entwicklung ein, die erst in den letzten Jahrhunderten stattgefunden hat. So spricht man etwa von „Gesellschaften ohne Staat“ (vgl. Kramer/Siegrist 1983) und behandelt – etwa im Rahmen der Sozialanthropologie und Ethnologie – solche gesellschaftlichen Zusammenschlüsse, die außerhalb der europäisch-westlichen Tradition liegen.

Auch Stefan Breuer (1998) spricht von vorstaatlichen politischen Verbänden und diskutiert in diesem Zusammenhang das Häuptlingstum. Hannes Wimmer (1996, 162) unterscheidet segmentäre Gesellschaften (zu denen das genannte Häuptlingstum bzw. „Chiefdoms" gehören), hierarchisch-stratifizierte Gesellschaften (europäischer Feudalismus, indisches Kastenwesen sowie staatlich organisierte Gesellschaften wie Stadtstaaten und Imperien) bis hin zu den aktuellen funktional-differenzierten Gesellschaften (zum einen bürokratisch-autoritäre Regime, Militärdiktaturen und nicht zuletzt Demokratien). Sinnvoll ist diese Unterscheidung, weil damit die Funktionselemente eines modernen Staates in ihrer Genese analysiert werden können.

Der moderne Staat kann dabei zwar auch in Form einer (parlamentarischen) Demokratie auftreten, er findet sich aber auch in autoritären Regimen und Diktaturen. Er entsteht mit seinen Institutionen auf der Basis mittelalterlicher Vorläufer erst in der Neuzeit:

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„Der Staat (..) ist eine ganz spezifische Ordnung, die zu unterscheiden ist von altorientalischen Großreichen, von der antiken Polis wie von den spätantiken und mittelalterlichen Reichen. Er ist eine Kreation des Abendlandes und des okzidentalen Rationalismus, seine Wurzeln liegen nicht in Mesopotamien oder Ägypten.“ (ebd., 25)

Es ist dabei von Interesse, die unterschiedlichen aktuellen „Bestandteile“ eines modernen Staates in ihrer historischen Entwicklung zu untersuchen. Hierbei ist eine weitere Unterscheidungen sinnvoll, die ebenfalls im Hinblick auf den modernen Staat getroffen werden kann, nämlich die Unterscheidung von polity (als Feld der staatlichen Institutionen), policy (als Bereich inhaltlicher Politikfelder und der politischen Ideen) und nicht zuletzt politics (als das alltägliche Handeln politischer Akteure bei der Durchsetzung ihrer Interessen).

Das bedeutet, dass man den Blick auf die politischen Ideen und ihre Geschichte (wie etwa Fenske u. a. 2008), auf sich entwickelnde Institutionen und Strukturen (so etwa Reinhard 1999) oder auf das Handeln der unterschiedlichen Akteure werfen kann. Alle drei Perspektiven sind wichtig, denn die Institutionen und Strukturen können quasi als Vergegenständlichung bestimmter politischer Wertideen verstanden werden. So ist etwa das Vorhandensein eines Parlaments als Institution eine Konsequenz aus dem Wunsch zur Partizipation der (wahlberechtigten) Menschen.

Die Institutionen bilden einen Rahmen, in dem sich die handelnden Menschen bewegen, die allerdings auch erst durch das Handeln der Menschen permanent konstituiert werden müssen. Das bedeutet etwa im Hinblick auf das Parlament, das dieses nur durch die Beratung der Parlamentsmitglieder und schließlich durch den Beschluss bei einer Entscheidungsfrage seinen ursprünglichen Zweck erfüllt.

Man spricht bei dem modernen Staat von bestimmten Funktionen, die er zu erfüllen hat. So unterscheidet Rüdiger Voigt (2007, 116; vgl. auch Grimm 1996) die folgenden Funktionen:

Basisfunktion: Überlebensfunktion (Schutz nach außen, Friedenssicherung im Innern, Sicherung der Lebensgrundlagen)

Sekundärfunktion: ökonomische Funktion (Eigentumsordnung, Geldwesen, Marktordnung)

Tertiärfunktion: soziale Funktion (soziale Gerechtigkeit, Gewährleistung sozialer Rechte, soziale Teilhabe)

Quartärfunktion: kulturelle Funktion (Bildung für alle Bürger, Bewahrung des kulturellen Erbes, Förderung von Grundlagenforschung).

Vor diesem Hintergrund kann man unterschiedliche Verständnisweisen des (modernen) Staates unterscheiden, ihn etwa als liberalen, als Rechts-, Verfassungs-, Sozial- oder Kulturstaat auffassen, wobei man wiederum jede dieser Auffassungen und die dahinter stehenden Grundwerte (Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Sicherheit, Wohlstand, Frieden etc.) in ihrer historischen Entwicklung verfolgen kann.

Immer noch von erheblicher Bedeutung sind die Begriffsbestimmungen von Max Weber, hier aus seinem berühmten Text „Politik als Beruf“. Unter Politik versteht er „die Leitung oder Beeinflussung der Leitung eines politischen Verbandes, heute also: eines Staates.“ (Weber 2006, 565). Etwas später präzisiert er:

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Politik bedeute „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung“ (566).

Den Staat bestimmt er als „auf das Mittel der legitimen (das heißt: als legitim angesehenen) Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen.“ (566)

Und etwas später:

„Zur Aufrechterhaltung jeder gewaltsamen Herrschaft bedarf es gewisser materieller äußerer Sachgüter, ganz wie bei einem Wirtschaftsbetrieb.“ (568)

Man kann allerdings auch das politische Handeln der Menschen in den Mittelpunkt stellen, so wie es etwa Dahl (1973) tut. Politisches Handeln in einer modernen Demokratie beschränkt sich dabei nicht nur auf den alle paar Jahre stattfindenden Akt des Wählens, obwohl die Wählbarkeit und insbesondere die friedliche Abwählbarkeit einer Regierung ein wichtiges Merkmal einer modernen Demokratie ist.

Gerade in einer pädagogischen Perspektive ist es interessant, mögliche Kandidaten politischen Handelns zu betrachten (Kommunizieren, Demonstrieren, Gewalt ausüben, Unterschriften leisten, Abstimmen, sich informieren, Wählen, Argumentieren, Streiten, Ignorieren, Erdulden etc.).

Der Staat als spezifische Organisationsform des Politischen ist dabei eingebettet in übergreifende politische Theorien, Philosophien und Ideologien. Auf die Konstitutionsmerkmale und möglichen Konfliktfelder einer modernen Demokratie, wie sie heute Deutschland repräsentiert, werde ich im nächsten Kapitel eingehen.

Zur Entwicklung des politischen Denkens und der politischen Realität: einige Schlaglichter

Es wurde oben bereits angemerkt, dass es gute Gründe dafür gibt, den Begriff des Staates nicht auf vormoderne Ordnungsformen anzuwenden, sodass es eigentlich nicht nötig wäre, von einem modernen Staat zu sprechen: Der Staat im Verständnis dieser Sichtweise ist eine Errungenschaft der Moderne. Allerdings ist dies nur eine Meinung unter vielen. Es finden sich nämlich zahlreiche Publikationen, die einen Überblick über die Geschichte des politischen Denkens geben und dabei auch für die Geschichte der Vormoderne den Staatsbegriff verwenden. So spricht etwa Reinhold Zippelius (1994) von einer „Geschichte der Staatsideen“, die er mit den Sophisten beginnt und die mit dem Kritischen Rationalismus von Popper endet. Es gibt eine Sammlung von Klassikertexten unter der Überschrift „Staatsdenker der Vormodern“ (Weber-Fas 2005), die Texte von Platon, Aristoteles, Cicero, Augustinus, Thomas von Aquin, Dante, Marsilius von Padua, Thomas Moore bis hin zu Martin Luther zusammenstellt.

Interessant ist, dass es nicht bloß Politikwissenschaftler sind, die sich mit der Genese des Staatsdenkens befassen – diese konzentrieren sich sogar oft auf die Gegenwart und die jüngere Neuzeit, was etwas mit der jungen Geschichte dieses Disziplin zu tun hat –, es sind auch Soziologen (wie etwa Max Weber, Stefan Breuer oder Niklas Luhmann), Philosophen (wie etwa Volker Gerhardt) und vor allem

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Rechtsphilosophen und Rechts- und Verwaltungswissenschaftler (Zippelius 1994, Weber-Fas 2005, Voigt 2007, Böckenförde 2002) oder Historiker/innen mit verschiedenen Schwerpunkten (Reinhard 1999, Mikl-Horke 1999, Fenske u. a. 2008), die sich für den Staat bzw. für die politische Ordnung und ihre Theorien interessieren. Daneben gibt es kulturwissenschaftliche und kulturhistorische Ansätze in der Staatsforschung (siehe etwa Blanning 2006).

Auch die Geschichte der Pädagogik muss sich zwangsläufig für die sozialen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen der pädagogischen Prozesse und der jeweiligen Theorienbildung interessieren (vergleiche etwa Marrou 1977).

Es liegt auf der Hand, dass die fachliche Zuordnung der Autoren und Autorinnen Einfluss auf die Perspektive ihrer Geschichtsbetrachtung hat. Steht in einigen dieser genannten Überblicksdarstellungen der Begriff des Staates im Mittelpunkt, so sprechen andere Darstellungen vorsichtiger von einer „Geschichte der politischen Ideen“ (Fenske u. a. 2008) oder von „politischen Theorien von der Antike bis zur Gegenwart“ (Lieber 1993).

Natürlich gibt es ein spezifisches fachliches Interesse der genannten Disziplinen, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Ausdifferenzierung und Spezialisierung der fachlichen Zugriffe in den Wissenschaften erst in der Neuzeit beginnt. Es waren Philosophen, die in der griechischen Antike sowohl über die (von Aristoteles sogenannten) metaphysischen Fragen nachdachten, die Überlegungen über die richtige Ökonomie, die geeignete Pädagogik, die soziale Ordnung und die politischen Strukturen nachdachten. Dies taten sie oft genug in demselben Werk.

Diese Traditionslinie findet sich auch bei den bedeutenden Philosophen des Mittelalters. Selbst als sich nach und nach eine Ausdifferenzierung in eine theoretische und eine praktische Philosophie ergab, so erfasste das Feld der praktischen Philosophie immer noch Fragen der Ethik und Moral, der Ökonomie, der Politik und der Pädagogik. Man muss sich nur daran erinnern, dass Adam Smith als erster wichtiger Theoretiker des Kapitalismus Moralphilosoph war, Marx war gelernter Philosoph und Friedrich Engels praktizierender Ökonom, nämlich Unternehmer.

Auch die bedeutenden Vertreter der jüngeren National-Ökonomie bzw. der Politischen Ökonomie waren nicht auf eine heute dominierende technokratische und positivistische enge Perspektive auf ökonomische Prozesse zu begrenzen. Man denke etwa an die großen kulturgeschichtlichen Analysen eines Alexander Rüstow oder die umfassenden Entwürfe der Ökonomen Friedrich August von Hayek oder Milton Friedman. Heute wäre etwa der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen zu nennen, der in ökonomischen, politischen und philosophischen Diskursen gleichermaßen zu Hause ist.

Es ist also für die ersten Jahrhunderte daran zu denken, dass man Fragen des Sozialen und des Politischen (verbunden mit Aspekten des Pädagogischen) nicht voneinander trennen kann. Diese Sichtweise, dass das Soziale und das Politische zu unterscheiden sind, ist insbesondere in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Rechtsphilosophie von Hegel ausformuliert worden, die zudem die spezifisch deutsche Staatsfixiertheit bei der Frage nach dem Politischen forciert hat.

Auch eine Trennung oder sogar spätere Entgegensetzung von Politik und Kultur ist jüngeren Datums und hat insbesondere in der deutschen Geschichte durchaus verheerende Konsequenzen gehabt, als nämlich

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spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts nicht bloß eine Indifferenz von Kunst gegenüber der Politik gefordert und gefördert wurde, sondern sogar später – etwa in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ von Thomas Mann – eine Verachtung der Politik durch Intellektuelle und Künstler/innen begründet wurde (siehe Lepenies 2006). Dass die Politikfeindschaft der Intellektuellen und die Intellektuellenfeindschaft der Politik politisch hochgradig wirksam war, ist nicht bloß bei dem Siegeszug des faschistischen Denkens in der Weimarer Republik festzustellen: Auch in der neuen deutschen Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg tat man sich oft genug schwer, die unterschiedlichen und oft kontroversen Zugriffsweisen auf die Realität zu akzeptieren. So ist es noch nicht so lange her, dass prominente konservative Politiker über Schriftsteller als von „Ratten und Schmeißfliegen“ sprachen (Franz Josef Strauß im Jahre 1978).

Dass der Begriff der Demokratie lange Zeit nicht die positive Bedeutung hat, die man heute feststellen kann, wird in den nächsten Kapiteln erläutert. Wichtig an dieser Stelle ist der Hinweis darauf, dass auch der Begriff des Staates seine eigene Semantikgeschichte hat. Etymologisch geht auf den Begriff des Staates auf „Zustand“ zurück. Um das später mit dem Staatsbegriff Erfasste zu benennen, verwendete man eher Begriffe wie res publica, also die Diskussion öffentlicher Angelegenheiten, man sprach von Regnum, Imperium, von Monarchie und Republik, von Civitas oder vom Commonwealth. Man sprach von dem Reich oder der Ordnung, so wie sie etwa von Gott vorgesehen war.

Ebenso wie man den Politikbegriff heute oft verwendet, um jenseits des Staates das Handeln in Betrieben oder in der Familie zu beschreiben, verwendete man zur Beschreibung politischer Aktivitäten und ihrer Ergebnisse auch andere Begriffe. Dahinter steckten dann auch sehr verschiedene Formen der Begründung der Notwendigkeit und Legitimität des Staates: Kosmologische Ordnung, Gott, pragmatischer Nutzen, Erhaltung der Macht oder des eroberten Territoriums etc.

Es ist vermutlich auch nicht überraschend, dass es immer wieder gesellschaftliche Krisen waren, die zu einem neuen Nachdenken über eine geeignete politische Ordnung veranlassten. So schrieben Platon und Aristoteles ihre Schriften zur Politik in einer Zeit einer krisenhaften Entwicklung in Athen. Ähnliches gilt für die Denkanstrengungen von Cicero in den Zeiten einer politischen Krise in Rom. Thomas Hobbes setzte sich mit politischen Fragen vor dem Hintergrund eines langanhaltenden Krieges und Bürgerkriegs auseinander. Dies gilt ebenso für John Locke. Es war die revolutionäre Atmosphäre des 18. Jahrhunderts, das wachsende Bewusstsein, dass die Ständegesellschaft und der Absolutismus als politische und Gesellschaftsordnung ausgedient haben, die das Anregungspotenzial für Jean-Jacques Rousseau waren.

Wenn man heute als konstituierende Elemente einer parlamentarischen Demokratie etwa Konzepte wie Parlament, Grundrechte, bürgerliche und Menschenrechte, Verfassung, Gewaltenteilung, Souveränität, Wahl der Regierung, Gewaltenteilung benennen kann, so muss man berücksichtigen, dass jedes dieser Elemente zum Teil in unterschiedlichen Regionen, zu unterschiedlichen Zeiten und auf der Basis unterschiedlicher Anlässe entstanden ist. Man kann zwar durchgängige Prinzipien identifizieren wie etwa den Kampf gegen die Willkür der Mächtigen, den Wunsch nach Mitsprache, den Wunsch nach Freiheit, Frieden und Sicherheit, den Kampf gegen krasse Ungerechtigkeit, doch artikulieren sich die entsprechenden Wünsche sehr verschieden (Verweigerung, innere Emigration, Kritik, Protest, Demonstration, Krawall, Bürgerkrieg, Attentat, Revolte, Revolution, Abwahl etc.).

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Es gibt unterschiedliche Akteure, die die Entwicklung vorantreiben, wenn etwa die Fürsten die Dominanz ihres Königs brechen wollen. Es gibt unterschiedliche Interessen, wenn etwa das Bürgertum bessere Bedingungen für sein ökonomisches Handeln haben will, sich aber für die Interessen der Bauern und Lohnarbeiter nicht interessiert. Dies bedeutet, dass oft genug heterogene Gruppen von Akteuren zwar einen gemeinsamen Gegner, aber sehr unterschiedliche Vorstellungen über das anzustrebende Ziel haben, sodass Koalitionen rasch auseinanderbrechen, wenn die Beseitigung des gemeinsamen Gegners gelungen ist.

Es ist also durchaus einsichtig, wenn Günter Dux in der Frage der Macht die zentrale gesellschaftliche Veränderungskraft sieht und wenn Michael Mann seine politische und Gesellschaftsgeschichte als Geschichte der Macht schreibt.

Immer war es auch eine Frage, wer überhaupt an der politischen Willensbildung beteiligt werden soll. Während die Römer recht großzügig mit ihrem Bürgerrecht umgingen, was wesentlich zu dem Bestand des Reiches beigetragen hat, sahen dies die Griechen weitaus enger.

Wie lange der Kampf um eine Partizipation aller andauerte, kann man etwa daran erkennen, dass erst in den 1970 er Jahren in der Schweiz und in Liechtenstein Frauen ihr Wahlrecht bekamen und dass aktuell die politische Frage danach relevant ist, inwieweit in Deutschland wohnenden Menschen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben, wahlberechtigt sind.

Die Besonderheit des griechischen Denkens besteht auch im Hinblick auf politische Fragen darin, dass man diese in einem systematischen Interesse und aus einer theoretischen Distanz behandelt hat. So finden sich sowohl bei Platon und insbesondere bei Aristoteles nicht bloß Systematiken möglicher politischer Ordnungen (auf der Basis der damaligen empirischen Vielfalt solcher Ordnungsformen), es finden sich auch präzise Ausführungen über die Bewertung der spezifischen politischen Ordnungen. Es ging darum, ob die Herrschaft bei nur Einem (Monarchie), bei Einigen oder bei Vielen oder sogar allen liegt. Man diskutierte Fehlentwicklungen wie die Tyrannis oder die von den beiden genannten Philosophen abgelehnte Demokratie, man sprach von Autonomie und meinte damit die Selbstbestimmung einer Polis. Man diskutierte über die Wohlordnung (eunomia) und über falsche Ordnungen (dysnomia).

Von besonderem Interesse ist der Übergang vom mittelalterlichen (religiös fundierten) politischen Denken zu dem neuzeitlichen Denken. Wolfgang Reinhard (in Fenske u. a. 2008, 241 ff.) beschreibt dieses „Werden des modernen Staates“ wie folgt. Es gibt ein Paradigmenwechsel im Hinblick darauf, was unter Gemeinwohl verstanden werden soll. Es geht nunmehr nicht mehr um das jenseitige Heil, sondern um das diesseitige Glück. Es gibt eine starke Betonung des Individuums und der Individualität, man thematisiert zum ersten Mal Fragen der Menschenwürde und es werden Freiheit und Selbstbestimmung zu zentralen Zielen. Damit gewinnt aber auch die Frage nach dem Menschenbild ein größeres Interesse, sodass man immer mehr politische Ordnungsvorschläge in einer angenommenen „Natur des Menschen“ verankert. Zu erinnern ist etwa an die Theorie des Absolutismus und eines starken Staates von Thomas Hobbes, der deshalb notwendig ist, weil die animalische und triebhafte Seite des Menschen domestiziert werden muss.

Es entsteht der Gedanke des Gewaltmonopols des Staates. Daraus ergibt sich wiederum die Frage, wo

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die Macht im Staat anzusiedeln ist. Diese Frage nach dem Ort der Macht ist aufs engste verbunden mit der Frage, wie diese Macht begründet und dann auch durchgesetzt werden kann. Man braucht also Theorien der Rechtfertigung, man braucht sowohl eine Verwaltung, die sich insbesondere um das Eintreiben von Steuern kümmert, die wiederum notwendig sind, damit der formelle Machthaber die notwendigen Machtinstrumente – etwa das Militär – auch finanzieren kann. Es entwickelt sich mit dem Bürgertum eine neue Klasse, das zusätzlich zu seiner wachsenden ökonomischen Bedeutung nunmehr auch Ansprüche auf eine politische Mitgestaltung erhielt.

Insgesamt wird die gesellschaftliche Ordnung komplexer. Es entkoppelt sich die Lehre von der Politik von der Ethik und wird in pragmatischer Weise zu einem Herrschaftswissen, so wie es etwa in den Schriften von Machiavelli formuliert wird. Die Entwicklung der neuen Naturwissenschaften hat einen großen Einfluss auf das intellektuelle Klima der Zeit. So versucht etwa Thomas Hobbes, in seinen politischen Schriften mathematische und naturwissenschaftliche Denkformen zu kopieren. Es entsteht ein neues Selbstbewusstsein und eine Überzeugung von der grundsätzlichen Beherrschbarkeit der Welt.

Es gibt einen Aufbruch, durch Expeditionen neue Territorien, Rohstoffe oder Edelmetalle zu finden. Man kann hierbei durchaus eine Verbindung zu den Entdeckungsreisen in alle Himmelsrichtungen herstellen. Es gibt den Konflikt zwischen Kaiser und Papst, es gibt soziale Spannungen und insbesondere ergeben sich neue Bedürfnisse zur Legitimierung von Herrschaft, nachdem im Zuge einer Säkularisierung der Bezug auf Gott problematisch geworden ist.

Ökonomische Entwicklungen produzieren neue Herausforderungen bei der Regelung rechtlicher Fragen. Es geht um Verträge, Handelsniederlassungen, Geldgeschäfte, sichere Transportwege, Zölle.

Alle heute einen modernen demokratischen Staat konstituierenden Elemente können in diesen komplexen Prozess eingeordnet werden, bei dem sich ständig kulturelle, ökonomische, soziale und politische Entwicklungen wechselseitig beeinflussen. So kann man den Wunsch nach Freiheit, die Bedürfnisse nach Sicherheit und Schutz und die Respektierung des Einzelnen (mit seinem Eigentum) nur verstehen vor dem Hintergrund der neuen Bedeutung, die das Individuum und seine Individualität in dieser Zeit erhalten (Fuchs 2001). Fragen der Gleichheit sind zugleich Fragen der Partizipationsmöglichkeit bei der politischen Gestaltung. Sie sind zudem mit Fragen der Gerechtigkeit verbunden, wobei sich das kapitalistische Prinzip der Leistungsorientierung (meritokratisches Prinzip) als durchaus emanzipatorisch erweist, wenn man etwa danach fragt, aufgrund welcher Verdienste der nutzlos gewordene Adel immer noch seinen Rang in der Gesellschaft aufrechterhalten will.

Max Weber hat darauf hingewiesen, dass bei dieser sich durchsetzenden Sichtweise der Protestantismus in seinen verschiedenen Varianten eine wichtige Rolle spielt. Man setzt sich damit auseinander, wie bei aller Akzeptanz einer notwendigen Machtausübung und Herrschaft diese kontrolliert werden kann. Es entsteht die Idee der Gewaltenteilung, so wie sie zu Beginn des 18. Jahrhunderts von Montesquieu ausformuliert wurde. Man wünscht sich eine gewisse Verbindlichkeit bei den getroffenen bzw. erkämpften Regeln, was zu der Formulierung entsprechender Verfassungen führt, die auch die Macht des Königs binden sollen, wenn man ihn nicht gleich ganz abschaffen will. Der englische Sozialwissenschaftler T. H. Marshall hat eine Stufenfolge vorgeschlagen, wonach das 18. Jahrhundert von dem Wunsch nach Freiheit geprägt war, das 19. Jahrhundert das Leitziel der Gleichheit verfolgte und das

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20. Jahrhundert schließlich den Aspekt sozialer Gerechtigkeit in den Vordergrund stellt.

Politische Theorien der Gegenwart und die Demokratie

Aus den bisherigen Überlegungen ist zunächst einmal Folgendes festzuhalten: Politisches Denken hat eine lange Tradition, die sehr viel länger ist, als die Geschichte der Reflexionen über geeignete Ordnungsformen. In diesem Zusammenhang gibt es sehr unterschiedlicher Verwendungsweisen des Begriffs des Staates, wobei eine Gruppe von Autoren diesen Begriff auf sehr frühe politische Ordnungsformen anwendet, während andere Autoren/innen darauf bestehen, dass man sinnvollerweise von einem Staat nur in der Neuzeit reden kann.

Ähnliches gilt für den Begriff der Demokratie. Zwar wird man nicht umhin kommen, auf die athenische Demokratie und die griechischen Philosophen, die sich damit befassen, einzugehen, doch gibt es gute Gründe für die These, dass man über die griechische Demokratie nur deshalb sprechen kann, um ein modernes Verständnis von Demokratie davon abzusetzen.

Doch sind nicht alle dieser Meinung. So enthält die Textsammlung Massing/Breit (2002) unter der Überschrift „Demokratietheorien. Von der Antike bis zur Gegenwart.“ für die Antike Texte von Herodot bis Cicero, für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit Texte von Augustinus über Thomas von Aquin, Machiavelli, Hobbes bis hin zu John Locke. Für die Moderne werden Texte aufgenommen von Montesquieu über Rousseau, Kant, Burke, Tocqueville bis zu Abraham Lincoln. Und für die Gegenwart stehen Texte von Max Weber über Popper, Sartori, Dahrendorf, Luhmann, Habermas bis hin zu Benjamin Barber. An klassischen Verfassungstexten werden Auszüge der Magna Charta aus dem Jahre 1215, der Habeas-Corpus-Akte aus dem Jahr 1679, der englischen Bill of Rights aus dem Jahre 1689, die Grundrechteerklärung von Virginia, die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten bis zur Schlussakte der KSZE-Konferenz in Helsinki aus dem Jahr 1975 angeführt.

Ein weiterer Aspekt, den man aus den kurzen Schlaglichtern auf die Geschichte des politischen Denkens gewinnen kann, besteht darin, dass bestimmte Funktionselemente einer modernen Demokratie und eines modernen Staates ihre je eigene historische Entwicklung haben. Heutige Vorstellungen einer modernen Demokratie und eines modernen Staates können als Konglomerat unterschiedlicher Prinzipien verstanden werden. Staat und Demokratie müssen dabei auseinandergehalten werden. Zwar wird man keine moderne Demokratie finden, die ohne einen Staat auskommt, sodass man fragen kann, welches die geeignete Staatsform ist, die zu einer entwickelten Vorstellung von Demokratie passt, so wird man auf der anderen Seite Staaten auch dort finden, wo man nicht von einer Demokratie sprechen kann. Ich werde später auf einige Kriterien der Beurteilung sowohl der Qualität des Staates als auch der politischen Ordnung einschließlich der Demokratie zu sprechen kommen, denn eine Vergleichende Politikwissenschaft hat hierzu eine Reihe interessanter Kriterienkataloge entwickelt. Fürs erste genügt die Feststellung, dass moderne Gesellschaften auch eine sehr undemokratische Ordnung haben können.

Da in diesem Text die Situation in Deutschland im Mittelpunkt stehen soll, bietet es sich an, das Grundgesetz als deutsche Verfassung als Musterbeispiel für beides, eine entwickelte Demokratie und einen modernen Staat, zu betrachten. Während in der amerikanischen Verfassung die Individualrechte

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als Zusatzartikel zur Verfassung im engeren Sinne (bei der es um die Regelung von Strukturen, Organen und Kompetenzen geht) angehängt sind, werden die Grundrechte der deutschen Verfassung in den Artikeln 1-19 gleich am Anfang formuliert. Die zentrale Grundidee, mit der zugleich das spezifische Menschenbild des Grundgesetzes formuliert wird, ist bekanntlich Art. 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Offensichtlich handelt es sich hierbei um eine Vorstellung, die zwar bis in die Frühzeit philosophisch-politischer Reflexionen zu finden ist, die aber erst mit der schwerpunktmäßigen Thematisierung des Individuums und der Individualität in der Renaissance in den Vordergrund rückt.

Ab diesem Zeitpunkt kommt kein Philosoph an der Frage vorbei, wie in seinen Überlegungen über eine gute und wohlgeordnete Gesellschaft der Mensch, der Bürger, das einzelne Subjekt einzuordnen ist. Kant liefert dann am Ende des 18. Jahrhunderts die entscheidenden Argumentationsfiguren, etwa der Gedanke der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen: Kein Mensch dürfe als Mittel für andere Zwecke verwendet werden.

Der zweite Abschnitt von Art. 1 enthält ein Bekenntnis zu dem Katalog der „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“. Es folgt ein Katalog von Grundrechten, die man als Präzisierung des Begriffs der Menschenwürde verstehen kann: die freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, der Schutz des Einzelnen vor willkürlichen Eingriffen des Staates, Gleichheit und Gleichberechtigung, Diskriminierungsverbot, Glaubensfreiheit, Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit, Pressefreiheit, Schutz der Ehe und Familie, das Recht von Kindern auf Erziehung und Pflege, die Staatlichkeit des Schulwesens, Versammlungsfreiheit, das Recht der Vereinsbildung, das Briefgeheimnis, Freizügigkeit, Verbot von Zwangsarbeit, Kriegsdienst und Kriegsdienstverweigerung, Unverletzlichkeit der Wohnung, das Recht auf Eigentum, aber auch die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, das Auslieferungsverbot an das Ausland, Asylrecht, Beschwerderecht.

Der wesentliche Art. 20, der mit einer Ewigkeitsgarantie verbunden ist, definiert die Bundesrepublik Deutschland als demokratischen und sozialen Bundesstaat, bei dem die Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Es gibt eine Gewaltenteilung und eine Rechtsbindung der Exekutive. In späteren Artikeln wird die essenzielle Rolle von Parteien beschrieben sowie die föderale Struktur, vor allem im Hinblick auf die Rechte der Länder.

Diese (unvollständigen) Hinweise auf die Regelungen des Grundgesetzes zeigen, dass man es als Zusammenfassung und Bündelung all derjenigen Regelungen betrachten kann, die die (westliche) Gesellschaft und insbesondere die Gruppen in der Gesellschaft, die lange von einer politischen Partizipation abgehalten wurden, in zum Teil jahrhundertelangen Auseinandersetzungen erkämpft haben.

Im Hinblick auf das Staatsverständnis ist hervorzuheben, dass die Bundesrepublik als demokratischer Staat ein Sozialstaat, ein Rechtsstaat, ein Kulturstaat und ein föderaler Staat ist.

Nun könnte man denken, dass hiermit der Begriff einer guten politischen Ordnung und eines guten Staates hinreichend festgelegt sind. Mit einer gewissen Verwunderung muss man dann allerdings feststellen, dass man auch für die Gegenwart mit einer Vielzahl von Demokratietheorien und einer noch größeren Zahl politischer Theorien und Ideologien konfrontiert wird.

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So stellt Manfred Schmidt in seinem Standardwerk „Demokratietheorien“ (2008) als Vorläufer moderner Demokratietheorien die Konzeptionen von Aristoteles, Hobbes, Montesquieu, Rousseau, die federalist papers, Tocqueville, John Stuart Mill und Karl Marx vor. Moderne Theorien der Demokratie beginnen für ihn mit Max Weber und werden fortgesetzt durch den Ökonomen Josef Schumpeter, Anthony Downs, die Pluralismustheorien von Robert Dahl und Ernst Fraenkel, die Theorien der sozialen Demokratie, beteiligungszentrierte Demokratietheorien, kritische Demokratietheorien komplexe Demokratietheorien, jede von ihnen wieder unterteilt in unterschiedliche Ansätze.

Eine weitere Perspektive nehmen solche Überblicksdarstellungen an, die sich mit „politischen Theorien der Gegenwart“ beschäftigen. So haben André Brodocz und Gary Schaal (2002, 2001, 2016) drei Bände vorgelegt, in denen insgesamt 42 unterschiedliche Konzeptionen politischer Theorien vorgestellt werden. Auch sie behandeln die Konzeptionen von Max Weber und Josef Schumpeter, gehen auf die politischen Konzeptionen der Frankfurter Schule ein und befassen sich mit aktuell relevanten Ansätzen eines Michel Foucault, eines Jürgen Habermas, eines Charles Taylor, eines John Rawls. In dem jüngsten Band dieser Reihe, der wegen einer aufblühenden Debatte in diesem Feld notwendig wurde, werden die politischen Theorien des Feminismus (Judith Butler), der Subalternität (Gayatri Chakravorty Spivak), die Ansätze von Laclau und Mouffe, der Postdemokratie und anderen vorgestellt.

In dieser Publikation werden zwar auch die oben genannte Demokratietheorien erfasst, es werden aber auch antidemokratische Ansätze wie etwa die politische Theorie des Dezisionismus von Carl Schmitt aufgenommen.

Man muss zudem davon ausgehen, dass nur ein kleiner Teil der Staaten der Welt eine demokratische Grundordnung hat (siehe unten) und ein beachtlicher Teil über ein autoritäres oder sogar diktatorisches Regime verfügt, zu denen es sogar anspruchsvolle theoretische Grundlegungen und Begründungen gibt (Albrecht/Frankenberger 2010; Pauer-Studer/Fink 2014; für die olle der Kunst siehe Beyme 1998 oder Asch/Feist 2005).

Man kann sich nunmehr fragen, ob es angesichts dieser überbordenden Fülle unterschiedlicher theoretischer Konzeptionen, von denen sich allerdings kaum eine in Reinform in der Praxis wiederfindet, eine Möglichkeit gibt, eine gewisse Ordnung hineinzubringen. So kommt Walter Reese-Schäfer (2000) mit acht Kategorien aus, wobei es bei einem Sozialphilosophen nicht verwunderlich ist, dass er seine Typologie auf der Basis unterschiedlicher sozialphilosophischer Ansätze aufbaut. Seine Referenz Autoren sind Jürgen Habermas (mit seinem Konzept der deliberativen Demokratie), es ist die Sozialphilosophie des Kommunitarismus (etwa Charles Taylor), es ist die Systemtheorie im Sinne von Niklas Luhmann, sind Theorien des der Postmoderne (etwa Lyotard), der Risikogesellschaft (Ulrich Beck) des Feminismus (Judith Butler) und nicht zuletzt Theorien der Globalisierung.

Mit diesem Ansatz einer engen Verbindung von Sozialphilosophie und politischer Theorie schließt Reese-Schäfer wie oben gezeigt an die Frühzeit des politischen und sozialen Denkens an, bei dem es die später vorgenommene strenge Unterscheidung des Sozialen und des Politischen in dieser Form noch nicht gegeben hat.

Interessant ist, dass die großen politischen Strömungen und Konzeptionen, die sich im 19. Jahrhundert herausgebildet haben und die auch lange Zeit noch für das 20. Jahrhundert gültig waren, in diesen

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aktuellen Übersichtsdarstellungen bestenfalls verdeckt auftauchen. Gemeint sind die drei großen Strömungen des Konservativismus, des Liberalismus und des Sozialismus.

Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Grundgedanken der in diesem Feld aktiven Denker des 18. und 19. Jahrhunderts nicht mehr präsent wären. So spielen nach wie vor die liberalen Gedanken eines Wilhelm von Humboldt, eines Alex de Tocqueville, eines Immanuel Kant und eines Adam Smith ebenso eine wichtige Rolle wie die sozialistischen Ansätze von den Frühsozialisten über Karl Marx, Ferdinand Lasalle bis hin zu den Theoretikern des Kommunismus.

Auch die Gedanken des Konservatismus sind noch präsent, doch gilt:

„Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Konstellation für den Konservatismus in Deutschland noch komplizierter; sie bietet der Konservatismusforschung den Anreiz, auf eine durchgehende Verortung des Konservatismus lieber ganz zu verzichten oder jetzt plakativ von „Neo-Konservatismus“ zu sprechen. Tatsächlich haben wir jetzt mindestens drei grundsätzlich verschiedene Richtungen: a) die fortgeführte Betonung des „starken Staates“ (z. B. Forsthoff); b) den „technokratischen Konservatismus“ (Schelsky, Lothar Späth), der auf die Sachgesetzlichkeit der technischen Entwicklung setzt. (...) c) angesichts der Bedrohung des Bestehenden, nämlich sowohl der Natur als auch der Gesellschaft, durch Wachstumsplanung und technische Umgestaltung der Welt wird weit über den politischen Konservatismus hinaus die Erhaltung des Bestehenden zu einem zentralen Problem unserer Gesellschaft. Es geht um die „Umwelt“, um die Sicherung vor Selbstzerstörung der Menschheit, um die Aufrechterhaltung von lebensnotwendigen Gemeinschaftsformen – dies ist offensichtlich eine durchaus konservative Position, für die Erhard Eppler die Bezeichnung Wert-Konservatismus geprägt, um sie dem „Strukturkonservatismus“ gegenüberzustellen.“ (Gerhard Göhler in Heidenreich 2002, 23).

So finden sich zwar in einem Handbuch (Hartmann/Offe 2011) diese drei Strömungen immer noch unter den bearbeiteten Stichworten, aber es werden in dem Kapitel über Ideen, Ideologien und Theorien sehr viele andere Schlüsselbegriffe genannt: Rational Choice, Systemtheorien, Utilitarismus, Phänomenologie, Kommunitarismus, Postmarxismus, Postkolonialismus, Populismus bis hin zu Queer Theory.

Es werden verschiedene Regierungs- und Herrschaftsformen unterschieden (Absolutismus, Demokratie, Föderalismus, Imperialismus, Kolonialismus, Konstitutionsrealismus, Republikanismus, Theokratie, Totalitarismus, Tyrannei), es werden die politischen Theorien der Weltreligionen diskutiert und es wird eine lange Liste einzelner Themen und Begriffe angeführt, die von Anerkennung und Arbeit über die Liberation, Fundamentalismus, Gewissen, Gouvernementalität bis hin zum Multikulturalismus, Patriotismus, Wohlfahrtsstaat, Würde und Zivilgesellschaft reichen. Auch Begriffe wie Tugend, Terror, Privatheit werden in diesem Handbuch der politischen Theorien und der politischen Philosophie als zentrale politische Begriffe aufgenommen.

Im Hinblick auf die oben erwähnte Zusammenstellung unterschiedlicher Funktionselemente und Grundideen, die in einem modernen Konzept von Demokratie zusammengefasst sind, sind Publikationen interessant, die sich nicht an den großen Namen der Geschichte der politischen Theorien und Philosophien orientieren, sondern die systematisch einzelne dieser Strukturelemente in ihrer historischen Genese und ihrer systematischen Bedeutung untersuchen. In erster Linie ist hier das Standardwerk „Demokratietheorie“ von Giovanni Sartori (1997, zuerst 1987) zu nennen.

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Sartori erwähnt zwar auch als eine historische Wurzel die Athener Demokratie, er geht auf die Etymologie dieses Wortes ein und fragt danach, was der Demos, also das Volk, in einer Massengesellschaft heute bedeuten kann und bezieht sich dabei auf die berühmt gewordene Formel von Abraham Lincoln in seiner Ansprache von Gettysburg im Jahre 1863, in der er Demokratie definierte als „Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk.“

Im Hinblick auf die griechische Demokratie weist Sartori darauf hin, dass die griechische Polis gerade kein Staat war sondern eine Stadtgemeinschaft, die wiederum nur aus den Männern (also aus einer bestimmten Gruppe von Personen) bestand. Er weist darauf hin, dass Machiavelli als erster „Staat“ als etwas Unpersönliches vergegenständlicht und in seiner modernen Bedeutung gebraucht (275) – und dies nur beiläufig und selten. Verbreitet war vielmehr die Rede von einem regnum oder einer civitas. Hobbes bevorzugte später den Begriff des Commonwealth (Gemeinwesen):

„(...) mit zunehmender Gebräuchlichkeit fiel „Staat“ immer weniger mit „res publica“ zusammen (der politisch organisierten Gesellschaft als ganzer) und beschränkte sich zunehmend auf die Befehlsstruktur (Autorität, Macht, Zwang), die sich auf die Gesellschaft richten.“ (275).

Die antike Demokratie war in diesem Sinne staatsfrei.

Als zentrale Elemente und Grundideen der modernen Demokratie diskutiert Sartori Freiheit und Recht, Gleichheit, Liberalismus, den Markt und den Kapitalismus.

Aktueller ist das Buch von Paul Nolte (2012), der als Historiker vor allem die reale Entwicklung bei der Entstehung der modernen Demokratie im Blick hat. Er beginnt – anders als andere genannte Autoren – mit der These von der „Erfindung der Demokratie in Athen“ (26 ff.), die er immerhin in den Kontext einer Suche nach der guten Ordnung („Eunomie") stellt. Wie oben ausgeführt sahen die großen Philosophen der griechischen Antike in der Demokratie gerade nicht ihr Ideal einer guten Ordnung realisiert.

In dem Kapitel zu den Anfängen demokratischen Denkens geht Nolte recht rasch von dem antiken Griechenland und Rom über Partizipationsstrukturen in den Städten und Gemeinden des Spätmittelalters zur Entstehung der Schweiz im 19. Jahrhundert über. Er erinnert zwar daran, dass die Schweizer Freiheitstradition bis zu dem Rütli-Schwur im Jahre 1291 zurückreicht, als sich die drei Schweizer Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden gegen die Machtansprüche der Habsburger zusammenschlossen. Er erinnert daran, dass Thomas Hobbes in seiner Konzeption einen starken Staat („Leviathan") gefordert hat, um den Krieg und Bürgerkrieg im Rahmen einer „geordneten Freiheit“ zu verhindern.

Die Legitimation dieser Ordnung geschah durch die Idee eines (fiktiven) Gesellschaftsvertrages, bei dem die Bürgerinnen und Bürger freiwillig auf Freiheitsrechte zugunsten einer Machtübertragung an den „Staat“ verzichteten.

Dieser Vertragsgedanken blieb über die Jahrhunderte attraktiv bis hin zu der richtungsweisenden Schrift des amerikanischen Philosophen John Rawls, der sein Vertragsmodell als Instrument einer von den Menschen akzeptierten Gerechtigkeit einführte.

Der Historiker Paul Nolte verfolgt schwerpunktmäßig die (nicht unbedingt linear verlaufende)

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Realgeschichte der Durchsetzung von Prinzipien, die heute eine demokratische Grundordnung konstituieren. Er beschreibt den Übergang von den Visionen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu Beginn der Französischen Revolution in eine Schreckensherrschaft. Er beschreibt den Bürgerkrieg der demokratisch konstituierten Vereinigten Staaten, er beschreibt das Scheitern der deutschen Revolutionen, geht aber auch auf die demokratischen Revolutionen im 20. Jahrhundert ein, wobei man auch die deutsche Einigung in dieser Rubrik aufnehmen kann.

Es geht um die Genese des Parlaments, was zugleich heißt, die Akzeptanz einer Opposition. Es geht um die Geschichte von Verfassungen, die zunächst einmal dazu dienten, der Willkür des Fürsten eine Grenze zu setzen. Es geht um die Genese der Arbeiterbewegung und des Frauenwahlrechts.

Von besonderem Interesse muss gerade im Hinblick auf die deutsche Entwicklung das Scheitern der ersten Demokratie in der Weimarer Republik sein. Und hierbei ist es immer wieder der Rechtstheoretiker und das NSDAP-Mitglied Carl Schmitt mit seiner Unterscheidung von Freund und Feind in seiner 1927 erschienenen Schrift über den „Begriff des Politischen“. Auch seine zweite Aussage, dass die Macht habe, wer in der Lage ist, den Ausnahmezustand zu erklären, ist nach wie vor eine häufig diskutierte These in der politischen Theorie.

Ausgangspunkt von Schmitt und seinen Schülern ist insbesondere die politische Philosophie von Thomes Hobbes mit seiner These vom Kampf aller gegen alle und seinem negativen Menschenbild.

Historiker sprechen von einem langen 19. Jahrhundert, das von 1789 bis 1918 reicht, und von einem kurzen 20. Jahrhundert, das mit dem Ende des Ersten Weltkrieges beginnt mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten endet.

Die Demokratie in der Krise?

Anfang der 1990er Jahre proklamierte der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das Ende der Geschichte. Er meinte damit, dass nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes die durchaus gefährlichen Systemauseinandersetzungen zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu einem Ende gekommen sind und dass sich nunmehr eine Form von Demokratie als die zentrale politische Ordnungsform weltweit durchsetzt.

Es gab Grund zu dieser Hoffnung. Bereits Jahrzehnte früher wurden die Diktaturen in Griechenland, Spanien und Portugal beendet. Die europäische Union dehnte sich aus, wobei eine Bedingung für die Mitgliedschaft neuer Länder eine demokratische Grundordnung ist. Die Ausdehnung erfolgte im Wesentlichen in Richtung Osten, wo sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zahlreiche, nunmehr unabhängige Einzelstaaten der ursprünglichen Föderation neu bildeten und sich eine demokratische Ordnung gaben. Hoffnung machten auch die verschiedenen Umbrüche in nordafrikanischen und arabischen Ländern.

Leider hat sich diese Hoffnung, die viele teilten, nicht in diesem gewünschten Umfang durchgesetzt. Es tobten nach wie vor Bürgerkriege in Afrika, die zum Teil durch eine willkürliche Grenzziehung ehemaliger Kolonialmächte forciert wurden. Es entstanden neue Kriege und Bürgerkriege im Nahen Osten, die sicher

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nicht nur in religiösen Fragen ihre einzige Ursache hatten, die aber alle auch religiös überlagert waren, sodass man – auch deshalb – heute von einer „Wiederkehr der Religionen“ spricht.

Nicht zuletzt wuchs der weltweite Terror durch Gruppen, die eine bestimmte Variante des Islam zu vertreten beanspruchten. Man sprach zunehmend von "Failing States", also von solchen Staaten, bei denen eine – oft auch nur rudimentär vorhandene – staatliche Struktur (Rechtsstaat, ordnungsgemäße Verwaltung, Gewaltmonopol des Staates etc.) zusammenbrach und War-Lords die Herrschaft über weite Gebiete übernahmen.

Der Westen spielte bei all diesen Konflikten eine ausgesprochen problematische Rolle. So unterstützten die Vereinigten Staaten seinerzeit die Taliban in Afghanistan bei deren Kampf gegen die Intervention der Sowjetunion. Später sahen die Taliban im Westen und vor allen Dingen in den Vereinigten Staaten den zentralen Gegner, den sie zu einem großen Teil mit den Waffen bekämpfen, die sie zuvor von ihnen selbst bekommen haben.

Eine imperialistisch zu nennende aggressive Kriegspolitik im Irak schuf keinen Frieden, beseitigte möglicherweise einen Diktator, basierte allerdings auf gravierenden Lügen, die zur Begründung militärischer Interventionen vorgetragen wurden.

Es entstand eine zunehmend größere Zahl autoritärer Regime auch in Europa, etwa in dem zerfallenden Jugoslawien. Heute spricht keiner mehr davon, dass die demokratische Grundordnung weltweit einen Siegeszug angetreten hat, man muss eher davon ausgehen, dass sie im Rückzug ist. Damit ist verbunden, dass man in einer pragmatischen Sichtweise von Politik bei der Begründung von Kooperation und Partnerschaft nicht mehr den Anspruch erheben kann, dass die reine Lehre der demokratischen Grundordnung bei dem Partner vorliegt.

Auch in den immer noch stabilen demokratischen Ländern gibt es zum Teil erhebliche Probleme mit der Akzeptanz. Günter Dux (2013) spricht von der „Demokratie in der Krise der kapitalistisch verfassten Marktgesellschaft“ (28 ff.) und er benennt drei Krisen:

„die äußere Bedrohung einer lebensdienlichen Umwelt, die innere des europäischen Währungssystems und die Krise, die vom Finanzsystem der Marktgesellschaften ausgeht. Die Krisen haben drei Gemeinsamkeiten:

– Jede der Krisen wird vom ökonomischen System der Marktgesellschaft bewirkt.

– Keine der Krisen kann aber vom ökonomischen System bewältigt werden.

– Um die Krise zu bewältigen, ist eine Inversion der Gestaltungshoheit in der Gesellschaft notwendig. Inversion will sagen: Der Vorrang der Gestaltungshoheit in der Gesellschaft muss vom ökonomischen System auf das politische System überführt und damit dessen demokratischer Verfasstheit unterworfen werden.“ (28).

Publikumswirksam hat der englische Politikwissenschaftler Collin Crouch (2008) eine auch von anderen Theoretikern formulierte These einer „Postdemokratie“ aufgegriffen und argumentativ gestützt. Er sieht wesentlich ein Verschulden politischer Akteure daran, dass die Akzeptanz der demokratischen Ordnung

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in westlichen Ländern gravierend abgenommen hat. Er befürchtet eine Glaubwürdigkeit des demokratischen Handelns und eine wachsende Verachtung der Demokratie:

„Die relativ niedrigen Anforderungen, die im Rahmen des liberalen Demokratieverständnisses an das Funktionieren des politischen Systems gestellt werden, führen zu einer Zufriedenheit, die uns blind machen kann für ein neuartiges Phänomen, das ich als „Postdemokratie“ bezeichnen möchte. Der Begriff bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.“ (10)

Nun weiß man schon seit langem, dass es bei der Suche nach einer geeigneten politischen Ordnung nicht darum gehen kann, eine harmonische, konfliktfreie Gesellschaft, bei der keine gegensätzlichen Interessen aufeinanderprallen, realisieren zu wollen. Konflikte sind vielmehr – so weiß man es spätestens seit den Analysen von Ralf Dahrendorf – notwendiger und integraler Bestandteil einer politischen Ordnung. Es geht nicht darum, Streit und Auseinandersetzung zu vermeiden, es geht vielmehr darum, eine zivilisierte Art und Weise zu finden, mit Interessensgegensätzen umzugehen. Daher ist eine Geschichte des Kampfes um eine demokratische Grundordnung immer auch eine Geschichte der dazugehörigen Konflikte.

Selbst wenn man nicht dramatisierend von „Konflikten“ sprechen will, so gibt es auch in einer funktionierenden Demokratie Spannungsfelder, die über die Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg diskutiert werden. Gisela Riescher (2013) benennt gleich zehn solcher spannungsvoller Gegensätze, wobei es bei beiden Polaritäten jeweils um demokratieinterne und vielleicht sogar demokratiespezifische Aspekte geht: Gleichheit und Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit, Öffentlichkeit und Privatheit, Gemeinwohl und Interesse, Minderheit und Mehrheit, Partizipation und Repräsentation, Macht und Gewalt, Handlung und System, Souveränität und Entscheidung und schließlich Legitimität und Legalität.

Offensichtlich sind hier zum einen die politischen Visionen der sich entwickelnden Moderne angesprochen, so wie sie in der Französischen Revolution formuliert worden: Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. Es sind grundsätzliche Erwartungen der Menschen angesprochen, die ein zu installierendes politisches System zu erfüllen hat: Frieden und Sicherheit, der Schutz der Person, friedlicher Machtwechsel, ein Ausgleich individueller Interessen und dem gesamtgesellschaftlichen Gemeinwohl.

Es liegt auf der Hand, dass all diese Fragen und Themen eine zentrale Rolle in der politischen Debatte spielen müssen, doch wird auch deutlich, dass neben der Politik im engeren Sinne auch andere Gesellschaftsbereiche angesprochen sind. So geht es um eine funktionierende Ökonomie, die jedem Einzelnen die Sicherung seines Lebens ermöglicht. Es geht um eine Rechtsordnung, die ein zuverlässiges Umgehen miteinander garantiert. Es geht um die individuelle Freiheit der eigenen Lebensgestaltung,

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etwa im Hinblick auf religiöse oder auch ästhetische Präferenzen.

Im Hinblick auf die Wohlordnung der Gesellschaft wird man nicht nur danach fragen müssen, was eine „gute politische Ordnung“ ist, man muss auch danach fragen, wie eine geeignete „gute“ ökonomische Ordnung aussieht. Es stellt sich die Frage, was es bedeutet, in einer „guten Gesellschaft“ leben.

Aktuelle Debatten: Politik zwischen Realität und Theorienbildung

In dem vorliegenden Text komme ich mehrfach darauf zurück, dass die Demokratie als politische Grundordnung immer wieder zu konträren Beurteilungen herausfordert. Dies gilt auch für die Gegenwart und insgesamt für das 20. Jahrhundert. So wird ein Buch mit dem Titel „Das demokratische Zeitalter“ (Müller 2013) mit den Worten vorgestellt:

„Das 20. Jahrhundert ist vielfach als das der Ideologien bezeichnet worden, in dem umfassende Denkgebäude den Lauf der Geschichte kanalisiert haben. Gleichzeitig ist es aber auch das demokratische Zeitalter: Republikanische und liberale Ideen finden Eingang in die Neugestaltung der europäischen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg, überstehen Faschismus und Sozialismus und werden von der globalen 68er-Bewegung und vom Neoliberalismus erneut herausgefordert.“ (Klappentext)

Eine eher pessimistische und kritische Sichtweise vertritt dagegen Hans-Martin Schönherr-Mann (1996):

„Das Ende des Jahrhunderts wird durch das Epochenjahr 1989 eingeleitet. An sein Ende gelangt ein Jahrhundert der Weltkriege, des permanenten europäischen Bürgerkriegs, verheerender Konfrontationen. Es ist das Jahrhundert, in dem die Fortschrittshoffnungen der Aufklärung, der Moderne und des Sozialismus überall – d.h. politisch, sozial, ökonomisch und zuletzt ökologisch scheiterten, und an dessen Ende sich eine Wende des politischen Denkens abzeichnet: Die Politik ist nicht mehr Hoffnungsträger – eine Rolle, die sie von der Religion übernahm. Das politische Denken säkularisiert sich: Die Politik verliert ihre hegemoniale Stellung. Um zu verhindern, dass sich vor diesem Hintergrund das soziale Band auflöst, erweitert sich angesichts gesteigerter der Komplexität moderner Gesellschaften der Horizont des politischen Handelns.“ (11)

Für diese negative Bewertung der gegenwärtigen politischen Situation lassen sich gute Gründe anführen. So zeigen Jugendstudien etwa, dass Jugendliche zwar nach wie vor politisch interessiert sind, dieses Interesse aber kaum noch in den etablierten Parteistrukturen praktisch werden lassen wollen. Bei den etablierten Parteien dominiert etwa bei der FDP eindeutig der wirtschaftsliberale Flügel, wohingegen die zweite Traditionslinie der Liberalen, die Grund- und Menschenrechte und der Schutz des Einzelnen, in den Hintergrund treten. Die Sozialdemokratie erleidet bei Wahlen ein Desaster nach dem anderen und erreicht inzwischen bei einigen Umfragen kaum noch die 20 % Marke, sodass man von einer Volkspartei nicht mehr reden kann. Die CDU ist zwar geschickt in dem Erhalt ihrer Macht, doch sind traditionelle wertkonservative Grundhaltungen angesichts eines eher bodenlosen Pragmatismus kaum noch zu erkennen. Es hat sicherlich auch mit einem Protest gegenüber diesen Traditionsparteien zu tun, dass sich zum einen eine stark gewordene linke Position in immer mehr kommunalen und Landesparlamenten und auch im Bundestag und sogar in einigen Regierungen hat etablieren können. Andererseits muss man

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sehen, dass es einen dramatischen Aufschwung rechtspopulistischer Positionen – auch in Parlamenten - gibt.

Diese Skepsis gegenüber einem bislang vorherrschenden Verständnis von Politik hat eine Vielzahl von Denkanstrengungen ausgelöst, die das Ziel haben, die Grundidee der Demokratie retten zu wollen:

„Die in diesem Band vorgestellten Positionen fühlen sich einem emphatischen Denken des Politischen verpflichtet. Da sich unsere heutigen Gesellschaften unter den Bedingungen einer neoliberalen Globalisierung auf immer mehr Ebenen zu entpolitisieren drohen, wird das Insistieren auf dem Eigensinn des Politischen aus der Sicht der behandelten Autorinnen und Autoren selbst zu einer dringlichen politischen Aufgabe. Gegen die zunehmende Bürokratisierung, Verrechtlichung und Ökonomisierung sozialer Verhältnisse machen sie das Politische als radikal-demokratische Praxis der Selbstinstituierung von Gesellschaft geltend. Die verstehen ihre politischen Theorien in erster Linie als politische Interventionen und lassen sich insofern weder dem Diskurs der Politikwissenschaften noch demjenigen der politischen Philosophie im traditionellen Sinne zu rechnen.“ (Flügel/Heil/Hetzel 2004, 7)

In diesem Sinne spricht man heute von einer Unterscheidung von Politik und dem Politischen, wobei man mit Politik die Institutionen und etablierten Strukturen meint, von denen man denkt, dass sie nicht mehr einem demokratischen Grundverständnis entsprechen:

„Politik ist Praxis der Herrschaft und der Stabilisierung ihrer jeweiligen Ordnung – Politik im Sinne der Polizei, wie Rancière sie definiert. Der Begriff der Polizei ist m. E. aber äquivok und ruft daher falsche und zugleich verengte Assoziationen hervor. Das Politische hingegen ist die Praxis der Freiheit, deren Substanz die radikale Kritik und Suspendierung von Herrschaft ist.“ (Wallat in Dumbadze 2010, 311).

Das Politische meint also eine Verbreiterung der Partizipation unter Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger.

Ein roter Faden in neueren Ansätzen politischen Denkens ist die Kritik an der Dominanz des Ökonomischen und der praktizierten Machtlosigkeit der Politik. Wie vielfältig dieses Theorienangebot insbesondere im neuen Jahrtausend ist, belegt etwa der im Jahre 2016 vorgelegte dritte Band des seit langem eingeführten zweibändigen Handbuches „Politische Theorien der Gegenwart“ (Brodocz/Schaal 2016).

Welche Positionen des politischen Denkens lassen sich überblicksmäßig unterscheiden? Als erstes lässt sich ein Wiederaufleben der politischen Philosophie feststellen. So haben die beiden sozialphilosophischen Positionen des philosophischen Liberalismus und des Kommunitarismus auch zu entsprechenden Formulierungen einer jeweiligen politischen Philosophie geführt. Nach wie vor ist zudem die amerikanische Tradition des philosophischen Pragmatismus im politischen Denken lebendig (John Dewey). Ebenso sind auf der Grundlage der soziologischen Großtheorien von Jürgen Habermas oder Niklas Luhmann entsprechende politische Theorien entwickelt worden, zum Teil von den beiden selbst, zum Teil von Schülern und Anhängern dieser Ansätze. In der Politikwissenschaft gibt es eine starke empirische Ausrichtung, so wie sie etwa Manfred Schmidt (2008) vertritt.

Eine besondere Rolle spielt eine Gruppe von Philosophen/innen, die trotz zum Teil erheblicher

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Differenzen unter der Überschrift „radikale Demokratie“ zusammengefasst werden. Hierbei spielen sowohl Bezüge auf traditionelle Ansätze der politischen Philosophie (Rousseau, Hannah Arendt) eine Rolle, doch sind es insbesondere solche, vor allem französischsprachige Philosophen, die dem Poststrukturalismus zugeordnet werden. Stichwortgeber solcher Theorieansätze (ich beziehe mich hier auf Hendrik Wallat in Dumbadze u. a. 2010, 272 ff.) sind zum einen Karl Marx und Friedrich Nietzsche, Ersterer vor allem in der Lesart von Louis Althusser. Einige Namen aus dieser Gruppe: Jacques Derrida (1930 - 2004), Claude Lefort (1924 - 2010), Ernesto Laclau (1935 - 2014), Chantal Mouffe (geb. 1943), Jaques Rancière (geb. 1940), Alain Badiou (geb. 1937). Es gibt zudem politische Theorien des Feminismus (Judith Butler) und der Subalternität (Gayatri Chakravorty Spivak).

Die beiden Herausgeber beschreiben in ihrer Einleitung zu dem dritten Band die Situation wie folgt:

„An die Stelle von Theorie-Familien treten deshalb zunehmend einzelne Theoretikerinnen und Theoretiker, deren Namen zugleich Programm ihrer Ansätze sind. Anders als in den beiden ersten Bänden von „Politische Theorien der Gegenwart“, in denen Theorie-Familien exemplarisch an einem Referenztheoretiker vorgestellt werden, haben wir es deshalb in diesem Band überwiegend mit Ansätzen zu tun, die von einzelnen Theoretikern (oder Duos) verfolgt werden.“ (Brodocz/Schaal 2016, 17)

Hendrik Ballard (a.a.O.) unterscheidet grob unter den genannten Vertretern einer radikalen Demokratie Reformisten (etwa Laclau/Mouffe, Rancière) und Revolutionäre (zum Beispiel Badiou, Agamben).

Viele dieser Ansätze reagieren auf Defizite und Schwachstellen der Demokratie, die zum Teil durch eine ungeschickte Politik verursacht sind, die zum Teil aber auch mit strukturellen Problemen und den oben von Riescher diskutierten Spannungsverhältnissen zu tun haben. In letzterem Sinn thematisieren die Autoren/innen in Brodocz u. a. 2008 „Bedrohungen der Demokratie“ und zeigen diese dort auf, wo Erwartungen an Demokratien zu hoch sind, wo im Rahmen eines Antiterrorkampfes Grundprinzipien der Demokratie verletzt werden, wo die Ökonomie durch Übertragung ihrer Handlungslogik auf andere Bereiche diese „kolonialisiert“ und damit ihre Funktionsfähigkeit beeinträchtigt. Es werden Spannungen zwischen dem universellen Menschenrecht und regionaler demokratischer Entscheidung aufgezeigt und die größer werdenden Einflüsse von demokratisch nicht legitimierten Organisationen und Institutionen analysiert. Kurz: Demokratie ist keine Errungenschaft, die man erworben hat und dann besitzt: Sie muss täglich durch eine entsprechende Praxis von Neuem konstituiert werden.

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4. Die gute Gesellschaft – Einige Bestimmungsmerkmale

Eine erste Annäherung: Gesellschaftskritik als Kulturkritik

Bei dem Begriff der „guten Gesellschaft“ ist es gar nicht so einfach, genauer zu sagen, was man damit meint. Dies ist etwas überraschend, denn immerhin ist der Begriff kein schwieriges Fremdwort, sondern er besteht in seinen beiden Wortbestandteilen geradezu aus Alltagsbegriffen. Vielleicht ist aber genau dies das Problem: Die individuellen Meinungen gehen bei solchen Alltagsbegriffen schnell weit auseinander. Denn jeder hat eine spezifische Meinung dazu. Hierin steckt dann auch das Problem einer eindeutigen Definition: Geht es nur um rein subjektive Sichtweisen, die für jeden Einzelnen aufgrund seiner spezifischen Lebenssituation nachvollziehbar sind, oder kann man einige objektive Kriterien dafür anführen, wann das Attribut „gut“ im Hinblick auf die Gesellschaft angemessen ist?

In einer ersten Annäherung könnte man die These überprüfen, ob man dann von einer guten Gesellschaft in Deutschland sprechen kann, wenn die Vorgaben unseres Grundgesetzes erfüllt sind. Im letzten Kapitel wurden einige essenzielle Ziele und Prinzipien des Grundgesetzes benannt. Dabei konnte man feststellen, dass das Grundgesetz alle Visionen und Errungenschaften des Emanzipationskampfes der Menschen in den letzten Jahrhunderten aufgenommen hat: Es geht um den Schutz des Individuums vor der Willkür des Staates, so wie er in den Grundrechten formuliert wird, es geht um das Recht jedes Einzelnen, ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit zu führen. Dazu gehören letztlich das Recht auf Arbeit, das Recht auf Wohnen, das Recht auf Bildung.

Selbst wo solche Menschenrechte nicht explizit im Grundgesetz erwähnt werden, sind sie Bestandteile der grundgesetzlichen Ziele des politischen Handelns, sofern dieses sich auf das Grundgesetz bezieht, denn es wird explizit ein verbindlicher Bezug zu dem Katalog der Menschenrechte hergestellt. Und dort werden all diese Individualrechte in den verschiedensten Konventionen benannt (Bundeszentrale 2004).

Hält man diese Überlegung für einsichtig, dass das Grundgesetz die Prinzipien einer „guten Gesellschaft“ formuliert, dann muss man allerdings auch einsehen, dass die Messlatte ausgesprochen hoch gelegt ist. Denn das Grundgesetz ist kein bloß formales Regelwerk, sondern es hat eine hohe normative Qualität und basiert auf einer Vielzahl humanistischer Werte.

Gerade bei der immer wieder auftauchenden Frage nach der Leitkultur kann man das Grundgesetz überhaupt nicht umgehen. Aus meiner Sicht genügt es vielmehr vollständig, sich um eine umfassende und wortgetreue Realisierung der grundgesetzlichen Vorgaben zu kümmern.

Vor diesem Hintergrund lässt sich also fragen, inwieweit das Grundgesetz als eine Art Masterplan für eine gute Gesellschaft in Deutschland umgesetzt wird. Mit diesem Blick auf die Realität beginnt eine durchaus kritische Diskussion. Denn möglicherweise ist es sehr viel einfacher, anstatt Definitionsmerkmale einer guten Gesellschaft zu finden, zunächst einmal davon auszugehen, wann man eine Gesellschaft schlecht findet. Es geht also um eine Kritik an jeweils vorfindlichen gesellschaftlichen Verhältnissen zu den unterschiedlichen Zeiten, die in den letzten Jahrhunderten oft genug zu einer grundsätzlichen Kritik an der Moderne und ihrer Kultur angewachsen ist.

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Diese kritische zeitdiagnostische Literatur ist reichhaltig, so reichhaltig, dass man sich fragen kann, wieso etwa im Mittelalter eine solche Fülle an gesellschaftskritischer Literatur nicht zu finden ist. Nun sind solche gesellschaftskritischen Diskurse oft genug Intellektuellendiskurse, sodass eine Antwort auf diese Frage nach der Rolle der Gesellschaftskritik im Mittelalter darin bestehen könnte, dass es keine geeignete Trägergruppe für einen solchen Diskurs gegeben hat.

Dies ist allerdings nicht der Fall. Denn es war zwar die Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben, nicht so verbreitet wie heute, doch gab es eine große, theoriefähige Gruppe von Gelehrten (Philosophen, Theologen), die zu elaborierten Diskursen in der Lage waren, wie die diffizilen scholastischen Diskussionen und Debatten zeigen.

Ein Grund für den Mangel an Gesellschaftskritik besteht vielmehr darin, dass es in der mittelalterlichen europäischen Gesellschaft in der Tat eine Leitkultur gegeben hat, nämlich den Katholizismus. Dieser Katholizismus war effektiv organisiert, er hatte ein intellektuelles und Machtzentrum, er hatte seine Kontrollorgane und effektive Durchsetzungsmöglichkeiten für die vorgegebenen Regelungen. Wie bedeutsam der Katholizismus nicht bloß als geistige und geistliche Macht war, kann man an dem jahrhundertelangen Streit zwischen Papst und Kaiser erkennen, bei dem oft genug der Kaiser den Kürzeren zog.

Charles Taylor sprach einmal davon, dass es bis zum Jahr 1500 niemandem möglich war, nicht katholisch zu sein. In dieser These steckt zugleich eine Antwort auf die Frage, wieso sich diese mittelalterliche Situation bei dem Übergang zur Neuzeit verändert hat. Denn rund um 1500 fand die Reformation statt. Nunmehr gab es zwei christliche Religionen, die nicht bloß die Macht über die Seele und den Geist beanspruchten, sondern die auch in politischer und ökonomischer Hinsicht Machtansprüche hatten.

Die Reformation ist entstanden aus einer Kritik an dem Gebaren der Amtskirche. Damit war in jeder Hinsicht Kritik auf die Tagesordnung gesetzt: Es gab einen Streit um die richtige Auslegung der Bibel, an dem sich nach der deutschen Übersetzung immer mehr Menschen beteiligen konnten. Es gab eine Diskussion über die Legitimität von Autoritäten und damit verbunden die Frage nach der Begründung von Macht und Herrschaftsansprüchen (im Himmel und auf der Erde).

Die parallel zu dieser weltanschaulichen Debatte laufende dynamische Entwicklung der neuen Naturwissenschaften verstärkte diesen Trend zur Kritik. Denn die im Mittelalter weitgehend kritiklos akzeptierte Verpflichtung zum bedingungslosen Glauben wurde nunmehr durch einen kritischen Umgang mit dem Wissen und seiner Herstellung zunehmend ersetzt.

Es ist ein Emanzipationskampf der menschlichen Vernunft, und ein wesentlicher Bestandteil dieser Vernunft ist Kritik und Skepsis. Genau dies ist die Grundfrage des ersten Philosophen der Neuzeit, nämlich von René Descartes. Immanuel Kant bündelt später diese intellektuelle Disposition des Denkens in der Moderne in seinen berühmt gewordenen Fragen: Was können wir wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?, die sich (bei ihm) bündeln in der Frage: Was ist der Mensch? Damit sind die Grundfragen der Erkenntnistheorie, der Ethik und Moralphilosophie, der Theologie und – insbesondere im 18. Jahrhundert aktuell werdend – der Anthropologie formuliert. Es geht also nicht mehr um eherne Gewissheiten, sondern es geht um das Offenhalten von Fragen und die Notwendigkeit von Forschung. Bei diesem Umgang mit Wissen sind Skepsis und Kritik eine entscheidende Grunddispositionen.

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Mit der Renaissance rückt zudem der Einzelne mit seinen Lebensansprüchen in den Mittelpunkt. Man spricht von der Erfindung oder der Entdeckung der Individualität in der Renaissance. Zum ersten Mal taucht auch die Rede von einer „Würde des Menschen“ auf.

Damit werden nicht bloß individuelle Lebensansprüche formuliert, es ergeben sich auch Ansprüche an eine entsprechende Gestaltung der Gesellschaft. Mit der Moderne sind – wie oben mehrfach erwähnt – bestimmte Visionen eines guten Lebens verbunden (siehe Teil 2), die wiederum nur in enger Verbindung mit der Gestaltung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen gesehen werden können. Je intensiver also die Frage der Menschenwürde diskutiert wird, umso intensiver wird daher auch die Frage diskutiert, ob die jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen diesem Würde-Konzept auch entsprechen.

Es liegt auf der Hand, dass angesichts dieser hohen Messlatte und der Hoffnung, die man sich von einer neugestalteten Gesellschaft gemacht hat, die reale Umsetzung dieser Hoffnungen und Visionen nur frustrieren kann. Ein Diskurs der Moderne wird daher sehr schnell zu einem Diskurs einer Kritik an der Moderne.

Die Preisschriften von Jean-Jacques Rousseau in der Mitte des 18. Jahrhunderts sind hierfür ein Beispiel. Rousseau ist nicht der Einzige, der Kritik übt, obwohl dies in dem zu dieser Zeit noch verbreiteten Absolutismus durchaus lebensgefährlich war. Pascal schrieb seine „Persischen Briefe“ und legte literarisch geschickt seine Kritik an den vorherrschenden Verhältnissen einem Fremden in den Mund, der staunend Europa bereist.

Es entsteht eine Öffentlichkeit mit den dazugehörigen Medien und Orten, ganz so, wie es Jürgen Habermas (1962) in seiner Habilitationsschrift beschrieben hat. Man erlebt immer mehr eine Diskrepanz zwischen dem wachsenden Selbstbewusstsein im Hinblick auf die menschliche Vernunft, die stolz auf die neu gewonnenen Erkenntnisse bei der Entschlüsselung der Geheimnisse der Natur verweisen kann, und den gesellschaftlichen Verhältnissen, die offensichtlich mit dieser geistigen Entwicklung nicht Schritt halten können.

Es entsteht ein Bürgertum, das ökonomisch erfolgreich ist und den Adel immer mehr an die Seite drängt, das allerdings vehement um eine Beteiligung an der politischen Entscheidungsfindung kämpfen muss. Erste Erfolge werden in den Revolutionen in England im 17. Jahrhundert erzielt, in denen der König nunmehr an bestimmte vorgegebene Regelungen gebunden wird.

Es entsteht eine Atmosphäre im 18. Jahrhundert, die schließlich mit der Französischen Revolution (und mit der Unabhängigkeit der englischen Kolonien in Amerika) endet.

Während man davon ausgehen kann, so wie Marx und Engels es tun, dass der Emanzipationskampf des Bürgertums in seiner ersten Phase im Interesse der gesamten Gesellschaft lag, so musste man dann aber auch feststellen, dass mit jedem Zuwachs an Macht des Bürgertums die Kluft zwischen Bürgertum und den unterbürgerlichen Gruppen gewachsen ist: In einer bürgerlich konstituierten Gesellschaft wird zwar die Macht des Adels zunehmend gebrochen, es entsteht allerdings notwendigerweise ein neuer gesellschaftlicher Konflikt, ein neuer Klassenkonflikt, wie man später sagt, zwischen dem mit der Industrialisierung entstehenden Proletariat und dem Kapital.

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Mit hoher Sensibilität haben die Philosophen und Intellektuellen des 18. Jahrhunderts die Spannungen in dieser neuen Gesellschaftsordnung wahrgenommen. Rousseau wurde schon erwähnt. Er war zu seiner Zeit ein viel gelesener und erfolgreicher Autor. Die Gruppe derer, die diese Thesen diskutierte, wurde immer größer. Am Ende des Jahrhunderts werden die Probleme der modernen Gesellschaft in ähnlicher Weise benannt, wie man sie bis heute diskutiert.

Schiller analysiert diese „Pathologien der Moderne“ (so im Anschluss an Honneth 1994) in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung. Es geht um Entfremdung und Entzweiung, es geht darum, dass die sich entwickelnden gesellschaftlichen Verhältnisse die Versprechungen der Moderne nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und insbesondere nach einer vollständigen Entwicklung der Persönlichkeit gerade nicht erfüllen. Es werden kritische Gegenpositionen und neue gesellschaftliche Utopien entwickelt, in denen zunehmend eine ästhetische Praxis eine wichtige Rolle spielt. Der Topos einer „autonomen Kunst“ hat zum einen etwas mit der Ausdifferenzierung des Kunstsystems zu tun, also einem gesellschaftlichen Prozess des Kampfes um Anerkennung (vgl. Fuchs 2011). Eine autonome Kunst, also ein ästhetisches Handeln in einem geschützten Raum jenseits gesellschaftlicher Verpflichtungen und Einflussmöglichkeiten, wurde bei Schiller zum Motor einer gesellschaftlichen Reformbemühung. Der Gedanke einer autonomen Kunst hatte – dialektisch gedacht – eine klare gesellschaftliche Funktion, eine solche autonome Kunst wurde also für ein (ehrenwertes) politisches Ziel instrumentalisiert.

In diesem Entwicklungsprozess einer kritischen Haltung gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen spielte zwar auch eine Kritik an der Politik oder an der Gestaltung des Sozialen eine Rolle, doch nahm unter den kritischen Strömungen eine Kritik an der Kultur einen immer größeren Raum ein. Die Reformation als kritische Haltung gegenüber dem praktizierten Katholizismus der Amtskirche gehört zunächst einmal in diesen Bereich einer Kulturkritik, wobei man an diesem Beispiel sehen kann, dass eine Kritik an der Kultur sehr schnell zu einer Kritik an der Politik und an der Ökonomie werden kann:

„Kulturkritik als Reflexionsmodus der Moderne – das meint, wie noch näher zu erläutern ist, bestimmte Haltungen und Denkmuster, die nicht Wissen sind, sondern die die Verarbeitung und Produktion von Wissen ermöglichen, indem sie mit dem Anspruch auf Totalkonstruktion bestimmte Abläufe und Lagen, Verhältnisse und Verhaltensweisen als Indikatoren einer Verfallsgeschichte thematisieren, ohne sie notwendigerweise zu analysieren. Rousseau und Schiller sind ihre Vordenker. Beide kritisieren mit Erwartungen, die erst die Aufklärung ermöglicht, das eigene, vermeintlich aufgeklärte Zeitalter.“ (Bollenbeck 2007, 11)

Und so schreibt Georg Bollenbeck eine „Geschichte der Kulturkritik“, die er mit Rousseau beginnen lässt, bei der Nietzsche, die entstehende Kulturphilosophie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Vertreter der entstehenden Soziologie im 19. Jahrhundert bis hin zu Günther Anders eine wichtige Rolle spielen.

Also auch hier gilt: Kritik an der Moderne ist oft genug eine Kritik an der Aufklärung, ist Kritik an der Dominanz der Vernunft, eben weil diese – vor allem als später so genannte instrumentelle Vernunft – die Basis der menschenfeindlichen Industriegesellschaft ist.

Man sieht gerade nicht die frühen Visionen und Versprechungen der zukünftigen Gesellschaftsordnung realisiert, sondern man sieht vielmehr, wie das Zerstörungspotenzial der Menschen wächst und die

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Errungenschaften des menschlichen Verstandes gerade nicht dazu dienen, das Leben der Menschen zu verbessern.

In dieser Hinsicht kann man Kulturkritik zwar auch einordnen in einen humanistisch verstandenen Emanzipationskampf des Menschen. Man muss allerdings auch sehen, dass die in diesem Kontext vertretene Vernunftfeindlichkeit in ihren extremen Ausprägungen zu einer erneuten Barbarei geführt haben. So ist die Romantik die erste große Gegenbewegung nicht nur zur Klassik, sondern auch zur Aufklärung. Sie beklagt zu Recht die Vernachlässigung der emotionalen Seite des Menschen, sie führt aber auch in ihrer Vereinseitigung und einer entsprechenden politischen Inanspruchnahme mit zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts.

Interessant ist, dass nicht bloß Gesellschaftskritik zunehmend als Kulturkritik betrieben wird, sondern dass auf dieser Grundlage sogar neue philosophische Disziplinen entstehen. So entwickelt sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine dann auch explizit sogenannte „Kulturphilosophie“, zu der auch solche apokalyptischen Abgesänge wie die Arbeiten von Oswald Spengler („Untergang des Abendlandes“) gehören.

Zur aktuellen Diagnose unserer Gesellschaft

Als ein Vorschlag, sich dem Begriff der guten Gesellschaft zu nähern, wurde oben der Gedanke formuliert, dies über ihren Gegenbegriff, nämlich eine schlechte Gesellschaft zu tun. Man kann also fragen, was uns an unserer heutigen Gesellschaft missfällt.

Interessanterweise wird man in dieser Hinsicht sowohl in der Alltagskommunikation als auch in den entsprechenden wissenschaftlichen Diskursen ausgesprochen fündig. Dabei gibt es eine starke Parallelität zwischen Alltags- und Wissenschaftsdiskursen. Einige Beispiele: Geldmangel und Armut, Wohnungsprobleme, Gesundheitsprobleme und schlechte Arztversorgung, Arbeitslosigkeit, unzumutbare Arbeitsbedingungen, öffentliche Sicherheit, Kriminalität, Umweltprobleme, Kriegsgefahr.

Diese Alltagsdiskussionen finden sich auch in den wissenschaftlichen Debatten. Ich nehme als Beispiel einige Publikationen des Frankfurter Sozialphilosophen Axel Honneth, dem aktuellen Leiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Alleine die Titel einiger seiner Bücher zeigen die grundsätzliche Perspektive auf: die zerrissene Welt des Sozialen (1990), Pathologien des Sozialen (1994), Des-Integration (1994), Pathologien der Vernunft (2007).

Unter den Pathologien des Sozialen wird dann thematisiert: die Unvollkommenheit der Moderne (Charles Taylor), die Gefahren der modernen Technologie (Hubert Dreyfus), Arbeit und Entfremdung, Individualisierung und Gemeinschaftsverlust (Alisdair MacIntyre), Kommerzialisierung und Verdinglichung (etwa André Gorz), soziale Gleichheit und Gerechtigkeit (etwa Nancy Fraser).

Fast schon trotzig vor diesem Hintergrund mutet der Buchtitel seines neueren Werkes an: „Das Recht der Freiheit“, bei dem es ihm um einen offensichtlichen Grundbegriff moderner Gesellschaften geht: der Frage nach der Gerechtigkeit.

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Bei den Vertretern des Frankfurter Instituts war eine eindeutige Zuordnung entweder zur Philosophie oder zur Soziologie nie einfach. Auch Honneth appelliert daran, dass sich Sozialphilosophie enger an den Untersuchungsergebnisse der Soziologie über den Zustand der Gesellschaft orientieren muss. Bei solchen empirischen Erfassungen der gesellschaftlichen Lage wird man eine Menge Informationen darüber erhalten, ob man unsere Gesellschaft als gut oder schlecht qualifizieren muss.

So hat Wilhelm Heitmeyer an der Universität Bielefeld ein Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung gegründet und über zehn Jahre hinweg Analysen über „Deutsche Zustände“ vorgelegt. Sein theoretisches Konzept ist das der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“. Seine Arbeitsgruppe diskutiert im Wesentlichen sechs Elemente: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Heterophobie, Etabliertenvorrechte und Sexismus. Es handelt sich um eine Langzeitanalyse, bei der das Ergebnis durchaus nicht positiv ist.

Er identifiziert schleichende Prozesse einer Verschlechterung der sozialen Situation und benennt mögliche Ursachen wie Finanz- und Wirtschaftskrise, die Schuldenkrise, die wachsende Status-Bedrohung unterschiedlicher Gruppen, der 11. September 2001, die sich als „Beunruhigung ins öffentliche wie private Gedächtnis der individuellen, sozialen und materiell betroffenen Menschen und Gruppen eingekerbt haben“ (Heitmeyer 2012, 19).

Er identifiziert

– einen Kontrollverlust der Politik gegenüber dem Finanzkapital und seiner Erpressungslogik

– eine Undurchschaubarkeit der Finanzkrise mit all den hochriskanten Finanzprodukten und Spekulationstaktiken

– die Unkalkulierbarkeit der Weltmärkte, unter anderem ausgelöst durch chronische Schwächen der nicht länger amtierenden Ordnungsmacht USA, die derzeit nicht in der Lage ist, die Realwirtschaft zu stabilisieren

– eine Entmachtung demokratisch legitimierter Parlamente

– eine prekäre Unkontrollierbarkeit insbesondere des islamistisch legitimierten Terrors. (ebd.)

Nach der zehnjährigen Langzeituntersuchung zieht er ein vorläufiges Fazit:

In der religiösen Sphäre ist das friedliche und vom Ideal der Gleichwertigkeit geprägte Zusammenleben der Menschen unterschiedlichen Glaubens immer noch latent gefährdet.

In der sozialen Sphäre haben die Ökonomisierung des Sozialen und die Statusunsicherheit mit den verschiedensten Integrationsängsten und -erfahrungen eine Kernrelevanz für die steigenden Abwertungen der als „nutzlos“ und „ineffizient“ deklarierten Gruppen, also von Hartz IV Empfängern und Langzeitarbeitslosen.

In der Sphäre der Lebensstile bleibt auch die Abwertung von Homosexuellen oder Obdachlosen auf der

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gesellschaftlichen Tagesordnung.

In der politischen Sphäre gibt es mit der Wahrnehmung einer Demokratieentleerung, also von Vertrauensverlust und einem Gefühl der Machtlosigkeit, ernste Warnsignale, da die Anfälligkeit für rechtspopulistische Mobilisierung auffällig ist.

In der ökonomischen Sphäre scheint weiterhin eine Mentalität vorzuherrschen, die von der grundgesetzlichen Maxime, laut der Eigentum verpflichtet (etwa zur Verhinderung sozialer Des-Integration), wenig wissen will. (33 f.)

Heitmeyer spricht von einem Klassenkampf von oben und von einer „rohen Bürgerlichkeit“, nämlich einer Entkultivierung des Bürgertums (35):

„Es geht hier offenkundig darum, eigene soziale Privilegien durch die Abwertung und Des-Integration von als „nutzlos“ etikettierten Menschen zu sichern oder auszubauen, sowie um eine kulturelle Abwehrhaltung (etwa im Hinblick auf die Islamfreundlichkeit), wobei es in diesem Fall keinen dämpfenden Bildungseffekt mehr zu geben scheint. Es mehren sich die Hinweise darauf, dass die angebliche Liberalität der höheren Einkommensgruppen erodiert.“

Dieser Negativ-Befund wird – etwa im Hinblick auf die Verteilung des Vermögens – durch zahlreiche weitere Studien, auch durch die offiziellen Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung oder durch entsprechende Studien der OECD, deutlich verstärkt. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Frage nach dem sozialen Zusammenhalt immer mehr in den Mittelpunkt der öffentlichen und politischen Debatten rückt: Was hält unsere Gesellschaft zusammen und was treibt sie auseinander?

Es war auch Wilhelm Heitmeyer, der diese beiden Fragen in zwei Sammelbänden im Jahre 1997 gestellt hat. Interessant ist, dass zum einen der Band, der sich damit befasst, was die Gesellschaft auseinandertreibt, mit 650 Seiten deutlich umfangreicher ist als der Band, der sich mit dem Zusammenhalt der Gesellschaft befasst (490 Seiten). Aber auch dieser letzte Band befasst sich überwiegend mit Des-Integrationspotenzial, worunter sozioökonomische Verteilungskonflikte und ethnische Spaltungen diskutiert werden. Als mögliche gesellschaftliche Bindemittel werden diskutiert Solidarität, geteilte Werte, politische Kommunikation und Kollektivrituale.

Diese sorgenvolle Fragestellung nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie die möglichen Antworten, wodurch dieser Zusammenhalt hergestellt werden kann bzw. was zu einer Gefährdung des Zusammenhalts führen kann, begleitet die moderne industrialisierte Gesellschaft von ihrem Anfang an. Diese Frage ist so virulent, dass sich am Beginn des 19. Jahrhunderts sogar eine eigenständige Wissenschaft, nämlich die Soziologie, entwickelt hat, die genau dies als zentrale Fragestellung bearbeitet. Offensichtlich ist die moderne Industriegesellschaft eine fragile Gesellschaft.

Dies bestätigen auch aktuelle Gesellschaftsdiagnosen in der Soziologie. So legen Schimank/Volkmann

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(2000 und 2002) 19 Gegenwartsdiagnosen vor, deren Grundtenor zumindest melancholisch, meist sogar negativ ist. Dabei kommt es (fast) nicht darauf an, ob in den vorgestellten Konzeptionen die Wissensgesellschaft, die Medien, die Umwelt, die Wirtschaft oder die Familie im Mittelpunkt steht. Diese genannten Themen sind vielmehr – überwiegend in ihrer Entwicklung kritisch gesehene – übergreifende Themen, mit denen sich Konzepte wie Kommunikations-, Erlebnis-, Wertewandel- oder Multioptionsgesellschaft befassen.

Dies scheint sich auch im 21. Jahrhundert nicht zu ändern, sondern vielmehr in einzelnen Aspekten sogar zu dramatisieren. So diskutieren verschiedene Autoren in dem Sammelband „Politik im 21. Jahrhundert“ (Leggewie/Münch 2001) noch vor den dramatischen Ereignissen von 9/11 und der Finanzkrise im neuen Jahrtausend mit einem eher warnenden Unterton die Themen: Verwerfungen in den Wohlfahrtsstaaten, die Bedrohung der Umwelt und der Nachhaltigkeit, die Frage der Gerechtigkeit national und international, die problematische Entwicklung der Demokratie, die bedrohte Sicherheit. Es geht insgesamt um die Möglichkeit des „Regierens in entgrenzten Wirtschaftsräumen“ (407 ff.).

Interessant ist, dass auch hier eine ähnliche Perspektive wie in der Arbeit zur Postdemokratie von Collin Crouch (und ohnehin in den kommunitaristischen Ansätzen der Politischen Philosophie) eingenommen wird: dass nämlich eine Demokratie nur dann zu retten ist, wenn es eine aktive Bürgergesellschaft und damit einen aktiven Bürger gibt. Es geht um eine Realisierung der Ursprungsvision demokratischen Denkens, nämlich einer umfassenden Partizipation.

Partizipation und Teilhabe scheinen ohnehin immer mehr als Schlüsselelemente gelingender Gesellschaftlichkeit und gelingender Politik erkannt zu werden. Teilhabe darf aufgrund ihrer Rolle in den verschiedenen Menschenrechtskonventionen als der am besten begründete politische Zielbegriff verstanden werden.

Die aktuellen Debatten, bei denen immer wieder die Rede auf Teilhabe kommt, lassen sich damit begründen, dass wir in der Tat erhebliche Mängel in diesem Bereich haben. Dabei sind verschiedene Formen von Teilhabe zu unterscheiden, nämlich ökonomische, politische, soziale, kulturelle und rechtliche Teilhabe. Jede dieser Teilhabeformen ist zwar gesondert zu diskutieren, doch darf man nicht vergessen, dass es einen engen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Formen der Teilhabe gibt. In der Tat lassen sich unschwer alle Probleme, die zu Desintegrationseffekten in unserer Gesellschaft führen, auf Teilhabeprobleme zurückführen.

In besonderer Weise ist es die Frage der ökonomischen Teilhabe, die zunehmend als Schlüsselproblem gesehen wird:

„Seit den neunziger Jahren hat sich der Streit um das sozialstrukturelle Modell der Bundesrepublik wieder zugespitzt. Dabei geht es nicht mehr um die Frage, wieviel soziale Ungleichheit und Unsicherheit unsere Gesellschaft hinnehmen kann, wenn sie ihre Integrationskraft nicht verlieren will. Es geht darum, wieviel Ungleichheit und Unsicherheit sie braucht, um in der internationalen Konkurrenz noch leistungsfähiger zu werden. Dass eine größere „Spreizung“ der Einkommen und sozialen Lage notwendig sei, wird dabei vorwiegend aus ökonomischer Sachgesetzlichkeit erklärt, für die die Politik keine

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Verantwortung trage. Die politischen Eliten betonen, dass ihnen die Globalisierung der Märkte keine Alternative lasse. Wie anders sollten sie die Menschen, die sonst träge in der bequemen Hängematte des Wohlfahrtsstaates liegen blieben, zu mehr Leistung motivieren?“ (So Michael Vester in Leggewie/Münch 2001, 75).

Mit der Moderne wird Zeitdiagnose zu einem wichtigen Geschäft. Zeitdiagnose bedeutet überwiegend Kulturkritik. Es gibt eine große Zahl von entsprechenden Texten, wobei bestimmte Themen immer wieder auftauchen: Zerrissenheit, Entfremdung, Krise.

Diese Diagnosen erhalten deshalb eine bestimmte Dramatik, weil sie im Gegensatz zu den Versprechungen der Moderne stehen. Als Reaktion auf solche Verfalls- und Defizitdiagnosen werden neue Versprechungen in Gegenbewegung zur Moderne formuliert.

Ich gebe einige Gegensatzpaare an: Zerrissenheit – Ganzheitlichkeit, Abstraktheit – Konkretheit, Kontingenz als Unübersichtlichkeit – Kontingenz als Gestaltungsoffenheit, Kognitivismus – Sinnlichkeit, Konsumorientierung – produktive Tätigkeit, Fehlerintoleranz – Fehlerfreundlichkeit, Isolation – Gemeinschaftlichkeit, Entfremdung – Sinngebung, Machtlosigkeit und Demütigung – Selbstwirksamkeit und Anerkennung, Deformation im Hinblick auf die individuelle Persönlichkeit – ganzheitliche Bildung, kommerziell, pro kapitalistisch – antikommerziell, sinnorientiert, Masse – individuelle Persönlichkeit, Fremdbestimmung – Selbstbestimmung.

Zeitdiagnose ist ein populäres Geschäft, das von Publizisten und Journalisten, von Psychologen und Pädagogen, von Philosophen und Soziologen gleichermaßen betrieben wird. Man findet geradezu alle Ansätze: von populistischen Beschreibungen verbunden mit neuen Heilsversprechungen bis hin zu dem Versuch, sachlich und nüchtern eine Bestandsaufnahme zu machen.

Die Soziologie ist – wie erwähnt – genau zu diesem Zweck entstanden. Die Bilanz für die Moderne fällt dabei negativ aus. Man spricht von Heimatlosigkeit in der Moderne, von der Unwirtlichkeit, von dem Unbehagen an der Kultur. Interessant sind in diesem Zusammenhang immer wieder vorgelegte Gesamtschauen auf die jeweilige „Geistige Situation der Zeit“.

So legt der Philosoph Karl Jaspers, nach dem Zweiten Weltkrieg ein scharfer Kritiker der Atombewaffnung, im Jahre 1930, also vor der Machtergreifung des Nationalsozialismus, eine erste entsprechende Analyse vor. Interessant seine Themen: die Technik, die Herrschaft und die Vergötzung der Masse, die Rolle des Staates und der Erziehung und in seinem Überblick über philosophische Schulen natürlich die Hervorhebung der von ihm mit gegründeten Existenzphilosophie. Er beklagt den ‚leidenschaftlichen Drang zur Autorität, die Ordnung garantiert, die die innere Leere ausgefüllt sehen möchte‘. (209) Er beklagt den Zuwachs an zu stabilen Organisationen, die den Menschen zum reinen Funktionieren verdammen. Er beklagt die Entwicklung hin zu einem Maschinenmenschen und den Verlust der Religion.

Rund 50 Jahre später erscheint im Suhrkamp Verlag als Bd. 1000 der Edition Suhrkamp eine Neuauflage, dieses Mal nicht geschrieben von einem einzigen Autoren, sondern herausgegeben von Jürgen

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Habermas. Es sind ähnliche Themen, die auch Jaspers behandelt, natürlich unter Berücksichtigung der inzwischen geschehenen Geschichte. Auch hier sind insgesamt die Stimmung und die Haltung gegenüber der Gegenwartsgesellschaft nicht positiv. Man spricht von Kritik und Krise, man kritisiert den Konsumismus.

Wiederum knapp 40 Jahre später erscheint erneut ein Band über die Geistige Situation der Zeit (Geiselberger 2017) unter der Überschrift „Die große Regression“. Man muss feststellen, dass sich die depressive Haltung inzwischen deutlich verstärkt hat. Man spricht von Demokratiemüdigkeit, von dem Neoliberalismus und seinen negativen Folgen, dem Niedergang der liberalen Eliten, über repressive Tendenzen in westlichen Gesellschaften und über populistische Versuchungen.

Man geht davon aus, dass wir „Zeugen eines Zurückfallens hinter ein für unhintergehbar erachtetes Niveau der ‚Zivilisiertheit‘ werden.“ (9). Man stellt – mit „bitterer Ironie“ – fest, dass die seinerzeit skizzierten Globalisierungsrisiken in den folgenden Jahren allesamt real wurden – Internationaler Terrorismus, Klimawandel, Finanz- und Währungskrise, schließlich große Migrationsbewegungen –, man aber dennoch politisch nicht darauf vorbereitet war. Und auch auf der subjektiven Seite ist es offenbar nicht zur Etablierung eines robusten, kosmopolitischen Wir-Gefühls gekommen. Vielmehr erleben wir heute eine Renaissance ethnischer, nationaler und konfessioneller Wir/sie-Unterscheidungen.“ (11)

Man fällt zurück in das schon von Carl Schmitt artikulierte Freund-Feind-Schema und setzt auf diese Weise den Kalten Krieg unter neuen Bedingungen fort.

Ein roter Faden ist die Einigkeit der Autorinnen und Autoren, dass wir es mit einer marktradikalen Form der Globalisierung zu tun haben (12). Als Hoffnungsschimmer wird gesehen: eine funktionierende Medienwelt, ‚die Medienpluralismus bietet, intermediäre Assoziationen wie Gewerkschaften, Parteien oder Verbände, in denen Menschen so etwas wie Selbstwirksamkeit erfahren können; wirklich linke Parteien, denen es gelingt, die Interessen unterschiedlicher Milieus zu artikulieren, und ein Bildungssystem, das Bildung nicht auf die Bereitstellung von „Humankapital“ und das Auswendiglernen von Pisa-Aufgaben reduziert.“ (12)

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Was ist eine gute Gesellschaft?

Offenbar kann man ausgesprochen fündig werden, wenn man danach fragt, was schlecht ist an unserer Gesellschaft. Möglicherweise liegt dies daran, dass man eher dazu neigt, das Negative und Schlechte zu sehen, als sich über das Gute zu freuen.

Nun gibt es in der Tat etliches, das man an unserer Gesellschaft schätzen kann. Möglicherweise hat man sich nur daran gewöhnt, es für selbstverständlich zu halten. So gibt es eine freie Meinungsäußerung, es gibt eine große Liberalität in der Gesellschaft. So gibt es auch eine politische Sensibilität, etwa dann, wenn immer noch eine Mehrheit der Gesellschaft rechten populistischen Agitationen nicht folgen will. Es gibt auch eine große Sensibilität über die Verfehlungen in der deutschen Geschichte. Es gibt eine funktionierende Demokratie, auch wenn man sich eine bessere Partizipation und eine größere Sensibilität auf der Seite der Machthaber im Hinblick auf die Bedürfnisse der Menschen wünschen kann. Es gibt eine funktionierende Verwaltung und insgesamt muss man sehen, dass auch das Rechtssystem seine Aufgabe erfüllt. Niemand käme ernsthaft auf den Gedanken, grundsätzlich die Rechtsstaatlichkeit in Deutschland infrage zu stellen. In einem späteren Kapitel werde ich auf bestimmte Kriterienkataloge eingehen, die entwickelt worden sind, um Staaten im Hinblick auf die Qualität ihrer politischen Gestaltung zu beurteilen.

Kann man vor dem Hintergrund dieser knappen positiven Beurteilung nunmehr davon sprechen, dass wir es in Deutschland mit einer guten Gesellschaft zu tun haben? Doch was bedeutet dann diese Rede von einer „guten Gesellschaft“ überhaupt?

Zunächst einmal kann man darauf hinweisen, dass sich ursprünglich (und zum Teil in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen bis heute) die Rede von einer „guten Gesellschaft“ auf den sozialen Status bezieht. Man stammt aus einer „guten Familie“, man kennt die Benimmregeln der Oberschicht, d.h. es geht um Herkunft und Geburt, quasi ein Relikt aus den Zeiten der ständischen Gesellschaft.

Die gute Gesellschaft ist also zunächst einmal eine Gesellschaft der Oberschicht, der bürgerlichen Gesellschaft, also möglicherweise des gehobenen Bürgertums. Dieser Gedanke ist insofern interessant, weil man sich dann für die Gepflogenheiten und auch für die moralische Grundhaltung in dieser Gruppe interessieren kann. In der Tat gibt es eine weitreichende Debatte über Bürgerlichkeit. Es gibt die Rede vom ehrbaren Kaufmann, es gibt den moralischen Wertekanon, den Benjamin Franklin seinerzeit formuliert hat und der oft (und zu Unrecht) nur mit einer einzigen These zitiert wird („Zeit ist Geld!“). Es gibt Befürworter eines Bürgertums in einem emphatischen Sinne, so etwa Thomas Nipperdey, wenn er davon schreibt, wie und dass das Bürgertum die Moderne erfand. Es gibt die Rede davon, dass Bildung der Adelsschlag des Bürgertums ist, so etwa Johann Wolfgang von Goethe. Es gibt gut angesehene bürgerliche Tugenden, zu denen Anständigkeit, Zuverlässigkeit und Bescheidenheit gehören:

„ 'Mensch' war man nur, wenn man sich im Kanon zeitgenössischer Kultur „gebildet“ hatte, wenn man der leitbildhaften Mentalität des aufgeklärten, tätigen, nach persönlicher Autonomie strebenden Subjekts entsprechen konnte und die Spannung von Vernunft und Leidenschaft im Medium der Kulturtechniken positiv zu einem „friedlichen“ Charakter zu verarbeiten vermochte.“ (Ruppert 1984, 55).

Es ist dies ein Idealbild eines Bürgers, das aufs engste verbunden ist mit dem Konzept von Bildung, so wie

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es etwa Wilhelm von Humboldt entwickelt hat. Der Bürger ist in diesem Sinne das Idealbild einer voll entfalteten Individualität, das sich nicht ignorant gegenüber den sozialen Zuständen verhält.

Wenn heute von einer Sozialpflichtigkeit des Eigentums im Grundgesetz die Rede ist, dann geht dieser Begriff auf den Tugendkatalog eines emphatisch verstandenen Bürgers zurück.

Allerdings kann auch nicht verschwiegen werden, dass dieses Verständnis vom Bürgertum im Sinne einer Wohlanständigkeit heute kaum noch zu finden ist. Trotzdem bietet es sich als Ideal eines sozialverträglichen Verhaltens und damit durchaus auch als pädagogische Zielstellung an, ohne es auf eine bestimmte soziale Gruppe beschränken zu dürfen. Es ist vielmehr so, dass diese soziale Gruppe, die ursprünglich mit dieser Vorstellung von Humanität gemeint war, in ihrem Verhalten an diesem Bild gemessen werden muss.

Um mehr darüber zu erfahren, was unter einer guten Gesellschaft verstanden werden kann, lohnt ein Blick in das von Christian Kellermann und Henning Meyer herausgegebene gleichnamige Buch (2013). Erhard Eppler schreibt in seinem Vorwort sinngemäß, dass es nicht darum gehe, das Gute einem Schlechten gegenüberzustellen, sondern dass es in der Politik darum gehe, etwas zu verbessern:

„Es geht immer wieder um die gerechtere, humanere, freundlichere, entspanntere, kurz: um die bessere Gesellschaft.“ (9)

Das Buch teilt sich in drei Teile. In einem ersten Teil werden relevante Werte diskutiert, an denen sich eine gute Gesellschaft orientieren sollte. Im Mittelpunkt dieser Wertediskussion stehen der Wert und das Ziel der Gerechtigkeit. Gesine Schwan formuliert knapp:

„Gerechtigkeit heißt somit: gleiche Chance auf ein sinnvolles Leben, gleiches Recht auf Selbstbestimmung, gleiche Freiheit für alle Menschen“ (70).

Es geht um eine materielle Grundsicherung zum Schutz gegen Armut, es geht um die Vermeidung extremer Einkommensunterschiede, es geht um Geschlechtergerechtigkeit und die Integration in den Arbeitsmarkt und es geht nicht zuletzt um die Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Eine Schlüsselstellung in ihrem Verständnis von Gerechtigkeit sieht die Autorin in der Bildung.

Vor diesem Hintergrund diagnostiziert und kritisiert sie eine „utilitaristische Verengung der Bildungsziele“ (71).

Unter Bildung versteht sie Persönlichkeitsbildung, also die Entwicklung von Fähigkeiten, Verantwortung und eine eigenständige Urteilskraft in der Auseinandersetzung mit der Welt und mit Blick auf das Gemeinwesen zu entwickeln (72).

Wichtig ist dabei, dass die Ausgangsbedingungen der Menschen gleich sein müssten. Kritisch wird ihre Analyse dort, wo sie heute „durch Wettbewerbsmanie die Chancengleichheit“ zerstört sieht (83).

Interessant ist also der enge Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit, Bildung und der Schaffung gleicher Bildungschancen.

Der zweite Teil befasst sich mit der Ökonomie, wobei auch hier der Tenor einer Kritik an einem

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neoliberalen Wirtschaftsverständnis dominiert. Es werden einschlägige Passagen aus Papieren der Grundwertekommission der SPD aus dem Jahre 2009 zitiert, bei denen man sich allerdings fragt, inwieweit die praktizierte Wirtschaftspolitik der SPD und insbesondere die Agenda 2010 damit in Einklang gebracht werden können. Offensichtlich spielen die Arbeitsergebnisse der Grundwertediskussion in der realen Politik der SPD keine Rolle.

In einem dritten Teil werden Herausforderungen in der Zukunft unserer Gesellschaft thematisiert. Auch hier steht die Frage der Gerechtigkeit im Mittelpunkt, was insbesondere die Rolle und Entwicklung des Sozialstaates in Deutschland betrifft. Man wird in diesen Grundsatzfragen kaum Unterschiede zur katholischen Soziallehre feststellen, so wie sie etwa von Friedhelm Hengsbach vertreten wird (zum Beispiel in Heitmeyer 1997, Bd. 2, 207ff.). Hengsbach beklagt, dass der Gesellschaftsvertrag der Nachkriegszeit aufgekündigt worden sei und sich nunmehr sozio-ökonomische Verteilungskonflikte erheblich verschärft hätten. Als Basis dieses ursprünglichen Gesellschaftsvertrages sieht er das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit (siehe hierzu auch Frankenberg 1994).

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5. Die gute Wirtschaft

Der Ausgangspunkt

Es soll hier nicht die Frage diskutiert werden, was letztendlich der entscheidende Motor der Menschwerdung war: Religion, Technik, Sprache oder eben auch Arbeit. Es liegt auf der Hand, dass der Mensch im Rahmen der Bewusstwerdung seiner Lebensumstände zu der Erkenntnis gelangt ist, nunmehr sein Leben selbst gestalten zu müssen. Dies erfasst der denkbar weiteste Begriff von Kultur, nämlich die Gestaltungsnotwendigkeit und auch die wachsende Gestaltungsmöglichkeit der Lebensumstände, um das Überleben zu sichern.

Das bedeutet, Lebensmittel zu finden und zu suchen, dies bedeutet Vorratshaltung, dies bedeutet, mit einem entsprechenden Interesse die Umgebung kennen zu lernen, sich in der Welt zu orientieren, entsprechende Fähigkeiten zu entwickeln. Es bedeutet die Entwicklung eines bewussten Verhältnisses zur Zeit, da man erkannt hat, dass bestimmte Nahrungsmittel nicht immer zur Verfügung stehen. Das bedeutet das Sammeln von Erfahrungen im Umgang mit wilden Tieren und ihren Lebensgewohnheiten, wenn man erfolgreich bei der Jagd sein will.

Es wurde oben bereits erwähnt, dass der Mensch den überwiegenden Teil seiner Geschichte als Jäger und Sammler verbracht hat. Auch beim Jagen und Sammeln als Basis der Existenzsicherung muss ein „ökonomisches Prinzip“ angelegt werden: nämlich mit den vorhandenen oder zu erwerbenden Ressourcen so umzugehen, dass die Existenz auf Dauer gesichert ist.

Im strengen wortgetreuen Sinne kann man hierbei nicht das griechische Wort Ökonomie verwenden, denn dieses ist eine Zusammensetzung des Wortes oikos (Haus) und des Wortes Nomos (Regel, Gesetz). Der griechische Begriff bezog sich also auf die Hauswirtschaft, die man mit einer gewissen Strenge als Privatbereich von dem öffentlichen Handeln in der Polis unterschieden hat.

Jäger und Sammler waren jedoch Nomaden. Ein Haus im Sinne der Griechen gab es erst mit der Sesshaftigkeit und dem Übergang zur Landwirtschaft, zu Ackerbau und Viehzucht. Jäger und Sammler waren also Nomaden. Nomadenvölker gibt es heute noch, allerdings leben sie weniger von der Jagd, sondern man findet sie etwa bei den Hirtenvölkern in Asien, wenn sich kleine Gruppen von Menschen daran orientieren, wohin sich ihre halb domestizierten Herden auf der Suche nach Nahrung hin bewegen.

Mit der Niederlassung der Menschen ergaben sich neue soziale, politische, kognitive, emotionale und ökonomische Herausforderungen. Es ging um einen anderen Umgang mit Raum und Zeit, wenn man auf Dauer das Land landwirtschaftlich nutzen wollte. Es ist diese Situation, die Rousseau in seiner berühmten, oben zitierten Eingangsformulierung beschrieben hat: die Entstehung von Eigentum. Dabei darf man nicht übersehen, dass es von Anfang an (und zum Teil bis heute: Allmende) ein vom Stamm gemeinsam genutztes Land gegeben hat. In diesem Fall musste man neue Methoden entwickeln, Lebensmittel haltbar zu machen. Es ergeben sich Verteilungsprobleme, man musste auf eine andere Art miteinander auskommen als bei Jäger- und Sammlergesellschaften. Sicherlich stellte sich auch das

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Problem der Verteidigung des eigenen Landes auf eine neue Weise. Auch werden andere Formen der religiösen Welterklärung relevant, denn Viehzucht und Ackerbau brauchen andere Götter mit anderen Zuständigkeiten als Jäger und Sammler. Man sammelt neue Erfahrungen mit den Jahreszeiten und dem Wetter. In Ägypten, wo der Nil mit seinen regelmäßigen Überschwemmungen sowohl die Quelle von Nahrung, aber auch die Ursache von Zerstörung sein konnte, entwickelte man bald eine hohe Kompetenz in der Landvermessung und in der Astronomie.

In diesem Prozess des Überlebens kann man davon ausgehen, dass einzelne Mitglieder der Gruppe oder des Stamms besondere Fähigkeiten entwickeln, was zu einer Spezialisierung und nicht zuletzt auch zu einer Arbeitsteilung führte. Arbeitsteilung bedeutet einen bestimmten Grad an Organisiertheit des Lebensgewinnungsprozesses. Dies wiederum bringt neue Anforderungen an die Persönlichkeitsstruktur und an die soziale und politische Organisation der Gruppe sich. Organisiertheit wird daher zu einer eigenständigen Produktivkraft, ganz so, wie es etwa in den Darstellungen von Günter Dux oder Michael Mann beschrieben wird:

– Arbeitstätigkeiten erzwingen eine bestimmte soziale Organisationsform und eine Reflexion darüber. Zusammen mit der Arbeit entstehen theoretische (und ideologische) Entwürfe als geistige Flankierung.

– Von der Arbeitstätigkeit nicht zu trennen ist die Genese der Subjekte (besser: der Subjektivität) mit ihren Kompetenzen, Visionen, Fantasien, Sorgen und Nöte.

– Die Arbeitstätigkeit produziert die materielle Kultur, die gegenständliche Seite des Lebens.

– Die Arbeitstätigkeit trägt zur gesellschaftlichen Entwicklung bei. Sie erfordert Werte und Normen und sie schafft diese.

Arbeitsteilung und Spezialisierung bedeuten, dass der betreffende Mensch von einem bestimmten Gut mehr herstellt, als er selber verwenden kann. Dafür fehlen ihm andere Dinge, die er zur Erhaltung seines Lebens benötigt. Dies bedeutet, dass er tauschen muss. Auch hierbei ist es einsichtig, dass zunächst in der kleinen Gemeinschaft, in der sich jeder mit seinen Spezialisierungen kennt, Produkt gegen Produkt getauscht wird.

Im Rahmen einer genetischen Geldtheorie lässt sich zeigen, wie dieser zunächst auf zwischenmenschlicher Basis funktionierende soziale Akt des Tauschens konkreter Dinge zunehmend abstrakter wird. Man einigt sich irgendwann darauf, die unterschiedlichsten Dinge nur auf ein einziges Ding zu beziehen (Muscheln, bestimmte Tierarten etc.). Es entwickeln sich organisierte Gelegenheiten zum Tausch: die Märkte. Und es entwickelt sich das, was man später Geld nennt.

Geld hat dabei verschiedene Funktionen: Es ist ein allgemeines Tauschmittel, es ist ein Wertmesser, es ist eine Recheneinheit und es dient der Wertaufbewahrung. Man unterscheidet nunmehr einen Gebrauchswert, also die nützlichen Eigenschaften des zu tauschenden Gegenstandes, von einem Tauschwert. Produktion und Distribution trennen sich, sodass der Markt ein zentrales organisierendes Prinzip wird. Damit werden die Produkte mit ihrem Gebrauchswert zu Waren mit einem Tauschwert.

Die Analyse des Kapitalismus von Marx basiert darauf, dass letztlich auch die Arbeitskraft des Menschen als eigentlicher Produktivkraft zu einer Ware wird, die auf einem entsprechenden (Arbeits-)Markt

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getauscht wird („Arbeitswertlehre“). Nunmehr trennen sich die Bereiche der Produktion, der Distribution und der Zirkulation und es geschieht das, was Marx eindrucksvoll in seinem berühmten Zitat beschreibt:

„Die Sphäre der Zirkulation oder des Warentausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der angeborenen Menschenrechte. Was alleine hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum, und Bentham. Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, zum Beispiel der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontraktieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das seine. Bentham! Denn jedem von den beiden ist es nur um sich zu tun. Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigennutzes, ihre Sondervorteils, ihrer privaten Interessen. Und eben weil so jeder nur für sich und keiner für den anderen kehrt, vollbringen alle, infolge einer prästabilisierten Harmonie der Dinge, oder unter den Auspizien einer altpfiffigen Vorsehung, nur das Werk ihres wechselseitigen Vorteils, des Gemeinnutzes, des Gesamtinteresses. Beim Scheiden von dieser Sphäre der einfachen Zirkulation oder des Warentausches, woraus der freie Händler vulgaris Anschauungen, Begriffe und Maßstab für sein Urteil über die Gesellschaft des Kapitals und der Lohnarbeit entlehnt, verwandelt sich, so scheint es, schon in etwa die Physiognomie unserer dramatis personae. Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als ein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andere scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigene Haut zu Markte getragen und nun nichts anderes zu erwarten hat als die Gerberei.“ (MEW 23, 189 f.)

Es ist ersichtlich, dass Marx hier nicht nur in überspitzter Weise die immanente Logik des Warentausches beschreibt, sondern in einem Aufwasch klassische Theorien der Nationalökonomie wie etwa die von Adam Smith ironisiert und die Fehlerhaftigkeit klassischer ökonomischer Theorien aufgrund ihrer Perspektivverschränkung karikiert.

Auch auf der Basis dieses kurzen Abrisses über das ökonomische Handeln auf einer frühen Stufe der menschlichen Entwicklung kann man die zentrale Rolle der Arbeit bei der Anthropogenese für plausibel halten. Arbeit als handelnde Gestaltung der Umwelt dient also sowohl der Existenzsicherung, sie ist zugleich der Anlass für die Entwicklung spezifisch menschlicher Fähigkeiten. Rund um die Arbeit entwickeln sich soziale und politische Ordnungsformen ebenso wie Formen einer geistigen und auch spirituellen Erklärung der Welt. Zu erinnern ist etwa an eine Schöpfungsgeschichte und insbesondere an die Vertreibung aus dem Paradies, wenn nämlich der Mensch nunmehr als Strafe für einen Regelverstoß „im Schweiße seines Angesichts“ sein Leben sichern muss. Auch dies ist also ein geschichtlicher Topos, Arbeit als Strafe aufzufassen, ganz so wie es die Wortwurzel des französischen Begriffs aussagt, der die Arbeit in die Nähe von Folter bringt.

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Jede philosophische Anthropologie muss daher Arbeit und mit ihr zusammen das Wirtschaften als Teil der kulturellen Verfasstheit des Menschen berücksichtigen. Bei Ernst Cassirer (1990) gehört Wirtschaft neben Technik, Wissenschaft, Mythos, Religion, Sprache, Kunst und Politik zu dem Tableau der symbolischen Formen, die sich im Zuge der Menschwerdung entwickelt haben und die auch notwendig sind, um Mensch zu sein:

„Bei Menschen treffen wir allerdings, anders als bei den Tieren, auf Gesellschaftlichkeit nicht nur im Handeln, sondern auch im Denken und Fühlen. Sprache und Mythos, Kunst Religion und Wissenschaft sind die Elemente und konstituieren Bedingungen dieser höheren Form von Gesellschaft (…), die des gesellschaftlichen Bewusstseins (…). Nur im Medium des gesellschaftlichen Lebens kann sich der Mensch finden, sich seiner Individualität bewusst werden.“ (Cassirer 1990, 138)

Eine Anthropologie des Wirtschaftens ist daher notwendigerweise mit einer Anthropologie der Arbeit und diese wiederum mit einer Anthropologie des Sozialen verbunden. Die Geschichte des Menschen kann daher zwanglos auch als Geschichte der Arbeit beschrieben werden:

„In der Arbeit kreuzen sich Herrschaft und Befreiung, Mühsal und Genuss, Entfremdung und Selbstverwirklichung, Entwicklung und Nicht-Entwicklung, Notwendigkeit und Freiheit. In der Arbeit gestalten sich sowohl die Verhältnisse der Menschen zur außermenschlichen Natur als auch diese untereinander und zum Kapital. Indem Arbeit sich in einem antagonistischen Kräftefeld entfaltet, wird sie aus einer Triebkraft für menschliche Entwicklung zugleich deren Schranke.“ (So Frigga Haug in Haug 1994, 402)

Nun geht es in dem vorliegenden Text nicht um eine Anthropologie der Arbeit und auch nicht um eine Geschichte des Wirtschaftens oder insgesamt von Marktgesellschaften und ihren Theorien (siehe etwa das Kapitel „Wirtschaft als Kultur“ in Fuchs 2011, 67 ff. mit der dort angegebenen Literatur). Es geht vielmehr um die aktuelle Wirtschaftsordnung in Deutschland, um den Kapitalismus.

Der Kapitalismus als spezifische Wirtschaftsordnung

Der Historiker Jürgen Kocka (2015) erinnert daran, dass der Begriff des Kapitalismus zunächst einmal ein kontroverser Begriff ist. Erst nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes verwendet man ihn wieder. In den Zeiten vorher hat man versucht, ihn durch Begriffe wie Marktwirtschaft oder speziell Soziale Marktwirtschaft, eine liberale Wirtschaftsordnung oder Ähnliches zu ersetzen. Diese Bemühungen gingen so weit, dass es sogar Bestrebungen gegeben hat, diese Wirtschaftsordnung im Grundgesetz als verbindlich für Deutschland festzulegen.

Der Begriff des Kapitalismus ist ein relativ junger Begriff. Karl Marx verwendet ihn kaum, obwohl er ein Buch über „Das Kapital“ geschrieben hat. Dieser Begriff wiederum ist aus der Sprache der Kaufleute genommen worden, so wie er spätestens im frühen 16. Jahrhundert auftritt (Kocka 2015, 6). Man bezeichnete damit investiertes oder verliehenes Geld, das eben nicht konsumiert oder gehortet wird, sondern das man investiert, um mit hergestellten Produkten neue Gewinne zu erzielen. Im späten 18.

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Jahrhundert, so Kocka, werden Kapitalisten immer häufiger zunächst im Unterschied, dann im Gegensatz zu Arbeitern als eigene Klasse gesehen. Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt man – zunächst bei den Frühsozialisten in Frankreich (Louis Blanc) –, von „Kapitalismus“ zu sprechen. Es war schließlich das große mehrbändige Werk von Werner Sombart über den "modernen Kapitalismus“, das wesentlich zur Einbürgerung dieses Begriffs beigetragen hat.

Kocka nennt Karl Marx, Max Weber und Josef Schumpeter als drei Klassiker im Bereich der Theorie des Kapitalismus. Damit ist man allerdings bereits im 20. Jahrhundert gelandet. Daher ist es wichtig, an die Vorläufer zu erinnern. So spricht man bereits in der Renaissance von einem Handels- und Kaufmannskapitalismus, so wie er etwa von dem französischen Historiker Fernand Braudel umfassend dargestellt wurde. Diese Frühkapitalisten waren weltoffene Menschen, die mit ihrem Handel nicht bloß Güter und Waren tauschen, sondern die zugleich für den Austausch von Ideen sorgten. Dieser Welthandel im Rahmen einer frühen Globalisierung – man denke etwa an die Chinareisen von Marco Polo – kann also auch als Kultur in einem emphatischen und normativen Sinne verstanden werden. Natürlich wollten diese Menschen auch Geld verdienen, sie waren sich aber auch ihrer kulturellen Rolle bewusst. Diese Intensität des Handels und insbesondere die unersetzbare Rolle des Meeres als Transportgelegenheit führten auch zu einem anderen Verständnis von Geographie. So gibt es gute Gründe, den Mittelmeerraum zusammen mit den drei Kontinenten, die er umschließt, jenseits aller politischen Grenzen als einheitlichen Kulturraum zu betrachten (Braudel 2001).

Doch wie ging es weiter mit dem Kapitalismus? Natürlich gibt es eine enge Verbindung zwischen der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft in Europa, der Industrialisierung und der Herausbildung des Kapitalismus als Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Im Bereich der theoretischen Durchdringung muss man allerdings eine zunehmende Verengung der Perspektive feststellen. Aus einer frühen Politischen Ökonomie, also einer engen Verbindung von Politik und Wirtschaft, so wie sie in der Frühzeit des modernen politischen Denkens zunächst von allen und bis heute zumindest noch von einigen Wissenschaftlern vertreten wird, wurde schließlich eine positivistisch verengte und mathematisierte Forschungsrichtung, gegen die als etablierter Mainstream inzwischen nicht bloß eine größere Zahl von Fachvertretern, sondern eine wachsende Zahl von Studierenden aufbegehrt (Brodbeck 2013).

Eine Geschichte des ökonomischen Denkens der Moderne beginnt mit den großen politisch-ökonomischen Systemen des Merkantilismus aus, des Kameralismus und der Physiokratie. Es gibt im 18. Jahrhundert die klassische Politische Ökonomie mit dem bedeutenden Werk von Adam Smith und eine zunehmende Verwissenschaftlichung im 19. Jahrhundert. Es entstehen die Alternativentwürfe aus einer sozialistischen Perspektive und damit ein bis heute andauernder Konkurrenzkampf unterschiedlicher Theoriemodelle.

Neben den drei oben genannten Namen (Max Weber, Werner Sombart, Josef Schumpeter) entstehen als große Ansätze (so etwa die Issing 2002) die historische Schule, die Anhänger von Keynes, der Ordoliberalismus und die Neoklassik. Zudem wird seit dem Jahr 1969 ein Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften vergeben, vor allem an amerikanische Forscher, die eine Variante des Mainstreammodells des Neoklassizismus vertreten.

Diese Vielzahl an Theorien korrespondiert mit einer Vielzahl unterschiedlicher Ausformungen realer

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kapitalistischer Wirtschaftssysteme. Man spricht von „Varieties of capitalism" (Hall 2001).

Der aktuelle Neoliberalismus

Für die einen, insbesondere die Vertreter der Mainstream-Ausrichtung volkswirtschaftlichen Denkens, ist der Begriff des Neoliberalismus ein ideologischer Kampfbegriff. Nur ungern fühlt man sich daran erinnert, dass es bereits einmal in der historischen Entwicklung eine Gruppe von Ökonomen gab, die sich selber als Neoliberalisten bezeichneten. Man kritisierte seinerzeit den „Manchester Kapitalismus“, eine durch staatliche Regelungen wenig gestörte Form kapitalistischen Wirtschaftens, so wie sie insbesondere in England und in den Vereinigten Staaten praktiziert wurde und der man die Schuld an der großen Wirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre gab. Man forderte dagegen ein starkes Kartellrecht, damit ein freier Markt auf der Basis einer umfassenden Konkurrenz diejenigen Kräfte entfalten kann, die bereits Adam Smith (als Moralphilosoph) beschrieben hat. Es gab ein Lob des Handwerks, man wollte keine allzu großen Städte und eine Förderung des Mittelstandes.

Allerdings gab es auch eine andere Strömung, die heute in engerem Sinne zu dem Neoliberalismus gezählt werden muss und die in den Exilösterreichern von Mises und von Hayek ihre Vordenker hatte. Politisch handelt es sich bei diesen Vertretern um einen durchaus gemischten Kreis von Denkern: Alfred Mueller-Armack blieb in Nazideutschland und erlangte sogar hohe Funktionen in der Kriegswirtschaft, andere wie Alexander Rüstow verließen als Konservative und ohne äußere Notwendigkeit Nazideutschland. Die neue türkische Regierung unter Kemal Atatürk nahm viele dieser Flüchtlinge auf. Man spricht von einem „autoritären Liberalismus“ (Haselbach 1991).

Die Grundlinien dieses Ansatzes sind in Kürze:

– Marktwirtschaft ist das bislang beste System zur Verwirklichung von Solidarität.

– Wettbewerb ist der Kern.

– Eigeninteresse hat „Wohlstand für alle“ (so Ludwig Ehrhardt) zur Folge.

– Gewinnerzielung ist nicht unsittlich, Pflicht.

– Markt ist die beste Form von Caritas.

– Markt ist demokratisch.

– Entlassungen müssen manchmal sein, sonst wird der Wettbewerb zerstört.

– Sozial ist, was Arbeit schafft.

– Die regulierte Märkte schaffen Arbeit.

– Markt und Wettbewerb sind praktizierte Nächstenliebe.

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Man sieht, dass in diesem Ansatz Gier gerade nicht als Leitprinzip propagiert wird, sondern dass man diese Form einer liberalisierten Marktwirtschaft auch als beste Möglichkeit sah, einen Sozialstaat zu realisieren. Nach wie vor schwingt also in diesen Argumentationen mit, was am Anfang der Theorienbildung – etwa bei Adam Smith – eine Grundmotivation war: nämlich ein moral- und sozialphilosophisches Interesse an einer guten Ordnung der Gesellschaft und ihrer Wirtschaft.

Die Idee (und Ideologie) der Sozialen Marktwirtschaft („Rheinischer Kapitalismus“) hat in diesen Ansätzen verbunden mit Elementen der katholischen Soziallehre ihre Wurzeln.

Insgesamt muss man feststellen, dass die Erwartungen der Sozialisten, der Kapitalismus würde sich aufgrund eigener immanenter Widersprüche selbst zerstören, nicht erfüllt haben und sich vermutlich auch nicht erfüllen werden. Der Kapitalismus hat sich vielmehr nicht bloß als außerordentlich produktiv im Hinblick auf die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen erwiesen, so wie Marx und Engels dies durchaus mit Bewunderung immer wieder beschrieben haben. Er hat sich auch als ausgesprochen wandlungsfähig gezeigt. Es gibt immer wieder eine Erneuerung des „Geistes des Kapitalismus“ (so in Anlehnung an Max Weber und Boltanski/Chiapello 2003). Insbesondere zeigt sich, dass es dem Kapitalismus immer wieder gelingt, Kritik an bestimmten Ausformungen zu integrieren. Dies gilt etwa im Hinblick auf den Gedanken der Individualität, denn man findet durchaus Formulierungen einer Entwicklung individueller Freiheit in diesem Kontext. Allerdings findet ein solcher Ansatz in den letzten Jahren in zunehmendem Maße kritische Gegenpositionen, auch aufgrund der nicht mehr zu verdeckenden Probleme, die er geschaffen hat:

„Die Apostel des neuen Kapitalismus behaupten, dass ihre Version der drei Grundthemen – Arbeit, Qualifikation, Konsum – für größere Freiheiten der Gesellschaft sorgen (…). Institutionen, Qualifikation und Konsummuster haben sich in der Tat verändert. Ich behaupte vielmehr, dass diese Veränderung den Menschen keine Freiheit gebracht haben.“ (Sennett 2005, 15).

Woran kann man neoliberale Tendenzen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen heute festmachen? Einige Stichworte folgen, die zu einem großen Teil den Abbau des Sozialstaats betreffen. Daher zunächst eine Definition:

„Sozialstaat nennt man einen Staat, in dem jedermann eine menschenwürdige Existenz finden kann und der dafür sorgt, dass niemand aus sozialen Gründen von der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt wird. Sozialstaatlichkeit fordert vom Staat, dass er alle seine Bürger wirtschaftlich integriert, ihnen eine gewisse Chancengleichheit bietet und Wohlstandsunterschiede verringern. Das Recht auf Arbeit und Berufsausbildung ist eines der wichtigsten Elemente der Sozialstaatlichkeit. Es gehörte schon zur Zeit der Gründung der Bundesrepublik zu den allgemeinen Menschenrechten. Das Sozialstaatsgebot nach Art. 20, Abs. I des Grundgesetzes gehört wie die Bundesstaatlichkeit zu den elementaren Prinzipien des Grundgesetzes, die selbst mit Zweidrittelmehrheit nicht abgeschafft werden können.“ (Afheldt 1995,

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11).

Unter den verschiedenen neoliberalen Positionen kann man die folgenden Gemeinsamkeiten feststellen:

– Flexibilisierung der Arbeitsgesellschaft,

– Vermarktlichung des Sozialstaates,

– Ökonomisierung der alltäglichen Lebensführung.

Das bedeutet im Einzelnen (ich folge Fuchs 2018, 63 ff.):

Wirtschaftsordnung

Abbau sozialer Sicherungssysteme, Stärkung der Eigenverantwortung, Abbau von staatlichen Regularien: Deregulierung, Freihandel (bei Beibehaltung eines deutlichen Protektionismus), Abbau von Schutzregeln im Arbeitsrecht, Lockerung des Kündigungsschutzgesetzes, Rückbau von Mitbestimmung, Reduzierung der Macht der Gewerkschaften, Lockerung der Kartellgesetzgebung, keine Vollbeschäftigungsgarantie.

Wohlfahrtsstaat

Der Sozial- und Wohlfahrtsstaat soll in seinen Ausprägungen bekämpft werden. Stichworte sind zu hohe Lohnnebenkosten, Standortnachteil im internationalen Wettbewerb, Denunziation der potentiellen Nutzer des Sozialstaates („soziale Hängematte“). Esping-Anderson spricht von „drei Welten“ des Sozialstaates: das skandinavische, das kontinentale und das angelsächsische Modell, jedes basierend auf einer spezifischen kulturellen Tradition des Helfens und des Staates

Kulturpolitik

Rückbau öffentlicher Verantwortung, mehr privatwirtschaftliche Strukturen, Kunst und Kultur als Dienstleistungen im Sinne der Europäischen Union und der Welthandelsorganisation, Widerstand gegen die Konvention zur kulturellen Vielfalt der UNESCO

Sozialpolitik und Sozialpädagogik

Alle öffentlichen Aufgaben kommen „auf den Prüfstand“, das zentrale Versprechen einer Integration in die Arbeitsgesellschaft wird nicht mehr aufrechterhalten. Sozialpädagogik gilt nur noch als Reparaturinstanz für Einzelne, es dominiert der Dienstleistungsgedanke, Projekte werden gegenüber nachhaltigen Strukturen vorgezogen. Gesellschaftsbereiche werden „kommodifiziert“, also bloß in ihrem Warencharakter betrachtet.

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Bildungspolitik

Dominanz ökonomischer Orientierungen in der Bildungspolitik, etwa Hervorheben des Qualifikationsaspekt des zuungunsten allgemeiner Persönlichkeitsentwicklung. Durchsetzung der Quantifizierung und Messbarkeit (PISA), Neue Steuerung in Schule und Hochschule, Eroberung der Bildungsinhalte durch Ökonomie Humankapital, employability

Gesellschaftsvorstellungen

Individualisierung und Pluralisierung, Individualisierung im Sinne einer Verlagerung gesellschaftlicher Risiken auf den Einzelnen, Etablierung von Ich-AG‘s, Entsolidarisierung, gesellschaftstheoretische Aushöhlung klassischer Begriffe (Widerstand gegen den Klassenbegriff, Neudefinition von Gerechtigkeit, Kulturalisierung der Gesellschaftstheorie)

Menschenbild

Man wünscht sich den „flexiblen Menschen“ (im Sinne von Richard Sennett), der Mensch als Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft. Der homo oeconomicus als Leitbild

Staat und Politik

Rede vom Ende des Nationalstaates, neue globale (ökonomische) Ordnungsformen, der Staat in einer Schrumpfform wird als Unternehmen gedacht (New Public Management, Neue Steuerung), Dienstleistungsorientierung, Umwandlung des Wohlfahrtsstaates in einen international agierenden „nationalen Wettbewerbsstaat“ (Joachim Hirsch), neue Rolle von Netzwerken, neue Rolle übernationaler Instanzen (wie Europäische Union, Welthandelsorganisation, Internationaler Währungsfonds etc.)

Weltordnungssysteme

Neue Konflikte aufgrund imperialistischer Tendenzen im Neoliberalismus, Globalisierung als Nivellierung, neue Sicherheitsrisiken (Terrorismus), was zum Abbau liberaler Grundrechte führt (patriot act in den Vereinigten Staaten, neue Polizei- und Sicherheitsgesetze in Deutschland)

Wissenschaft

Ökonomisierung und Taylorisierung der Hochschule (Bologna Prozess), endgültiger Abbau humboldtscher Ideen einer Freiheit von Lehre und Forschung, strikte Funktionalisierung der akademischen Lehre, Dominanz der Drittmittelforschung, Überschreitung moralischer Grenzen (Gentechnologie, Biowissenschaften, Neurowissenschaften), letztgenannte Wissenschaften werden zu neuen Leitdisziplinen

Kunst und Kultur

Marktorientierung, sichtbar an Events, Projektorientierung, Durchsetzung des Erlebnischarakters und Kunstrezeption, Rückbesinnung auf das Eigene: „Leitkultur“, klassische Gerechtigkeitsvorstellungen werden abgeschafft, neoliberale Neudefinition im Rahmen eines „Dritten Weges“ (Schröder-Blair-Papier, Agenda 2010), Distanz zur klassischen katholischen Soziallehre, Abschied vom Rheinischen Kapitalismus,

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Widersprüche zwischen Wirtschafts- und politischem Liberalismus.

Es werden folgende globale Trends diagnostiziert: umstrittene Handelsabkommen wie TTIP, Probleme bei der weltweiten Energieversorgung, Landflucht, Einfluss des Klimawandels auf Landwirtschaft, Probleme mit menschenwürdiger Arbeit, Auslagerung von Arbeit in menschenunwürdige Fabriken in Indien, Pakistan, China etc.

Einige weitere Herausforderungen

Mit einiger Willkür kann man zumindest drei Themen aus diesen Entwicklungstendenzen heraus destillieren, die eine neue Relevanz und Brisanz entwickeln: die Frage nach der Gerechtigkeit, der Zusammenhang zwischen Wachstum und Wachstumsideologie auf der einen Seite und ökologischen Fragen auf der anderen Seite und die Durchsetzung eines neuen Menschenbildes.

In einer parlamentarischen Demokratie wird Freiheit als zentraler Wert politischen Handelns nach wie vor hochgehalten. Nach wie vor gibt es auch ein funktionierendes Rechtssystem, das den Einzelnen vor willkürlichen Eingriffen durch den Staat schützt. Man muss allerdings auch sehen, dass es in der Geschichte der Bundesrepublik zu einer ständigen Demontage auch der Freiheitsrechte gekommen ist. Man argumentiert mit einer bedrohten Sicherheit, etwa der Gefahr durch mögliche Terrorangriffe, um die Freiheitsrechte des Einzelnen zu begrenzen und die Machtbefugnisse der Sicherheitskräfte zu steigern. Es ist also eine ständige Wachsamkeit gefordert, dass auch der demokratische Staat sich nicht dem Bürger gegenüber verselbstständigt.

Im Hinblick auf die Visionen der Moderne, so wie sie in dem Slogan der Französischen Revolution (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) formuliert wurden, ist folgendes feststellen.

Gleichheit wird nach wie vor in demokratisch konstituierten Gesellschaften im Rahmen einer Gleichheit vor dem Gesetz und einer politischen Gleichheit nicht bestritten, auch wenn angesichts des zunehmenden Finanzaufwandes bei Wahlen, insbesondere bei Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten, der Kontakt der Kandidaten bzw. Parteien zu finanzkräftigen Spendern aus der Wirtschaft ein Problem ist. Man kann durchaus das Gefühl haben, dass verschiedene Gruppen in der Gesellschaft einen unterschiedlich starken Einfluss auf die jeweilige politische Gestaltung haben, denn wie sonst könnte man sich das Verhalten etwa der Bundesregierung gegenüber der Automobilindustrie bei der aktuellen Frage eklatanter und erwiesener Betrügereien und Gesetzesverstößen erklären. In ökonomischer Hinsicht erwartet heute keiner ernsthaft eine absolute Gleichheit, sondern man akzeptiert gewisse Unterschiede beim Einkommen und im Vermögen. Auch aktuelle liberale Gerechtigkeitstheorien wie die von John Rawls fordern keine absolute Gleichheit, sondern sie akzeptieren ein gewisses Maß an Ungleichheit, sofern die Gemeinschaft insgesamt davon profitiert.

Die Frage ist allerdings, welche Höhe und welches Ausmaß diese Ungleichheit erreichen darf. Wenn immer neue Studien veröffentlicht werden, bei denen gezeigt wird, dass eine Handvoll Milliardäre über mehr Vermögen verfügt als eine höhere zweistellige Zahl der ärmsten Länder der Welt, dann ist es wahrscheinlich, dass das Maß einer ertragen Ungleichheit weit überschritten wird. Gravierende

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Unterschiede gibt es auch zwischen dem Pro-Kopf-Einkommen zwischen den reichen Industrienationen und den ärmsten, nichtindustrialisierten Nationen. So betrug das Verhältnis zwischen den reichsten und ärmsten Nationen vor etwa 250 Jahren vielleicht das Verhältnis von fünf zu eins, heute beträgt dieses Verhältnis 400 zu eins (Landes 2010, 16). Ähnliche oder sogar noch dramatischere Relationen gibt es zwischen den Spitzengehältern und Vorstandsmitgliedern großer Unternehmen und dem Durchschnittseinkommen der normalen Mitarbeiter desselben Unternehmens. Eine Begründung dafür wird mit der hohen Leistung der Betreffenden zwar gelegentlich in der Öffentlichkeit gegeben, doch wird dies dann ad absurdum geführt, wenn Vorstandsmitglieder auch dann hohe Bonuszahlungen bekommen, wenn sie wegen erwiesener Unfähigkeit oder sogar wegen Gesetzesverstößen und Betrügereien entlassen werden.

Das Leistungsprinzip, das in früheren Zeiten ein emanzipatorisches Prinzip der entstehenden bürgerlichen und kapitalistischen Gesellschaft war, wird durch die Verfahrensweisen der aktuellen Gesellschaft außer Kraft gesetzt.

In allen Gesellschaften hat es immer schon eine gewisse Form von Armut gegeben. Als aktuelles Thema wird Armut in Deutschland spätestens seit Mitte der 1990er Jahren diskutiert und taucht auch in regierungsoffiziellen Sachstandsberichte wie etwa dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung oder den Kinder- und Jugendberichten des Bundes als Problem auf. Es besteht heute kein Zweifel daran, dass die neoliberale Agenda 2010 der grün-roten Koalition eine zentrale Ursache für diese Entwicklung ist.

Gravierende Verstöße gegen den Gleichheitsgrundsatz sind daher aufs engste verbunden mit Fragen der Gerechtigkeit. In der Tat ist Gerechtigkeit zu einem zentralen Thema sowohl in der philosophischen und wissenschaftlichen Reflexion und Forschung, aber auch in der praktischen Politik geworden. Natürlich ist dieses Thema kein neues Thema, sondern man kann vielmehr das politische Denken seit der griechischen antiken Frühzeit als Suche nach einer gerechten Ordnung interpretieren. So beginnt Felix Heidenreich (2011) seine Darstellung der Theorien der Gerechtigkeit mit Gerechtigkeitsvorstellungen in Ägypten und Israel und geht dann über die Vorsokratiker zu den Ansätzen von Platon und Aristoteles. Beide Philosophen entwickeln eine Idee eines gerechten Gemeinwesens als Verkörperung einer „Idee des Guten“, so wie sie sie verstehen. Aristoteles bringt zusätzlich den Gedanken der Tugend als wesentliche Voraussetzung für die Gestaltung eines guten Gemeinwesens ins Spiel. Cicero ist der Theoretiker der Pflicht, die der Einzelne in seinem täglichen Leben gegenüber der res publica zu übernehmen hat.

Die mittelalterlichen Überlegungen zur Gerechtigkeit sind verständlicherweise christlich geprägt, wobei es nicht bloß um die Gerechtigkeit der Menschen geht, sondern insbesondere bei dem Problem der Theodizee, also bei der Frage, inwieweit ein gerechter Gott so viel Unheil auf der Welt zulassen kann, geht es auch um die Gerechtigkeit Gottes.

Das Nachdenken über die Politik löst sich seit der frühen Neuzeit von religiösen und theorielogischen Erwägungen und wird in der Moderne zu der Frage, inwieweit Gerechtigkeit „machbar“ wird. Es geht um Techniken eines pragmatisch guten Staatshandelns, so wie es von Machiavelli über Hobbes, Rousseau und Kant bis heute diskutiert wird.

Unter den aktuellen Debatten bezieht sich Heidenreich auf den schon erwähnten Rawls, auf

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Kommunitaristen die McIntyre und Walzer, auf Axel Honneth und nicht zuletzt auf Amartya Sen.

Als entscheidende Ursache der aktuellen Konjunktur der Gerechtigkeitsdebatten führt er die oben genannten neoliberalen Tendenzen an, also die Abkehr von dem klassischen Modell der Sozialen Marktwirtschaft, das nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland als ideale Synthese von Marktmechanismen und staatlicher Intervention unter dem Aspekt von Gerechtigkeit galt. Sein Fazit aus einem Durchgang durch die Geschichte von Gerechtigkeitstheorien klingt eher bescheiden: Das Kämpfen um ein angemessenes Verständnis von Gerechtigkeit in einer konkreten Gesellschaft sieht er nämlich als politisches Diskursproblem:

„Die Theorien der Gerechtigkeit stehen dann nicht über dem demokratischen Prozess, werden durch diesen jedoch auch nicht obsolet. Moral- und Rechtsphilosophie sowie politische Theorie bieten, so betrachtet, keine fertigen Antworten, helfen jedoch, die Frage präziser, differenzierter oder ganz neu zu stellen. Die Debatten um Gerechtigkeit sind damit nicht beendet, aber ihre Voraussetzungen transparenter.“ (231)

Bei anderen Autoren finden sich Typologien von Gerechtigkeitskonzeptionen, etwa egalitäre und nichtegalitäre Varianten sowie gemeinwohlorientierte oder individualistische Konzeptionen (siehe etwa Ebert 2010, 125 f.).

Im Rahmen der ökonomischen Wissenschaft war es durchaus eine Sensation, als der indisch-amerikanische Wohlfahrts-Ökonomen Amartya Sen den Nobelpreis bekam und damit die Phalanx der neoklassischen Ansätze durchbrochen hat. Sein zentrales Thema ist die Verbindung von Freiheit und Gerechtigkeit mit einer wirkungsvollen ökonomischen Grundordnung der Gesellschaft. Er hat zusammen mit Martha Nussbaum den Capability Approach entwickelt, bei dem es um die Bereitstellung von Verwirklichungschancen in der Persönlichkeitsentwicklung geht. Sen ist ein Verfechter einer freien Marktwirtschaft und plädiert sehr stark mit nachvollziehbaren empirischen Argumenten dafür, dass eine freie und demokratische Grundstruktur in einer Gesellschaft die beste Voraussetzung dafür ist, dass Wohlstand entstehen kann, wobei er aufgrund seiner indischen Herkunft nicht nur westliche Traditionslinien der Gerechtigkeitsdiskurse, sondern auch außereuropäische Denktraditionen mit berücksichtigt. Sen argumentiert für einen Rückbezug der ökonomischen und politischen Theorien auf die Bildung und die Befähigung der einzelnen Person, wobei er die Bedürfnislage dieser Person auf der Basis der mit Martha Nussbaum zusammen entwickelten „schwachen Anthropologie“ analysiert und beschreibt.

Es geht also um ein komplexes Verständnis des Menschen mit seinen unterschiedlichen Bedürfnissen, weswegen er sich auch an der Entwicklung eines komplexeren Indikators für Wohlstand beteiligt hat: den Human Development Index (HDI), der neben einem ökonomischen Indikator (Bruttoinlandsprodukt pro Kopf) auch einen gesundheitlichen (Lebenserwartung) und kulturellen Aspekt (Bildung und Alphabetisierungsgrad) berücksichtigt.

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Damit bin ich bei dem zweiten oben genannten übergreifenden Thema, nämlich dem unterstellten Menschenbild. Der ständig Nutzen kalkulierende homo oeconomicus, der den meisten ökonomischen Mainstreamtheorien als Ausgangspunkt dient, ist schon seit längeren obsolet geworden. Selbst in der Managementlehre, von der man praktische und überprüfbare Ergebnisse erwartet, ist man schon seit Jahrzehnten zu einem komplexeren Menschenbild übergegangen, das eine vielseitige Bedürfnisstruktur des Menschen berücksichtigt (etwa im Human Relation Ansatz).

Gerade in der Frage des Menschenbildes zeigt sich nicht bloß die Aufnahmefähigkeit kapitalistischen Denkens, sondern auch ihr Zynismus. So erfasst das „Glossar der Gegenwart“ (Bröckling 2004) mit seinen Stichworten (eine Auswahl) wie Aktivierung, Beratung, Empowerment, Erfolg, Erlebnis, Kreativität, Sicherheit, Selbstverantwortung, Wissen, Zivilgesellschaft Begriffe, die man durchaus in einer humanistischen Perspektive deuten und verwenden könnte. Es zeigt sich jedoch, dass all diese Begriffe eine spezifische neoliberale menschenfeindliche Umdeutung erhalten, die letztlich dazu führt, dass die Existenzbedingungen des Einzelnen schlechter werden.

Es sind Begriffe, die ihre Bedeutung dadurch erhalten, dass sie „Deutungsschemata (sind), mit denen die Menschen sich selbst und die Welt, in der sie leben, interpretieren; normative Fluchtpunkte, auf die ihr Selbstverständnis und Handeln geeicht sind; schließlich konkretere Verfahren, mit denen sie ihr eigenes Verhalten oder das andere entsprechend steuern.“ (10 f.)

Es geht also um die mentale Binnenstruktur des Menschen und die raffinierte Art und Weise, wie diese beeinflusst wird. Damit zeigt sich an einem konkreten Beispiel, was Norbert Elias in seiner Studie über die Geschichte der Zivilisation herausgestellt hat: dass sich äußere Macht und Gewalt allmählich nach innen verlagern, sodass der Mensch von sich aus das tut, was man von außen von ihm erwartet. Denn diese Begriffe „prägen Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Handlungsweisen, indem sie Ziele anvisieren und Verfahren bereitstellen, um diese zu erreichen oder ihnen zumindest näher zu kommen. Sie rufen Menschen an, sich als Subjekte zu begreifen und sich in spezifischer Weise – kreativ und klug, unternehmerisch und vorausschauend, sich selbst optimierend und verwirklichend usw. – zu verhalten und fördern so bestimmte Selbstbilder und Modi der ‚inneren Führung‘ „ (12)

Es geht also um einen Prozess einer subversiven inneren Steuerung (ich komme im dritten Teil auf diese Fragen zurück).

In vielfacher Hinsicht ist ein zentrales Problem der kapitalistischen Wirtschaftsordnung das Dogma ständigen Wachsens. Bereits in den 1970er Jahren sprach der Club of Rome von den „Grenzen des Wachstums“, wobei es damals um die erste manifest gewordene Ölkrise ging.

Das Wachstumsproblem hat sich inzwischen deshalb verschärft, weil nunmehr auch die sich entwickelnden Staaten in Afrika, Südamerika und insbesondere in Asien an den Errungenschaften einer vielfältigen Warenproduktion in kapitalistisch organisierten Wirtschaften partizipieren wollen – mit den entsprechenden Folgen für die Umwelt. Das Problem für den Westen besteht darin, anderen von etwas abraten zu wollen, was sie selbst ohne Probleme weiterhin betreiben.

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Dieses Wachstumsparadigma wird nicht bloß im Bereich der ökonomischen Theorien – wenn auch im Rahmen von Minderheitsvoten – kritisiert, auch Soziologen, Psychologen, Kulturwissenschaftler und Philosophen setzen sich kritisch damit auseinander. So analysiert der Soziologe Gerhard Schulze (2003) dieses „permanente Steigerungsspiel“, schon Jahrzehnte vorher hat der Psychoanalytiker Erich Fromm kritisch in Widerspruch zwischen Haben und Sein aufgezeigt.

Kann man aus diesen Überlegungen ein Fazit ziehen? Ein erstes Fazit besteht sicherlich darin, dass der Markt als Regulationsmodell sehr gut funktioniert, sofern man dafür sorgt, dass seine Funktionsmechanismen, insbesondere die Konkurrenz, erhalten bleiben. Dies funktioniert allerdings nur mit einem Staat und mit einer Regierung, die ihre durch die Verfassung abgesicherte Gestaltungskompetenz auch nutzt. Dazu müsste sie sich allerdings unabhängiger von der Lobby der Wirtschaft machen und sich verstärkt an die demokratischen Grundlagen unseres Gemeinwesens erinnern.

Dies gilt insbesondere für das Prinzip der Gerechtigkeit. Es gibt also gute Gründe dafür, die Demokratie für diejenige Lebensform zu halten, in der die Menschen am besten ihre Fähigkeiten entfalten und ihre Bedürfnisse befriedigen können.

Es sind aber auch die vielfältigen kritischen Hinweise zu beachten, die zeigen, dass die derzeitige neoliberale kapitalistische Wirtschaftsordnung in vielfacher Hinsicht nicht den Prinzipien einer demokratischen Gestaltung entspricht. Wer also eine funktionierende Demokratie und eine funktionierende Marktgesellschaft aufrechterhalten will, wird die neoliberalen Auswüchse der derzeitigen ökonomischen Praxis definitiv nicht hinnehmen dürfen.

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6. Die wohlgeordnete Gesellschaft und Kriterien eines guten Staates

Eine moderne Gesellschaft ist eine funktional ausdifferenzierte Gesellschaft. Die einzelnen Subsysteme dieser Gesellschaft haben alle eine relative Autonomie. Sie funktionieren nach eigenen Regeln und mit eigenen Medien. Dies ist zum Teil durch das Grundgesetz abgesichert. So ist die Rede von einer Freiheit der Kunst oder einer Freiheit der Forschung und Wissenschaft. Es gibt eine Religionsfreiheit und der Staat ist an das Recht gebunden, wenn er die Freiheitsrechte des Einzelnen antasten will. Auch die Wirtschaft hat ihre relative Autonomie.

Trotzdem ist davon auszugehen, dass die politische Ordnung der Gesellschaft der Politik und insbesondere der demokratisch gewählten Regierung und der Exekutive und der mit dieser verbundenen Verwaltung eine gewisse Priorität zubilligt, was die Gestaltung der Rahmenbedingungen der relativ autonomen Bereiche betrifft.

Allerdings – dies wurde bereits oben erwähnt – muss die Politik diese Gestaltungsspielräume auch nutzen. Ein wichtiger Kritikpunkt an der aktuellen Situation besteht darin, dass die Politik – aus welchen Gründen auch immer – den Primat, den sie gegenüber den anderen Subsystemen der Gesellschaft und insbesondere gegenüber der Wirtschaft hat, nicht nutzt.

Ein erstes Kriterium für eine wohlgeordnete Gesellschaft besteht also darin, dass die verfassungsmäßig vorgesehene Priorität einer demokratisch legitimierten Regierung, die von einem demokratisch legitimierten Parlament gewählt und kontrolliert wird, in der Realität auch genutzt wird.

Dass marxistisch orientierte Autoren und Autorinnen die Wohlordnung einer (bürgerlichen) Demokratie infrage stellen, liegt auf der Hand. Vor diesem Hintergrund scheinen insbesondere solche Interventionen wichtig zu sein, die auf der Grundlage der Berechtigung einer demokratischen Grundordnung und der Überzeugung, dass die Demokratie als Lebensform die bislang beste ist, die der Mensch auf der Suche nach einer wohlgeordneten Gesellschaft gefunden hat, formuliert werden. Ich denke hierbei an die oben vorgetragenen Problemanzeigen aus den Studien von Wilhelm Heitmeyer, ich denke an Aufforderungen wie etwa der von Benjamin Barber (1994), sich für eine starke Demokratie einzusetzen, was bedeutet, eine partizipatorische Politik zu betreiben und den politisch aktiven Bürger in die Gestaltungsprozesse verstärkt einzubeziehen. Ich denke daran, dass die Grundprinzipien unserer Verfassung buchstabengetreu realisiert werden, sodass bei den Staatenberichten aus Deutschland zu der Umsetzung der Menschenrechtskonventionen nicht immer ein ganzer Katalog von Defiziten aufgezeigt werden muss.

All dies sind Messlatten, die nicht von außen an die Demokratie in Deutschland angelegt werden, sondern die eigentlich zu dem demokratischen Grundverständnis und der grundgesetzlichen Ordnung gehören: Man muss nur die Demokratie an ihren eigenen Standards messen, um Kriterien dafür zu gewinnen, wie es um die reale Umsetzung bestellt ist.

Man kann dann feststellen, dass es im Hinblick auf die blinden Flecken in unserer Gesellschaftsordnung überhaupt keine Erkenntnisprobleme gibt. Man muss allerdings feststellen, dass – aus welchen Gründen

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auch immer – die notwendigen Konsequenzen nicht gezogen werden.

Der Soziologe und Philosoph Günter Dux hat sich in seinen letzten Arbeiten immer intensiver mit dieser Frage der „Demokratie als Lebensform“ (2013) auseinandergesetzt. In seinen Studien zur Anthropogenese und zur Geschichte der Menschheit kommt er zu dem Ergebnis, dass es keine Zweifel an dem Maß geben kann, an dem man die jeweilige gesellschaftliche Ordnung messen muss: Es geht um eine selbstbestimmte Lebensführung, deren Ermöglichung für alle durch die Politik sichergestellt werden muss. Ich werde im zweiten Teil näher darauf eingehen, inwieweit eine solche selbstbestimmte Lebensform diejenige Form ist, die man heute in einer entwickelten Gesellschaft als „gutes Leben“ bezeichnen muss. Allerdings kommt Günter Dux zu einer kritischen Einschätzung der Marktgesellschaften und insbesondere der kapitalistischen Grundordnung.

Er sieht dabei durchaus das Positive bei der Entwicklung der Marktgesellschaft:

– „Sie hat zum einen die Grundlage des Rechtsstaats geschaffen. Und schon von dem musste man feststellen, dass er in den Diktaturen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts deshalb preisgegeben werden konnte, weil sich die Postulate der Demokratie, Freiheit und Gleichheit, nicht in die Schaffung gesellschaftlicher Bedingungen für eine selbstbestimmte Lebensführung eines jeden Subjekts hatten umsetzen lassen. Die Diktaturen waren die Perversion von Freiheit und Gleichheit, aber eine, in der die Postulate selbst sichtbar geblieben.

– Die Entwicklung der Marktgesellschaft hat zum anderen einen ungemeinen Güterausstoß geschaffen. Auch Wohlstand geschaffen zu haben, ist nicht wenig. Die Menschheit hat vor Zeiten schon angefangen, sich zu vermehren; seither hat sie nie so recht in gedeihlichen Verhältnissen gelebt. Das Problem ist, dass der Güterausstoß unter einer Organisationsform geschah, die von der Kapitalakkumulation getrieben wurde. Denn dadurch wurden Produktion und Verteilung des Reichtums von Bedingungen bestimmt, die im Innern der Gesellschaft für eine große Zahl von Menschen bedrückende Verhältnisse entstehen ließen, und im Äußern die Lebensdienlichkeit der Umwelt zu zerstören begannen.“ (302)

Günter Dux kommt zu dem Schluss, dass es die Logik der Marktgesellschaft aus grundsätzlichen Erwägungen heraus nicht zulässt, solche Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen die Realisierung eines selbstbestimmten Lebens möglich ist:

„Wenn man nach allem die gesellschaftliche Organisationsform an dem Maß misst, von dem wir gesagt haben, dass es das Maß des Maßes sei, dann kommt man nicht umhin festzustellen, dass die Organisationsform der Marktgesellschaft das in der Zeitenwende gewonnene Selbstverständnis desavouiert hat. Unter der kapitalistisch verfassten Marktgesellschaft treten Selbstverständnis und gesellschaftliche Lebensführung des Subjekts auseinander.“ (303; Sperrungen im Original)

Günter Dux steht natürlich nicht alleine mit seiner Kritik da. Man muss vielmehr sehen, dass die Pluralität und Vielfalt unterschiedlicher Theorien der Demokratie damit zu tun hat, dass Theoretiker und Theoretikerinnen versuchen, erkannte Schwachstellen sowohl in bislang vorliegenden Theorien als auch in der demokratischen Praxis durch eine Neuformulierung von alternativen Ansätzen zu umgehen. Es

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entstehen auf diese Weise Theorieansätze, so wie sie in dem Handbuch von Brodocz/Schaal (vor allem in Bd. 3: 2016) vorgestellt werden.

Auf einer eher pragmatischen und empirischen Ebene werden im Rahmen einer Vergleichenden Demokratieforschung Kriterienkataloge und Evaluationsmethoden entwickelt, die sowohl die Qualität des Staates als auch den Zustand der Demokratie in verschiedenen Ländern messen und bewerten wollen. Der Politikwissenschaftler Roland Czada (2009) analysiert insbesondere die verschiedenen Konzepte der Good Governance. Es handelt sich um ein Konzept, das im Kontext der Vereinten Nationen und der Weltentwicklungspolitik, insbesondere von der Weltbank entwickelt worden ist. Er benennt insgesamt acht unterschiedliche Kriterienkataloge von dem oben bereits erwähnten Human Development Index (HDI) über die Kriterien guten Regierens der Weltbank, den Freedom World Index, den Bertelsmann Transformation Index (BTI), einen Korruptionsindex, einen Index, der die Fragilität von Staatlichkeit in bestimmten Ländern misst (Failed State Index) und die Political Terror Scala (PTS). Zum Teil sind es Mitgliedsorganisationen der Vereinten Nationen wie das UNDP oder die Weltbank, es sind Universitätsinstitute, Stiftungen oder internationale zivilgesellschaftliche Organisationen wie Transparency International, die solche Kriterienkataloge vorlegen und in regelmäßigen Abständen Berichte veröffentlichen.

Die Good Governance Kriterien der Weltbank sind die folgenden:

– Partizipation und Verantwortlichkeit

– politische Stabilität und Gewaltkontrolle

– Effektivität des Regierens

– Qualität regulativer Politik

– Rechtstaatlichkeit

– Korruptionskontrolle.

Solche Kriterienkataloge werden allerdings zum Teil heftig kritisiert. Czada listet folgende Einwände auf:

– Good Governance Prinzipien sind nur schwer operationalisierbar. Die bislang erhobenen Indikatoren guten Regierens basieren oft zumeist auf von Wirtschaftsexperten geäußerten, subjektiven Einschätzungen der Qualität von Institutionen.

– Good Governance ist ein universalistisches Konzept, das die nationale Souveränität und demokratische Selbstbestimmung der adressierten Staaten schmälert. Als eine verstärkte Form von Neokolonialismus wird es kontraproduktiv.

– Bad Governance wird zum „Sündenbock“ aller fortbestehenden Fehlleistungen globaler und regionaler Entwicklungs- und Integrationspolitik. Die Industrieländer und internationalen Regime immunisieren sich auf diese Weise im Verein mit willfährigen Nichtregierungsorganisationen gegen Selbst- und Fremdkritik (10)

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Manfred Schmidt (2008) geht ausführlich auf eine Vergleichende Demokratieforschung ein, die sich auch mit dieser Frage der Messung des Demokratie- und Autokratiegehalts von Staatsverfassungen befasst. Er gibt einige Fragenkataloge wieder, die sich zu den Themen Wahlen, politischer Pluralismus, Funktionsweise des Regierungssystems, Meinungs- und Glaubensfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Rechtstaatlichkeit, persönliche Autonomie und Individualrechte beziehen, die also die Grundsätze einer modernen demokratischen Verfassung durchdeklinieren. Er geht unter anderem auch auf einige der auch von Czada erwähnten Kriterienkataloge ein und gibt insbesondere eine Liste der jeweiligen Einordnungen der souveränen Staaten mit einer Mindesteinwohnerzahl von 1 Million (Stand 2004) wieder (192 ff.).

Nach der Analyse der unterschiedlichen Befunde entwickelt er ein „Standardmodell der Demokratie“ (426 ff.) mit den folgenden Kriterien:

– Aufteilung staatlicher Exekutivgewalt und Neutralisierung dieser Gewalt vor allem durch zivile Kontrolle polizeilicher und militärischer Gewalt

– breite Streuung der Machtressourcen

– eine politische Kultur, in der ein hoher Anteil der Bevölkerung vitalen Selbstentfaltungswerten anhängt

– die Wertschätzung individueller Autonomie und Freiheit

– das Fehlen einer größeren Anti-System-Partei oder mehrerer nennenswerter demokratiefeindlicher Parteien

– stabil verwurzelte liberal-konstitutionelle Traditionen der Zügelung der Staatsgewalt

– eine ethnisch relativ homogene Bevölkerung oder – im Falle ethnischer Heterogenität – die friedliche, typischerweise konkordanzdemokratische Regelung von Konflikten zwischen den Ethnien

– völkerrechtliche Unabhängigkeit, unstrittige Grenzen sowie ein internationales Umfeld, in dem demokratische Nachbarn anstelle von Autokraten vorherrschen

– Barrieren gegen Einparteiendominanz im Parlament und in der Regierung

– mit einiger Regelmäßigkeit erfolgende Regierungswechsel, sodass die Verlierer von Wahlen auf die Chance eines Machtwechsel zählen können.

In einem abschließenden Teil diskutiert Schmidt ausführlich Stärken und Schwächen der Demokratie und der Demokratietheorien. Unter den Schwächen listet er folgende Problembereiche auf:

Verfassungspolitische Defekte: Zielkonflikte zwischen Gleichheit und Freiheit, Tyrannei der Mehrheit etc.

Prozessdefekte: Verführbarkeit des Volkes, Dauerwahlkampf, Kommerzialisierung der Politik, mediokres Führungspersonal etc.

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Ergebnisdefekte: Lücke zwischen hohen Anspruchsniveau und relativ geringer Steuerungsfähigkeit, der Vorrang des Strebens nach Machterwerb gegenüber sachgerechter Politik, tendenzieller Dauerwahlkampf, Neigung zu kurzsichtiger Politik, kostspielige Staatsinterventionen etc. (464)

Vor diesem Hintergrund ist sein Resümee interessant, inwieweit man die Demokratie als beste Staatsverfassung bezeichnen kann. Sein Fazit:

„Nur wenige Demokratien verdienen das Prädikat „beste Staatsverfassung““ (483):

"Nicht die Demokratie ist eindeutig besser als alle anderen Staatsformen. Nur eine speziellere Gruppe von Demokratien verkörpert die relativ beste Staatsform. Am leistungsfähigsten – im Sinne der „politischen Produktivität“ und regimeunspezifischer Messlatten (…) – sind am ehesten diejenigen Demokratien, die neben ihrer liberaldemokratischen Verfassung weitere Gütemerkmale erfüllen:

1) eine seit mehreren Dekaden stabil verankerte Ordnung (…) – ordnungsgemäße Bewältigung mindestens zweier Machtwechsel (..).

2) eine demokratieförderliche politische Kultur, insbesondere ein hoher Anteil der Bevölkerung mit starken Selbstverwirklichungswerten.

3) das Fehlen nennenswerter Anti-System-Parteien im Parteiensystem,

4) ein fest etablierter Rechtsstaat, der die Bürgerrechte insgesamt im Wesentlichen zuverlässig schützt (..),

5) ein relativ hoher wirtschaftlicher Wohlstand (…), der den sozialen Ausgleich in der Bürgerschaft ermöglicht und die Kluft zwischen den Gewinnern und den Verlierern einer Wahl durch Bereitstellung von Kollektivgütern weiter lindert (…),

6) und eine – gemessen an der Zukunftsfähigkeit ihrer politischen Steuerung – leidlich vorzeigbare Leistung (…)“ (484 f.)

Sein abschließendes Fazit:

„Auch aus diesem Grund besteht kein Anlass zu uneingeschränktem Feiern der Demokratie. Hinsichtlich ihrer Zukunftschancen im 21. Jahrhundert ist vielmehr ein zurückhaltender Optimismus angebracht. Das 21. Jahrhundert könnte mehr noch als die zweite Hälfte des 20. ein Jahrhundert der Demokratie werden – ein Jahrhundert von teils gut, teils mäßig, teils miserabel funktionierenden Demokratien im Umfeld einer stattlichen Schar von autoritär oder totalitär verfassten Staaten.“ (503)

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Legt man die oben genannten Kriterien als Messlatte an die Situation in Deutschland an, so wird man ohne Zweifel feststellen, dass einige dieser Kriterien ohne Probleme erfüllt werden. So gab es auf Bundesebene mehrfach einen friedlichen Machtwechsel und es gab Regierungen mit unterschiedlichsten Parteienkonstellationen (dies sieht freilich auf der Ebene der Bundesländer nicht so aus; siehe etwa Bayern). Es gibt auch einen relativ hohen Wohlstand, es gibt einen fest etablierten funktionsfähigen Rechtsstaat, es gibt eine funktionierende Öffentlichkeit und es gibt keine größere Zahl von systemfeindlichen Parteien, insbesondere nicht in den Parlamenten.

Allerdings gibt es Risiken. Diese wurden im letzten Kapitel ausführlich beschrieben und haben mit der neoliberalen Ausrichtung der Politik in fast allen Parteien zu tun. Es geht um den Abbau des Sozialstaates, es geht um eine mangelhafte Bereitstellung von Kollektivgütern, es geht um den Abbau von Bürgerrechten, sodass der generelle Hinweis von Manfred Schmidt, dass es keinen Anlass zu uneingeschränktem Feiern gäbe, in besonderer Weise für Deutschland gilt.

Dies gilt auch für andere Länder, wenn man den Siegeszug populistischer Parteien betrachtet. Es sind verstärkt antidemokratische Parteien in den Parlamenten westlicher Länder. Auch die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten oder ein irrationales Verhalten von Großbritannien im Hinblick auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union sind gerade keine Garanten für eine produktive Weiterentwicklung demokratischer Standards.

Es sind Herausforderungen zu bewältigen, etwa die Verhinderung eines neuen Ost-West-Konfliktes, die demokratische Bewältigung des Terrors, die friedliche Beilegung von Konflikten, die es nicht bloß außerhalb von Europa, sondern die es auch in europäischen Kernländern gibt. Eine lebendige und funktionierende Demokratie – darin sind sich die meisten Autoren einig – braucht eine politisch informierte und aktive gebildete Bürgerschaft, ganz so wie es in den Teilen eins und drei beschrieben wird.

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Teil 2: Dimensionen eines guten Lebens

Wolfgang Kersting (2000, 13f.) beschreibt den Grundgedanken, dem auch dieser Text folgt, dass nämlich individuelles Leben und gesellschaftliche Rahmenbedingungen nicht voneinander getrennt werden können, wie folgt:

„Es ist für uns nicht nur wichtig, welches Leben wir führen; es ist für uns auch von Bedeutung, in welcher Gesellschaft wir leben. In unserem individuellen Leben bemühen wir uns, ein uns sinnvoll und wertvoll erscheinendes Leben zu führen; wir möchten, dass unser Leben gelingt und glückt. Darum kann es uns auch nicht gleichgültig sein, wie die Gesellschaft institutionell verfasst ist, ob ihre Verteilungsagenturen gerecht organisiert sind. Gerade weil die gesellschaftlichen Institutionen, Regeln und Teilsysteme unser Leben einschreiten prägen, mit der Zuteilung von Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten und Glücksaussichten mitbestimmen und unnachgiebig unsere Freiheit eingrenzen, stellen wir Legitimationsanforderungen an die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen unseres Lebens, wollen wir allgemein zustimmungsfähige, eben gerechte Institutionen und Verteilungsstrukturen.“

Im ersten Teil bin ich auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, ihre Gestaltung und die dazugehörigen wissenschaftlichen und philosophischen Reflexionen eingegangen. Wie beschrieben kümmert sich eine Vielzahl sowohl von philosophischen Disziplinen als auch von Einzelwissenschaften darum, diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in ihrer Wirksamkeit zu erforschen. Unsere Grundidee bestand darin, dass ein zentrales Kriterium für die Bewertung dieser Rahmenbedingungen darin besteht, dass jedem Einzelnen in der betreffenden Gesellschaft die Möglichkeit gegeben wird, ein gutes, glückliches und gelingendes Leben zu führen. Ein zentrales Ziel für letzteres besteht darin, dass der Mensch ein selbstbestimmtes Leben führen kann. Es geht also um Freiheit und Autonomie, es geht aber auch um die anderen Grundwerte die Gleichheit und Gerechtigkeit.

Wie oben erwähnt, geht es in diesem pädagogischen Text nicht darum, diese genannten Ziele und Werte in eine hierarchische Ordnung zu bringen: Ich betrachte sie in unserem Zusammenhang zunächst einmal als gleichwertig, wobei es zwischen ihnen einen interdependenten Zusammenhang gibt.

Der Philosoph Volker Gerhard (1999) sieht ebenso wie der Soziologe Günter Dux (2000, 2013) Selbstbestimmung als das zentrale Ziel. Ein selbstbestimmtes Leben kann allerdings nur jemand führen, der die nötige Freiheit dazu hat:

„Personen gelten als frei, wenn sie autonom zu entscheiden vermögen, welche Form des Lebens führen müssen.“ (Pauer-Studer 2000, 7)

Eine solche Selbstbestimmung in Freiheit ist natürlich abhängig nicht nur von zu Verfügung stehenden Ressourcen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, sondern sie wird auch beeinflusst durch

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Subjekt- und Lebensformen, die die Gesellschaft bereitstellt (Jaeggi 2014, Fuchs 2012). Man kann dabei in der Geschichte einen Wandel im „Selbstverständnis des modernen Menschen“ (Veith 2001) feststellen. Damit wird deutlich, dass die individuell gewählte Lebensführung zwar abhängt von dem jeweiligen gesellschaftlichen Rahmen, dass aber trotzdem dabei bedacht werden muss, dass das Leben individuell gelebt wird (Gerhard 2000, Hasted 1998).

Dies bedeutet, dass Wissenschaften oder philosophische Ansätze, die sich auf das Individuum konzentrieren, immer auch den gesellschaftlichen Rahmen mitreflektieren müssen, ebenso wie gesellschaftsbezogene Analysen stets bedenken müssen, wie die Individuen beschaffen sind oder sein müssen, die die jeweilige gesellschaftliche Ordnung durch ihr Handeln tragen. Auf philosophischer Ebene bedeutet das, dass Individualethik und Sozialethik in einem komplementären Verhältnis stehen ebenso wie die Humanwissenschaften und Gesellschaftswissenschaften es tun.

Interessant ist, dass in den letzten Jahren die Frage nach dem guten Leben eine neue Relevanz bekommen hat. Dies gilt nicht bloß in der Philosophie spätestens seit dem Streit zwischen philosophischem Liberalismus und Kommunitarismus, dies gilt auch für Einzelwissenschaften.

So gibt es stärkere Tendenzen in der Volkswirtschaftslehre, Alternativen zu dem bislang einzigen Indikator für Lebensqualität, nämlich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, durch weitere Indikatoren zu ergänzen, so wie es etwa der HDI-Index des UNDP tut, der diesen ökonomischen Indikator durch einen Gesundheits- und Bildungsindikator ergänzt. Es gibt national und international Bemühungen, neue Kriterien für die Messung des Erfolgs ökonomischen Handelns zu entwickeln. So gab es sowohl im Deutschen Bundestag als auch in der französischen Regierung entsprechende Ansätze und Diskussionen, die unter dem Label „Well-being“ geführt werden. Dass sich die Humanwissenschaften wie etwa Medizin, Psychologie und auch die Pädagogik für dieses Konzept interessieren, liegt auf der Hand. Interessanterweise diskutiert ein entsprechendes philosophisches Handbuch solche Fragen ebenfalls unter diesem Begriff (Fletcher 2017) und nicht etwa unter dem traditionellen Begriff des guten Lebens.

In diesem Teil will ich diese Fragestellung nach dem guten Leben aufgreifen und einzelne historische und systematische Facetten dieses Begriffs diskutieren.

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7. Anthropologische Grundlagen: Die selbstbestimmte Lebensführung

Der Mensch gilt als „kulturell verfasstes Wesen“. Wie oben ausgeführt bedeutet dies, dass er die Bedingungen seines Lebens in zunehmendem Maße selbst gestalten kann und auch muss.

Er gestaltet damit allerdings nicht nur die Bedingungen seines Lebens, sondern er gestaltet damit auch wesentlich die Art und Weise seiner Lebensführung. Seit der Mensch die notwendigen kognitiven Instrumente entwickelt hat, denkt er nicht nur darüber nach, wie das Leben zu führen ist, sondern er denkt auch darüber nach, welche Gründe es für seine Existenz gibt. So gibt es in allen Kulturen mythologische Erzählungen darüber, wie der Mensch entstanden ist.

Das Besondere an der Entwicklung in Griechenland besteht darin, dass bei diesem Nachdenken eine theoretische Stufe der Reflexion entwickelt worden ist. Man spricht von einer Entwicklung „vom Mythos zum Logos“. Auch die mythologischen Erzählungen waren Versuche, eine gewisse Ordnung in die Welt und in das eigene Nachdenken über diese Welt zu bringen. Offenbar gehört es zu der anthropogenetisch entwickelten Natur des Menschen, einen Bedarf an einer solchen Selbstreflexion zu haben.

Der Mythos als eine Form des Welt- und Selbstverhältnisses wird daher in der Philosophie immer schon ernst genommen. Nicht zuletzt hat Ernst Cassirer (1990) den Mythos (neben Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Technik, Sprache und Religion) in die Reihe seiner symbolischen Formen aufgenommen, die den Menschen zum Menschen macht. In diesem Zusammenhang war es immer schon von Interesse, wie man dieses Zustandekommen der Selbstreflexivität, das bei keinem anderen Lebewesen festzustellen ist, erklären kann.

Eine bis heute hochplausible Erklärung, die zudem durch empirische Studien in der evolutionären Anthropologie (etwa durch die Studien von Michael Tomasello) erhärtet wird, geht auf Helmuth Plessner in den 1920er Jahren zurück. Helmuth Plessner war Biologe und Philosoph und er konnte daher seine anthropologischen Ansätze auf dem bereits damals schon entwickelten Sachstand biologischer bzw. verhaltenspsychologischer Forschungen entwickeln.

Sein zentrales Konzept ist das der exzentrischen Positionalität: Der Mensch und nur der Mensch ist in der Lage, aus der Unmittelbarkeit seiner jeweiligen Existenz herauszutreten und sich selbst zum Gegenstand von Betrachtungen zu machen. Er tritt in Distanz zu sich, was wiederum die Voraussetzung für die Möglichkeit einer Reflexion ist. Auf diese Weise kann er sich und sein Leben im Kontext der jeweiligen natürlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse betrachten. Er erlangt Bewusstheit über sein Leben, was allerdings verbunden ist mit einem Verschwinden von Instinkten, die bei Tieren im Wesentlichen das Überleben sichern. Der Mensch erlangt die Freiheit, sich entscheiden zu können, wobei damit zugleich der Zwang, sich auch entscheiden zu müssen, verbunden ist. Im Hinblick auf seine Lebensführung bedeutet dies, dass er als einziges Lebewesen nicht nur in der Lage ist, sein Leben bewusst zu führen: Er muss dies auch tun, wenn er überleben will.

In diesem Prozess der tätigen Gestaltung seiner Lebensbedingungen gestaltet und entwickelt er auch das Spektrum seiner eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Auf der Basis des Prozesses der Aneignung und

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Vergegenständlichung menschlicher Wesenskräfte in der gestalteten Umgebung ergibt sich eine kumulative Entwicklung: Der Mensch muss nicht mit jeder Generation erneut am Nullpunkt seiner Entwicklung beginnen, sondern er kann auf den Erfahrungen seiner Vorgänger aufbauen. Günter Dux beschreibt in seinem ambitionierten Durchgang durch die Entwicklungsgeschichte des Menschen bis heute diesen Prozess der Anthropogenese in ähnlicher Form und er spricht in diesem Zusammenhang von einem „Geniestreich der Evolution“ (2013, 38).

Es geht um gegenständliches Handeln und es geht um die mit diesem gegenständlichen (und immer auch sozialen) Handeln um die Entwicklung immer weiterer Kompetenzen. Insbesondere entwickelt sich das kognitive Instrumentarium des Menschen, sodass Dux diese Entwicklungsgeschichte des Menschen auch als Entwicklung immer weitergehender kognitiver Fähigkeiten beschreibt.

Er unterscheidet drei Welten, die sich der Mensch auf diese Weise aneignet und die er zunehmend selbst gestaltet: die Natur in ihrer Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit, die Gesellschaft und nicht zuletzt die Innenwelt und die innere Natur (Dux 2000, 75 ff.).

Entsprechend dem in der Einführung genannten Gedanken, dass menschliches Leben zwar ein soziales Leben ist, das allerdings immer als Einzelner und als Individuum geführt werden muss – eben weil man Leben nicht delegieren kann –, sieht auch Dux in der Entwicklung des Einzelnen die Basis für die Entwicklung des Menschen: Die Ontogenese ist die Grundlage für die Soziogenese.

An dieser Stelle nutzt er die Entwicklungstheorie von Jean Piaget und wendet insbesondere die Stufenfolge in der Entwicklung des Kognitiven als Erklärungsmodell der Anthropogenese an. Er sieht wie andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Übergang zur Neuzeit einen qualitativen Sprung in der Entwicklung der „humanen Lebensform als selbstbestimmter Lebensform“ (2013, 31 ff.):

„Die Entwicklung einer reflexiven Lebensführung, die mit der Ausbildung eines ‚subjektiven Selbst‘ eingeleitet wurde, erfährt jetzt ihre strukturelle Vollendung. Das Kind erwirbt die Fähigkeit, das Praxisfeld seiner Lebensführung in symbolischer Form nicht nur vor sein geistiges Auge zu bringen und sich selbst inmitten des Praxisfeldes als handelnder Teilnehmer an der Interaktion und Kommunikation mit anderen wahrzunehmen, es vermag sich darüber hinaus auch mit den anderen über dieses Handlungsfeld zu verständigen. Es ist diese Form der Positionierung in der Welt, die die Grundverfassung der Lebensführung des Menschen in der sprachlich verfassten Welt darstellt. Exzentrische Positionalität hat Helmuth Plessner sie genannt.“ (51)

Vor dem Hintergrund dieser spezifisch menschlichen Entwicklung hin zu einer reflexiven, von Sinn bestimmten eigenständigen Lebensführung stellt sich auch für Dux die Frage danach, wie die politischen Rahmenbedingungen aussehen müssen, damit eine solche menschgemäße Lebensführung auch realisiert werden kann. Seine Antwort: Es ist die spezifische Zielaufgabe der politischen Ordnung der Demokratie, der die Aufgabe zufällt, solche Rahmenbedingungen zu schaffen.

Im ersten Teil dieses Textes wurde gezeigt, wie sich die Entwicklung einer solchen gesellschaftlichen und politischen Struktur gestaltete. Zugleich kann gezeigt werden, inwieweit dieses Ziel einer Demokratie als

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Lebensform, die eine menschgemäße selbstbestimmte Lebensführung ermöglicht, als kritische Messlatte dafür dienen kann, jeweils aktuelle politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu kritisieren. Denn man kann dann zeigen, inwieweit Rahmenbedingungen eine solche selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen und zu einer solchen ermutigen oder inwieweit sie dies verhindern.

Dass der gesellschaftliche und politische Entwicklungsprozess keineswegs ein linearer Prozess hin zu dem Ziel ist, dass allen Menschen eine solche selbstbestimmte Lebensführung ermöglicht wird, wurde ebenfalls im ersten Teil skizziert.

Dux nimmt auch die Frage nach dem guten Leben auf:

„Die Philosophie nimmt die Frage nach dem, was Sinn macht im Leben, auf und beantwortet sie mit der seither im Verständnis der Selbstbestimmung als Topos mitgeführten Formel vom „guten Leben“. Jeder sucht, so Aristoteles, sein Leben so zu führen, dass es als das „gute Leben“ angesehen werden kann.“ (59)

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8. Konzepte des guten Lebens in der Geschichte

Ein Überblick

Die Frage nach dem guten Leben, die Frage also danach, wie ich mein Leben gestalten soll, betrifft jeden von uns. Es dürfte keinen Menschen geben, der nicht schon einmal über diese Frage nachgedacht hat. Es gibt Ziele und Wünsche, die man hat bzw. die man sich setzt, und es gibt eine ständige Evaluation solcher Wünsche, indem man sich fragt, ob das Leben, das man aktuell führt, wirklich das ist, das man sich früher vorgestellt hat. Auch sind Schicksalsschläge, Missgeschicke, Unfälle oder Situationen, in denen man Pech gehabt hat, Anlässe für ein solches Nachdenken. Manchmal sind es runde Geburtstage, an denen man seine individuelle Bilanz zieht.

Dies bleibt nicht aus und hat etwas damit zu tun, was im letzten Kapitel im Rahmen einer anthropologischen Mitgift des Menschen beschrieben worden ist: die Entwicklung von Selbstreflexivität auf der Basis der exzentrischen Positionalität, die sich daraus ergebende Möglichkeit und letztlich auch Notwendigkeit zur Selbstgestaltung und Selbstbetrachtung. Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von dem Menschen als dem sich selbst interpretierenden Tier.

Diese Form der Selbstreflexion kann man gelegentlich tun und dann wieder aufgrund der Alltagssorgen, die man zu bewältigen hat, wieder verdrängen. Man kann sie allerdings auch systematisch tun, so wie es etwa der amerikanische Philosoph Robert Nozick (1991) getan hat, was bei ihm, der bis dahin eine radikale liberalistische Konzeption verfochten hat, zu einer Veränderung seiner philosophischen Grundanschauung geführt hat:

„Ich möchte über das Leben nachdenken und über das, was im Leben wichtig ist, ich möchte Klarheit in meinem Denken schaffen – und auch in meinem Leben. Meistens neigen wir dazu – ich tue das auch –, mit Automatiksteuerung zu leben: Wir folgen den Selbsteinschätzungen und den Zielen, die wir früher erworben haben, und nehmen an ihnen nur geringfügige Änderungen vor. Zweifellos bringt es gewisse Vorteile – einen Zuwachs an Zielstrebigkeit oder Effizienz –, wenn man etwas gedankenlos die Ziele in relativ unveränderter Form verfolgt, aber es gibt auch einen Verlust, wenn wir von dem noch nicht ausgereiften Weltbild, das wir uns als Jugendliche oder junge Erwachsene geformt haben, durchs Leben geleitet werden.“ (9)

Sein Buch, das im Deutschen den Titel „Vom richtigen, guten und glücklichen Leben“ hat, heißt im Original sehr viel genauer „The Examined Life - Philosophical Meditations".

Man kann diese Selbstreflexion des Lebens im Rahmen seiner Alltagsklugheit und seines Alltagsverstandes betreiben, man kann aber auch eigenes oder fremdes professionelles Wissen zuziehen. Letzteres ist dann der Fall, wenn man gesundheitliche (also physische oder psychische) Probleme hat und die Hilfe einer professionellen Beratung oder sogar Therapie hinzuziehen muss. Es leben inzwischen ganze Berufsstände davon, mit einem gewissen Arsenal von Methoden diesen Prozess der Selbstreflexion zu unterstützen.

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Bei der Frage nach den Lebenszielen und dem Grad ihrer Realisierung, bei der Frage danach, ob man sich angemessene oder unrealistische Ziele gestellt hat oder ob man fair oder unfair mit sich und seinem Leben umgeht, eben weil die Frage nach dem guten Leben, nach Erfolg oder Scheitern, jeden berührt, ist es nicht verwunderlich, dass es spezialisierte Gesellschaftsbereiche gibt, die diese Frage aufnehmen. Es geht darum, seinen Platz in der Welt zu bestimmen und dadurch eine Orientierung für das eigene Leben zu bekommen.

Wie oben erwähnt, gibt es solche Unternehmungen in jeder Kultur. Dies beginnt mit frühen mythologischen Erzählungen darüber, wie die Welt beschaffen ist, welches mein Platz in dieser Welt ist und wonach ich streben soll.

Alle Religionen treten an, Antworten auf diese existenziellen Fragen zu geben. Bei allem Reden über eine Säkularisierung, die mit der Neuzeit vor allem in modernen Gesellschaften eingetreten ist, sollte man die große Rolle solcher Sinnstiftungsangebote nicht unterschätzen. Umfassend hat der katholische Sozialphilosoph Charles Taylor (2009) diese These von der Säkularisierung untersucht mit dem Ergebnis, dass sie keineswegs so zutrifft, wie häufig kommuniziert wird. Es gibt offenbar beim Menschen auch einen Bedarf an Spiritualität. Taylor kommt zu dem Schluss, dass der Mensch beides braucht: die Rationalität, so wie sie in der Aufklärung im Mittelpunkt stand (wobei ein rein rationalistisches Verständnis der Aufklärung zu kurz greift), und die Emotionalität, die in der Gegenbewegung der Romantik in den Mittelpunkt gerückt ist (was ebenfalls zu einer Fehleinschätzung führen würde, wenn man diesen Aspekt verabsolutieren würden).

Man kann also davon ausgehen, dass immer noch ein recht großer Teil der Menschheit eine Orientierung bei Lebensfragen in den Religionen findet. Richard Reschika (2011) hat "die Glücksregeln der großen Religionen“ (so der Untertitel seines Buches „Das gute Leben“) zusammengestellt und dabei entsprechende Schriften des Hinduismus, des Buddhismus, des Taoismus, des Konfuzianismus, des Judentums, des Christentums und nicht zuletzt des Islam zusammengestellt. Zu Recht weist er darauf hin, dass der Mensch immer schon über eine gute und richtige Lebensführung nachgedacht hat, er weist auf die Formel nach dem Streben nach Glück („pursuit of happiness") in der amerikanischen Verfassung hin und konzentriert sich dann auf die sieben Weltreligionen mit ihrer Fülle an Lebens- und Glücksregeln, mit

„teils divergierenden, teils konvergierenden und sich erstaunlicherweise zuweilen sogar wortwörtlich deckenden Lebens- und Glücksmaximen dieser Weltreligionen. Von den zehn Lebensregeln des Hinduismus bis zu den Satyagraha- Normen Mahatma Gandhis; von den Kernsprüchen Buddhas bis zu Tich Nhat Hanhs Weisungen für ein achtsames Leben; von den alttestamentarischen Lebensweisheiten bis zu den Erzählungen der Chassidim, von den Lebensregeln der christlichen Wüstenväter und -mütter bis zum Dekalog der Gelassenheit Papst Johannes XXIII; von den ethischen Regeln im Koran bis zum Elixier der Glückseligkeit von Al Ghasali.“ (17)

Dabei berücksichtigt der Autor nur die großen Weltreligionen. Wenn man bedenkt, dass es zusätzlich noch weitere Glaubensgemeinschaften im höheren dreistelligen Bereich gibt, kann man die Fülle des Angebotes ermessen.

In einer kapitalistischen Gesellschaft ist es zudem nicht verwunderlich, dass man aus dieser Bedarfslage

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zugleich ein Geschäft macht. So gibt es eine Fülle von kommerziellen Beratungsangeboten unterschiedlicher Qualität, gibt es Zeitschriften und Bücher, die für alle Lebenslagen gute Ratschläge zur Verfügung stellen.

Natürlich befassen sich auch die Künste mit Fragen des guten Lebens. Vermutlich kann man die Behauptung aufstellen, dass es letztlich immer um die Frage geht, wie man leben soll, die man auf unterschiedliche Weise mit künstlerischen Methoden bearbeitet.

Auch das Nachdenken über Künste greift diese Frage auf, wenn sie etwa über die „Ethik der Ästhetik“ nachdenkt (so etwa Hanno Rauterberg 2015 oder Wulf 1994; siehe auch den Abschnitt „Ethik und Ästhetik“ in Fuchs 2011).

Als eine spezifische Gattung zwischen Philosophie und Schriftstellerei hat sich seit der Renaissance die Moralistik entwickelt: von Machiavelli, Castiglione, über Gracian zu den berühmten französischen Moralisten wie Montaigne. Sie haben ihre Vorläufer in den ethischen Reflexionen der antiken Philosophie und bevorzugen als literarische Form den Essay oder den Aphorismus. Es geht um ein Ringen um das richtige Verhalten in der Gesellschaft, es geht letztlich um die Frage der Konstitution des Subjekts angesichts gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich gravierend verändern.

Auch wenn die Frage nach dem guten und richtigen Leben, die Frage nach dem Glück und dem Sinn des Lebens also in allen Kulturen und zu allen Zeiten gestellt wird und es insbesondere in der griechischen antiken Philosophie bereits große systematische Abhandlungen über diese Frage gibt, so erhält sie jedoch eine besondere Dynamik mit den Beginn der Neuzeit.

Dies hat damit zu tun, dass die Antwort im katholischen Mittelalter auf diese Frage recht klar war: Ein gutes Leben ist ein gottgefälliges Leben und was ein gottgefälliges Leben ist, das sagt einem die Kirche. Die Kirche hat zugleich ein breites Spektrum von Sanktionierungsmöglichkeiten bei Verstößen gegen ihre Vorstellungen.

Der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit ist auch in dieser Hinsicht ein Emanzipationsprozess des Menschen, der sich nunmehr zunehmend auf den Eigensinn seiner Vernunft besinnt. Mit dem Protestantismus tritt rund um 1500 nicht bloß eine zweite christliche Religion auf den Plan, sondern es handelt sich dabei auch um eine Religion, bei der die Eigenverantwortlichkeit des einzelnen Menschen auf der Basis einer Unmittelbarkeit zu Gott dazu führt, dass auch die Frage nach dem richtigen, guten und gelingenden Leben vermehrt gestellt werden muss.

Im Rahmen dieser kulturellen und gesellschaftlichen Bewegung gibt es einen Siegeszug der menschlichen Vernunft bei der Erkenntnis der Naturgesetze verbunden mit dem Anwachsen der Idee der Machbarkeit und Gestaltungsfähigkeit.

Dies gilt nicht nur für die äußere Natur, sondern dies gilt auch für die eigene Lebensgestaltung. Der italienische Dichter Petrarca gilt als derjenige, der diesen Gedanken schon früh und prominent vertreten hat: das Leben als eigene Gestaltungsaufgabe zu betrachten.

Es liegt auf der Hand, dass unter diesen Umständen eine Verstärkung der Auseinandersetzung mit den Lebenszielen und ihrer Realisierung nicht zu vermeiden ist. Auch das sich durchsetzende

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marktwirtschaftliche und später dann auch kapitalistische Wirtschaftssystem ist eng mit dieser sich durchsetzenden psychischen Disposition verbunden. Im Mittelpunkt steht der handelnde und unternehmungslustige Mensch, der sich auf vielfache Weise in das Abenteuer des Lebens stürzt.

„Jeder ist seines Glückes Schmied!“ kann bis heute als (natürlich auch ideologisches) Leitmotiv einer solchen Sichtweise gelten.

Aufgrund dieser unüberschaubaren Vielfalt unterschiedlicher Ansätze und Vorschläge ist es notwendig, nach einer gewissen Ordnung und Struktur zu suchen. Dazu ist zunächst einmal eine Klärung der Frage notwendig:

Was ist ein gutes Leben?

Die in der Überschrift gestellte Frage gehört zu der Kategorie von Fragen, bei der die Frage einfacher ist als die Antwort. Es geht immerhin um das Leben als Ganzes. Man muss sehen, dass sich ganze philosophische Disziplinen bereits an der spezifischen Frage entwickelt haben, wie man in einer konkreten Situation handeln soll. Handelt man (nur) nach eigenen Vorstellungen? Orientiert man sich an den Sitten und Gebräuchen der Gemeinschaft (den mores), in der man lebt? Wie beurteilt man das erfolgte Handeln?

Alleine diese hochspezialisierte Frage nach dem geeigneten und richtigen Handeln eröffnet ein weites Diskursfeld. Bei der Frage nach dem guten Leben geht es jedoch nicht bloß um ein singuläres Handeln in einer bestimmten Situation, sondern um das gesamte Leben. Dieses kann man offensichtlich planen und bestimmte Ziele und Vorstellungen dafür entwickeln, dieses Leben muss man dann konkret selbst und als Einzelner leben, man kann es nicht delegieren und nicht zuletzt kann man eine Gesamtbewertung des Lebens erst an seinem Ende vornehmen. Das Leben ist also eine komplexe Angelegenheit.

Es hat eine körperliche und sinnliche Dimension, aber natürlich – gerade bei dem Menschen – auch eine geistige und spirituelle:

„Des Lebens Fülle bietet jedoch nicht nur Triebe wie Essen und Sexualität, sondern in der Erfüllung auch die Möglichkeit ihrer Kultivierung, es enthält nicht nur Gefühle wie Freude und Ekel, sondern auch die Kraft, widerstehen zu können. Und wie das Leben als einzelnes nicht denkbar ist ohne anderes Leben, das es erst zum Leben bringt, so wird es, die Kaspar-Hauser-Experimente haben es in ihrer Brutalität bewiesen, ohne anderes Leben auch kein Fortleben geben. Leben ist also nicht nur der biologische Quell des Menschseins, sondern ebenso der moralische Grund für die Achtung des Menschen.“ (Brenner/Zirfas 2015, 230).

Doch was bedeutet in diesem Zusammenhang ein „gutes Leben“? In einer frühen systematischen Schrift, nämlich in der Nikomachischen Ethik von Aristoteles, einer Lebensanleitung für den Sohn des Philosophen, unterscheidet dieser gleich am Anfang drei verschiedene Lebensweisen: das Genussleben,

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das politische Leben und die philosophische Betrachtung, wobei diese Reihenfolge durchaus als Hierarchie gemeint ist.

Das gute Leben hat es mit Gütern zu tun, sodass die Frage nach dem guten Leben zu einer Frage danach wird, welches Gut man anstreben soll. Auch hierfür bietet der Systematiker Aristoteles eine Ordnungsvorstellung an: Er unterscheidet äußere Güter, Güter der Seele und Güter des Leibes:

„Von diesen gelten die der Seele als die wichtigsten, als Güter im vollkommensten Sinne“. (13)

Machen wir einen Sprung in die Gegenwart zu dem Philosophen Martin Seel. Seine Begriffsbestimmung:

„Ein gelingendes Leben hat, wem es gelingt, ein auf ungezwungene Weise selbstbestimmtes Leben zu führen.

Ein glückliches Leben hat, wem sich in einem selbstbestimmten Leben die wichtigsten eigenen Wünsche erfüllen.

Ein gutes Leben hat, wer ein mehr oder weniger glückliches und gelungenes Leben führt.“ (Seel 1995, 127.

Hier taucht er wieder auf, der Begriff der Selbstbestimmung, auch wenn Seel ausführt, dass in seiner Sichtweise Selbstbestimmung zwar notwendig, aber noch nicht hinreichend für ein gutes Leben ist.

Dies sieht möglicherweise der Philosoph Volker Gerhardt (1999) anders, was sicherlich davon abhängt, wie anspruchsvoll man „Selbstbestimmung“ definiert. Volker Gerhardt dekliniert unter dem Oberbegriff der Selbstbestimmung systematisch Begriffe wie Selbsterkenntnis, Selbstständigkeit, Selbstherrschaft und Selbstzweck, Selbstorganisation, Selbstbewusstsein, Selbststeigerung, Selbstverantwortung, Selbstbegriff, Selbstgesetzgebung und Selbstverwirklichung durch. Die meisten dieser Begriffe sind in dem „Handbuch Das Starke Subjekt“ (Taube u.a. 2017) aufgegriffen und im Hinblick auf ihre Relevanz für kulturelle Bildungsarbeit diskutiert worden.

Eine gewisse Einigkeit besteht darin, dass es bei der Frage nach dem guten Leben nicht darum gehen kann, jeden spontan geäußerten Wunsch unbedingt erfüllt zu sehen. Es gibt vielmehr die (ebenfalls anthropologische) Bestimmung, dass der Mensch auch selbstreflexiv mit seinen Wünschen umgehen kann und muss.

Selbstbestimmung und Autonomie bedeuten also nicht uneingeschränkte Willkür im Wünschen und Handeln, sondern Respekt vor möglichen und notwendigen Grenzen, die unter Umständen dadurch gesetzt werden, dass auch andere Ansprüche auf ein selbstbestimmtes Leben haben: Es gibt tolerierbare Einschränkungen (Heidbrink in Kersting/Langbehn 2007,283 f.).

Heidbrink gibt die folgenden Kriterien für eine gelingende Autonomie an: die Fähigkeit zur Autonomie besteht darin

– „dass es Individuen gelingt, ihre Entscheidungen in einem qualifizierten Sinn auf sich selbst

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zurückzuführen“

– „dass Individuen sich durch kritische Selbstreflexion und effektive Selbstmodifikation selbst beurteilen und bilden.“ Dazu gehört die Entwicklung eines eigenständigen Verhältnisses zu den eigenen Lebensvorstellungen.

– „Mit den Folgen der selbstverantwortlichen Urteilsbildung und selbstständigen Daseinsgestaltung so umgehen zu können, dass hieraus keine substantielle Beeinträchtigung des eigenen Lebens entsteht“. D.h., man muss die Konsequenzen seiner Autonomie auch ertragen und bewältigen können.

– „Dass Individuen mit den Folgen ihres Handelns innerhalb eines bestimmten sozialen Kontextes leben können.“ (ebd., 280 f.)

Auch in diesen aktuellen definitorischen Ansätzen findet sich wieder, was bereits bei Aristoteles eine Selbstverständlichkeit war: Es geht nicht um das isolierte Individuum, sondern es geht um ein Leben in einem sozialen Kontext. Der soziale Kontext bedeutet natürlich Respekt vor anderen, was man durchaus als Einschränkung individueller Handlungsmöglichkeiten interpretieren kann, es ist zugleich aber auch die entscheidende Bedingung dafür, dass man individuelle Wünsche überhaupt realisieren kann. Der Mensch ist auch bei der Gestaltung seines individuellen Lebens, bei der Realisierung seines Projektes des guten Lebens ein soziales Wesen.

Typen von Theorien und Konzeptionen des guten Lebens

Dagmar Fenner (2007) unterscheidet drei große Theoriegruppen: hedonistische Theorien (von Epikur bis zu dem neuzeitlichen Utilitarismus), Wunsch- und Zieltheorien und Gütertheorien, für die bereits oben Aristoteles als früher Repräsentant erwähnt worden ist und die sich heute in Ansätzen wiederfinden, die den Lebensstandard oder umfassender die Lebensqualität in den Mittelpunkt stellen.

Ein aktuelles und sehr viel umfangreicheres einschlägiges Handbuch (Fletcher 2017) gliedert das Problemfeld wie folgt:

In einem ersten Teil findet sich ein Durchgang durch die Geschichte der Moralphilosophie von Überlegungen von Platon und Aristoteles über das „gute Leben“, über hedonistische Theorien, die Berücksichtigung der zeitgleich entstandenen großen Weltreligionen (Konfuzius, Tao, Buddhismus und später Christentum) bis zu den späten britischen Moralisten.

An Theorien des guten Lebens werden Hedonismus, Theorien der Wunscherfüllung, Eudaimonismus und Zieltheorien vorgestellt, ein weiterer Teil behandelt „Particular Bads and Goods“ wie etwa Vergnügen, Schmerz, Gesundheit, Behinderung, Freundschaft, Tugend, Bedeutung, Bedürfnisse, Glück und Tod.

Als besondere theoretische Fragestellungen werden Monismus oder Pluralismus, Atomisten oder Holismus, die Frage des guten Lebens bei Tieren, die Beziehung zur Wissenschaft oder insgesamt das theoretische Konzept von well-being diskutiert.

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In letzterem Fall werden bestimmte Typen eines guten Lebens vorgestellt, nämlich ein moralisches, spirituelles, ästhetisches, perfektionistisches oder auswahlwürdiges gutes Leben. Ich komme auf diese Unterscheidungen später zurück.

Es werden Bezüge hergestellt zu Fragen der Autonomie, der Behinderung und zum Feminismus und nicht zuletzt wird wellbeing im Kontext anderer Disziplinen wie Rechtswissenschaft, Ökonomie und Medizin diskutiert. Offensichtlich finden sich die Kategorien von Fenner in dieser Gliederung wieder.

Im nächsten Kapitel will ich einige dieser Ansätze aufgreifen und diskutieren. Vorab will ich das Ergebnis der kritischen Durchsicht von Fenner wiedergeben. Sie lehnt eine rein hedonistische Theorie ab, weil diese die Notwendigkeit eines gerechten Zusammenlebens des Menschen nicht hinreichend berücksichtigt:

„Lust oder subjektives Wohlbefinden können daher niemals Gegenstand oder Ziel individual-ethischen Strebens werden. Sie sind immer nur Begleiterscheinungen von Tätigkeiten, bei denen wir uns mit Gegenständen oder Personen der Außenwelt beschäftigen, an welchen uns viel liegt.“ (174)

Ein gutes Leben kann also nicht in der „Erfüllung aller augenblickshaft und spontan in einem Menschen sprudelnden Wünschen bestehen“ 175). Es geht vielmehr um weiterreichende Ziele, so wie sie etwa an der Spitze von Lebensplänen stehen können.

Sie weist darauf hin, dass es sinnvoll ist, sich mittelschwere Ziele zu setzen, also solche Ziele, die zwar den Einsatz aller Kräfte erfordern, die aber gerade noch erreichbar sind.

Eine solche Zieltheorie ist in ihrer Sicht vereinbar mit einer Gütertheorie etwa im Anschluss an Aristoteles oder aktuell im Anschluss an den Capability Approach von Martha Nussbaum und Amartya Sen. Es geht um die Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse, wobei gilt:

„Mit der Bestimmung und Begründung objektiver anthropologischer Güter ist aber immer nur ein grobes Orientierungsraster für das persönliche gute Leben des Einzelnen gegeben. Denn sie müssen in einem persönlichen Lebensplan gewichtet, geordnet und zu konkreten Zielen ausformuliert werden. Die objektive Gütertheorie kann somit als Basis-Theorie der subjektiven Zieltheorie verstanden werden.“ (177)

Diese (individual-ethische) Kombination zweier Theoriekonzeptionen sieht sie kompatibel mit einer Sozialethik aufgrund folgender Überlegung:

„Wenn man gegenüber den anderen das Recht auf gewisse grundlegende, notwendige Bedingungen eines selbstbestimmten Lebens geltend macht, muss man auch allen anderen glücksstrebenden Menschen dasselbe Recht zuerkennen. Neben dem intrinsischen Wert von freundschaftlichen und partnerschaftlichen Beziehungen hat der einzelne also vernünftige, gute Gründe, im Sinne einer universellen Moral das Glücksstreben aller anderen angemessen zu berücksichtigen.“ (178)

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Mir erscheint dieses Fazit als nachvollziehbar und plausibel.

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9. Das gute Leben in seiner Vielfalt – weitere Überlegungen

Im letzten Kapitel wurden einige Hinweise dazu gegeben, in welcher Weise man das Thema des guten Lebens strukturieren kann. Dies soll in diesem Kapitel fortgesetzt werden.

Holmer Steinfath (1998) leitet seinen Sammelband über aktuelle Positionen zu dem Thema des guten Lebens mit dem Hinweis ein, dass die Frage nach einem glücklichen, gelingenden oder guten Leben eine erstaunliche Renaissance erlebe (7). Er erinnert daran, dass diese Frage seit Sokrates und Platon zur zentralen Frage der Philosophie überhaupt erklärt worden ist, dass sie aber mit Kant zunächst einmal zu einem gewissen Abschluss gekommen ist. Sie ist nicht deshalb zu einem Abschluss gekommen, weil sie eine allseits befriedigende Lösung erfahren, sondern weil Kant sie schlechterdings für obsolet erklärt hat: Die Frage nach dem guten Leben ist eine Frage, die jeder Einzelne ausschließlich nur für sich beantworten kann. Allgemeine und allgemeingültige Aussagen über ein gutes Leben können grundsätzlich nicht formuliert werden.

Diese Position ist eine „radikal subjektivierte Vorstellung von einem guten Leben“ (8), die davon ausgeht, dass ein gutes Leben ein solches Leben ist, bei der eine Person ihre spezifischen Neigungen, Vorlieben oder Wünsche weitgehend erfüllen kann. Glück ist also nur ein individuelles Glück und muss von einer generellen Frage etwa nach einer Tugend als Basis eines entsprechend gelingenden Lebens getrennt werden.

Nun kam es im Zusammenhang mit dem Streit zwischen dem philosophischen Liberalismus (im Anschluss an John Rawls) und den verschiedenen Strömungen des Kommunitarismus zu einer Kritik an den philosophischen Grundlagen einer solchen, strikt subjektivistischen Vorstellung eines guten Lebens. Man wies auf implizite Vorstellungen eines guten Lebens auch in solchen Positionen hin, die eine solche ablehnen; man zeigte, dass die von Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit formulierten Grundgüter rechtfertigungsbedürftig seien, allerdings für eine tragfähige Konzeption des guten Lebens nicht ausreichen (vgl. zu all diesem den genannten Beitrag von Steinfath).

Der Sammelband enthält vor diesem Hintergrund zwei große Gruppen von Beiträgen: Eine Gruppe von Autorinnen und Autoren löst sich zwar von einem radikalen Subjektivismus, begründet jedoch zumindest eine reflektierte Form von Subjektivität. Eine zweite Gruppe von Autorinnen und Autoren vertritt den (objektiven) Standpunkt, dass man durchaus allgemeine Aussagen über das gute Leben treffen könne.

Ich zitiere einige Fundstücke und Thesen, die in unserem pädagogischen Zusammenhang relevant sind. So findet sich der Hinweis auf Platon, dass ein Leben dann gut sei, wenn es die Anforderungen, die wir an ein Leben stellen, erfüllt (so Peter Stemmer).

Quasi ein roter Faden durch die Beiträge ist das Ziel der Selbstbestimmung als Kern eines guten Lebens. Dieses Ziel ist aufs engste verbunden mit einem weiteren Ziel, nämlich mit dem Ziel der Selbstverwirklichung (Hans Krämer) als möglichst uneingeschränkter Realisierung der dem Menschen als Gattungswesen eigentümlichen Fähigkeiten.

Es liegt auf der Hand, dass sich mit dieser Überlegung sofort eine enge Verbindung mit dem Bildungsbegriff ergibt, so wie er seit Wilhelm von Humboldt verwendet wird.

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Der hier zitierte Hans Krämer ist der akademische Lehrer von Wilhelm Schmid (1998), der seinerzeit mit seinem Verkaufserfolg einer „Philosophie der Lebenskunst“ im Anschluss an entsprechende antike Vorstellungen, insbesondere in der Form, wie sie Michel Foucault in seinen Spätschriften rezipiert hat, Furore gemacht hat.

Letztlich geht es in einer solchen Philosophie der Lebenskunst genau um ein solches Projekt des guten Lebens, wobei Wilhelm Schmid ebenso wie Foucault sehr differenzierte Angaben darüber macht, mit welchen Techniken eine solche Lebenskunst im Sinne eines Verständnisses von Können realisiert werden kann (siehe zur Kritik den Sammelband Kersting/Langbehn 2007).

Diese Überlegung, dass ein gutes Leben darin besteht, seine Fähigkeiten in vollem Umfang auszubilden, deckt sich mit der anthropologischen Fundierung einer Ethik, die davon ausgeht, dass es darum geht, gut Mensch zu sein. Wohlgemerkt: Es geht hierbei nicht darum, ein guter Mensch zu sein, sondern es geht darum, die anthropologische Mitgift des Menschseins in vollem Umfang als Subjekt zu realisieren.

In dieselbe anthropologische Richtung geht die Bestimmung (hier von Steinfath, a. a. O, 76), dass Personen sich „geradezu als Wesen begreifen (lassen), die sich die Frage, was ein gutes Leben ist, stellen können und ihr Leben notwendig im Horizont dieser Frage führen.“

An dieser Stelle lassen sich zwanglos die von Volker Gerhardt (1999) in seinem Buch Selbstbestimmung durchdeklinierten Begrifflichkeiten anführen, zu denen das erwähnte Ziel der Selbstverwirklichung und die Entwicklung eines Selbstbegriffs ebenso gehören wie Selbststeigerung, Selbstverantwortung, Selbstbewusstsein, Selbstständigkeit und Selbsterkenntnis.

All diese Begrifflichkeiten haben mit dem Konzept der Selbstreflexivität zu tun, die auf der Basis der exzentrischen Positionalität (Helmuth Plessner) möglich wird und wesentlich das Menschsein bestimmt.

In diesem Kontext spielt auch eine ästhetische Praxis und spielen ästhetische Erfahrungen eine wichtige Rolle, denn sie sind geeignete Medien, diesen Prozess der Selbstreflexion spielerisch voranzutreiben (so etwa Josef Früchtl in seinem Beitrag „Spielerische Selbstbeherrschung. Ein Beitrag zur ‚Ästhetik der Existenz‘, ebd., 124ff.).

Unter den Autorinnen und Autoren, die Steinfath unter den objektivistischen Theorien eingeordnet hat, findet sich an zentraler Stelle der Ansatz von Martha Nussbaum mit ihrem Capability Approach, so wie er in früheren Kapiteln bereits ausführlicher dargestellt wurde.

Dieser Capability Approach basiert auf einer spezifischen Vorstellung des Menschen, einer „schwachen Anthropologie“, die davon ausgeht, dass der Mensch bestimmte Bedürfnisse und bestimmte Fähigkeiten hat, die er entwickeln können muss, wozu die Gesellschaft bestimmte Verwirklichungschancen bereitzustellen hat, will sie als legitime Gesellschaft gelten.

Die oben in den von Dagmar Fenner vorgestellten „Wunsch- und Zieltheorien“ eines guten Lebens formulierten Wünsche und Ziele entsprechen durchaus diesem Katalog von Fähigkeiten und dem Bedürfnis, diese zu entwickeln und zu verwirklichen.

Dies korrespondiert mit dem ursprünglichen Ansatz von Sokrates, Platon und Aristoteles. Aristoteles:

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„Jede Kunst und jede Lehre desgleichen jede Handlung und jeder Entschluss, scheint ein Gut zu erstreben, weshalb man das Gute treffend als dasjenige bezeichnet hat, wonach alles strebt“ (Aristoteles 1995, 1).

Güter sind dabei sehr verschieden: Die Heilkunst, so Aristoteles, strebt nach Gesundheit, die Schiffsbaukunst hat das gelungene Schiff zum Ziel, ein gutes Leben hat also derjenige, der nach den richtigen Gütern erfolgreich strebt. Wichtig sind solche Güter, die man um ihrer selbst willen anstrebt. Staatskunst ist deshalb bei Aristoteles eine privilegierte Form des Handelns und deren Ziel ist Glückseligkeit aller (Eudaimonia).

Hieran schließt die oben zitierte Hierarchie der Lebensweisen an: das Genussleben, das politische Leben und an der Spitze das philosophische Leben.

Das gute Leben basiert auf der entsprechenden Disposition der Seele: den Tugenden. Diese sind lehr- und lernbar.

Die Liste der Güter von Aristoteles ist durchaus einsichtig: Es geht um Gerechtigkeit, Freigebigkeit, Mut, Wahrhaftigkeit etc.

Durchaus anschlussfähig an eine solche anthropologische Grundlegung der Vorstellungen eines guten Lebens ist der Ausgang von dem Begriff der Menschenwürde. Wie oben erwähnt taucht dieser Begriff mit der Renaissance auf und hat mit der hervorgehobenen Rolle von Individualität in der Neuzeit zu tun. Ich stütze mich hier auf das Buch des Philosophen und Schriftstellers Peter Bieri (2013): „Eine Art zu leben“.

Seine Dimensionen des Würdebegriffs sind die folgenden, die sich dann auch als Kapitelüberschriften in dem genannten Buch wiederfinden:

– Würde als Selbstständigkeit

– Würde als Begegnung

– Würde als Achtung vor Intimität

– Würde als Wahrhaftigkeit

– Würde als Selbstachtung

– Würde als moralische Integrität

– Würde als Sinn für das Wichtige

– Würde als Anerkennung der Endlichkeit.

Es geht also darum, wie ich mit mir umgehe, wie ich mit anderen umgehe, wie andere mit mir umgehen. Es geht um Anerkennung und durchaus auch um einen Kampf gegen Ohnmacht und Demütigung:

„Würde ist das Recht, nicht gedemütigt zu werden.“ (32)

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Auch dieser Gedanke ist anschlussfähig und entspricht den vorgetragenen Überlegungen zum Konzept eines guten Lebens:

„Die Würde des Menschen ist seine Selbstständigkeit als Subjekt, seine Fähigkeit, über sein Leben selbst zu bestimmen. Seine Würde zu achten, heißt, diese Fähigkeit zu achten.“ (146).

In unserem Zusammenhang kann man hieraus folgern: Ein gutes Leben ist ein Leben in Würde. Hieran knüpft der Gedanke, den ich im dritten Teil dieses Buches vertiefen werde: Würde wird einem nicht geschenkt, sondern man muss sich um sie bemühen. Würde kann man auch durch entsprechendes (würdeloses) Handeln verspielen. Und nicht zuletzt: Um Würde muss man kämpfen. Dazu gehört, Widerstand zu leisten, weswegen Widerständigkeit im Verständnis dieses Textes zu einem Kernbegriff eines aktuellen Bildungskonzeptes gehört.

In besonderer Weise kümmert sich die Psychologie um die Frage des guten Lebens. Es sind zahlreiche (Persönlichkeits-) Theorien entwickelt worden, die etwas mit unserer Fragestellung zu tun haben. So hat die amerikanische Psychologin Caroll Ryff einen Katalog von sechs (auch empirisch zu überprüfenden) Faktoren entwickelt, die wesentlich für ein psychologisches Verständnis von well-being sind:

– Selfacceptance

– personal growth

– purpose in life

– environmental mastery

– autonomy

– positive relations with others.

Es ist ersichtlich, dass diese Faktoren einer Empirikerin kompatibel sind mit Überlegungen aus dem Bereich der Philosophie.

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10. Lebensformen, Lebensführung und das gute Leben

Lebensführung

Individuelle Lebensbewältigung findet in jedem Augenblick statt. Jeder trifft ständig Entscheidungen, die Einfluss auf die Qualität seines Lebens haben. Bei dieser praktischen Gestaltung des eigenen Lebens kann es um kleine Fragen der Gestaltung des Alltags gehen, es kann sich aber auch um sehr große Fragen handeln, die den weiteren Lebensweg bestimmen. In jedem Fall wird deutlich, dass das Thema des guten Lebens aufs engste mit ständig zu treffenden (Wahl-) Entscheidungen verbunden ist. Dabei werden alle Aspekte des menschlichen Lebens berührt.

Es betrifft Entscheidungen darüber, ob man gesund oder nicht so gesund lebt, wie man sich ernährt, ob man Sport treibt, wie man seine Freizeit verbringen will oder ob man den Verzehr von Genussmitteln übertreibt. Es betrifft Lebensentscheidungen der Partnerschaft oder der Berufswahl. Es betrifft Entscheidungen über den Umgang mit Geld oder die Art und Weise, ob und wie man leben will. Nicht zuletzt betrifft es auch politische Entscheidungen, also etwa die Frage, ob, wie intensiv und wofür man sich engagieren will. Offensichtlich sind all die Güter angesprochen, die bereits Aristoteles in seiner Anleitung für ein gutes Leben erwähnt hat.

Die Moderne zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Anzahl möglicher individueller Entscheidungen erheblich vergrößert hat: Die individuelle Lebensgestaltung wird zunehmend zu einer Aufgabe des Einzelnen. Natürlich musste sich der Mensch auch in früheren Zeiten ständig entscheiden. Er musste Entscheidungen treffen, die etwas mit seinem Überleben zu tun hatten und er war dabei immer weniger auf Instinkte angewiesen. Dies ist der Prozess der zunehmenden Bewusstheit über die eigenen Lebensbedingungen und über die Tatsache, dass diese gestaltet werden müssen und auch in wachsendem Maße gestaltet werden können.

Es geht dabei um die Erfüllung von unterschiedlichsten Bedürfnissen, so wie sie etwa der Psychologe Abraham Maslow in seiner Bedürfnispyramide beschreibt: Bekanntlich unterscheidet Maslow physiologische Bedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse, soziale Bedürfnisse, Individualbedürfnisse und an der Spitze das Bedürfnis der Selbstverwirklichung.

Max Weber hat die Frage der Lebensführung sogar in den Mittelpunkt seiner Arbeit gestellt und er spricht von einer methodischen Lebensführung, die mit der kapitalistischen Grundordnung der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft korrespondiert bzw. sogar die Bedingung der Möglichkeit war, dass diese neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung hat entstehen können. Dass dabei Diszipliniertheit als wesentliches Element nicht bloß in Fabriken entstanden ist und notwendig für deren Funktionieren war, sondern schon sehr viel früher im streng geregelten Klosterleben praktiziert und eingeübt wurde, ist inzwischen erforscht (Treiber/Steinert 1980).

Die Komplexität notwendiger Lebensentscheidungen wird auch deshalb größer, weil es immer weniger verbindliche Vorgaben für die Lebensgestaltung gibt bzw. noch vorhandene Vorgaben an Verbindlichkeit verlieren. So war es bis zum Ende des Mittelalters selbstverständlich, dass die katholische Kirche ein großes Deutungsrecht hatte, wie ein (gottgefälliges) Leben zu führen sei. Dies betraf alle Fragen des Lebens: wann zu arbeiten ist, wann man nicht arbeiten darf, wann die Kirche zu besuchen ist, wie, wen

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und wann man zu heiraten hat, was man als Sünde zu betrachten hat, wann und wie man dies eingestehen und welche Form von Bußen man deshalb ertragen muss. Auch die Art der Lebensmittel wurde – zumindest im Groben – kirchlich bestimmt. Die gesellschaftliche Ordnung der Ständegesellschaft und die Form einer „gottgewollten“ Herrschaft waren weitere verbindliche Vorgaben für die individuelle Lebensgestaltung.

Mit dem Übergang zur Neuzeit ändert sich dies gravierend. Es wurde bereits oben Petrarca erwähnt, der in kulturgeschichtlicher Hinsicht als derjenige gilt, der bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts die individuelle Lebensgestaltung als eigenes Projekt identifiziert hat.

Man muss sehen, dass ein starres gesellschaftliches Gerüst mit verbindlichen Vorgaben für das individuelle Leben auch zur Entlastung des Einzelnen beitragen kann. Der Gewinn an einer Offenheit bei der individuellen Lebensgestaltung ist dagegen mit einem Anwachsen von Entscheidungsnotwendigkeiten verbunden. Damit wiederum ist die Übernahme der Verantwortlichkeit für das eigene Leben verbunden, was im Liberalismus und später im Neoliberalismus zu der überspitzen Aussage führt, jeder sei seines eigenen Glückes Schmied.

Überspitzt ist diese Aussage im Neoliberalismus deshalb, weil jeder Einzelne verantwortlich gemacht wird auch für Notlagen, die er nicht selbst verursacht hat, sondern die durch falsche politische und ökonomische Entscheidungen an anderer Stelle verursacht worden sind. Auch dies ist ein Beispiel dafür, wie sich im Kapitalismus zunächst emanzipatorisch zu interpretierende Entwicklungen wie etwa die Übernahme der Verantwortung für das individuelle Leben zu Ungunsten des Einzelnen entwickeln können.

Bei der genannten Verbindlichkeit gesellschaftlicher Vorgaben und einer sicherlich vorhandenen Statik der vormodernen Gesellschaft muss man zumindest zweierlei berücksichtigen: Zum einen gab es immer wieder Ereignisse, die zum Teil erheblichen Einfluss auf die individuelle Lebensgestaltung hatten. Man denke etwa an die großen Seuchen im Mittelalter, man denke an Kriege oder an Naturereignisse, die das individuelle Leben gefährden konnten. Zum anderen gab es zu jeder Zeit ausdifferenzierte Formen und Typen, sein Leben zu leben. So unterscheidet das Buch „Der Mensch des Mittelalters“ (Le Goff 1998) an unterschiedlichen Subjekttypen den Mönch, den Krieger und Ritter, den Bauern, den Städter, den Intellektuellen, den Künstler, den Kaufmann, die Frau und die Familie, den Heiligen und den Außenseiter. Im Vergleich dazu identifiziert das Buch „Der Mensch der Aufklärung“ (Vovelle 1996) den Adligen, den Geschäftsmann, den Gelehrten, den Wissenschaftler, den Künstler, den Beamten, den Priester und die Frau. Es gibt also offenbar über die Zeiten gleichbleibende Rollen, es verschwinden Subjekttypen, es entstehen aber auch neue.

Dies zu untersuchen ist etwa Gegenstand einer Historischen Kulturanthropologie, so wie sie etwa der Historiker Wolfgang Reinhard (2004) in seinem Buch „Lebensformen Europas“ beschreibt. Er untergliedert sein Buch in drei Teile und beschreibt im ersten Teil den Körper (Sinne und Emotionen, Kleidung und Hygiene, Ernährung und Hunger, Gesundheit, Krankheit, Heilkunst, Lebensalter und Tod), in Teil zwei befasst er sich mit Mitmenschen (Partnerschaft, Ehe, Familie; Kindheit und Jugend; Sozialisation, Erziehung, Bildung; Politik und Recht; Schichtung und Mobilität; Randgruppen, Gewalt und Krieg) und in einem dritten Teil befasst er sich mit Umwelten (Raum und Natur; Wirtschaft und Disziplin;

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Lebensqualität; Bauen und Wohnen bis hin zur Religion).

Damit werden all die Bereiche und Fragestellungen thematisiert, in denen man die Frage nach einem guten Leben stellen kann: Das Tableau von Themen, das Wolfgang Reinhard entfaltet, kann als systematische Ausdifferenzierung der Frage nach dem guten Leben in seinen verschiedenen Dimensionen und Facetten verstanden werden, wobei sich aufgrund der beschriebenen Komplexität der unterschiedlichen Facetten zu den einzelnen größeren Themen zeigt, wie ambitioniert ein solches Unterfangen wäre.

Bei dieser Frage wird die bereits oben diskutierte Unterscheidung zwischen objektiv messbaren Sachverhalten und subjektiven Einschätzungen relevant (453 ff.).

Ein Beispiel:

„In einem einzigen Raum mit dem Vieh zusammen zu leben oder sich überwiegend von Brei, Brot oder Kartoffeln zu ernähren, ist objektiv messbare schlechte Lebensqualität, wurde aber offensichtlich von vielen Menschen lange Zeit als gut, weil als normal empfunden. Sie kannten es nicht besser und waren daher zufrieden.“ (454)

In diesem Zusammenhang kommt Reinhard auch auf die Unterscheidung zwischen einer relativen oder subjektiven Armut im Vergleich zu einer absoluten und objektiven Armut zu sprechen (ebd.). Er weist auf den Wandel des Armutsbegriffs hin, wenn etwa im Spätmittelalter der „arme Mann“ nicht in erster Linie der wirtschaftlich arme Mensch war, sondern derjenige, der nicht herrschaftsfähig war, der von anderen beherrscht wurde. Armut war in dieser Hinsicht kein ökonomischer, sondern ein politischer Begriff (468).

Das Konzept der Lebensführung und insbesondere der alltäglichen Lebensführung hat insofern eine Renaissance erfahren, als nicht bloß Klaus Holzkamp in den letzten Jahren seines Lebens dieses Konzept aufgegriffen hat, sondern es steht auch im Mittelpunkt der Subjektorientierten Soziologie, so wie sie in den letzten Jahrzehnten in München entwickelt worden ist:

„Als Lebensführung wird die Gesamtheit aller Tätigkeiten im Alltag von Personen angesehen, die das Leben eines Menschen ausmachen. Obwohl Sinnstrukturen und Deutungen ohne Zweifel eine wichtige regulative Funktion für die Entstehung und Stabilisierung dieses Zusammenhangs erfüllen, wird Lebensführung nicht (zumindest nicht primär) als Sinnkonstruktion wie etwa im phänomenologischen Konzept der Lebenswelt oder des Alltags und auch nicht als Rahmen der individualkulturellen Stilisierung mit dem Ziel sozialer Distinktion (wie in einem engeren Verständnis von Lebensstil) definiert, sondern primär als Praxis.“ (Projektgruppe alltägliche Lebensführung 1995, 30)

In dieser Alltagsbezogenheit des Konzeptes der Lebensführung entsteht eine gewisse Nähe zu dem in den letzten Jahren verwendeten Konzept der Lebenskunst (BKJ 1999), wobei es auch hierbei unterschiedliche Verständnisweisen gibt. An einer an Nietzsche und Foucault orientierten Verständnisweise, die sich etwa bei Wilhelm Schmid (1998) findet, wird dabei die Nähe zur Kunst und die Fokussierung auf eine ästhetische Praxis kritisiert:

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„Das Leben ist kein Kunstwerk, sondern Handwerk. Es gelingt nicht durch Optimierung der Selbstbestimmungsfähigkeit, sondern durch ihre Kompatibilisierung mit vorgefundenen persönlichen Fähigkeiten und bestehenden sozialen Rahmenbedingungen. Darum besteht das Ziel der Lebenskunst auch nicht im persönlichen Glück und der gelungenen Wunscherfüllung. Es besteht vielmehr darin, zwischen individueller Selbstständigkeit und äußeren Widerständen eine zustimmungsfähige Übereinstimmung zu finden.“ (Kersting/Langbehn 2007, 185).

Diesen Bezug auf ein Handwerk (statt auf ein Kunstwerk) findet sich auch in den Überlegungen von Peter Bieri zu der Idee der Freiheit (Bieri 2003).

Damit ist allerdings nicht behauptet, dass eine ästhetische Praxis keinerlei Bedeutung hat bei der alltäglichen Lebensführung und bei der Konstitution von Subjektivität (vgl. Fuchs 2017, 89 ff.) Insbesondere spielt eine ästhetische Praxis dort eine Rolle, wo man versucht, eine Typologie von Lebensformen (quasi als Angebotsrahmen für individuelle Lebensgestaltungen) zu entwickeln.

Lebensformen

Subjekt- und Lebensformen sind also gesellschaftliche Angebote für die individuelle Lebensbewältigung. In früheren Kapiteln war etwa von der „Demokratie als Lebensform“ die Rede (Dux 2013). Man kann solche Lebensformen als historisch-konkrete Ausformulierungen und Ausdifferenzierungen jeweils vorhandenen übergreifender Menschenbilder verstehen (vergleiche etwa Barsch/Hejl 2000). Es handelt sich um Typen der Lebensgestaltung, um so genannte „Sozialcharaktere“, um Typen von je möglicher Subjektivität. Eine umfassende Beschreibung findet sich in dem Buch Daniel 1981, der die bürgerliche Gesellschaft in vier Phasen aufteilt: die Traditionsgesellschaft, die Akkumulationsphase, die Krise des Kapitalismus und den Spätkapitalismus und für jede dieser Phasen unterschiedliche Sozialcharaktere identifiziert.

Der Soziologe Andreas Reckwitz (2006) untersucht insbesondere die letzten 200 Jahre. Er unterscheidet drei Phasen: die Vormoderne (18. und 19. Jahrhundert), die organisierte Moderne (1920-1970) und die Postmoderne (seit 1970). Für jede dieser Perioden liefert er jeweils polarisierende Paare von Subjektformen:

– das moralisch souveräne Subjekt – das expressive Subjekt der Romantik

– das Angestelltensubjekt – das Subjekt der Avantgarde

– das konsumorientierte Kreativsubjekt – das Subjekt der Counter Culture

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In dem Buch „Kultur und Subjekt“ (2012) habe ich weitere Typologien vorgestellt, die sich insbesondere auf die Moderne beziehen. Es geht dabei stets um die Vermittlung des individuellen Lebens mit Gesellschaft, sodass Lebensformen beides sind: Normative Vorgaben, die zu überschreiten Energie kostet, und gleichzeitig Entlastungen im Hinblick auf individuelle Entscheidungen.

Annemarie Pieper (2003) definiert eine Lebensform wie folgt:

„Unter Lebensform ist eine frei gewählte Weise des Existierens zu verstehen. Dabei bezeichnet das Formmoment zum einen das Gestalterisch-Kreative, das der Tätigkeit des Sich-Selbst-Verwirklichens innewohnt, zum anderen das darin zum Ausdruck gelangende Ordnungsprinzip, welches die einzelnen Akte der Selbstverwirklichung in ein Gesamtbild einbinden. Die Lebensform beruht auf der individuell entwickelten Vorstellung eines guten Lebens, die zunächst als Zukunftsentwurf dem Leben probeweise und vorläufig eine Richtung gibt. Im Licht gemachter Erfahrungen wird sie ständig revidiert und verfestigt sich schließlich zu einer Grundhaltung, welche den Charakter und damit die Identität einer Person begründet. Die Lebensform als ausgebildeter Selbstentwurf enthält die Glückskonzepte, die das Individuum in seiner Vorstellung vom guten Leben integriert hat und mehr oder weniger erfolgreich umsetzt.“ (27 f.)

Vor dem Hintergrund dieser Definition diskutiert Pieper unterschiedliche Typen von Lebensformen: die ästhetische Lebensform unter der Perspektive des sinnlichen Glücks, die ökonomische Lebensform unter der Perspektive des kalkulierten Glücks, die politische Lebensform unter der Perspektive des strategisch hergestellten Glücks, die sittliche Lebensform unter der Perspektive des eudämonistischen Glücks, die ethische Lebensform unter der Perspektive des leidenschaftslosen Glücks und die religiöse Lebensform unter der Perspektive des kontemplativen Glücks (so ähnlich bereits 1921 Eduard Spranger).

Pieper sieht in dem Erreichen von Glück den eigentlichen Sinn einer Lebensform:

„Unter Lebensformen sind Grundtypen individueller Selbst- und Sinnentwürfe zu verstehen, deren identitätsbildende Kraft sich aus dem durchgehaltenen Entwurf eines guten Lebens speist. Jeder Vorstellung eines guten Lebens liegt eine bestimmte Glücksauffassung zugrunde, die darüber entscheidet, was als erstrebenswertes Ziel erachtet wird und was im Gegenzug als gefürchtetes Unglück zu vermeiden ist.“ (37)

Pieper belässt es allerdings nicht bloß bei der Benennung und Beschreibung der unterschiedlichen Glücksformen, sie findet an jeder der vorgestellten Glücksformen Kritikpunkte, die in jedem der genannten Fälle damit zu tun haben, dass sie das Spektrum und die Vielfalt möglicher Lebensformen und damit die Vielseitigkeit des Menschseins zu stark reduzieren.

Gleichzeitig ist aber festzustellen, dass der Mensch auf keine der genannten Glücksformen verzichten

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kann. Mag etwa der Bedarf an sinnlichen Glück bei jedem Menschen anders sein, so gilt trotzdem:

„Ohne ein Minimum an sinnlichem Glück kommt selbst der Asket nicht aus, insofern er Freude an seiner Genügsamkeit empfinden muss, um gut zu leben. Das Gleiche gilt für das wirtschaftlich kalkulierte Glück: ohne ein gesichertes Existenzminimum macht das Leben keinen Spaß, weil das Glück von den Sorgen um den Lebensunterhalt aufgefressen wird. Was das strategisch vorstellbare Glück betrifft, so muss wenigstens für die sozialpolitischen Rahmenbedingungen gesorgt sein, die jedem Individuum die Suche nach seinem persönlichen Glück ermöglichen, unter Einbeziehung des eudämonistischen Glücks, das dem Einzelnen ein zumutbares Maß an Verantwortung für das kollektive Wohlergehen auferlegt. Auch das leidenschaftslose Glück, das sich der spirituellen Dimension des kontemplativen Glücks annähert, gehört zum Menschsein hinzu, selbst wenn es sich in der geistigen Hingabe an profane Dinge erschöpft. Die alte Redeweise, einem Glück und Segen zu wünschen, erinnert daran, dass in einem gelingenden Leben Gott seine Hand im Spiel hat.“ (293)

Pieper nennt auch Kräfte, die dem Glück entgegenstehen: Allmachtsfantasien, Verachtung, Neid, Habgier und Grausamkeit:

„Wer glücklich ist, muss stets mit der Missgunst derer rechnen, die schlechter weggekommen sind und sich im Recht dünken, wenn sie am Glück ihrer Mitmenschen herummäkeln.“ (297)

Das Glück ist also immer gefährdet, „Glück und Schmerz bilden einen Spannungsbogen, ohne den das Leben in sich zusammenfällt.“ (299)

Und nicht zuletzt ist der Gedanke wichtig, der als einer der roten Fäden des vorliegenden Textes gelten kann:

„Trotz der prinzipiellen Unerschöpflichkeit der Humanressource Glück liegt das Glück nicht auf der Straße. Es ist auch nicht „immer da“, sodass man nur die Hand nach ihm ausstrecken muss, wie Goethe meinte. Man muss schon etwas mehr tun, um glücklich zu werden und es zu bleiben. Andererseits entzieht sich das Glück, wenn man verbissen danach sucht, anstatt es beharrlich anzustreben und sich auch über Teilerfolge zu freuen. Wer nur auf das große Glück aus ist und gleich die ganze Menschheit beglücken will, muss mit Enttäuschungen rechnen.“(301)

Und nicht zuletzt im Einklang mit Helmuth Plessner und seiner berühmten Studie über „Lachen und Weinen“:

„Das Lachen ist Indiz für einen Gemütszustand, in dem der Mensch ganz aus sich heraus tritt und doch zugleich bei sich selbst ist: Er ist glücklich.“ (301)

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Teil 3: Die Rolle von Bildung bei dem Projekt des guten Lebens

11. Ein Zwischenfazit und der Begriff der Bildung

Bei den in den obigen beiden Teilen vorgestellten Überlegungen zu dem Begriff des guten Lebens und einer wohlgeordneten Gesellschaft geht es mir nicht darum, originelle und innovative neue Ansätze in beiden Feldern zu entwickeln und zu präsentieren. Es handelt sich vielmehr um die Vorstellung von Ergebnissen einer Lesereise durch eine Fülle von Literatur zu beiden Themenstellungen.

Denn man muss zur Kenntnis nehmen, dass beide Fragestellungen seit Jahrtausenden von der Menschheit thematisiert werden. Dabei ist es keineswegs so, dass ältere Texte völlig irrelevant bei dem Verständnis der heutigen Situation wären. Zu erinnern ist etwa an die These, dass alle spätere Philosophie nichts weiter als Fußnoten zu dem großen Werk von Platon (und Sokrates) sind. In der Tat geht es bei diesen klassischen Werken um grundsätzliche existenzielle Fragen menschlichen Lebens. Diese werden natürlich vor dem Hintergrund der jeweiligen konkreten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen diskutiert und zu beantworten versucht, denn Philosophie ist, so später Hegel, ‚ihre Zeit in Begriffe gefasst‘.

Es überrascht allerdings kaum, dass menschliche Existenzprobleme wie Leben und Tod, Glück, Erfolg, Tugend, Bewältigung von Not und Krankheit, Liebe und Hass sich immer schon stellten. Natürlich fallen die Antworten nicht notwendig gleich aus, wenn man die Fragen zu unterschiedlichen Zeiten stellt. Es geht also darum, die früher gegebenen Antworten auf diese Grundfragen menschlicher Existenz unter den Bedingungen des heutigen Lebens in einer modernen Gesellschaft zu überprüfen. Dabei stellt sich heraus, dass durchaus Texte aus der griechischen Antike ihre Relevanz behalten, sodass man sie auch heute noch mit Gewinn lesen kann. Wenn sich etwa Martha Nussbaum bei der Entwicklung ihrer „schwachen Anthropologie“ sehr stark auf Aristoteles und seine Theorie der Güter bezieht, so zeigt dies die nicht nachlassende Attraktivität dieses philosophischen Ansatzes. Genau dies ist der Grund für eine überzeitliche Gültigkeit und Relevanz der großen Werke der Philosophie und begründen ihren Status als Klassiker.

Ich gehe zudem davon aus, dass alle sorgsam durchgeführten philosophischen und wissenschaftlichen Ansätze, die ein bestimmtes Problem aufgreifen und diskutieren, eine wesentliche Facette dieses Problems erfassen. Es geht also weniger darum, ob man bestimmte Ansätze für falsch oder richtig hält, sondern ob sie für die Zwecke, die man beabsichtigt, geeignet sind oder nicht.

Ein großer Teil der philosophischen und wissenschaftlichen Literatur setzt sich kritisch mit bereits vorhandenen Ansätzen und Konzeptionen auseinander: Man schreibt, wie einmal jemand ironisch feststellte, Bücher über Bücher. Das mag so sein. Doch ist Kritik ein wesentlicher Motor für das menschliche Denken. Man entdeckt Schwachstellen, mögliche logische Fehler oder eine mangelnde Kohärenz. Man kann dann versuchen, in einem eigenen Entwurf solche Fehler zu vermeiden oder eine bessere Kohärenz herzustellen.

Natürlich kommt dadurch das Nachdenken über diese Problematik nicht zu einem Ende, denn

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nachfolgende Generationen werden andere Fehler und andere Inkonsistenzen zu finden.

Welches sind nun diejenigen Funde, die ich in meiner pädagogischen Lese-Perspektive für geeignet halte, zumindest eine vorläufige Antwort auf die Frage nach dem guten Leben und der wohlgeordneten Gesellschaft zu geben?

Menschen- und Gesellschaftsbilder: Wie sie miteinander zusammenhängen

Die zentrale Grundidee, die der vorliegende Text verfolgt, besteht darin, den engen Zusammenhang zwischen der jeweiligen Vorstellung von Gesellschaft und ihrer politischen Ordnung auf der einen Seite und dem jeweils unterstellten Menschenbild aufzuweisen. Dabei wird ein historisches Vorgehen praktiziert, was allerdings nicht bedeutet, dass eine Gesamtdarstellung der Geschichte der politischen Ideen mit den jeweils dazugehörigen Vorstellungen darüber geplant war, wie der Mensch beschaffen sein muss, der diese Ideen in die Realität umsetzen kann. Für diesen Zweck gibt es inzwischen eine ganze Reihe sehr guter Darstellungen, von denen einige auch hier verwendet worden sind.

Es gibt jedoch einige Möglichkeiten, die Vielzahl unterschiedlicher Politikkonzeptionen zu sortieren. Einige dieser Möglichkeiten sollen hier vorgestellt werden. Dabei habe ich solche Sortiervorschläge ausgewählt, die mit Dualitäten arbeiten, wohl wissend, dass solche Schemata die realen Konzepte nur sehr begrenzt wiedergeben. Doch sind sie tauglich, wenn es darum geht, die hauptsächlichen Gegensätze aufzuzeigen.

Ein weiterer Ertrag besteht darin, dass man bei bestimmten Funktionselementen und Grundideen, die einen modernen, demokratisch konstituierten Staat ausmachen, ein erstes Auftreten in der Geschichte und dies oft verbunden mit einem prominenten Theoretiker identifizieren kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Philosophen, die man mit dem jeweiligen Funktionselement in Verbindung bringt, nur ein Teil eines Diskurszusammenhangs waren. Alle entsprechenden Konzepte waren schon länger im Gespräch, wobei man berücksichtigen muss, dass es sich fast immer um Intellektuellendiskurse handelt (vgl. Llanque 2008).

Es ist zudem zu berücksichtigen, dass Ideen und Konzepte bereits diskutiert wurden, bevor man ihnen den heute gebräuchlichen Begriff zugeordnet hat. Außerdem gibt es gerade bei politischen Begriffen einen starken semantischen Wandel, bei dem man sogar damit rechnen muss, dass sich der Bedeutungsgehalt in das Gegenteil verkehrt (siehe Brunner 2004).

So wurde darauf hingewiesen, dass die heute positiv bewertete demokratische Grundordnung sehr lange Zeit - zum Teil bis heute - bei vielen Denkern seit Platon und Aristoteles in schlechtem Ansehen stand und viele führende Theoretiker eher auf eine autokratische Herrschaft durch einen tugendhaften Herrscher die Hoffnung setzten.

Für eine solche Position gibt es durchaus gute Gründe, denn man fürchtete zum einen eine Tyrannei der Mehrheit, weswegen heute ein wichtiges Qualitätskriterium Minderheitenschutz ist, ein Problem, das

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sich etwa bei großen Koalitionen im Deutschen Bundestag stellt (so auch schon Tocqueville in seinen Studien zu Amerika). Zum anderen war man besorgt wegen der möglichen Manipulierbarkeit der "Massen" durch Demagogen, ebenfalls kein verschwundenes Problem, wenn man an den - auch finanziellen - Aufwand in Wahlkämpfen denkt.

Interessant ist auch der Hinweis auf ein frühes historisches Ereignis. So bewundert man in der griechischen Antike die Demokratie in Athen als vorbildliche Ordnung und setzt sie in einen Gegensatz zu der militarisierten Autokratie in Sparta. Doch war es das demokratische Athen, das den Peleponnesischen Krieg in imperialistischer Absicht anzettelte, wohingegen das militaristische Sparta sich für den Frieden einsetzte. Es war Thukydides, der nüchtern und sachlich Ursachen, Anlässe, den Verlauf und schließlich die Ergebnisse dieses bedeutenden Krieges der Antike beschrieben hat.

Wie gravierend der Peleponnesische Krieg für das geistige Leben der Zeit war, kann man daran erkennen, dass viele bedeutende Persönlichkeiten wie etwa Sokrates daran teilgenommen haben, ihn in ihrem Denken und künstlerischen Schaffen verarbeiteten und dass mit diesem Krieg das Ende der glorreichen Zeit von Athen besiegelt wurde.

Man spricht heute zwar davon, dass es keinen Krieg zwischen Demokratien gegeben hätte, doch zeigt die Geschichte, dass Demokratien zwar eine friedliche Ordnung im Inneren schaffen, jedoch in ihren Außenbeziehungen durchaus aggressiv sein können. Man denke nur an die Interventionen im Irak, in Vietnam und an die zahlreichen (verdeckten) militärischen Aktionen etwa in Süd- und Mittelamerika, bei denen es um die Sicherstellung von ökonomischen Ressourcen für die USA ging.

Im Hinblick auf eine nüchterne Betrachtungsweise politischer Ereignisse muss der Politiker, Geschichtsschreiber und Analytiker Niccolo Machiavelli (1469 - 1527) als Nachfolger von Thukydides gelten. Ihm wird wesentlich das Konzept der Staatsräson zugeschrieben. Dies ist Teil eines Prozesses der Säkularisierung und der Entstehung des frühbürgerlichen Staates (ebenfalls ein Begriff, der erst zu dieser Zeit an Kontur gewonnen hat). Mit diesem Begriff bezeichnet man ein Handeln, das im Konfliktfall Staatsinteressen allen anderen Rechtsgütern und Interessen voranstellt und für ihre Durchsetzung notfalls die Rechtsordnung und die allgemeinen Moralitätsregeln durchbricht (so Münkler 1987, 168 im Anschluss an Helmut Quaritsch).

Der Begriff leistet also beides, die Loslösung von religiösen Normen im politischen Denken, aber auch die Bindung des Machthaber an außerpersönliche Zwecke, nämlich an die Interessen des Staates (ganz so, wie Friedrich II später von sich sagte, er sei der erste Diener des Staates).

Diese Entwicklung markiert den Übergang von dem religiös fundierten Mittelalter zur Neuzeit, bei der andere Formen der Begründung und Legitimation einer staatlichen Ordnung gefunden werden mussten. Historiker des Mittelalters bestreiten zwar bisweilen die These eines gravierenden Epochenumbruchs und weisen darauf hin, dass viele wichtige Gedanken der Neuzeit bereits im Mittelalter angewandt wurden. Dies ist zwar richtig, doch kann man die stattgefundenen Veränderungen im Denken und Handeln nicht übersehen: Mit dem norditalienischen Handelskapitalismus entsteht eine neue Form von Rationalität und zugleich eine neue Bevölkerungsgruppe, die Macht beansprucht und auch erwirkt. Es

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entsteht ein neues, nicht religiös fundiertes Geschichtsbild, indem der Mensch zunehmend erkennt, dass er die Geschichte selbst macht. Es setzt sich die Vorstellung durch, dass eine religiöse Legitimation von Macht begleitet und letztlich auch ersetzt werden muss durch andere Formen der Legitimation:

„Im säkularisierten Bild der Geschichte hat der Mensch mit der Last und Verantwortung für seine Zukunft auch die Dispositionsgewalt über die Sphäre des Politischen übernommen. Nichts ist mehr seiner Verfügung entzogen. Der Mensch ist, virtuell, Herr seines Geschickes geworden.“ (Münkler 1987, 85).

Dieser Gedanke eines neuen Subjekts in der Geschichte, nämlich des Staates, wurde dann von weiteren Theoretikern angereicherten ausdifferenziert: Der französische Philosoph Jean Bodin (1529 - 1596) entwickelt den Gedanken einer souveränen Staatsmacht, Thomas Hobbes (1588 - 1679) entwickelt in Übernahme erfolgreicher Denkmodelle der Naturwissenschaft und Mathematik im Rahmen einer mechanistischen Staatsbegründung die absolutistische Idee des Leviathan auf der Basis eines Gesellschafts- und Herrschaftsvertrages. Als Gegenmodell beschreibt er aber auch den (ebenfalls aus der jüdischen Mythologie entnommenen) Behemoth, einen Staat der Unsicherheit und Gewalt.

Realisten wie Machiavelli und Hobbes gehen dabei von einem negativen Bild vom Menschen aus, sehen den Menschen in seiner Triebhaftigkeit und Gier, sodass sie glauben, diese nur durch einen starken Staat domestizieren zu können, um Frieden in der Gesellschaft zu sichern.

Dabei war dieses Ziel der Friedenssicherung nicht bloß ein abstraktes, sondern es ergab sich aus den langanhaltenden Kriegshandlungen sowohl innerhalb derselben Länder (Bürgerkrieg in England zum Beispiel), als auch zwischen den europäischen Staaten.

John Locke (1631 - 1704) kann davon ausgehen, dass sich ein solch starker Staat inzwischen etabliert hat und nicht mehr begründet werden muss, sodass es nun darum geht, diesen Leviathan zu domestizieren: Es geht nunmehr um Toleranz, es geht um die Konstitution eines freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaates. Locke wurde zum einflussreichsten Impulsgeber für die Politiker der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung.

Montesquieu (1689 - 1755) ist zwar ein Monarchist, schlägt aber – hier durchaus im Sinne von John Locke – vor, die Macht im Staat nicht zu konzentrieren, sondern auf verschiedene Institutionen aufzuteilen (Gewaltenteilung).

Inzwischen hat man auch vielfältige Erfahrungen mit Parlamenten gemacht, die das Volk repräsentieren sollen. Dabei ergeben sich Probleme, weil sich bestimmte Interessen besser durchsetzen konnten als andere. Auch deshalb verfolgte Jean-Jacques Rousseau (1712 - 1778) den Gedanken einer radikalen Demokratie, bei der die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar und direkt die Entscheidungen treffen sollten.

Der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724 - 1804) entwickelte in Kenntnis all dieser Ansätze seine liberale Theorie eines Rechtstaates ausschließlich auf der Basis menschlicher Vernunft.

Damit ist man im 19. Jahrhundert gelandet, wo sich die großen politischen Strömungen des Sozialismus,

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des Liberalismus und Konservativismus entwickeln, die auch bei den heutigen politischen Debatten noch eine Rolle spielen.

Es liegt auf der Hand, dass bei jedem der hier nur kurz benannten Theoretiker bestimmte Annahmen über den Menschen zugrunde lagen: War er frei und fähig zur Mitgestaltung, war er triebhaft und egoistisch, war er von Natur aus böse oder gut, hatte er genügend Bildung und/oder Eigentum als Voraussetzung der Mitwirkung, war er Untertan oder aktiver Bürger, war er (später) Citoyen oder Bourgeois?

Wenn man davon ausgeht, dass Menschen eher dazu neigen, ihre eigenen Interessen gegen andere durchzusetzen und Fragen der Moral keine große Rolle spielen, wird es verständlich, dass sie eine starke Macht brauchen, die die Regeln eines friedlichen Zusammenlebens garantiert. Ist man jedoch der Meinung, dass die Bürgerinnen und Bürger von sich aus tugendhaft sind und – etwa aus Gründen der Vernunft – das Richtige tun, dann kann man sich einen schwachen Staat leisten.

Vor diesem Hintergrund unterscheidet der kanadische Philosoph Charles Taylor (in Brumlik/Brunkhorst 1993, 117-148) eine L-und eine M-Linie (die sich jeweils auf Locke bzw. Montesquieu beziehen). Es geht dabei in beiden Fällen um Grundelemente eines demokratischen Staates, nämlich um Toleranz, Recht und Verfassung auf der einen Seite und Gewaltenteilung auf der anderen Seite. Doch führen beide Ansätze zu durchaus unterschiedlichen Vorstellungen darüber, wie eine demokratische Gesellschaft funktionieren kann.

Eine weitere Unterscheidung besteht zwischen Atomismus und Holismus. Liberale Ansätze gehen davon aus, dass das einzelne Individuum die Priorität vor der Gemeinschaftlichkeit hat. Erst durch das Schließen von Verträgen wird Gemeinschaftlichkeit und Gesellschaftlichkeit konstituiert. Holistische Ansätze gehen dagegen von dem Vorrang der Gemeinschaft aus.

Diese Positionen, die beide eine lange Geschichte haben, spielen insbesondere bei dem Streit zwischen dem philosophischen Liberalismus (im Anschluss an John Rawls) und dem Kommunitarismus die entscheidende Rolle. Die erstere Position setzt quasi die Idee des Besitzindividualismus (MacPherson) fort, die auch die Basis der bürgerlich-kapitalistischen Wirtschaftsordnung war, wohingegen die zweite Position den Gedanken der Gemeinschaft und des Gemeinsinns in den Mittelpunkt stellt, eben weil sie davon ausgeht, dass jeder Einzelne in eine bereits existierende Gemeinschaft mit ihren Werten, Sitten und Gebräuchen hineingeboren wird und seine Individualität in diesem sozialen Kontext entwickelt.

Aus beiden Positionen lassen sich demokratische Grundordnungen entwickeln, beide Positionen können allerdings auch zu undemokratischen Grundordnungen führen. Bei der ersteren Position geht es um ein universalistisch verstandenes Recht, bei der zweiten Position geht es prioritär um die Frage des guten Lebens.

In einer Sichtung dieser Debatten zwischen Vertretern des philosophischen Liberalismus und Kommunitarismus hat Rainer Forst (in Honneth 1994, 181-212) vier wesentliche Themenschwerpunkte identifiziert, in denen sich die jeweiligen Positionen unterscheiden. Dabei ist festzuhalten, dass es sich in

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beiden Fällen nicht um kohärente Schulen handelt, sondern dass es erhebliche Unterschiede zwischen Vertretern desselben Ansatzes gibt. Die vier Themen und Streitpunkte sind nach Forst die folgenden:

Die Konstitution des Selbst: Bei diesem Thema geht es um die oben angeführte Differenz zwischen Atomismus und Holismus, es geht um die moralphilosophische Frage, ob es allgemeingültige Normen (Recht) gibt oder ob es nicht vielmehr die Frage nach dem guten Leben ist, die im Rahmen einer kleineren Gemeinschaft gelöst wird.

Die Frage der ethischen Neutralität und des Vorrangs von Gerechtigkeitsprinzipien vor dem Guten: Hierbei geht es um die Rolle, die die Idee der Gleichheit, insbesondere einer Gleichheit vor einem universalistisch verstandenen Gesetz, spielt. Die Kommunitaristen argumentieren hier mit der Notwendigkeit gemeinsam geteilter Werte.

Politische Integration, Legitimation und Staatsbürgerschaft: Die Kommunitaristen gehen hierbei davon aus, dass eine soziale Integration und damit die Konstitution von Gemeinschaftlichkeit auf einem starken Begriff politischer Partizipation auf der Basis gemeinsamer Werte basieren. Es geht um Gemeinwohl, es geht um eine – durchaus auf Tugend basierende – Konzeption des Bürgers.

Universalismus und Kontextualismus: Hierbei geht es wieder um die Rolle, die die Gemeinschaft und die der Einzelne in der Gemeinschaft spielt sowie darum, was den Zusammenhalt dieser Gemeinschaft garantiert. Sind es sehr abstrakte universelle Rechtsprinzipien oder sind es inhaltlich gefüllte Vorstellungen gemeinsamer Werte?

Forst hat später (1994) diese Überlegungen ausgebaut und verschiedene "Kontexte der Gerechtigkeit" unterschieden, die jeweils mit unterschiedlichen Person-Typen korrespondieren: die ethische Person, die moralische Person, die Rechtsperson und die politische Person.

Man sieht, wie stark die Vorstellungen über Politik und die Vorstellungen über die sie tragenden Subjekte miteinander korrespondieren. Von den Annahmen über die Natur des Einzelnen hängt es ab, wie man sich die politische Ordnung und wie man sich insbesondere den Staat vorstellt. Beide Positionen sind bis heute aktuell.

So gibt es unter den westlichen Demokratien unterschiedliche Entwicklungswege, die sich recht deutlich im Hinblick etwa auf die Ausgestaltung des Sozialstaates (die Liberalen fürchten eine Entmündigung des Einzelnen, die kommunitaristisch Orientierten sehen die Notwendigkeit einer sozialen Einbettung und Solidarität) und damit verbunden auf die Ausgestaltung der jeweiligen Wirtschaftspolitik unterscheiden.

Verwirrend ist gelegentlich, wie bestimmte Begriffe recht unterschiedlich verwendet werden. Ein Beispiel sind die Verfassungsdebatten der entstehenden Vereinigten Staaten. Es spielt John Locke in Verbindung mit Adam Smith – verbunden mit der großen Bedeutung des Eigentums in ihren Konzeptionen - eine wichtige Rolle. Man stritt sich, ob der Zusammenschluss der schon existierenden 13 Staaten ein Staatenbund oder ein Bundesstaat sein sollte. Im Hinblick auf den Bundesstaat diskutierte man kontrovers, welche Kompetenzen der entstehende Bund und seine Exekutiv-Organe haben sollten.

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Die ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten litten darunter, dass sie kaum Ressourcen zur Verfügung hatten, da sie keine Berechtigung hatten, Steuern einzuziehen.

Auch unter den Hauptakteuren der Befreiungsbewegung gab es erhebliche Unterschiede. So plädierte Jefferson für Gleichheit und eine demokratische Ordnung, hatte aber keine Probleme, sehr lange in seinen Ländereien Sklaven zu beschäftigen. Heute zählt die (als sozial-liberal zu bezeichnende) Demokratische Partei Jefferson zu ihren Gründungsvätern, wobei etwas Verwirrung stiftet, dass sich diese Gruppe in der Frühzeit Republikaner nannte. Heute gelten Republikaner als konservativer, gelten eher als (im klassischen Sinn) als (wirtschafts-) liberal und wehren sich vor allem gegen sozialpolitische Interventionen von demokratischen Präsidenten.

All diese genannten Debatten und Problemlagen sind keineswegs überwunden, sondern spielen aktuell sogar eine größere Rolle. So diskutiert man seit Jahren erneut über den gesellschaftlichen Zusammenhalt, weil man ihn gefährdet sieht. Vor diesem Hintergrund erfährt die politische Philosophie des Republikanismus eine neue Konjunktur. Dieser Ansatz hat eine größere Nähe zu der kommunitaristischen Position und geht letztlich auf die politische Philosophie des Aristoteles zurück. Auch hier hat der Bürger eine Schlüsselrolle: Ein Bürger ist immer ein politisch aktiver Bürger und Bildung schließt daher immer politische Partizipation mit ein. Es geht um bürgerschaftliches Engagement, es geht um die Zivilgesellschaft, die sowohl im Rahmen einer politischen Meinungsbildung, aber auch in der Bereitstellung notwendiger sozialer Dienstleistungen als wichtiges Element einer funktionierenden demokratischen Grundordnung anerkannt wird. Eine solche Position wendet sich gegen einen grassierenden Neoliberalismus (vgl. Richter 2004).

Menschen- und Weltbilder im Wandel

Epochenumbrüche erkennt man daran, dass sich die Welt verändert, dass sich aber auch die Bilder, die man sich von sich und der Welt macht, gravierend verändern. Als ein markantes Datum wurde der Jahrhundertwechsel 1500 angegeben. Aus der Perspektive von Europa ändert sich die Welt durch die Entdeckungsfahrten auf der Suche nach einem neuen Seeweg nach Indien. Es verändert sich etwas später die Welt durch die Ergebnisse der sich entwickelnden Naturforschung im Großen (Teleskop) als auch im Kleinen (Mikroskop). Es verändern sich aber auch die Bilder, die man sich von der Welt macht.

Selbst wenn weite Teile der Bevölkerung nach wie vor religiös bleiben, so ändern sich doch zumindest die Intellektuellendiskurse, die mit der Zeit, vor allem wegen der Erfindung des Buchdrucks, der Verbreiterung der deutschen Sprache und einer wachsenden Alphabetisierung auch breitere Bevölkerungsschichten erreichen.

Die Religion bleibt nach wie vor einflussreich, doch gibt es nunmehr in Europa zwei christliche Konfessionen. Auch wenn der Gedanke der Individualität schon Vorläufer in der Antike und im Mittelalter hat, sodass möglicherweise die Rede von einer „Erfindung der Individualität“ (Jacob

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Burckhardt) übertrieben erscheint, so tritt doch das Denken (und Handeln) in Kategorien von Individualität in der Philosophie, in den Wissenschaften, in der Politik und in den Künsten deutlich in den Vordergrund.

Menschenbilder und Weltbilder stehen dabei in einem engen Korrespondenzverhältnis. Man denke etwa an die seit der Antike angewandte Mikrokosmos-Makrokosmos-Figur: Die Welt im Großen in der Natur und in der Gesellschaft ist ähnlich strukturiert wie die Welt im Kleinen und wie es insbesondere der Mensch ist. Veränderungen im Weltbild korrespondieren daher – möglicherweise mit zeitlichen Verzögerungen – mit Veränderungen im Menschenbild.

Im Hinblick auf den Menschen betrifft das unterschiedliche Dimensionen: Es betrifft Aspekte der Wahrnehmung (man denke etwa an die Erfindung der Zentralperspektive in der Renaissance) und des Denkens. Es betrifft Veränderungen in der Gefühlswelt, so wie sie etwa im Rahmen der Mentalitätsgeschichte untersucht werden (Dinzelbacher 1993, Reinhard 2004). Und nicht zuletzt betrifft es Veränderungen der Werte und Normen, an denen sich die Menschen als Einzelne oder in Gruppen orientieren. Dabei gibt es enge Verbindungen zwischen dem mentalen Haushalt der Menschen und der Art und Weise, wie die Gesellschaft sozial, politisch und ökonomisch organisiert ist.

Der sich entwickelnde Handelskapitalismus, immerhin eine Form einer frühen Globalisierung, braucht neue Methoden im Geschäftsverkehr und bei der wechselseitigen Verrechnung der Waren. Es ist kein Zufall, dass sich aus diesem Grund das indisch-arabische Ziffernsystem durchsetzt, weil damit sicherere Berechnungsverfahren in der Ökonomie und insbesondere in der Buchhaltung möglich sind. Insgesamt sprechen die großen Soziologen wie Max Weber, Georg Simmel und Werner Sombart ähnlich wie der Theologe Ernst Troeltsch von einer sich durchsetzenden Rechenhaftigkeit als Grundlage des entstehenden modernen Rationalismus (Schluchter 1998).

Philosophen entwickeln ihre Werke unter Nutzung der in den Naturwissenschaften erfolgreichen mathematischen Methoden, von denen es inzwischen immerhin zwei gibt: den mos geometricus als axiomatisch-deduktive Methode und das algebraische Kombinieren mit kleinsten Bausteinen.

Diese letzte Methode wird insbesondere in der politischen Philosophie dort verwendet, wo man (später) vom Besitzindividualismus sprich: Man entdeckt nämlich das Individuum als kleinstes Atom der Gesellschaft, sodass es sich anbietet, in Anlehnung an die kalkulatorischen und kombinatorischen Methoden in der Mathematik eine entsprechende Gesellschaftstheorie zu betreiben. Insgesamt genießen Maschinenvergleiche ein große Sympathie, weil sie als Beispiel dafür gelten, dass etwas gesetzmäßig funktioniert und äußere Eingriffe – auch eines Gottes – nicht nur überflüssig, sondern sogar schädlich wären.

Wolfgang Drehsen (1982) beschreibt vor diesem historischen Hintergrund die „Geschichte des industrialisierten Bewusstseins“ (unter dem Titel „Die pädagogische Maschine“) die Entwicklung der pädagogischen Praxis, wobei es hierbei nicht bloß um pädagogische Interventionen im engeren Sinne geht, es geht auch um die Erziehung und Disziplinierung der Gesellschaft als Ganzes, etwa durch Armen- und Zuchthäuser. Es geht um Ordnung und Disziplin, es geht um ein neues Verständnis von Zeit und Organisiertheit, die die entstehenden Manufakturen und später Fabriken benötigen, um funktionieren zu können.

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All dies ist verbunden mit einer Veränderung im Wertehaushalt der Menschen. Neben äußeren Zwangsmaßnahmen, so wie sie etwa Michel Foucault in seinen frühen und mittleren Schriften beschreibt, entsteht im Prozess der Zivilisation im Sinne von Norbert Elias eine Binnenverlagerung des äußeren Zwangs in eine innere Handlungsverpflichtung der Menschen. Dies wird etwa unter dem Aspekt einer Genese des Gewissens diskutiert. Münkler (1987) spricht von einem Wertewandel, der eng mit dem Aufkommen des Begriffs des Interesses verbunden ist:

„Die Ablösung des theologischen und des philosophischen Tugendkatalogs im privaten wie im öffentlichen Bereich durch die Orientierung an Interesse, die Zergliederung des die aristotelische Staatsformenlehre noch beherrschenden allgemeinen Interessen in eine Vielzahl von Partikularinteressen, denen die Individuen und Staaten folgten und folgen sollten, war ein Vorgang, der sich in der privaten und in der politischen Sphäre, in der Moralistik und in der politischen Theorie nahezu gleichzeitig abspielt, und es ist schlechterdings unmöglich, von einem der beiden Bereiche zu sagen, er sei für den anderen der Vorreiter gewesen.“ (Münkler 1987, 270)

Diesen Wandel beschreibt etwa Gracian in seinem berühmt gewordenen und von Schopenhauer übersetzten „Handorakel“ (1647), quasi ein legitimer Nachfolger des nüchternen Analytikers Machiavelli.

Es verändert sich der Blick auf die Leidenschaften. So galten Habgier und Gewinnsucht im Mittelalter und im religiösen Tugendkatalog noch als Todsünden, nunmehr wurden sie als funktionsnotwendige Haltungen in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft zumindest akzeptiert (Münkler 1987, 272). Es entsteht ein neuer, bürgerlicher Tugendkatalog mit den Werten der Ordnung, des Fleißes und der Sparsamkeit (Münch 1984). Der Historiker Paul Münch leitet seine entsprechende Textsammlung, die mit dem Narrenschiff von Sebastian Brandt aus dem Jahre 1494 beginnt und die mit Schriften aus dem frühen 19. Jahrhundert endet, mit einem Hinweis auf den seit den 1960er Jahren diskutierten „Wertewandel“ und die „Erosion der bürgerlichen Tugenden“ (9) ein.

Wenn heute also erneut besorgt über Wertewandel oder sogar Werteverfall diskutiert wird, dann gibt es offensichtlich eine längere Tradition solcher kulturpessimistischer Debatten: Die Neuzeit lässt sich geradezu durch eine intensive Thematisierung der Verhaltensstandards des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft charakterisieren. Es geht um Predigten und Erbauungsschriften, Moraltraktate, Kinderliteratur pädagogische Abhandlungen, Beispielgeschichten, Hausliteratur, Sprichwörter und auch bildliche Quellen (29). Es geht um den „Lobpreis der Autorität, des Gehorsams, des Opferwillens, der harten Pflichterfüllung“ (so zitiert Münch Max Horkheimer, ebd. 29):

„Kaum ein Roman, kaum ein politischer, philosophischer oder ökonomischer Traktat, um von theologischen und pädagogischen Schriften ganz zu schweigen, der nicht die Grundprobleme alltäglicher Existenz, zu denen Arbeit, Zeiteinteilung und methodische Planung und Vorsorge – zumindest in den unteren und mittleren Schichten der Bevölkerung – gehörten, wenigstens am Rande zur Sprache brachte.“ (ebd., 30)

In ähnlicher Weise werden Laster wie Faulheit, Müßiggang, Unordnung, Verschwendungssucht und das sehr ambivalent behandelte Luxusproblem diskutiert (30).

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Nun lassen sich Entwicklungen in der Geschichte in einem zeitlichen Abstand leichter analysieren als Entwicklungen der Gegenwart. Trotzdem lassen sich einige parallele Entwicklungen auch heute erkennen. So verändert sich wie damals die wahrnehmbare Welt, wobei es sich heute nicht um geographische Eroberungszüge handelt, sondern es sind die digitalen Techniken, die das individuelle und soziale Verhalten erheblich beeinflussen.

Man muss davon ausgehen, dass sich aufgrund der Digitalisierung Formen der Wahrnehmung und des Denkens verändern. Diese real ablaufenden Entwicklungen, an die sich die Menschen im Rahmen informeller Lernprozesse anpassen, werden begleitet zum einen durch eine entsprechende neoliberal orientierte Politik und zum anderen durch dazu passende pädagogische Interventionen. Es geht um das Leitbild eines „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2007, Bröckling 2004), eng verbunden mit neuen Vorstellungen darüber, wie der Markt und seine Akteure zu denken seien. Es geht um ein bestimmtes Verständnis von Kreativität, Empowerment und Qualität, das in seinen Auswirkungen auf den Alltag der Menschen etwa durch die Bücher von Richard Sennett kritisch beschrieben wird. Immerhin gibt es deutliche Gegenbewegungen gegen eine solche totale neoliberale Vereinnahmung des Menschen (Bernhard 2018, Fuchs/Braun 2018).

Interdependenzen von Politik und Pädagogik in Leitbildern und in der Realität – Anmerkungen

Dass es einen engen Zusammenhang zwischen Politik und Pädagogik gibt, ist einer der Grundgedanken dieses Textes (siehe auch Fuchs 2017). Dieser Zusammenhang ist bei einigen der hier angesprochenen Philosophen so eng, dass man die beiden Bereiche überhaupt nicht voneinander trennen kann. Dies gilt für die Philosophen der griechischen Antike ebenso wie etwa für John Locke, Wilhelm von Humboldt oder John Dewey.

Weitere Erkenntnisse kann man gewinnen, wenn man die pauschale Frage nach dem Zusammenhang ausdifferenziert. So kann man sowohl in der Politik als auch in der Pädagogik die Ebene der jeweiligen Ideen von der Praxis unterscheiden, sodass man eine Vier-Felder-Matrix erhält, bei der im Grundsatz jede der zwölf Fragerichtungen sinnvoll ist.

So kann man etwa danach fragen, inwieweit politische Ideen die politische Realität, die pädagogische Realität und die pädagogischen Ideen beeinflusst haben. John Locke ist hierfür ein gutes Beispiel, dessen politische Überlegungen sowohl Einfluss hatten auf die Gestaltung der politischen Realität (etwa bei der Gründung der Vereinigten Staaten), er hat selbst pädagogische Ideen formuliert, die sein politisches Konzept realisieren helfen sollten und die wiederum Einfluss hatten auf die Gestaltung des Bildungswesens seiner Zeit.

Aber auch die Realität jeweils von Politik und Pädagogik hat die Entwicklung entsprechender politischer bzw. pädagogischer Ideen beeinflusst, mit deren Hilfe die jeweilige Praxis verändert werden sollte.

Man kann diese wechselseitigen Zusammenhänge in entsprechenden Darstellungen, etwa einer Sozialgeschichte der Pädagogik (sowohl im Hinblick auf die pädagogische Realität als auch im Hinblick auf das pädagogische Denken), studieren. Vorbildlich geschieht das im „Handbuch der deutschen

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Bildungsgeschichte“ (Berg 1987 ff.). Aber auch die groß angelegte „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ von Hans-Ulrich Wehler (2008) erfasst – mit einem Schwerpunkt auf der realen Entwicklung – die Komplexität dieser Prozesse.

Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht auch die „Quellensammlung zum Verhältnis von Gesellschaft, Schule und Staat“ (Michaels/Schepp 1973), die anhand von Originaldokumenten aus Politik, Wissenschaft, Philosophie und Verwaltung zeigt, wie bewusst das wechselseitige Verhältnis von Politik und Pädagogik von Zeitgenossen reflektiert und in entsprechende Handlungsstrategien umgesetzt wurde.

Es geht also immer um eine Verbindung von Real- und Ideengeschichte, wobei die Beziehungen zwischen den sich ausdifferenzierenden Bereichen der modernen Gesellschaft (Politik, Ökonomie, Gemeinschaft, Kultur) berücksichtigt werden müssen.

Wie sich dabei beides, politische Ideen und reale gesellschaftliche Entwicklungen, in pädagogischen Leitkonzepten und Subjektformen verdichten, zeigt Hermann Veith in seinen beiden Studien aus 2001 und 2003 (Siehe auch meine Untersuchung Fuchs 2012, in der ich einen Überblick über entsprechende Studien zur Entwicklung von Subjektformen gebe. Aus der Soziologie ist insbesondere die Arbeit von Andreas Reckwitz 2006 zu nennen).

Das gute Leben

Mir scheint der Vorschlag von Dagmar Fenner (2007) plausibel zu sein, für die Antwort auf die Frage nach dem guten Leben eine Wunsch- und Zieltheorie mit einer Güter-Theorie zu verbinden. Denn in der Tat setzt sich der Mensch Ziele in seinem Leben und er formuliert Wünsche. Dabei handelt es sich nicht um willkürliche und spontan geäußerten Ziele und Wünsche, sondern der Mensch ist auch in diesem Zusammenhang ein selbstreflexiven des Wesen, sodass es sich stets bei ernsthaften Wünschen und Zielen um solche handelt, die Ergebnisse eines kritischen Reflexionsprozesses sind.

Dies bedeutet, dass bei der Wunsch- und Zielformulierung die Realisierungsmöglichkeiten (etwa persönliche Dispositionen oder äußere Rahmenbedingungen) mit bedacht werden. Dies heißt zwar nicht, dass man beides für unveränderlich hält. Im Gegenteil geht es darum, sowohl das Tableau seiner Persönlichkeitsdispositionen als auch die jeweils vorhandenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mit ihren Einschränkungen mitzugestalten und gegebenenfalls auch nach eigenen Bedürfnissen zu verändern und zu entwickeln. Genau dies ist die persönliche und gesellschaftliche Bildungsaufgabe, auf die später zu sprechen komme.

Gerade bei dem Nachdenken darüber, wie sich Ziele und Wünsche realisieren lassen, stößt man zwangsläufig auf die Frage, welche Ressourcen für diese Umsetzung notwendig sind. Es ist also realistischerweise davon auszugehen, dass man nicht bloß bestimmte Güter anstrebt, ganz so, wie es Aristoteles am Anfang seiner Nikomachischen Ethik ausführt, es ist auch so, dass man hierbei nicht am

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Nullpunkt anfängt, sondern auf das Vorhandensein bestimmter Ressourcen und Güter angewiesen ist.

Nachvollziehbar ist daher, nicht bloß über notwendige Güter nachzudenken, sondern die Notwendigkeit von Gütern sowohl an den zu erreichenden Zielen als auch an den vorhandenen Bedürfnissen zu messen.

Hier scheint mir der Ansatz von Martha Nussbaum und Amartya Sen mit ihrem Capability Approach weiterzuführen, denn jede einzelne der in der Liste von Nussbaum aufgeführten Fähigkeiten korrespondiert mit einem bestimmten Gut.

Richtig erscheint mir auch der Gedanke, dass bei aller Brauchbarkeit dieses Ansatzes lediglich eine notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingung eines guten Lebens erfüllt ist. Denn gerade bei Überlegungen, die sich auf die aktuelle moderne Gesellschaft beziehen, muss man die hohe Relevanz des Gedankens der Individualität berücksichtigen. Ebenso wie es der philosophische Liberalismus in aller Breite ausführt, geht es um den Respekt vor der individuellen Persönlichkeit und den je individuellen Zielen und Wünschen.

Auf der Basis des oben beschriebenen Rahmens lässt sich daher eine Pluralität unterschiedlicher individueller Lebensvorstellungen realisieren und somit eine reflektierte subjektive Zugriffsweise mit einer objektiven Position sinnvoll verbinden.

Dabei erscheint mir der Gedanke einsichtig, dass eine rein subjektbezogene Konzeption eines guten Lebens (wie sie etwa in hedonistischen Theorien vertreten wird) möglicherweise kurzfristig gewisse Glücksmomente verschaffen kann, auf Dauer aber nicht tragfähig ist. So läuft etwa der Konsumismus, so wie er sich der kapitalistischen Gesellschaft als tragende und geforderte Grundhaltung etabliert hat, bald ins Leere. Denn zum einen ist die Bedürfnisstruktur des Menschen so angelegt, dass man nie zu einem Ende kommt bei dem Versuch, seine Bedürfnisse zu erfüllen: Wer eine Yacht hat, sieht bald, dass Nachbarn eine größere Yacht haben. Wer zwei Häuser hat, hätte gern drei. Es verselbstständigt sich also dieses Wachstumsspiel und es ergibt sich nicht nur nicht die erwünschte Befriedigung, sondern es wächst paradoxerweise sogar die Unzufriedenheit.

Auch die Realisierung des verbreiteten Wunsches nach einem Lottogewinn, also der Situation, dass man plötzlich reich ist, führt in seltensten Fällen zu einem Erfolg. Denn viele glückliche Lotto-Gewinner haben ihr gewonnenes Vermögen recht bald verspielt: Es gehört nämlich eine große Bewusstheit und eben auch Bildung dazu, sinnvoll mit der neuen Lebenssituation umzugehen.

Die wohlgeordnete Gesellschaft

Politische Ordnungen sind kein Selbstzweck, sondern sie haben die Funktion, das Zusammenleben von Menschen so zu sichern, dass möglichst viele (in Gesellschaften mit einem demokratischen Anspruch: alle) Menschen die Gelegenheit haben, ihr eigenes Projekt des guten Lebens zu organisieren. Die Zufriedenheit der Menschen mit der Umsetzung dieses allgemeinen Zieles ist eine Messlatte für die Bewertung der jeweiligen politischen Ordnung und damit auch für ihre Legitimität.

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Eine parlamentarische Demokratie ist, nach einem Bonmot von Churchill, zwar die schlechteste Regierungsform, allerdings die beste, die bislang Realität geworden ist. In der Tat kann man in einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie die anthropologisch und kulturgeschichtlich begründbaren Ansprüche auf Freiheit und Selbstgestaltung am besten ausleben. Allerdings gibt es diese politische Ordnung nicht zum Nulltarif, sondern sie muss in einem ständigen Prozess von allen nicht nur ernst genommen, sondern auch praktiziert werden.

Eine durchaus heftiger werdende Kritik an den politischen Ordnungen in den westlichen Gesellschaften macht sich daran fest, dass sowohl die Bevölkerung als auch die politischen Eliten genau dies nicht mehr in ausreichendem Maße tun. Gerade in Deutschland haben wir mit dem Grundgesetz eine verfassungsmäßige Ordnung, die eine sehr gute Grundlage für eine funktionierende politische Ordnung sein könnte. Man muss allerdings sehen, dass dieses Grundgesetz seit seinem Bestehen über 100 mal verändert worden ist, wobei die meisten Veränderungen eine Verschlechterung der Rechtsansprüche des Bürgers oder der Bürgerin bedeuteten. Man erinnere sich nur an die Verschärfungen des Asylrechts oder an die Notstandsgesetze.

Insbesondere ist die Rede von einem Staatsversagen deutlicher geworden, als es um eine Intervention des Staates angesichts des gravierenden Marktversagens vor allem im Finanzsektor in den letzten 20 Jahren ging. Zwar rief man aus der Wirtschaft, die aufgrund der Unfähigkeit oder der Gier der Wirtschaftseliten in die Krise geraten ist, nach einem ordnenden und finanziell unterstützenden Staat. Der Staat hat die geforderte Finanzhilfe auch in astronomischer Höhe gewährt. Allerdings hat er kaum diese ihm zugesprochenen Macht, die er gemäß unserer Verfassung hat, später benutzt, um geeignete ordnungspolitische Maßnahmen im Bereich der Wirtschaft zu ergreifen.

Wenn es heute eine Kritik an unserer demokratischen Grundordnung oder besser: an der Art und Weise, wie man sie versteht und praktiziert, äußert, so betrifft dies überwiegend das Verhältnis der Politik zur Wirtschaft. Man sieht, dass eine dem Selbstlauf überlassene Wirtschaft eben nicht wesentliche Grundprinzipien einer modernen Gesellschaft realisiert, nämlich die Slogans der Französischen Revolution (Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit/Solidarität) in hinreichendem Maße umzusetzen.

Dies hat den Soziologen und Philosophen Günter Dux (2013) zu der These veranlasst, dass sich insbesondere der heutige neoliberale Kapitalismus nicht in Einklang mit einer wohlverstandenen und funktionierenden Demokratie bringen lässt.

Es geht also nicht um die Abschaffung der Marktwirtschaft, denn es hat sich gezeigt, dass der Markt in der Tat eine geniale Erfindung des Menschen ist, wenn es um die Verteilung von Ressourcen geht. Allerdings geht es um einen funktionierenden Markt, ganz so, wie es die erste Generation der (damals sich schon so bezeichnenden) Neoliberalen nach der Weltwirtschaftskrise am Ende der 1920er Jahre schon formuliert hatte. Es geht um eine wirksame politische Steuerung, es geht um die Durchsetzung des Verfassungsprinzips der Sozialpflichtigkeit des Eigentums, es geht um einen notwendigen starken Staat, es geht insbesondere um ein starkes Kartellrecht, damit die Funktionsprinzipien des Marktes, nämlich Wettbewerb und Konkurrenz, auch erhalten bleiben.

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Was ist Bildung?

Man kann zunächst unter Bildung diejenige Disposition verstehen, die notwendig ist, sein eigenes Projekt des guten Lebens zu realisieren. In diesem Sinne hatte man seinerzeit vorgeschlagen, den Begriff der Lebenskompetenz zu verwenden. Es geht um eine gelingende Lebensführung und die Entwicklung der dazu notwendigen Persönlichkeitsmerkmale, wobei alle Bereiche der Persönlichkeit, das Kognitive und das Emotionale, die Leiblichkeit, die Fantasie und die Urteilskraft, die Entwicklung von Motivation und Zielvorstellungen, betroffen sind. In diesem Sinne kann man Bildung als Weiterentwicklung der anthropologischen Mitgift des Menschen verstehen, so wie sie oben beschrieben worden ist.

Es geht dabei um die Entwicklung von reflektierten Welt- und Selbstverhältnissen, es geht um die Kultivierung der exzentrischen Positionalität, es geht um den Wunsch, neugierig auf sich selbst zu sein, neue Fähigkeiten zu entdecken und vorhandene Fähigkeiten weiterzuentwickeln.

An dieser Stelle finde ich die Überlegungen des Philosophen und Schriftstellers Peter Bieri in seinen verschiedenen Publikationen, insbesondere in seinem Buch „Wie wollen wir leben?“ (2011) hilfreich. Es geht um das zentrale Ziel der Selbstbestimmung, es geht um den zentralen Begriff des Lebens in Würde:

„Selbstbestimmt ist unser Leben, wenn es uns gelingt, es innen und außen in Einklang mit unserem Selbstbild zu leben – wenn es uns gelingt, im Handeln, im Denken, Fühlen und Wollen der zu sein, der wir sein möchten. Und umgekehrt: Die Selbstbestimmung gerät an ihre Grenzen oder scheitert ganz, wenn zwischen Selbstbild und Wirklichkeit eine Kluft bleibt.“ (13).

Hier haben wir sie wieder, die Begriffe, die alle mit dem Wort „Selbst-“ beginnen und die Volker Gerhardt (1999) in seinem Buch „Selbstbestimmung“ durchdekliniert. All dies sind Elemente eines zeitgemäßen Bildungsbegriffs, den man insofern ausdifferenzieren kann, als es um die Förderung und Entwicklung all dieser Selbst-Begriffe geht.

Es geht um ein bewusstes Verhältnis zu sich, zu anderen, zur Kultur und zur Natur und zur Zeit, ganz so, wie bereits Wilhelm von Humboldt den Begriff der Bildung bestimmt hat. So sieht es auch Günter Dux (2013, 66 f):

„Unter dieser (humanen; M. F.) Lebensform bleibt es nicht bei einer reflexiven Form der Lebensführung, durch die das Subjekt sich Wissen von der Welt verschafft, sich seines Handlungsvermögens vergewissert, ein Bewusstsein erwirbt, durch sein Handeln etwas ausrichten zu können in der Welt, Ziele zu setzen, Ziele zu verfolgen und zu erreichen oder was man sonst praktischen Fertigkeiten nennen mag – die Reflexivität des Subjekts richtet sich in der Weise auf sich selbst, dass das Subjekt sich seiner Stellung im Universum zu vergewissern sucht. Wer bin ich? Wie muss ich mein Leben führen, wenn ich der oder die bin, der oder die sein will.“

Zu erinnern ist auch daran, dass der Begriff der Bildung von Anfang an ein Emanzipationsbegriff war. Bereits Goethe stellte fest, dass Bildung „der Adelsschlag des Bürgertums“ sei. Das Bürgertum in seiner emanzipatorischen Frühphase kämpfte für die Emanzipation aller, selbst wenn es sich nach den ersten Erfolgen nur noch auf seine eigenen Interessen fokussierte und die Interessen der unterbürgerlichen

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Schichten nicht mehr wahrnahm.

Dieser frühbürgerliche emanzipatorische Bildungsbegriffs, nämlich – so wiederum Humboldt – so viel Welt wie möglich in sich aufzunehmen, ist nach wie vor ein gültiges anspruchsvolles Bildungsziel:

“Bildung ist die wache, kenntnisreiche und kritische Aneignung von Kultur.“ (so Bieri 2011, 62)

Bildung, so kann man dies anders formulieren, meint die Entwicklung eines „starken Subjekts“ (Taube 2017). In der Tat ist es der Subjektbegriff, der – fast bedeutungsgleich mit dem Bildungsbegriff – rund um 1800 diesen von Kant, Schiller, Goethe oder Humboldt formulierten Gedanken auf den Begriff bringt.

In diesem Sinne kann man durchaus die zunächst konservativ anmutenden Ausführungen des Altphilologen Manfred Fuhrmann (1999) verstehen, wenn er den „europäischen Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters“ durchdekliniert (auch wenn man seine Verachtung der Massenkultur nicht unbedingt teilen muss).

Das Subjekt ist das handelnde Wesen, ist der Stützpfeiler der Gesellschaft, ist der Ausgangspunkt von Aktivitäten. Subjektivität meint Handlungsfähigkeit, meint innere Stärke und Kompetenz. Dies schließt die Gestaltung von Rahmenbedingungen ausdrücklich mit ein.

So ähnlich stellt es auch Günter Dux (2000, 2013) dar, wenn er zum einen als Basis der gesellschaftlichen Entwicklung eine entsprechende Entwicklung des Einzelnen, seine Ontogenese als Prozess der Enkulturation sieht, wenn er in sorgfältigen Studien die Genese der humanen Lebensform nachzeichnet und eine selbstbestimmte Lebensform „als von Sinn bestimmte Lebensform“ (2013, 53 ff.) definiert und sich hierbei auch auf den klassischen Bildungsbegriff bezieht.

Dieser Hinweis auf den emanzipatorischen Charakter des Bildungsbegriffs hat ebenfalls eine lange Tradition. Francis Bacon ist oben erwähnt worden mit seiner programmatischen Slogan: Wissen ist Macht. Die Mächtigen wussten das immer schon, denn die Geschichte des Bildungswesens ist auch eine Geschichte des Bildungsmonopols: Man überlegte sich sehr genau, wer dieses Machtmittel Bildung bekommen sollte.

Damit ergeben sich weitreichende Folgerungen für die Bildungspolitik in einer demokratischen Gesellschaft. Wenn es eine wichtige Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaft war, das meritokratische Prinzip durchzusetzen, dass nämlich die Position in der Gesellschaft von der eigenen Leistung und nicht mehr von Stand oder Geburt abhängt, dann muss man heute alle Menschen in die Lage versetzen, eine solche Leistung zu erbringen.

Die Basis für den Erfolg des Lebens wird daher in der Bildungspolitik und somit in den Bildungsprozessen gelegt, zu denen die Menschen Zugang haben oder nicht. Dies belegen inzwischen die immer häufiger durchgeführten Evaluationsstudien. Allerdings ergibt sich hieraus wieder eine kritische Messlatte zur Beurteilung unseres politischen Systems. Denn nach wie vor kann man trotz all dieser Ergebnisse, die in der Politik durchaus rezipiert werden, nicht von einer umfassenden Bildungsgerechtigkeit in Deutschland sprechen. Man muss daher feststellen, dass wir im Hinblick auf strukturelle Defizite in unserer Gesellschaft kein Erkenntnisproblem haben, wir haben vielmehr ein Umsetzungsproblem.

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Es gibt auch keine Lücke im Hinblick auf gut begründete Ziele, die in einer demokratisch strukturierten Gesellschaft angestrebt werden sollten. Nicht zuletzt werden solche Ziele im Grundgesetz und in den verschiedenen Menschenrechtskonventionen formuliert und in den entsprechenden philosophischen und wissenschaftlichen Reflexionen gut begründet. Im Grundsatz besteht auch auf der rhetorischen Ebene kein Widerspruch, denn es bekennen sich alle Parteien zu diesen Zielsystemen. Auch hier ist also die Umsetzung das Problem, und ein Problem ist es deshalb, weil sich die Politik freiwillig und ohne Not ihrer Gestaltungskompetenz begibt.

Diese Hinweise auf die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen des pädagogischen Handelns bedeuten allerdings nicht, dass man nunmehr warten solle, bis man geeignete Rahmenbedingungen hat. Zum einen geht es darum, auch in einem pädagogischen Grundverständnis Einfluss auf die Gestaltung dieser politischen Rahmenbedingungen zu nehmen: Bildung ist immer auch politische Bildung, ganz so, wie es in der griechischen Antike schon formuliert wurde. Zum anderen hat jeder in seinem eigenen Bereich Möglichkeiten, eine solche Form von Pädagogik zu praktizieren, die zu der Entwicklung eines starken Subjektes führen kann. Dies soll in den folgenden Kapiteln weiter ausgeführt werden.

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12. Bildung als Lebensführungskompetenz – Grundlagen

Immanuel Kant war als Professor der Philosophie dazu verpflichtet, regelmäßig Vorlesungen über Pädagogik zu halten. Er hatte dabei eine hohe Achtung vor der Pädagogik, denn er sprach davon, dass die Kunst der Erziehung und die Kunst der Politik die beiden schwierigsten Aufgaben sind, die sich den Menschen stellen.

Er beginnt seine entsprechenden Vorlesungen mit den Worten:

„Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss. Unter der Erziehung nämlich verstehen wir die Wartung (Verpflegung, Unterhaltung), Disziplin (Zucht) und Unterweisung nebst der Bildung. Dem zufolge ist der Mensch Säugling, – Zögling, – und Lehrling.“ (Werkausgabe XII, 697).

Er spricht von einer Stufenfolge in der Erziehung, nämlich Disziplinierung (Zähmung der Wildheit), Kultivierung (Geschicklichkeit, vor allen Dingen im Umgang mit der Gesellschaft), Zivilisierung (Manieren, Artigkeit und eine gewisse Klugheit) und schließlich Moralisierung (die richtige Gesinnung, gute Zwecke zu wählen) (ebd., 706f.).

Seine Überlegungen zur Pädagogik stehen in engstem Zusammenhang zu seinen Vorlesungen zur Anthropologie (die daher auch in demselben Band seiner Werksausgabe publiziert worden sind).

Kant ist auch deshalb eine gute Bezugsperson, weil er einige Gedanken ausformuliert, die im Kontext des vorliegenden Textes hochrelevant sind. So gilt Kant als wichtiger Gründungsvater eines philosophischen Liberalismus, der den Gedanken eines liberalen Rechtsstaates, bei dem die Freiheit des Individuums im Mittelpunkt steht, auf eine neue Weise ausformuliert: Es ist nunmehr die menschliche Vernunft, die die letzte Begründung für die Legitimität einer staatlichen Ordnung darstellt.

Freiheit

Der Begriff der Freiheit des Subjekts steht im Mittelpunkt seines Denkens. Seine „kopernikanische Kehre“ besteht darin, dass nunmehr das Subjekt im Mittelpunkt eines konstruktivistischen Ansatzes steht: Der Mensch ist mit seinen Dispositionen der Schöpfer seiner Welt; die Welt ist das, was der Mensch wahrnimmt und dieser Wahrnehmungsprozess ist ein konstruktiver Prozess des Zusammenwirkens seiner unterschiedlichen geistigen Vermögen.

Wenn Goethe davon spricht, dass Schönheit im Auge des Betrachters läge, dann findet man in der Ästhetik von Kant („Kritik der Urteilskraft“) die philosophische Begründung dafür: Schönheit ist keine objektive Gestaltqualität, sondern in der Erfahrung von Schönheit erlebt der Mensch genussvoll, dass sein Erkenntnisapparat auch bei diesen betreffenden Gegenständen funktioniert. Die Freude des

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Menschen an der Schönheit ist letztlich eine Freude an sich selbst.

Wenn Friedrich Schiller später in seinen „Briefen zur ästhetischen Erziehung“ seine politische Vision entwickelt, dass der Mensch in der freien und kreativen ästhetischen Praxis eine Lust auf Freiheit entwickelt und Schiller die Hoffnung hat, dass diese Lust an Freiheit aus der Oase der ästhetischen Praxis in die Gestaltung der Gesellschaft übergeht, dann orientiert er sich sehr stark an den Überlegungen von Kant. Man kennt sein Hand- und Leseexemplar mit den entsprechenden Anstreichungen in der Kritik der Urteilskraft, mit dem sich Schiller diese Theorie angeeignet hat.

Es ist die freiheitliche Konstruktivität also, die die Basis der Ästhetik ist. Es ist die freiheitliche Konstruktion, die die Basis des Erkennens ist. Und nicht zuletzt ist es das freiheitliche Handeln, das den liberalen Rechtsstaat konstituiert.

Auch in der Pädagogik stellt Kant tiefgreifende Überlegungen an. Berühmt ist seine These von der „Freiheit bei dem Zwange“ (711). Sein zentrales Bildungsziel ist nämlich die Mündigkeit des Menschen.

All dies steckt in den Begriff des Subjekts, denn es geht um Handlungsfähigkeit, um Autonomie, um Selbstbestimmung. All dies sind Dispositionen, die zwar auf einer anthropologischen Mitgift basieren, die allerdings erst entwickelt werden müssen.

In welche Stufen dieser Erziehungsprozess geschieht, wurde eingangs zitiert. Kant weiß aber auch, dass die Schule eine staatliche Zwangsanstalt ist. Insgesamt ist Pädagogik in den Augen Kants kein freiheitlicher und freiwilliger Prozess, sodass er zu der paradoxen Formulierung kommt, dass es um eine Entwicklung zur „Freiheit bei dem Zwange“ geht. Um als mündiger Bürger die Ansprüche einer liberalen Rechtsordnung und eines zukünftigen demokratischen Staates erfüllen zu können, um also das Ziel der Emanzipation zu erreichen, muss sich der heranwachsende Mensch einer Erziehungsprozedur – auch in der Zwangsanstalt Schule (731) - unterziehen. Ziel dieses Erziehungsprozesses ist allerdings, die wachsende Fähigkeit zur freiheitlichen Lebensgestaltung zu respektieren.

So ähnlich formuliert es auch der Erziehungswissenschaftler Dietrich Benner in seiner Allgemeinen Pädagogik, wenn er davon spricht, dass es sich bei der Pädagogik um ein Gewaltverhältnis handelt, wobei der Clou darin besteht, dass es ein sich selbst aufhebendes und selbst negierendes Gewaltverhältnis sein müsse (Benner 1987, Kapitel 5).

Die Kategorie der Freiheit zeigt hier ihre Vieldimensionalität. Sie ist ein Bildungsziel und spielt eine durchaus spannungsvolle Rolle im Bildungsprozess. Sie ist die Basis für die Entwicklung des einzelnen Menschen und damit eine wichtige Rahmenbedingungen des Erziehungs- und Bildungsprozesses. Sie ist zugleich ein zentrales politisches Gestaltungsziel. Dies bedeutet, dass die Kategorie der Freiheit eine Art Brückenfunktion erfüllt, nämlich zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft zu vermitteln.

Auch in bekannten Bestimmungen der Freiheit wie dem immer wieder zitierten Satz von Rosa Luxemburg, Freiheit sei die Freiheit der Andersdenkenden, wird die Eingebundenheit des Individuums in soziale Kontexte deutlich: Die Grenzen individueller Willkür liegen dort, wo die Interessen anderer berührt werden. Dies bedeutet, dass man sich immer wieder in Aushandlungsprozessen darüber einigen muss, wo diese Grenzen liegen. Freiheit ist also keineswegs grenzenlos, sie ist auch nicht bindungsfrei.

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Wie alle wichtigen und attraktiven Begriffe ergeben sich auch bei diesem Begriff problematische Verwendungszusammenhänge. So hat man für die Frühzeit der bürgerlichen Gesellschaft und der dazugehörigen philosophischen Durchdringung und Ideologie als Menschenbild die Figur eines abstrakt-isolierten Individuums identifiziert, also einer bindungslosen Monade, die man dann als Ausgangspunkt für die Gestaltung der Gesellschaft genommen hat.

Dieser Gedanke spielt bis heute, etwa in dem Streit zwischen philosophischem Liberalismus und Kommunitarismus, eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, was die Priorität bei der Konstitution von Gesellschaftlichkeit hat: der isolierte Einzelne, der durch Verträge Gemeinschaft und Gesellschaft erst konstituiert, oder die Gemeinschaft mit ihren Sitten und Gebräuchen, die immer schon vorhanden ist und in die jeder Einzelnen hineingeboren wird.

Man spricht von Freiheit auch dann, wenn der Einzelne bindungslos und schutzlos äußeren Einflüssen ausgeliefert ist. Es gibt eine Freiheit von Eigentum, die diese Schutzlosigkeit verstärkt, weswegen bei vielen Vertretern der politischen Philosophie die Rolle des individuellen Eigentums eine so große Rolle spielt (man spricht von einem Besitzindividualismus).

Solche Überlegungen sind bis heute relevant, wenn es darum geht, dass die Entscheidungsträger finanziell so ausgestattet sein müssen, dass sie nicht aufgrund finanzieller Sorgen in Abhängigkeiten geraten. Man spricht von einer negativen Freiheit, wenn es darum geht, gegen äußere Zwänge anzugehen („Freiheit von“), und man spricht von einer positiven Freiheit, weil man der Überzeugung ist, dass man auch die Ziele eines freiheitlichen Handelns angeben muss.

Als Gegenbegriff der Freiheit kann der Begriff der Gewalt gesehen werden (siehe Fuchs 2017, Kap. 8: Formen der Unterdrückung: Macht, Gewalt, Herrschaft). Es geht zunächst einmal um die körperliche Unversehrtheit und später dann auch um weitere Freiheitsrechte.

Die Geschichte der Moderne ist eine Geschichte der Gewalt, sodass es auch im Interesse der Freiheit darum geht, diese Gewalt einzugrenzen. In diesem Zusammenhang spielt der Gedanke des staatlichen Gewaltmonopols eine zentrale Rolle: denn es sollte nun nicht mehr jeder das Recht in die eigene Hand nehmen können, sondern das Recht, Gewalt auszuüben – auf der Basis strenger Regelungen – sollte nunmehr einzig und allein beim Staat liegen. Der moderne Rechtsstaat legt die Maßstäbe dabei sehr hoch an, wenn es um staatliche Eingriffe in die Freiheitsrechte des Einzelnen geht. Doch muss man sehen dass im Zuge der Terrorgefahr in den letzten Jahrzehnten die staatlichen Eingriffsrechte sehr stark ausgebaut wurden.

Man identifiziert besondere Bereiche mit einem spezifischen Anspruch auf Freiheit: die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, die Freiheit der Wissenschaft oder die Freiheit der Künste. Es ergeben sich hierbei allerdings sehr schnell Spannungen zu anderen Grundwerten der Verfassung. So wird diskutiert, ob die Freiheit der Kunst dort ihre Grenzen findet, wo Persönlichkeitsrechte (Art. 1: die Unantastbarkeit der Würde des Menschen) berührt werden. Man spricht von der Willensfreiheit und bestreitet aufgrund neurowissenschaftlicher Erkenntnisse, dass es diese überhaupt gibt. Zudem sind kulturelle Unterschiede zu berücksichtigen. So versteht man in angelsächsischer Tradition unter „Freiheit“ sehr stark eine politische Freiheit, wohingegen der deutsche Freiheitsbegriff sich auf geistige Freiheit bezieht (vgl. Münch 1988).

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Hinter all diesen Überlegungen stecken Vorstellungen über das Bild des Menschen. Ist der Mensch auf Freiheitlichkeit angelegt oder muss man durch entsprechende Zwangsmaßnahmen dafür sorgen, dass er seine unterstellte negative Natur nicht ausleben kann? Solche Menschenbilder spielen natürlich auch in der Pädagogik eine zentrale Rolle (Menze 1993), da sie wesentlich die Art der pädagogischen Intervention und die Gestaltung pädagogischer Institutionen beeinflussen.

Gleichheit

Die zweite Grundforderung der Französischen Revolution, nämlich Gleichheit, erweist sich ebenfalls als komplex und nicht unproblematisch. Dass die Menschen gleich sein müssen vor dem Gesetz und im Bereich der politischen Partizipation, ist eine wichtige Errungenschaft der Moderne.

Dass diese beiden Grundforderungen einer demokratischen Grundordnung ihre Probleme mit sich bringen, erkennt man rasch, wenn man zum einen daran denkt, welche Menschengruppen in Deutschland nicht wahlberechtigt sind, und wenn man zum anderen daran denkt, dass der Erfolg oder Misserfolg vor Gericht durchaus davon abhängen kann, wieviel Geld man für den Anwalt ausgeben kann. Trotzdem ist Gleichheit als Ziel ein positiver Wert in diesen Feldern.

Dies ist allerdings völlig anders in anderen Bereichen. So kann es etwa im Bereich der Künste und der Kultur gerade nicht um Gleichheit gehen. In diesen Feldern Gleichheit zu fordern, wie es gelegentlich in politischen Debatten über die Zuwanderung geschieht („Leitkultur“), ist letztlich inhuman. Im Kulturbereich ist Vielfalt das zentrale Ziel, wobei man auch hierbei bedenken muss, dass kulturelle Unterschiede sehr schnell zu politischen, sozialen und ökonomischen Unterschieden werden. Pierre Bourdieu hat nicht von ungefähr seine Kultursoziologie unter dem Titel des kleinen Unterschiedes (1987) veröffentlicht.

Die UNESCO spricht davon, dass man Vielfalt feiern solle und dass Vielfalt ein Reichtum der Gesellschaft darstellt. Trotzdem hat man in der Realität immer wieder Probleme, diese Vielfalt auch auszuhalten. Der amerikanische Soziologe Todd Gittlin sprach einmal davon, dass man in modernen Gesellschaften sehr viel Energie investiere, um Unterschiede zu markieren und zu beschreiben, und dass man sehr wenig – zu wenig – Aufmerksamkeit darauf lenke, Gemeinsamkeiten herzustellen.

Wir haben es also hier mit einem Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit und Vielfalt zu tun, und wir stehen immer wieder vor dem Entscheidungsproblem, wann welches Ziel angemessen ist.

Ungleiches gleich zu behandeln, so lautet eine Aussage in der Bildungspolitik, führt zu Ungerechtigkeiten. Gemeint ist damit die notwendige Berücksichtigung von Unterschieden im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die unterschiedliche geistige oder körperliche Voraussetzung für die Bildungsprozesse mitbringen.

Andererseits muss man sehen, dass die Überbetonung von Vielfalt dazu führen kann, das Gemeinsame zu vergessen. Es war daher durchaus überraschend, dass der Ethnologe Christoph Antweiler (2009), also

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der Vertreter einer Berufsgruppe, die auf die Vielfalt der Kulturen eingeschworen ist, ein Buch vorlegt, das über alle unterschiedlichen Kulturen hinweg eine dreistellige Zahl von Gemeinsamkeiten beschreibt.

Gerechtigkeit

Gerechtigkeit ist der dritte Begriff, der in diesem Zusammenhang zu diskutieren ist. An dieser Stelle ist ein Streit nicht nötig, ob einer der drei genannten Begriffe der grundlegender ist, es genügt die Feststellung, dass alle drei Begriffe aufs engste miteinander zusammenhängen.

Aufgrund der Bedeutung des Gerechtigkeitsbegriffs ist es nicht verwunderlich, dass es auch hierbei eine Fülle unterschiedlicher Verständnisweisen gibt. Auch hier gibt es bereits bei Aristoteles die grundlegenden Unterscheidungen in eine ausgleichende und eine verteilende Gerechtigkeit. Nicht zuletzt hat der amerikanische Philosoph John Rawls mit seiner Theorie der Gerechtigkeit die Debatte neu angeheizt.

Interessant ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag von Michel Walzer (1998) unterschiedliche Sphären der Gerechtigkeit zu unterscheiden, also Bereiche, in denen man unterschiedliche Gerechtigkeitskonzeptionen anwenden muss. Er unterscheidet die Bereiche der Mitgliedschaft und Zugehörigkeit, der Sicherheit und Wohlfahrt, Geld und Waren, das Amt, die Arbeit, die Freizeit, Erziehung und Bildung, die Verwandtschaft und Liebe, die göttliche Gnade, die gesellschaftliche Anerkennung, die politische Macht. Es geht um die Verteilung bestimmter sozialer Güter wie Geld, Macht, Anerkennung etc..

Dass wir es auch hier mit einem nicht zu beendenden ständigen Diskurs zu tun haben, zeigt Felix Heidenreich (2011) bei der Beschreibung aktueller Problemlagen: Es geht nach wie vor um die Frage der sozialen Gerechtigkeit, der Gerechtigkeit zwischen Frau und Mann, es geht um ökologische Gerechtigkeit (und hier zwischen den verschiedenen Kontinenten und Ländern), es geht um die Frage nach der Gerechtigkeit gegenüber Tieren, es geht um interkulturelle Gerechtigkeit und nicht zuletzt um globale Gerechtigkeit.

Hinter der Debatte über Gerechtigkeit stehen unterschiedliche Vorstellungen über Werte und Normen, die maßgeblich sein sollen für unsere Gesellschaft. Es geht darum, mit welchen politischen Maßnahmen welche Vorstellungen und Konzeptionen von Gerechtigkeit und dann auch noch in welchem Bereich durchgesetzt werden können. Es geht darum, dass die maßgebliche Konzeption von Gerechtigkeit auch akzeptiert werden muss von den Bürgerinnen und Bürgern. Nicht zuletzt geht es auch um das Gefühl von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit.

Aktuell wird die Frage wieder relevanter, wieviel an ökonomischer Ungleichheit die Menschen hinzunehmen bereit sind, bevor sie die Zustimmung zu unserem jetzigen politischen System aufkündigen. Viele befürchten, dass das Maß an ökonomischer Ungleichheit inzwischen so groß ist, dass es von dem Gerechtigkeitsgefühl der meisten Menschen nicht mehr akzeptiert wird.

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Die alltägliche Lebensführung im gesellschaftlichen Wandel

Ein wesentlicher Unterschied zwischen der modernen und der mittelalterlichen Gesellschaft besteht darin, dass sie sich nicht nur ständig verändert, sondern dass Veränderung quasi ein gewolltes Leitmotiv geworden ist. Dabei geht es nicht bloß um Veränderung schlechthin, sondern es geht um ein normatives Verständnis, nämlich um Fortschritt.

Wie oben ausgeführt, geht es dabei um die Realisierung der Versprechungen der Moderne, wobei das Misslingen dieser Versprechungen zu den realen und individuell empfundenen Pathologien der heutigen Gesellschaft gehört.

Der amerikanische Kulturwissenschaftler Richard Sennett wird nicht müde, immer wieder von Neuem in seinen Büchern diese Veränderungsprozesse zu beschreiben und zu kritisieren, wobei er keinen Zweifel daran lässt, dass es insbesondere der Neoliberalismus ist, der diese Veränderungen verursacht. Hatte man in den vergangenen Jahrzehnten eher eine kulturelle und kulturwissenschaftliche Deutung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse bevorzugt (etwa mit dem Begriff des Lebensstils oder Konzepten einer – ästhetisch geprägten - Postmoderne), so rückt in aktuellen Gesellschaftsanalysen inzwischen die zu dieser Zeit vernachlässigte Dimensionen des Ökonomischen wieder in den Vordergrund. Auf die entsprechenden Untersuchungen des Soziologen Günter Dux, der nur ein Beispiel unter vielen ist, habe ich in diesem Text mehrfach hingewiesen.

Im Rahmen der Studien der Projektgruppe Alltägliche Lebensführung (1995) hat man die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse auf Leitbegriffe des Modernisierungsprozesses wie Rationalisierung, Individualisierung, Legalisierung, strukturell-funktionale Differenzierung, Spezialisierung, Domestizierung, Erweiterung von Optionen sowie Kontingenzsteigerung bezogen (im Anschluss an Loo/van Reijen 1992).

Einige Ergebnisse in Kürze:

– Die in der Forschung der Projektgruppe vorgefundenen Muster der Lebensführung sind insgesamt eine Mischung zwischen einer rigiden methodischen Lebensführung im Sinne von Max Weber und situativen Entscheidungen, denen allerdings auch eine Form von Rationalität innewohnt: „Die durch rationale Organisation des Alltags erzeugte neue „Unfreiheit“ der rigiden Selbst-Beherrschung wird durch die situative Logik nicht nur nicht verringert, sondern sie ändert nur ihre Form und wird noch wirksamer.“ (384)

– „Eine Verschiebung der Logik sozialer Handlungsregulierung von rigider Fremd- zu zunehmender Selbst-Steuerung impliziert auf einer ersten Ebene, dass es die Subjekte nun immer mehr auch selbst in die Hand nehmen müssen, dass und wie sie überhaupt einen „Ort“ in der immer komplexeren und

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dynamischen Gesellschaft finden, dem sie sich in ihrem Alltag zurechnen können. Es wird immer mehr der Verantwortung der Betroffenen zugewiesen, sich gesellschaftlich zu integrieren und sozial zu arrangieren, da eindeutige, zuverlässige, universell gültige und langfristig verbindliche soziale Regulierungen für ihre Vergesellschaftung ausgedünnt werden.“ (388)

– „Auch und vielleicht insbesondere im Hinblick auf Geschlechterverhältnisse durchziehen also Paradoxien in Form von Ungleichzeitigkeiten und Ungleichheiten von Beginn an den Prozess der Modernisierung. Denn Modernisierung verspricht Gleichheit, baut jedoch auf der Ungleichheit und Hierarchie zwischen den Geschlechtern, manifestiert in der herrschenden Form der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, auf.“ (397 f.)

– „Menschliche Arbeit soll damit, kurz zusammengefasst, verstanden werden als der Selbsterhaltung dienendes, aktives, produktives und reflexiv-kontrolliertes menschliches Tun. Vor diesem Hintergrund kann nun unsere These deutlicher werden, dass die alltägliche Lebensführung selbst zunehmend zur Arbeit wird: Damit ist gemeint, dass die Personen zunehmend ihr „Leben aktiv in die Hand nehmen müssen“, dass sie auch ihren Alltag – als das gesamte Gefüge ihrer Tätigkeiten, Interessen, Beziehungen etc. – bezogen auf ihre Selbsterhaltung aktiv, produktiv und reflexiv gestalten müssen“ (399).

Man sieht, dass die Anforderungen an den Einzelnen komplexer werden, wobei zusätzlich die Verantwortlichkeit auch für solche Problemlagen, die nicht selbst verursacht worden sind, gesteigert wird. Genau dies ist zwischenzeitlich mit den Konzepten einer Ich-AG und eines Unternehmers seiner Selbst auf den Begriff einer erwünschten neoliberalen Subjektform gebracht worden.

Es geht also darum, veränderte (und wie ich meine: anspruchsvollere) Lebensführungskompetenzen zu entwickeln. Dazu gehört auch, Widerständigkeit gegen unzumutbare Anforderungen zu entwickeln (siehe Fuchs 2018).

Das bedeutet insgesamt, die unterschiedlichen, oft miteinander verbundenen Handlungsformen wie politisches, ästhetisches, ethisches, ökonomisches oder solidarisches Handeln im Hinblick darauf zu untersuchen, inwieweit sie zur Stärkung des Subjekts beitragen.

Dies gilt insbesondere für kulturpädagogische Praxisfelder (siehe Taube 2017), wenn es etwa darum geht, die von Volker Gerhardt (1999) beschriebenen Elemente und Dimensionen einer mündigen Persönlichkeit (Selbsterkenntnis, Selbstständigkeit, Selbstherrschaft, Selbstbestimmung, Selbstzweck, Selbstorganisation, Selbstbewusstsein, Selbststeigerung, Selbstverantwortung, Selbstbegriff, Selbstgesetzgebung und Selbstverwirklichung) entsprechend diesem Bildungsziel in ihrer Entwicklung zu unterstützen.

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Ist ein gutes Leben in einer autoritär oder diktatorisch organisierten Gesellschaft möglich?

Es gab gute Gründe, rund um 1990 anzunehmen, dass nunmehr der Siegeszug der Demokratie als der weltweit verbreitetsten politischen Grundordnung nicht mehr aufzuhalten sei. Diese Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Vielmehr ist in den letzten Jahren auch in bislang stabilen Demokratien ein Anwachsen rechtspopulistischer Strömungen und Parteien bis hin zur Beteiligung an Regierungen festzustellen. Das Überraschende hierbei ist, dass es keineswegs Revolten, Militärputsche oder Revolutionen waren, die zu dieser Entwicklung geführt haben, sondern (mehr oder weniger) demokratische Wahlen.

Noch mehr überrascht vielleicht, dass solche Regierungen auch nach dem Machtantritt nicht an Popularität verlieren, selbst wenn sie gravierend in einer antidemokratischen Intention in bestehende Verfassungen eingreifen. Wie kommt es also, dass Menschen auf hart erkämpfte Freiheitsrechte verzichten und Einschränkungen hinnehmen? Diese Frage stellt sich möglicherweise heute mit größerer Dringlichkeit, sie ist allerdings keineswegs neu.

So ist daran zu erinnern, dass während des Zweiten Weltkriegs entsprechende Forschungen in den Vereinigten Staaten stattgefunden haben, die sich genau diese Frage stellten: Wie hat es dazu kommen können, dass in Deutschland (und zum Teil auch in anderen Ländern) faschistische und nationalsozialistische Parteien die Macht erlangen konnten, ohne dass es erhebliche Widerstände in der Bevölkerung gegeben hat?

Eine Antwort bestand in dem Projekt, an dem neben Adorno auch der Sozialpsychologe Erich Fromm beteiligt war, darin, dass eine spezifische Persönlichkeitsstruktur, nämlich ein autoritärer Charakter, verantwortlich für die Akzeptanz dieser politischen Regime war.

Dieser Ansatz eines autoritären Charakters wurde immer wieder aufgegriffen, etwa von Detlef Oesterreich (1996), der eine Art lerntheoretischer Erklärung für die Entwicklung eines solchen Charakters vorschlug und vor allen Dingen den Wunsch nach Sicherheit als wesentliche Motivation identifizierte. Erich Fromm sprach einige Jahre zuvor – quasi als theoretische Grundlegung seines Beitrages zu der oben erwähnten Studie zum autoritären Charakter – von einer „Furcht vor der Freiheit“ (1983; zuerst 1941). Er identifizierte drei Fluchtmechanismen: eine Flucht ins Autoritäre, eine Flucht ins Destruktive und eine Flucht ins Konformistische.

In meinem Buch über Widerständigkeit (Fuchs 2018) bin ich dieser Fragestellung nachgegangen im Hinblick darauf, wann Menschen Widerstände gegen unzumutbare Bedingungen leisten. Der Aspekt des Konformismus spielt in diesem Zusammenhang natürlich eine wichtige Rolle. Möglicherweise ist die Frage danach aber genauso wichtig, warum Menschen subjektiv solche Bedingungen akzeptieren, bei denen in einer objektiven Sichtweise klar ist, dass sie nicht ihren Interessen entsprechen können. Dies war auch der Ausgangspunkt der Studien von Barrington Moore (1987).

Aktuell ist dies in den Vereinigten Staaten zu erleben, wo ein Milliardär als Präsident ein Kabinett von Multimillionären und Milliardären zusammengestellt hat und nach wie vor mit einer gewissen Akzeptanz bei einem großen Teil der (vor allem armen weißen) Bevölkerung behauptet, dass nunmehr die Interessen dieser von der bisherigen Politik vernachlässigten Bevölkerungsgruppe verstärkt vertreten werde. An dieser Akzeptanz hat sich auch dann nichts geändert, als bislang getroffene Beschlüsse genau

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das Gegenteil bewirkten.

Nun wurde bereits in obigen Ausführungen dargestellt, dass man durchaus eine berechtigte Kritik an Fehlleistungen demokratisch gewählter Regierungen üben kann. So kann man unter Verweis auf das Grundgesetz darauf hinweisen, dass es nach wie vor erhebliche Differenzen zwischen dem Wortlaut des Grundgesetzes und der Realisierung gibt. Ein jährlich erscheinender Grundrechte-Report bilanziert solche Abweichungen in regelmäßigen Abständen (aktuell Müller-Heidelberg 2018). Ebenso zeigen die Evaluationen der Staatenberichte durch den Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen, die Rechenschaft über die nationale Umsetzung der unterschiedlichen Menschenrechtskonventionen geben müssen, dass es eine deutliche Kluft zwischen dem Wortlaut und der Realität gibt. Es werden also manifeste „Bedrohungen der Demokratie“ (Brodocz u. a. 2008) festgestellt, wobei in dem genannten Buch gleich eine ganze Reihe solcher Bedrohungen aufgelistet wird, etwa Staatszerfall, Einschränkung der Grundrechte wegen des Kampfes gegen den Terror und unter der Perspektive von Sicherheit, die Zerstörung der Natur, die Dominanz der Gerichte und der Ökonomie, die Einflüsse der Medien.

Grundsätzlicher sind Argumentationen, die sich mit Konstruktionsfehlern der demokratischen Grundordnung befassen. Es hat hierbei bereits eine Tradition, von einer „Tyrannei der Mehrheit“ zu sprechen. Man bemängelt, dass aufgrund der kurzen Regierungszeit die Problemlösungsbereitschaft der jeweils amtierenden Regierungen nicht sonderlich stark ausgeprägt ist. Man bemängelt, dass zum einen im Rahmen des Staatsapparates die Bürokratie und Verwaltung immer größere Machtanteile erhalten und dass Institutionen entstanden sind, die sich in die politische Gestaltung einmischen, ohne eine demokratische Legitimation zu haben (man denke etwa an die Weltbank, den Internationalen Währungsfonds oder auch eine mangelhafte demokratische Legitimation der Europäischen Union). Man kritisiert eine Verselbstständigung des Rechtssystems, wenn etwa das Bundesverfassungsgericht ohne eine demokratische Legitimation durch eine Wahl dem demokratisch gewählten Parlament sehr präzise Vorgaben bei bestimmten Gesetzgebungsverfahren macht, wenn also der Rechtsstaat quasi in ein Spannungsverhältnis zur demokratischen Grundordnung gerät.

Zudem gibt es seit den Zeiten von Platon und Aristoteles eine immer wieder auflebende Fundamentalkritik an der demokratischen Grundordnung. Ein Argument, das sich über die Jahrtausende hindurch zieht, besteht darin, dass man der in der Demokratie entscheidungsbefugten Masse die Kompetenz abspricht, sinnvolle Entscheidungen treffen zu können. Zudem sei sie anfällig für Demagogen. Vor diesem Hintergrund werden immer wieder autokratische oder sogar diktatorische Regime als Alternative vorgeschlagen. Das gilt sogar für solche Denker, die wichtige Grundelemente einer heutigen demokratischen Grundordnung entwickelt haben, wie etwa Montesquieu mit seinem Konzept der Gewaltenteilung, der eine Monarchie als politische Form favorisierte. Offenbar gibt es immer wieder eine große Akzeptanz für den Gedanken der Sicherheit, der Ordnung und der Stabilität, sodass viele demokratieskeptische oder sogar antidemokratische Positionen mit diesen Zielen argumentieren, kurz: Es geht auch hierbei um in der Breite der Bevölkerung akzeptierte Visionen eines guten Lebens.

Es wurde im ersten Teil auf die Vielzahl unterschiedlicher Demokratietheorien (und demokratisch organisierter Staaten) hingewiesen. Auf der Gegenseite findet man auch eine Vielzahl von nicht-demokratischen politischen Ordnungsformen. Eine erste noch grobe Typologie unterscheidet autoritäre

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und totalitäre Systeme. Auch diese lassen sich weiter ausdifferenzieren, wobei es auffällt, dass in all diesen Konzeptionen zum Teil sehr ausufernde Überlegungen darüber angestellt werden, wie die entsprechenden Subjekte „geformt“ werden müssen, die die jeweiligen Systeme auch tragen wollen und können. Daher spielen die Kultur- und Bildungspolitik in diesen Konzeptionen eine wichtige Rolle. Ohne dies hier weiter diskutieren zu können, will ich nur eine mögliche Typologie nicht-demokratischer politischer Systeme angeben (Waschkuhn 2002, 130 f.):

– Kommunistisch-autoritäre Regime mit einer kommunistischen Parteidiktatur

– faschistisch-autoritäre Regime mit einer Führerdiktatur

– Militärregime mit den Untergliederungen bürokratisch-militärische Regime und militärische Führerregime

– korporatistisch-autoritäre Regime mit einem vom Staat zwangsinstitutionalisierten System der gesellschaftlichen Konfliktschlichtung

– rassistisch-autoritäre Regime, die eine rassische oder ethnisch definierte Gruppe von der Teilnahme an demokratischen Verfahren und von Bürgerrechten ausschließen

– autoritäre Modernisierungsregime (Militärregime in Lateinamerika, Einparteienregime in Ostasien oder Führer- und Einparteienregime im nach-kolonialen Afrika)

– theokratisch-autoritäre Regime immer

– dynastisch-autoritäre Regime

– sultanisch-autoritäre Regime.

Neben diesen neun Subtypen autoritärer Herrschaft unterscheidet Waschkuhn als zweiten Grundtypus „totalitäre Systeme“:

„In totalitären Systemen werden der Intention nach sämtliche Gesellschaftsbereiche von einer vermeintlich umfassenden Ideologie, Heilslehre oder Grundidee durchzogen. Totalitäre Systeme haben ein Unverhältnis zur Wahrheit und zu ihrer monistischen Ausstattung gehört in aller Regel eine monopolistische, am Führerprinzip ausgerichtete Staatspartei, eine sich verselbstständigende Bürokratie und Zentralverwaltungswirtschaft (Plan- oder Kommandowirtschaft), ein Nachrichten- und Waffenmonopol sowie eine einschüchternde, parakriminelle oder terroristische Geheimpolizei.“ (131)

Waschkuhn unterscheidet drei Typen totaler Herrschaft:

– kommunistisch-totalitäre Regime

– faschistisch-totalitäre Regime und

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– theokratisch-totalitäre Regime.

Doch wie kommt es, dass die Menschen solche Systeme erdulden und zum Teil sogar akzeptieren? Es muss offenbar Mechanismen und Instrumente geben, um eine solche Akzeptanz – und damit letztlich eine Legitimation – zu erzeugen. Natürlich sind hier die repressiven Machtinstrumente des Staates zu nennen, insbesondere das Gewaltmonopol im Hinblick auf physische Gewalt. Doch gibt es subtilere Instrumente, die den Konsens sicherstellen sollen. So hat der Staat mit dem Bildungssystem eine große Kontrolle über die Entwicklung mentaler Strukturen bei den Heranwachsenden.

Diese Bedeutung der Bildungspolitik in ihrer Relevanz für die Stabilisierung des jeweiligen politischen Systems bringt es mit sich, dass die politische Dimension von Bildung und die entsprechende Ausrichtung von politischer Bildung eine wichtige Rolle spielen. Auch in Deutschland ist daher die Frage nach der politischen Bildung sowohl innerhalb der Schule als auch im außerschulischen Bereich hochrelevant. International spricht man etwa von einer civic education, in deren Rahmen versucht wird, Persönlichkeitsdispositionen zu entwickeln, die für eine politische Partizipation am demokratischen Entscheidungsprozess relevant sind.

Man kann hierbei formale, nonformale und informelle Lernprozesse unterscheiden, wobei man neben dem gezielten Politikunterricht in der Schule die vielfältigen Einflüsse und gezielten Beeinflussungsversuche gesellschaftlicher Kräfte nicht unterschätzen darf. Mit dieser Frage beschäftigen sich die Sozialisationsforschung, aber auch die Sozialpsychologie, die politische Psychologie nicht zuletzt die Politikwissenschaften selbst.

Formung der Subjekte durch (populäre) Narrative: Die politische Kultur, die subjektive Seite von Politik und die Formung des Habitus

Zur Aufrechterhaltung von Herrschaft werden in jeder politischen Ordnung Begründungen benötigt. Diese Begründungen können unterschiedlich ausfallen, etwa unter Bezug darauf, dass die Herrschaft gottgewollt ist, dass sie sich auf Traditionen berufen kann, dass sich der jeweilige Herrscher durch besondere Fähigkeiten ausgezeichnet hat. Das zentrale Ziel solcher Legitimationsformen ist es, akzeptiert zu werden. Selbst autoritäre und diktatorische Regime verwenden viel Energie darauf, eine Akzeptanz bei der Bevölkerung zu erlangen.

Dies ist bereits deshalb notwendig, weil mit reiner Gewaltanwendung keine dauerhafte und stabile Herrschaft sichergestellt werden kann (und sie letztlich auch zu teuer wäre). Selbst scheinbar stabile politische Ordnungen finden ihr Ende, wenn sie diesen Aspekt der Erhaltung der Massenloyalität vernachlässigen. So spricht man davon, dass die unterschiedlichen sozialistischen Experimente nach dem

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Zweiten Weltkrieg auch deshalb misslungen sind, weil sie den berühmten „subjektiven Faktor“ vernachlässigt haben.

Eine kluge Politik der Machterhaltung nutzt daher immer schon unterschiedliche Instrumente, eine solche Akzeptanz herzustellen. Das Bildungswesen spielt hierbei eine wichtige Rolle. So ist eine von vier gesellschaftlichen Funktionen von Schule, so wie sie etwa Helmut Fend in seiner Theorie der Schule entwickelt hat, auch in einer modernen demokratischen Gesellschaft, neben der Aufgabe der Qualifikation, der Enkulturation und der Allokation/Selektion auch die Funktion der Legitimation (des jeweiligen politischen Systems) zu erfüllen.

Das staatlich organisierte Bildungswesen erfasst jedoch nur einen Teil der vielfältigen Möglichkeiten, Einfluss auf das Denken, Fühlen, Urteilen und Handeln der Menschen zu nehmen. So untersucht Sabine Dengel (2005) neben Schule und Hochschule das Militär, die Rolle der Baukunst, die Familie sowie die Rolle von Intellektuellen in ihrer Wirksamkeit bei der politischen Erziehung des Untertanen (Kaiserreich), des Volksgenossen (NS-Zeit) und der sozialistischen Persönlichkeit (DDR).

Es geht also um entsprechende Kontexte, die eine gewünschte Formung der Subjekte bewirken sollen. Und es geht dabei auch um wissenschaftliche Konzepte, mit denen diese gewollte Persönlichkeitsentwicklung erfasst werden kann. Im Folgenden werden aus einer Vielzahl möglicher Ansätze zwei Zugänge herausgestellt: das Konzept der politischen Kultur zur Beschreibung der objektiven Seite und das Konzept des Habitus im Sinne von Pierre Bourdieu für die subjektive Seite. Mit der Frage nach dem guten Leben hat dies insofern zu tun, dass ein solches Leben im Einklang mit individuellen Vorstellungen und Zielen geführt werden muss. Die Frage ist daher, ob und wie es gelingt, auch die Ziele und Wünsche der Menschen zu beeinflussen und welche Prinzipien autonomer Lebensführung dann noch gelten.

Im Rahmen der Politikwissenschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten das Arbeitsfeld einer „politischen Kulturforschung“ entwickelt, die genau dies zum Gegenstand hat:

„Politische Kultur/Kulturforschung, Bezeichnung für die subjektive Dimension der gesellschaftl. Grundlagen politischer Systeme. P. K. bezieht sich auf unterschiedliche polit. Bewusstseinslagen, Mentalitäten, „typische“ bestimmten Gruppen oder ganzen Gesellschaften zugeschriebene Denk- und Verhaltensweisen. Sie umfasst alle polit. relevanten individuellen Persönlichkeitsmerkmale, latente in Einstellungen und Werten verankerte Prädispositionen zu polit. Handel, auch in ihren symbolhaften Ausprägungen, und konkretes polit. Verhalten.“ (Berg-Schlosser in Schultze 2010, 793)

Dieser Forschungsansatz ist deshalb interessant, weil er eine Beziehung herstellt zwischen der objektiven Realität und der individuell empfundenen Realität. Offensichtlich bemüht sich die Politik (und die damit verbundenen Medien) mit beidem: mit der Gestaltung der Realität, mit großem Aufwand allerdings auch mit der Art und Weise, wie Menschen diese Realität wahrnehmen. Hans Magnus Enzensberger sprach in diesem Zusammenhang schon früher im Hinblick auf die Medien von einer „Bewusstseinsindustrie“, ich

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selbst habe vorgeschlagen, Kulturpolitik (auch) als Mentalitäts-Politik zu verstehen. Inzwischen gibt es interessante Forschungen einer „politischen Kulturgeschichte“, die bestimmte Zeitabschnitte im Hinblick auf ihre politische Kultur untersuchen (siehe etwa Hardtwig 2007 für die Zeit von 1900 – 1933).

Bei der Beantwortung der oben gestellten Frage, wieso autoritäre Ordnungsvorstellungen in der Politik immer wieder auf eine große Akzeptanz in der Bevölkerung stoßen, wird man also auch dies berücksichtigen müssen: wie die Menschen die Problemlösungskompetenz der jeweiligen Ordnung wahrnehmen und bewerten und wie sie dies auf ihre eigene Lebensführung beziehen. Es geht also Wahrnehmung, aber auch um Emotionen, es geht um Ängste, es geht um Gefühle wie etwa dem Gefühl der Sicherheit, es geht um Vertrauen. Dies ist natürlich nicht neu, sondern wurde bereits von Max Weber in seiner Typologie unter dem Begriff der charismatischen Herrschaft diskutiert.

Diesen Problemkomplex kann man mit unterschiedlichen Konzepten, hinter denen jeweils unterschiedliche Theorietraditionen stehen, behandeln. Es geht um Vorschläge, wie die Welt und insbesondere die politische Ordnung wahrzunehmen ist, es geht um Erzählungen, also Narrationen, es geht um Deutungsmuster, Weltanschauungen, Denkformen, Werthaltungen, Ideologien oder Mythen, die eine gewisse Plausibilität beanspruchen können und die alle die wichtige Funktion erfüllen, eine gewisse (wenn auch fiktive) Ordnung in diese wahrgenommene Welt hineinzubringen. Es geht um die Produktion bestimmter Bilder und (von vielen akzeptierten) Selbstbeschreibungen. Selbst die im Alltag beliebten Verschwörungstheorien haben hier ihren rationalen Kern: Sie versuchen zu erklären, was aufgrund einer mangelnden Information, aber auch aufgrund einer realen Komplexität für den Einzelnen nicht unmittelbar erklärbar ist.

Offenbar hat man es hier mit einem anthropologisch zu begründenden Grundbedürfnis des Menschen zu tun, nämlich sich selbst mit seiner existenziellen Lage in dem Gesamt der Welt einsichtig zu verorten. Es geht um Sinn und Sinnhaftigkeit, es geht um Orientierung in Raum und Zeit.

Inzwischen gibt es nicht bloß zahlreiche Forschungen, die sich mit solchen Kommunikationsstrategien auseinandersetzen und die insbesondere die für eine bestimmte Gegend, eine bestimmte Zeit oder eine bestimmte Menschengruppe relevanten Narrative untersuchen.

Eine Forschungsrichtung setzt sich etwa mit der Genese gesellschaftlicher Denkformen auseinander:

Diese „gesellschaftlichen Denkformen (…) enthalten (…) objektiv sowohl relatives Wissen wie auch relative Irrtümer über die Realität, wobei diese beiden Momente aber auf der jeweiligen Stufe selbst nicht voneinander unterschieden werden können, sondern zu einem einheitlichen Weltbild, das den praktischen Anforderungen der Lebensbewältigung entspricht, integriert sind. Die in den Denkformen liegenden Irrtümer und Erkenntnisgrenzen offenbaren sich als solche nur von einem historisch entwickelteren Stand gesellschaftlichen Wissens, also entweder an neuen Erkenntnismöglichkeiten, die sich aus den sich verschärfenden Widersprüchen der jeweils gegenwärtigen Entwicklung ergeben, oder rückblickend von einer späteren Entwicklungsstufe.“

Und weiter:

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„Die gesellschaftlichen Denkformen und Weltbilder, in denen bestimmte gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen Ereignissen der natürlichen bzw. gesellschaftlichen Wirklichkeit erkannt oder gestiftet sind, haben den Charakter der Herbeiführung, Vorhersage und Interpretation von für die Lebenssicherung relevanten Ergebnissen, wobei das Gewicht je nach der gegebenen Eingriffsmöglichkeit und Gesetzeseinsicht mehr auf dem einen oder anderen dieser Momente liegen.“ (Holzkamp-Osterkamp 1975, 255 f.)

Auf diese Weise kann man die Entwicklung unterschiedlicher Denkformen in der Geschichte des Menschen untersuchen. So unterscheidet Klix (1980) als erste auftretende Denkform das archaische Denken, das charakterisiert ist durch eine Personalisierung von Ursachen, durch oberflächlich analogisierende Wenn-Dann-Verknüpfungen und magische Vorstellungen und Bewältigungspraktiken. Seinen Ausdruck findet dieses Denken in den Sagen und Erzählungen von Göttern und alten Helden in den Mythen.

Interessant ist, dass in vielen Gegenden der Erde ähnliche Mythen (über die Deutung der Naturvorgänge, die Schöpfung, das Zusammenleben der Menschen etc.) entstanden sind. Grundlage dieses mythischen Denkens ist die Vorstellung einer (wenn auch zum Teil absurden) Ordnung.

Auch wenn Geister, Götter und ähnliche Kräfte das mythische Weltbild beleben, so ist es doch Kosmos und nicht Chaos. Es ist eine Form der Assimilation und damit auch Beherrschbarkeit der Umwelt. Insbesondere wird das griechische Denken als Weg vom Mythos zum Logos (Nestle) beschrieben.

Dieser Entwicklungsgedanke ist bereits ein solches Narrativ, so wie es später von Max Weber in seiner Theorie einer zunehmenden Rationalisierung der westlichen Moderne fortgeführt wurde (Stichwort: Entzauberung der Welt). Eine solche Interpretation und Sichtweise, dass sich die westliche Entwicklung als permanente (teleologische) Durchsetzung von Rationalität und Vernunft beschreiben lässt, wurde bereits im 18. Jahrhundert von Rousseau und dann sehr stark von der Romantik kritisiert und bestritten. Man diskutiert dies etwa unter der Perspektive, welche Rolle der Mythos in der Geschichte und insbesondere im Rahmen der Entwicklung der Moderne spielt (Bohrer 1983).

Ein theoretisches Fundament erhält der Mythos im Rahmen der „Philosophie der symbolischen Formen“ von Ernst Cassirer (1990). Als Kantianer geht Cassirer davon aus, dass die Erkenntnis und Erfassung der Welt ein subjektiver aktiver Konstruktionsprozess ist, wobei er unterschiedliche Möglichkeiten einer solchen Welt- (und Selbst-) Erfassung unterscheidet, nämlich Sprache, Wirtschaft, Technik, Politik, Kunst, Religion und eben auch Mythos. Jede dieser symbolischen Formen ist in der Lage, die Welt als Ganzes zu erfassen, jeder allerdings unter einem spezifischen „Brechungswinkel“.

Diesen Gedanken eines mythologischen Denkens greift Cassirer in seinem posthum erschienenen Buch über den „Mythus des Staates“ (1985, zuerst 1949) auf. In diesem Buch erklärt er den Nationalismus als unselige Allianz zweier symbolischer Formen, nämlich einer hoch entwickelten modernen Technik und einem archaischen Mythos (Blut, Boden, Rasse). Er untersucht, in welcher Weise die Nationalsozialisten die Sprache und mit der Sprache die Möglichkeit der Erfassung der Welt beeinflusst und verändert haben. Er beschreibt die alltäglichen Rituale (etwa den Hitlergruß):

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„Die Wirkung dieser neuen Riten ist offenkundig. Nichts ist besser imstande, all unsere aktiven Kräfte in Schlaf zu lullen, um so unsere Urteilskraft und Fähigkeit kritischer Unterscheidung, unser Gefühl für Persönlichkeit und individuelle Verantwortung hinweg zu nehmen, als die ständige, uniforme und monotone Vollziehung der gleichen Riten. Tatsächlich ist in allen primitiven Gesellschaften, die von Riten gelenkt und beherrscht werden, individuelle Verantwortung eine unbekannte Sache. Was wir hier finden, ist nur eine kollektive Verantwortung. Nicht das Individuum, sondern die Gruppe ist das wirkliche „moralische Subjekt“.“ (371)

Narrative und insbesondere Mythen sind alltäglich. So beschreibt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler (2009) „die Deutschen und ihre Mythen“ und unterscheidet Nationalmythen (die Wiederkehr des Kaisers: Barbarossa; die Nibelungen; den Pakt mit dem Teufel: Faust), den Kampf gegen Rom (Hermann der Cherusker; Luthers Kampf gegen Rom), den Preußenmythos und preußische Mythen (Disziplin, der Alte Fritz, das Attentat auf Hitler), die Burgen und Städte (die Wartburg, Weimar, Nürnberg und Dresden, die Rheinmythen), und schließlich politischen Mythen nach dem Zweiten Weltkrieg (frühbürgerliche Revolution und antifaschistischer Widerstand als Gründungsmythen der DDR; Währungsreform und Wirtschaftswunder in Westdeutschland und nicht zuletzt „Wir sind Papst“).

Der Kampf um Macht ist also durchaus ein Kampf der Parteien um populäre Mythen. Rechtspopulisten sind dann erfolgreich, wenn sie entsprechende Mythen und Narrative in ihrer Programmatik besetzen können. Sie können dabei dort ansetzen, wo Probleme scheinbar einfach beschrieben, aber aufgrund ihrer realen Komplexität nicht einfach gelöst werden können.

Auch für die demokratisch verfasste Bundesrepublik spielen solche Verwendungsweisen von Mythen jenseits aller rechtsextremen Vereinnahmungen eine wichtige Rolle. Politische Mythen wie die vom Wirtschaftswunder und der Währungsreform sind oben bereits benannt worden.

Solche Narrative sind dann wichtig, wenn sie funktionieren, denn sie leisten einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es ist daher kein Wunder, dass Parteien Agenturen engagieren, um solche kollektiven Selbstbilder zu entwickeln oder im Rahmen einer Begriffspolitik populäre Begriffe (wie etwa der der Solidarität oder der Gerechtigkeit) mit eigenen Inhalten zu füllen, die möglicherweise wenig mit der ursprünglichen Bedeutung dieser Begriffe zu tun haben (siehe etwa Münkler/Hacke 2009; Fuchs 2010).

Der Versuch, Ordnung in die Wahrnehmung der Welt und von sich selbst und seiner Rolle in dieser Welt zu bringen, ist dabei keineswegs ein wertfreier Prozess, sondern hochgradig normativ. Es ist ein Prozess der Bewältigung von Kontingenz, wobei es natürlich auch pathologische Formen der Kontingenzbewältigung gibt. So macht es durchaus einen Unterschied, ob man den Staat als Leviathan, als Maschine, als Organismus, als Unternehmen, als politischen Verband, als Werkzeug eines Führers, als Unterdrückungsinstrument, als Möglichkeit, Freiheit und Sicherheit sicherzustellen etc. versteht.

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Nun überlassen des Staat und Gesellschaft keineswegs dem Zufall, in welcher Weise die Individuen ihre gesellschaftliche Situation wahrnehmen, sie beurteilen und entsprechende Schlussfolgerungen daraus ziehen. Der Kultursoziologe Pierre Bourdieu hat in diesem Zusammenhang, nämlich der Vermittlung von Gesellschaft und Individuum, das Konzept des Habitus entwickelt (Bourdieu 1970, siehe auch Krais/Gebauer 2002). Der Habitus bezieht sich auf die individuellen mentalen Dispositionen, also auf die oben schon erwähnten Denkformen, aber auch auf die Werte und Deutungsmuster, die zum einen das individuelle Handeln steuern, die aber in diesem praxeologischen Ansatz auch durch das Handeln in bestimmten Kontexten („Feldern“) entstehen. Es ist insbesondere die Sozialisationsforschung, die sich mit diesem Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem gesellschaftlichen Kontext befasst:

„Aus sozialisationstheoretischer Sicht lautet die Kernfrage, wie gesellschaftliche Ordnung, soziale Integration und individuelle Autonomie miteinander verschränkt sind.“ (Veith in Hurrelmann u. a. 2008, 33)

Pierre Bourdieu entwickelt im Rahmen seiner relationalen Soziologie den Gedanken, dass ein bestimmter, abgrenzbarer sozialer Bereich, ein Feld, mit seinen Handlungslogiken, Strukturen und Werten einem sich individuell entwickelnden Habitus gegenübersteht. Dabei sind Werte und Normen keineswegs bloß kommunikativ verhandelte (ideelle) Themen, sondern sie sind vergegenständlicht in den Traditionen, Gewohnheiten, Institutionen und Regeln des jeweiligen Feldes.

Man kann von einem informellen Lernen des Einzelnen sprechen, der sich nicht bloß mit seiner kognitiven Dimension, sondern mit seinem gesamten Körper in einem solchen Feld bewegt und hierbei die Werte und Normen des Feldes übernimmt („inkorporiert“). Bourdieu spricht von einer Homologie zwischen Habitus und Feld.

Man kann dabei von einer Vielzahl unterschiedlicher Felder mit jeweils verschiedenen Handlungslogiken ausgehen, in denen sich der Einzelne bewegt und in denen er entsprechende Handlungskompetenzen erwirbt. Es findet dann eine Synthese statt, sodass eine Kohärenz, also eine Entwicklung eines einheitlichen individuellen Habitus, entsteht.

Insbesondere ist es der Staat, der neben dem Monopol an physischer Gewalt auch ein Monopol an symbolischer Gewalt hat. Damit ist die Fähigkeit des Staates gemeint, bei den unterschiedlichen Kapitalsorten (ökonomisches, kulturelles etc. Kapital) eine Bewertung, Akzeptanz und Hierarchisierung in dem jeweiligen Bereich durchzusetzen.

Insbesondere spielt das Bildungswesen in diesem Kontext eine entscheidende Rolle. Denn dort legt der Staat fest, was als legitimes Wissen zu gelten hat, dort hat der Staat zudem die Organisationsgewalt und die beschäftigten Lehrkräfte in der Hand, womit die in den Bildungseinrichtungen realisierten Praktiken von den Schülerinnen und Schülern – und somit die durch diese Praktiken erzeugten mentalen Strukturen – vorgeformt werden. Es geht also um die Ausbildung mentaler Eigenschaften, es geht um Wertesysteme, es geht auch und gerade um Fragen des Geschmacks, auch im Bereich des Ästhetischen:

„Der Staat braucht nicht unbedingt Anordnungen zu geben und physischen Zwang auszuüben, um eine geordnete soziale Welt zu erzeugen, nämlich so lange nicht, wie er in der Lage ist, inkorporierte kognitive Strukturen zu erzeugen, die auf die objektiven Strukturen abgestimmt sind, um auf diese Weise für jenen

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Glauben zu sorgen, den Hume gemeint hat, die doxische Unterwerfung unter die bestehende Ordnung.“ (Bourdieu 1998, 120)

Allerdings ist die Schule keine „totale“ Institution, sondern ebenfalls eine plurale Lebenswelt. Zudem ist die Schule nicht der einzige Ort, an dem mentale Entwicklungsprozesse geschehen. Außerdem gilt:

„... die Selbstverständlichkeit der sozialen Ordnung wird in konflikthaften Erfahrungen leicht brüchig: Immer wieder werden Handlungsweisen und Interaktionen aus dem Fraglosen, Selbstverständlichen herausgerissen, werden Zusammenhänge bewusst, gibt es Anstöße zum Nachdenken über das eigene Verhalten, über den eigenen Ort in der Welt und Ansätze zur Auflehnung oder der bewussten Auseinandersetzung mit der sozialen Ordnung, mit einem Wort, immer wieder erfahren sich die Individuen in ihrer Praxis als reflektierende, bewusst handelnde Subjekte.“ (Krais/Gebauer 2002, 73).

In diesem Sinne sieht auch der Erziehungswissenschaftler Eckart Liebau (in Gebauer/Wulf 1995, 251 ff.) Chancen für eine emanzipatorisch zu nennende Pädagogik:

„Wenn das Vertrautheitsverhältnis zur alltäglichen Welt, das sich in der praktischen Beherrschung des Alltags, in den Routinen und Selbstverständlichkeiten des Wahrnehmens, Denkens, Urteilens und Handelns äußert, gleichzeitig eine spezifische Blindheit impliziert, dann besteht die Aufgabe der wissenschaftlichen Aufklärung in der Verfremdung des Vertrauten, die nur durch Distanzierung erreicht werden kann. Erst wenn der Alltag der fortwährenden Reproduktion und Produktion gesellschaftlicher Ungleichheit durch die Bildungspraxis seiner Selbstverständlichkeiten entkleidet ist, wenn die entsprechenden Phänomene als besondere und erklärungsbedürftige erscheinen und nicht mehr als „natürliche“, wird eine rationale politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung über einen zu schaffenden Alltag möglich, der allen Gesellschaftsmitgliedern eine aktive Teilhabe am kulturellen, ökonomischen und sozialen Reichtum eröffnen.“ (257)

Es liegt auf der Hand, dass insbesondere wegen der Bedeutung des leiblichen Lernens, das wesentlich das Habituskonzept von Bourdieu bestimmt, eine ästhetische Praxis, ein Umgang mit den Künsten besondere Möglichkeiten bietet, ein solches Distanzverhältnis zu einer (schlechten) Realität zu entwickeln als Grundlage einer reflektierenden Lebensführung.

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13. Politische und kulturelle Bildung: Gemeinsames Ziel – verschiedene Wege?

Bildung als Lebensführungskompetenz ist vor dem Hintergrund der obigen Überlegungen die Grundlage dafür, dass zwei Aufgaben bewältigt werden können: die Gestaltung des eigenen Projektes des guten Lebens und – damit verbunden – die Einmischung in die Gestaltung von Rahmenbedingungen, die hierfür förderlich sind. Das Konzept der Bildung ist in diesem (emanzipatorischen) Sinne rund um 1800 entstanden. Inzwischen hat es sich in Theorie und Praxis deutlich ausdifferenziert. So unterscheidet man heute zum Beispiel kulturelle von politischer Bildung mit je eigenen Aufgaben. Es lohnt sich daher, die Debatte um diese, gelegentlich heftig diskutierte Unterscheidung vor dem Hintergrund des Themas der vorliegenden Arbeit genauer anzuschauen.

„Kulturelle Bildung und politische Bildung sind grundverschieden!“

Es gibt nicht nur sehr unterschiedliche, sondern zum Teil sogar entgegengesetzte Vorstellungen darüber, wie kulturelle Bildung und politische Bildung miteinander zusammenhängen. Betrachtet man die unterschiedlichen Positionierungen genauer, so stellt man fest, dass das jeweilige Verständnis sehr stark davon abhängt, was man jeweils unter Politik und was man unter Kultur versteht.

Eine erste, eher rigide Position besteht auf einer strikten Trennung beider Bildungsformen. Man kann die These aufstellen, dass eine solche Position umso leichter zu begründen ist, je enger jeweils das Verständnis von Politik bzw. Kultur ist. Dies soll im Folgenden kurz erläutert werden.

Gerade in der deutschen Geschichte ist ein Verständnis von Politik verbreitet, bei dem der Staat im Mittelpunkt steht. Man nennt dies Etatismus (als Lexikon für politische Fachbegriffe siehe Nohlen/Schultze 2002, zur Geschichte der politischen Ideen siehe Fenske u. a. 2008; speziell die deutsche Geschichte beleuchtet das nach wie vor lesenswerte Buch Plessner 1974). Der Staat und seine Organe erledigen dabei alle notwendigen Regulierungsmaßnahmen: Das Parlament diskutiert und erlässt Gesetze, die Exekutive führt diese aus und das Rechtswesen kontrolliert ihre Einhaltung bzw. sanktioniert ihre Nichteinhaltung. Dies ist die klassische Idee der Gewaltenteilung.

Doch muss man sehen, dass in den aktuellen Demokratien diese Gewaltenteilung in dieser idealtypischen Form kaum noch funktioniert. So kommen die meisten Gesetze, die im Bundestag verabschiedet werden, nicht aus dem Parlament selbst, sondern es sind Vorlagen aus der Exekutive. Diese Exekutive wiederum erarbeitet immer häufiger komplizierte Gesetze nicht selbst, sondern vergibt sie an externe privatwirtschaftlich organisierte Kanzleien. Im Rahmen der Rechtsprechung wird immer wieder kritisch diskutiert, dass sich das Bundesverfassungsgericht vehement in Gesetzgebungsprozesse mit oft recht präzisen Vorgaben an das Parlament einmischt.

Geht man auf die europäische Ebene, so kann man zwar feststellen, dass das Europäische Parlament in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Doch nach wie vor dominiert in diesem politischen Gebilde die Exekutive: Die Kommission als „Regierung“ der Europäischen Union hat eine große Machtfülle. Sie wird wiederum primär kontrolliert durch den Ministerrat, also einem Organ, das aus

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Vertretern der jeweils nationalen Exekutive besteht.

Bei einem etatistischen Verständnis von Politik ergibt sich als zentrale Aufgabe für die politische Bildung, Wissen über die Funktionsweise der unterschiedlichen staatlichen Organe zu vermitteln. Natürlich gehört auch die demokratische Partizipation dazu, wobei diese im Wesentlichen in dem Akt des Wählens besteht (zur politischen Bildung siehe Fuchs 2017, Kap. 13 mit weiteren Literaturangaben; hilfreich sowohl bei Informationen zur politischen wie zur kulturellen Bildung ist die Homepage der Bundeszentrale für politische Bildung: www.bpb.de).

Ein enges Verständnis von kultureller Bildung auf der anderen Seite konzentriert sich wesentlich auf eine künstlerisch-ästhetische Praxis, nimmt also die traditionellen Künste als zentrales Referenzmodell. Künste werden dabei meist als „autonom“ verstanden, was gleichzeitig bedeutet, dass man sich gegen jede Form von Instrumentalisierung und insbesondere von gesellschaftlicher und politischer - und gelegentlich auch von pädagogischer - Instrumentalisierung zur Wehr setzt. Kulturelle Bildung ist in diesem Verständnis vor allen Dingen künstlerische Bildung, bei der man Bezüge zu Politik oder Gesellschaft nicht akzeptiert.

Neben dieser inhaltlichen Argumentation für eine Trennung beider Bereiche gibt es allerdings auch einige nachvollziehbare Begründungen, die eher pragmatischer Art sind. So muss man sehen, dass es in jedem der beiden Felder eigene Professionalitäten gibt. Es gibt jeweils Studiengänge und Weiterbildungsmöglichkeiten, die maßgeschneidert sind für das jeweilige Feld. Einem Hinweis von Sabine Dengel zufolge ist zudem davon auszugehen, dass es im Bereich der politischen Bildner einen von allen akzeptierten beruflichen Ethos gibt, so wie er etwa in Beutelsbacher Konsens aus dem Jahre 1976 festgelegt worden ist (Überwältigungsverbot, Kontroversität, Schülerorientierung).

Eine solche Einheitlichkeit ist im Bereich der kulturellen Bildung auch dann nicht zu finden, wenn man diese auf den engeren Bereich einer künstlerischen Praxis einengt. Denn die unterschiedlichen Kunstsparten haben unterschiedliche historische Traditionen, unterschiedliche Handlungslogiken, unterschiedliche Diskursarenen und Begründungsmuster. Es gibt zudem eine Vielzahl unterschiedlicher Kunsttheorien und Ästhetiken in den verschiedenen Sparten.

Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass es jeweils für kulturelle und für politische Bildung unterschiedliche Fördertöpfe gibt. Es gibt zudem fachspezifische Trägerstrukturen, bei denen recht genau darauf geachtet wird, dass die entsprechenden Fördertöpfe auch nur von den zugeordneten Trägerstrukturen verwendet werden. Es gibt unterschiedliche fachliche Identitäten (durchaus im Einklang mit dem jeweiligen Berufsbild). Nicht zuletzt gibt es unterschiedliche Legitimationsrituale und Begründungsweisen.

Solche eher pragmatischen Unterscheidungskriterien sind natürlich überhaupt nicht oberflächlich oder irrelevant, weil sie zum einen die Praxis prägen und zum anderen zur Entstehung einer jeweiligen beruflichen Identität beitragen.

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Alternativen zu einem engen Verständnis von Politik

Sowohl in einer historischen Perspektive als auch bei der Betrachtung der gegenwärtigen Praxis wird man feststellen, dass ein zu enges Verständnis von Politik einige Probleme mit sich bringt. So übersieht man die Rolle des öffentlichen Diskurses bei der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und der dazugehörigen politischen Ordnung. Bereits in seiner Habilitationsschrift hat Jürgen Habermas (1962) über den Strukturwandel der Öffentlichkeit beschrieben und gezeigt, welche wichtige Rolle die sich herausbildenden Diskurse gerade im 18. Jahrhundert bei der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und einer parlamentarisch-demokratischen Grundordnung spielten.

Ein zu enges Verständnis von Politik unterschätzt zudem die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen. Diese werden heute etwa im Rahmen einer sogenannten Engagement-Politik oder im Verständnis eines bürgerschaftlichen Engagements als wichtige Akteure bei der politischen Entscheidungsfindung akzeptiert. Sie gelten oft als Hoffnungsträger bei der Lösung politischer Probleme, bei denen das Vertrauen in die Lösungskompetenz des Staates geschwunden ist (Crouch 2008). Auf internationaler Ebene ist er darauf hinzuweisen, dass vor einigen Jahren der Generalsekretär der Vereinten Nationen eine Gruppe von „Eminent Persons“ (anerkannte ehemalige Staatsoberhäupter, aus Deutschland war Richard von Weizsäcker beteiligt) zusammengerufen hat, um die Rolle der internationalen zivilgesellschaftlichen Organisationen zu beleuchten. Das Ergebnis war, dass wesentliche Fortschritte etwa in der Menschenrechts- oder Umweltpolitik nur dadurch erzielt werden konnten, dass entsprechende zivilgesellschaftliche Organisationen diese Themen auf die Tagesordnung gesetzt haben. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass der größte Teil der offiziellen Mitglieder der Vereinten Nationen, also die jeweiligen Regierungen, eher selten durch demokratische Prozeduren an die Macht gekommen ist.

Auch der in den letzten Jahren vermehrt praktizierte politikwissenschaftliche Ansatz einer Governance-Forschung respektiert die Vielfalt unterschiedlicher politischer Akteure. Es geht dabei darum, nicht bloß den offiziellen Akt der Abstimmung über ein Gesetz im Parlament als genuine politische Entscheidung zu berücksichtigen, sondern auch die vielfältigen Diskurse und Einflussnahmen von Interessensorganisationen, Verbänden, Lobbyorganisationen und Teilnehmern an der öffentlichen Debatte (vgl. speziell für das Feld der Educational Governance Fuchs/Braun 2017).

Ein gutes Beispiel für diesen Ansatz ist der Deutsche Kulturrat. Die Geschäftsstelle wird durch ein Projekt mit der Bezeichnung „Politikberatung“ finanziert. In der Praxis bedeutet dies, dass alle Gesetze, die eine Relevanz für den Kulturbereich haben (etwa bei Fragen der sozialen Lage von Künstlerinnen und Künstlern oder beim Urheberrecht) vorab zur Beratung an die entsprechenden Fachausschüsse des Deutschen Kulturrates weitergegeben werden, wobei in diesen Fachausschüssen auch die Mitarbeiter entsprechender Fachreferate aus den zuständigen Ministerien beratend mitwirken. Umgekehrt finden immer wieder Anhörungen im Parlament und in Ministerien statt, bei denen Interessensorganisationen ihre Positionen vortragen können. Insgesamt gibt es zudem einen Trend, zu einer verstärkten Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger zu kommen, weil man zur Kenntnis nimmt, dass ein offensives Bekenntnis zur Demokratie unter den Bürgerinnen und Bürgern immer kleiner wird.

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Historische Hintergründe eines zu engen Verständnisses von kultureller Bildung

Kulturelle Bildung erfasst neben den künstlerischen Ausdrucksformen zwar auch Spiel, Zirkuspädagogik, Medienpädagogik und Museumspädagogik (wobei nur ein kleiner Teil der Museen sich mit Kunst befasst). Allerdings sind die Künste insgesamt ein wichtiges Referenzfeld für Debatten über kulturelle Bildung. Von daher lohnt sich ein Blick in die Geschichte beliebter Argumentationsmuster.

So ist es immer noch für viele überraschend festzustellen, dass die Rede von einer „autonomen Kunst“ relativ jung ist. Man stellt sich nur selten die Frage, wann ein solcher Diskurs überhaupt erstmals aufgetaucht ist, wo er aufgetaucht ist, welche Gründe es dafür gegeben hat und wer daran beteiligt war. Es ist die Zeit gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als Karl Philipp Moritz (der Autor des wichtigen Bildungsromans Anton Reiser) eine erste kurze Skizze mit Überlegungen zu einer autonomen Kunst vorlegte. In diesen Kontext gehören auch Bemühungen etwa von Lessing oder Schiller, ihren Lebensunterhalt ausschließlich mit ihrer ästhetischen Tätigkeit zu bestreiten. Bekanntlich scheiterten beide, denn beide brauchten letztlich doch einen Brotberuf (Lessing endete als gutbezahlter Bibliothekar in Wolfenbüttel und Schiller als schlecht bezahlter Professor in Jena).

Ein wichtiges Gründungsdokument der Konzeption einer autonomen Kunst sind Schillers Briefe zur ästhetischen Erziehung aus dem Jahre 1795 (1959). Man erinnere sich, dass die Französische Revolution im Jahre 1789, die zunächst von allen Intellektuellen in Europa begeistert aufgenommen worden ist, schließlich in das Blutbad des Terreur von Robespierre überging. In der Folge gingen die meisten der Anhänger der Französischen Revolution in eine Distanz. Dies tat auch der Ehrenbürger der Französischen Republik Friedrich Schiller. In seinen „Briefen zur ästhetischen Erziehung“ entwickelte er daher ein Alternativmodell, das an die Stelle einer Revolution eine gesellschaftliche Reform setzt. Die Briefe beginnen mit einer handfesten Kritik an den damals schon erkennbaren Pathologien der Moderne: Es ging um Entfremdung, es ging um Entzweiung und um eine Reduzierung des Menschen auf seine bloße Nützlichkeit für die im Entstehen begriffene Industriegesellschaft.

Gegen eine solche Deformation entwickelte Schiller die Idee, dass Menschen in einer gesellschaftlichen Oase frei von allen Nützlichkeitserwartungen im Rahmen einer künstlerischen Praxis Freiheit lustvoll so erleben, dass sie diese dann auch auf die Gestaltung der übrigen Gesellschaft übertragen wollen. Die hier praktizierte autonome Kunst hatte in der politischen Vision von Schiller einen unmittelbaren gesellschaftlichen und politischen Zweck.

Man muss also ein wenig dialektisch denken, wenn man verstehen will, dass es nur eine autonome Kunst sein konnte, die für diese Form der politischen Funktionalisierungen nützlich war.

Interessant ist vor diesem Hintergrund die These des Literaturwissenschaftlers Terry Eagleton (1984; das Buch taugt auch sehr gut zur Information über die jeweiligen politischen Einbettungen ästhetischer Theorien), dass in den sich dynamisch entwickelnden Ästhetikdiskursen seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in England, Frankreich, Deutschland und anderswo zwar auch Kunst thematisiert wurde, es aber auch entscheidend um ein anderes Thema gin: nämlich um die Frage, wie das bürgerliche Subjekt, das die entstehenden bürgerlichen Gesellschaft tragen sollte, beschaffen sein sollte. Es ging um die

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Konstitution des bürgerlichen Subjekts, bei der die Künste und eine ästhetische Praxis eine entscheidende Rolle spielen sollen. Es ging darum, dass dieses bürgerliche Subjekt im Rahmen der gesellschaftlichen Gestaltung auch eine Hegemonie erkämpfen sollte. Die Diskurse um Kunst und Ästhetik sind also eingebettet in eine politisch-gesellschaftliche Entwicklung, man kann sogar sagen: Der Ästhetikdiskurs ist ein wichtiger Motor der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft (vgl. Fuchs 2011 mit zahlreichen einschlägigen Literaturhinweisen).

Ein Blick in die Sozialgeschichte der „autonomen Kunst“

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die weitere Entwicklung der Künste im 19. Jahrhundert. Man spricht von einer Autonomisierung der unterschiedlichen Kunstfelder (also der Bereiche der Literatur, der Musik, der bildenden Kunst, des Theaters). Diese Autonomisierung erfolgte nicht mit der gleichen Geschwindigkeit in den verschiedenen Feldern. So gibt es eine Autonomisierung des Feldes der Literatur bereits im 18. Jahrhundert, das Theater kann sich erst im 19. Jahrhundert davon befreien, bloß eine Umsetzung der eigentlich wichtigen Literatur zu sein, die Musik befreit sich ebenfalls erst im 19. Jahrhundert davon, bloß eine Hintergrundunterhaltung für festliche Zusammenkünfte zu sein. Im Bereich der bildenden Kunst spricht man davon, dass die bildenden Künstler zwar ihren Status als Hofkünstler verlieren (und damit die Abhängigkeit von dem jeweiligen Fürsten), aber als Ausstellungskünstler nunmehr einem freien Markt ausliefert werden.

Im Bereich der Literatur spielt in den französischen Debatten immer wieder der Schriftsteller Gustav Flaubert (1821 - 1880) eine wichtige Rolle. Jean-Paul Sartre schrieb ein vierbändiges Werk über ihn unter dem Titel „Der Idiot der Familie“ und zuletzt hat sich der französische Soziologe Pierre Bourdieu in seinem Buch „Regeln der Kunst“ (1999) umfassend mit Flaubert befasst. Der Grund liegt darin, dass Flaubert als derjenige gilt, der die Konstituierung und Autonomisierung des literarischen Feldes in Frankreich vorangetrieben hat, was insbesondere heißt, dass sich das Feld die Regeln seines Handelns im Wesentlichen selbst gibt.

Also auch dieser Prozess einer Autonomisierung von Feldern kann nur dialektisch verstanden werden, nämlich als Prozess der Befreiung auf der einen Seite, aber auch als der Prozess einer neuen Form von Abhängigkeit.

Das Bürgertum wiederum nutzte diese Künste (und baute entsprechend die heute noch existierende reichhaltige und teure kulturelle Infrastruktur in Deutschland auf), um eine eigene Identität zu entwickeln (Nipperdey 1990). Bekanntlich ist das deutsche Bürgertum im Hinblick auf revolutionäre Veränderungen der Gesellschaft chronisch erfolglos. Als Ersatz für diese politische Erfolglosigkeit propagierte man dann zumindest eine Freiheit des Geistes und sogar eine weltweite kulturelle Hegemonie im Geistigen und Künstlerischen.

Kunst als Kunstreligion

Der Zusammenhang der Ästhetikdebatten mit der Konstituierung des bürgerlichen Subjekts wurde oben

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schon angesprochen. In der Tat gab es einen wachsenden Kult rund um das kreative Individuum, das „Genie“. Dass Genie in diesen Kontexten war jemand, der die Regeln des künstlerischen Handels vorgeben konnte. Diesen Gedanken hatten insbesondere die Romantiker und als philosophische Begleitung insbesondere Fichte aufgegriffen, die nicht bloß den Kult um das Autonome und Individuelle ins Maßlose steigerten, sondern die insbesondere auch Kunst und die Künstlerinnen und Künstler mit einer quasi-religiösen Aura versahen. Man spricht von einer entstehenden Kunstreligion, denn insgesamt wurden die Künste zu einem funktionalen Äquivalent zu einer Religion, deren Bedeutung angesichts einer voranschreitenden Säkularisierung immer kleiner wurde.

Solche kunstreligiöse Auffassungen verbunden mit einer Auratisierung und Sakralisierung sind bis heute relevant. Sie erscheinen aktuell etwa dort, wo mit einem starken Selbstbewusstsein Kriterien für eine „ästhetische Qualität“ formuliert werden. Diese Qualitätsdebatte wird wesentlich weltanschaulich getragen von kunstreligiösen Vorstellungen, so wie sie in der Romantik entwickelt wurden. Dies gilt selbst für die Ästhetik, die Adorno im Rahmen seiner Kritischen Theorie entwickelt hat, bei der man in den letzten Jahren immer wieder auf die engen Bezüge zu Vorstellungen aus der Romantik hingewiesen hat. Man findet sie auch in den Schriften des Rates für kulturelle Bildung, insbesondere dort, wo man sich sehr selbstgewiss, aber ohne weitere Begründung über Kriterien einer „ästhetischen Qualität“ auslässt. „Qualität“ wird hierbei zu einem Machtinstrument, um Deutungshoheit in einem grundsätzlich plural organisierten Feld zu erlangen. (siehe hierzu die einschlägigen kritischen Beiträge auf der Wissensplattform www.kubi-online.de). Damit wird auch erklärlich, aus welchen Motivationen sich nicht bloß ein konservatives und traditionelles Verständnis von Kunst speist, sondern woher bestimmte Ressentiments gegenüber einer populären Kultur kommen.

Ein Beispiel aus der Sozialgeschichte

Wie sehr künstlerische Praxis eingebettet ist in politische und gesellschaftliche Prozesse kann man in jeder Sozialgeschichte der entsprechenden Künste nachlesen. Nach wie vor gut lesbar ist das Mammutwerk von Arnold Hauser aus dem Jahre 1951, der sensibel die Einbettung der Künste in die jeweiligen sozialen und politischen Kontexte beschreibt. Ein aktuelleres Beispiel ist das Funkkolleg Kunst des Kunsthistorikers Werner Busch aus dem Jahre 1980. Es beschreibt eine Geschichte der (bildenden) Kunst im Wandel ihrer Funktionen und diskutiert ausführlich die religiöse Funktion (also etwa die Nutzung der Künste in kirchlichen Kontexten), die politische Funktion (also etwa die Nutzung der Künste zur Darstellung und Legitimation von Macht und Herrschaft), die abbildende Funktion und nicht zuletzt auch die ästhetische Funktion. Im Rahmen der politischen Funktion von Kunst ist erwähnenswert, dass der Altmeister der deutschen Politikwissenschaft, Klaus von Beyme (1998), sich in den letzten Jahren sehr stark dafür eingesetzt hat, als ein spezifisches Fach der Politikwissenschaft eine Kustpolitologie zu entwickeln.

Zwischenbilanz

Im Hinblick auf die politische Wirksamkeit der Künste und einer entsprechenden Nutzung ließe sich eine

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eindrucksvolle Liste von prominenten Kunstgegnern anführen. So wollte Platon, dessen philosophischen Werken man eine hohe literarische Qualität zuspricht, das Theater aus der Polis vertreiben, weil es angeblich die Sitten und Tugenden der Menschen verderbe. Ähnliches formulierte Rousseau in seinem berühmten Brief an d‘Alembert, bei dem es um die Einrichtung eines Theaters in seiner Heimatstadt Genf ging.

Man kann also feststellen:

1. Künste wirken auf Menschen.

2. Künste wirken auf Menschen insbesondere politisch.

3. Künste werden deshalb auch bewusst immer wieder für politische Zwecke benutzt (bzw. im Rahmen von Zensurmaßnahmen verboten).

All dies ist bei Überlegungen zu dem Verhältnis von politischer und kultureller Bildung zu berücksichtigen.

Aktuelle Kunstentwicklungen

Man kann in allen Kunstbereichen in den letzten Jahren einen starken Trend zur Politisierung feststellen. Diese Feststellung ist deshalb wichtig, weil die eingangs erwähnten Vertreter eines engen Verständnisses von kultureller Bildung sich immer wieder auf die angebliche Autonomie – oft verbunden mit einer stark antipolitischen Haltung - des professionellen Kunstbereichs beziehen. Man kann leicht zeigen, dass dieses Argument unzulässig ist.

Einige Beispiele:

– So hat man in der jungen Bundesrepublik Deutschland den damals noch weitgehend nicht anerkannten Künstler Joseph Beuys als Kulturbotschafter in andere Länder geschickt. Man wollte damit – entgegen der Realität – signalisieren, wie weit die Modernisierung der Gesellschaft in Deutschland vorangeschritten ist.

– Die documenta wiederum war bereits bei ihrer Gründung politisch motiviert und ist es bis heute bei jeder einzelnen Ausstellung. Ich erinnere etwa an die documenta XI aus dem Jahre 2002 unter der Leitung von Okwui Enwezor. Die Kunstausstellung in Kassel war bei dieser documenta lediglich das letzte von fünf großen Ereignissen, wobei die ersten vier Etappen politische Debatten in Indien, Südafrika und an anderen Stellen auf höchstem abstraktem Niveau waren.

– Aktuell ist die Biennale in Venedig (2017) zu nennen, bei der der Goldene Löwe an den deutschen Pavillon ging, der von Anne Imhof gestaltet wurde. Es geht um eine fünfstündige Faust-Performance, die unter den Stichworten steht: Gewalt, Macht, Ohnmacht, Freiheit, Widerstand.

– Auch die Theaterlandschaft wird im Moment durch eine Vielzahl alternativer Darstellungsformen

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aufgerüttelt. Rimini Protokoll ist nur eines der Beispiele, bei denen eine innovative theatrale Praxis und ein starker gesellschaftlicher und politischer Bezug in Einklang gebracht werden. So fand kürzlich eine Debatte im Westdeutschen Rundfunk statt, bei der prominente Theatermacher und Schauspieler (Herbert Fritsch, Hans Werner Krösinger und Winfried Schulz) das Thema diskutierten sollten: Gesellschaftlicher Auftrag oder künstlerische Autonomie. Alle Diskutanten lehnten diese Entgegensetzung als völlig falsch für die Beschreibung gegenwärtiger Theaterarbeit ab.

– Der in St. Louis lehrende Germanist Paul Michael Lützeler hat vor einigen Jahren das Buch „Bürgerkrieg Total“ (2009) herausgebracht, bei dem er der damals verbreiteten Meinung des deutschen Feuilletons widersprechen wollte, dass alle jüngeren Schriftsteller/innen in Deutschland sich nur noch mit ihrem eigenen Bauchnabel („Pop-Literaten“) befassten. Er stellte vielmehr fest: „Es zeichnet sich dabei eine Poetik der Globalisierung ab, bei der historisches Wissen, politische Kritik und ästhetische Innovation durch ein Menschenrechtsethos miteinander verklammert werden.“

Ist also politische Bildung dasselbe wie kulturelle Bildung?

Bevor man diese Frage beantworten kann, ist es notwendig, zuvor eine einige Unterscheidungen zu treffen (dies geht auf Anregungen von Sabine Dengel zurück).

a) Eine erste Unterscheidung betrifft die Beziehung des Politischen und des Ästhetischen. Politik beeinflusst das Ästhetische, insofern dieses ein Gegenstand von politischem Handeln wird, also etwa in der Kunst- und Kulturpolitik. Zwar behaupten die Vertreter der Kulturpolitik immer wieder, sie würden keinen Einfluss auf die Inhalte ausüben. Doch ist dies offensichtlich unzutreffend, wenn man sich überlegt, dass bereits bei Personalentscheidungen (Besetzungen etwa von Leitungen von Museen, Theatern, Opernhäusern etc.) ästhetische Vorentscheidungen getroffen werden. Das Ästhetische wiederum beeinflusst das Politische dort, wo die Politik Gegenstand ästhetischer Praktiken wird. Selbst bei einer nur groben Durchsicht etwa der Dramen von Shakespeare oder von Schiller wird man sehen, dass diese in starkem Maße politische Fragen behandeln. Für die aktuelle Kunstentwicklung wurden oben Beispiele angeführt.

Eine solche ästhetische Behandlung politischer Fragen hat bei den Zuschauerinnen und Zuschauern durchaus Wirkungen im Hinblick auf die Reflexion ihrer jeweiligen politischen Standpunkte. Ich habe daher vorgeschlagen, als Teil der Wirkungen der Künste einen Einfluss auf die jeweiligen Mentalitäten der Menschen zu sehen, woraus sich ergibt, Kulturpolitik wesentlich als Mentalitätspolitik zu begreifen. In einer solchen Weise wurde sie übrigens auch schon zu Zeiten genutzt, als es diesen spezifischen Begriff der Kulturpolitik noch gar nicht gab: Es ging um ein Ringen um die Köpfe und Herzen der Menschen, etwa zum Zwecke der Legitimation der jeweiligen Herrschaft oder des jeweiligen Glaubensbekenntnisses (vgl. Fuchs 2007).

b) Bei Überlegungen über Zusammenhang oder Unterschiede von politischer du kultureller Bildung

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wird gelegentlich darauf hingewiesen, dass im Umgang mit den Künsten die Emotionalität eine größere Rolle spiele, wohingegen es im Bereich der politischen Bildung verpönt sei, auf unzulässige Weise in politische Fragen und Prozessen zu emotionalisieren. Es wird zumindest auf ein politisches Neutralitätsgebot hingewiesen.

Ich bin mir nicht sicher, ob diese Hinweise in vollem Umfang berechtigt sind. Zum einen muss man feststellen, dass zu dem Ethos der politischen Bildung es auch gehört, sich gegen Diktatur und Barbarei zu empören. Dies bedeutet aber zugleich ein emotionales Engagement. Zudem muss man sehen, dass selbst bei einer Konzentration auf nüchternes Wissen über Strukturen und Abläufe in der Demokratie die Emotionalität eine Rolle spielt, denn eine zu rigide Aufteilung des Menschen in unterschiedliche Schubladen (Kognition versus Emotion) ist zwar manchmal hilfreich, verfehlt aber letztlich die Natur des Menschen, wenn man sie zu ernst nimmt. Dies gilt auch für eine ästhetisch-künstlerische Praxis, bei der möglicherweise durchaus die emotionalen Anteile eine größere Rolle spielen bzw. als legitim akzeptiert werden, die aber keine nicht-kognitive Tätigkeit ist. Zudem könnte man hier auch von einem „ästhetischen Neutralitätsgebot“ sprechen, da es auch hierbei nicht darum gehen darf, die jeweiligen Präferenzen und ästhetischen Ansichten der pädagogischen Anleitung in den Vordergrund zu stellen. Für beide Felder gilt jedoch, dass insbesondere im Bereich der Jugendarbeit anders als in der staatlichen Institution der Schule ein Pluralismus der Weltanschauungen sogar gesetzlich vorgesehen ist. Dass die kulturelle Bildung mit ihren Methoden existenziell bedeutsame politische Ereignisse ebenso aufgreift wie die politische Bildung Methoden der kulturellen Bildung nutzt, bei denen die Wirksamkeit erwiesen ist, ist allen Beteiligten klar.

Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidungen kann man nunmehr wieder die Frage stellen, wie sich politische und kulturelle Bildung zueinander verhalten

Zunächst einmal ist festzustellen, dass sie nicht identisch sind. Jedes Feld hat seine Eigenlogik, die wiederum mit spezifischen Professionalitäten und einem jeweiligen Ethos verbunden ist. Allerdings sind beide Bildungsformen Bildung. Es geht also um die Entwicklung bestimmter Persönlichkeitsdimensionen wie etwa Partizipationsbereitschaft, Selbstwirksamkeit und die Entwicklung von Selbstbewusstsein, es geht um Empowerment und um Werte. Im Rahmen von Bildungsmaßnahmen finden entsprechende Aktivitäten zudem in einem geschützten Raum und in entlasteten Situationen statt. Man mag dies gerne im Bereich der kulturellen Bildung als „vorpolitischen Raum“ bezeichnen. Doch könnte dann das berühmte Böckenförde – Diktum interessant sein:

„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“

D.h. es geht um solche Bedingungen, die vorliegen müssen, um erfolgreich Politik betreiben zu können und die Politik gerade in einem engen Verständnis, das sich lediglich auf die Funktionsweise des Staates konzentriert, berücksichtigen muss.

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Schlussbemerkungen: Kritische Kulturpädagogik als Ansatz, politische Kontexte kultureller Bildung zu reflektieren

Neben der Thematisierung politischer Fragen im Bereich der kulturellen Bildung ist eine weitere Dimension die Frage danach, wie diese Praxis politisch diskutiert und eingebettet wird. Insbesondere geht es darum, dass diese Praxis selber ihre jeweilige politische Einbettung und möglicherweise Funktionalisierung und Instrumentalisierung reflektiert. Dies ist hier mit dem Begriff der Kritik gemeint. Es geht um die Analyse, welche Ziele die unterschiedlichen Förderer kultureller Bildung gerade in den letzten Jahren verfolgen. Es geht darum, dass man aufpassen muss, dass man unter Umständen nicht vor den falschen Karren gespannt wird. Es geht um eine grundsätzliche Reflexion dessen, welche Leistungen kulturelle Bildung erbringen kann, welche erwartet werden und an welchen Stellen kulturelle Bildung lediglich Ersatz für politisches Handeln ist (vgl. meinen Text „Brauchen wir eine Kritische Kulturpädagogik?“ auf www.kubi-online.de).

An dieser Stelle ergibt sich eine neue Dimension des Verhältnisses von politischer Bildung und kultureller Bildung: die Forderung nämlich, dass die Akteure der kulturellen Bildung ein sehr viel stärkeres Maß an politischer Bildung benötigen, als sich das im Moment als Trend abzeichnet.

14. Pädagogische Institutionen und das gute Leben – Hinweise

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Sozialisation

Der einzelne Mensch wird nicht unmittelbar mit „der Gesellschaft“ konfrontiert, sondern er hat es mit (pädagogischen) Institutionen und Instanzen, sogenannten „intermediären Instanzen“, zu tun, die alle einen erzieherischen und bildenden Effekt auf den Einzelmenschen haben und in denen entsprechende Lernprozesse stattfinden. Man spricht in der Sozialisationsforschung von Sozialisationsinstanzen.

Man kann unterschiedliche Sozialisationstheorien unterscheiden. Hannelore Faulstich-Wieland (2000) unterscheidet Lerntheorien (behavioristische Theorien, Modelllernen, subjektwissenschaftliche Ansätze wie der von Klaus Holzkamp), strukturfunktionalistische und systemtheoretische Ansätze (Talcott Parsons, Niklas Luhmann) und Interaktionstheorien (George Herbert Mead, Jürgen Habermas).

Das Handbuch der Sozialisationsforschung (Hurrelmann und andere 2008) nennt die folgenden Sozialisationsinstanzen: Familie, Kita, Schule und Hochschule, institutionalisierte Weiterbildung, Netzwerke Gleichaltriger, Gruppen und Organisationen, Massenmedien.

In einer pädagogischen Perspektive ist die seit Jahren eingeführte Unterscheidung in formales, nonformales und informelles Lernen sinnvoll. Das informelle Lernen überschneidet sich sehr stark mit dem Bereich, mit dem sich auch die Sozialisationsforschung befasst. Es geht um ein Lernen en passant, das einfach dadurch geschieht, dass man sich in bestimmten Kontexten bewegt. Dabei geht es nicht bloß um kognitives Lernen, es geht sehr stark um Wertebildung und soziales Lernen, da man in der unmittelbaren Begegnung mit anderen Menschen Verhaltensweisen studieren und sich aneignen kann bzw. sofort Rückmeldungen auf eigenes Verhalten bekommt.

Wenn im ersten Teil von einer „guten Gesellschaft“ in einem traditionellen Verständnis die Rede war, also einem sozialen Kontext, den man deswegen favorisiert, weil man dort besonders zivilisiertes Verhalten unterstellt, dann steckt hierin eine Theorie informellen Lernens. Dies gilt ebenso für die Warnung vor einer „schlechten Gesellschaft“, vor der man die Kinder und Jugendlichen schützen will, weil man befürchtet, dass diese einen schlechten Einfluss auf die Entwicklung des Charakters hat. All dies zeigt die Relevanz von Alltagstheorien des Lernens.

In aktuellen Theorien der Subjektivierung stehen solche Lernprozesse unter der Perspektive der Macht, nämlich der Macht, die man erdulden muss und die man akzeptiert, und der Macht, die man selbst ausübt, geradezu im Mittelpunkt. Es geht um die Formung von Subjekten, wobei es letztlich darum geht, dass Subjekte das freiwillig tun, was sie letztlich im Interesse anderer Mächte tun sollen. Dies ist letztlich der Grund dafür, dass informelles Lernen sehr viel stärker im Fokus erziehungswissenschaftlicher Forschung stehen müsste, als es bislang geschieht.

Bei diesem Prozess spielen Institutionen eine zentrale Rolle. In einem weiten Verständnis sind Institutionen nicht bloß Einrichtungen wie Schulen und Betriebe, sondern auch die Familie oder peer groups gelten als Institutionen.

Kritik an der Pädagogik ist sehr oft Kritik an Institutionen wie etwa der Schule. Man spricht von einem rigiden Regelsystem, bisweilen sogar von einer Unterwerfung der Heranwachsenden unter eine vorgegebene Disziplin.

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Dabei wird oft übersehen, welche – auch anthropologisch begründbare – Funktion Institutionen haben. Es geht um Sicherheit bei dem Verhalten, es geht um Erwartungshaltungen, die man erfüllt sehen möchte, es geht um eine gewisse Selbstverständlichkeit des individuellen Handelns. Genau dies leisten Institutionen. In einer bis heute diskutierten Theorie hat Arnold Gehlen (1956) Institutionen als Möglichkeiten einer Handlungsentlastung eingeführt. Dahinter steckt der Gedanke, dass der Mensch es überhaupt nicht leisten könnte, jeden Handlungsschritt vorab bewusst zu reflektieren. Er braucht daher ein hohes Maß an Selbstverständlichkeiten in der Handlungsplanung, -regulation und –durchführung. Es ist derselbe Grundgedanke, der von Pierre Bourdieu mit dem Konzept des Habitus berücksichtigt wird. Institutionen haben dabei auch eine bildende Wirkung (informelles Lernen), sodass die Art und Weise ihrer Organisation pädagogisch relevant ist, gerade im Hinblick auf Werte und Normen (vgl. den Beitrag von Sandra Seubert in Brodocz u. a. 2008, 334 ff.).

Die Schule

Man kann davon ausgehen, dass – zumindest in der Neuzeit – die Schulpädagogik geradezu die Mutter der Erziehungswissenschaft ist. Dies beginnt mit den großen Didaktikern in der Zeit des Barock wie etwa Comenius, es setzt sich über die Bemühungen um Verwissenschaftlichung der Pädagogik bei den Philanthropisten fort und führt zu der heutigen ausdifferenzierten Wissenschaftslandschaft der Pädagogik, die sich reflektierend, ausbildend und forschend um das weite Feld der pädagogischen Praxis kümmert.

So gibt es alleine etwa 37.000 Schulen in Deutschland, in denen knapp 700.000 akademisch ausgebildete professionelle Pädagoginnen und Pädagogen beschäftigt sind. Eine ähnliche Größenordnung haben die außerschulische Pädagogik sowie die Früherziehung.

Im Hinblick auf unsere Fragestellung nach einer „guten Pädagogik“ kann man also spezieller fragen: Was ist eine gute Schule? Was ist eine gute Kindertagesstätte? Was ist eine gute außerschulische Pädagogik? Offensichtlich landet man hierbei relativ rasch in dem zurzeit populären Diskurs über Qualität. Dieser Diskurs ist zum einen einsichtig, weil viel Geld und Zeit für die pädagogische Arbeit aufgewandt wird. Dieser Diskurs ist allerdings auch problematisch, da der Qualitätsbegriff insofern seine negativen Seiten hat, als er von Politik und Verwaltung auch als ideologischer Kampfbegriff für die Durchsetzung bestimmter Vorstellungen von Pädagogik und Bildung genutzt wird. Pädagogik ist weder eine wertfreie Wissenschaft noch eine wertfreie Praxis, sodass man es hier mit einem Streit um Werte und Ziele in der Pädagogik zu tun hat. Es geht um die Frage, welches Bildungsverständnis und welcher Erziehungsbegriff angelegt werden. Erst gemessen an einem solchen Zielbegriff und Grundverständnis wird man Aussagen darüber treffen können, ob die entsprechenden pädagogischen Prozesse und Institutionen als „gut“ bezeichnet werden können oder nicht.

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Ich will dies nur kurz am Beispiel einer „guten Schule“ verdeutlichen. Gerade weil in allen modernen Gesellschaften das Bildungswesen eine zentrale Rolle spielt, gibt es seit Jahrzehnten eine intensive nationale und internationale Debatte über die Qualität der Schule. Man identifiziert Qualitätsbereiche, sucht Indikatoren, an denen man die jeweils vorfindliche Qualität einer Schule messen kann.

Der Deutsche Schulpreis – um nur ein Beispiel zu nennen – untersucht die folgenden sechs Bereiche (hier in Anlehnung an Fauser und andere 2007):

1. Leistung: Es wird ein umfassendes, vielfältig angelegtes Verständnis von Leistung als menschlichem Grundvermögen und Grundbedürfnis zu Grunde gelegt und gefördert. Dies schließt Evaluation mit ein.

2. Vielfalt: Gute Schulen erkennen und anerkennen Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern, greifen dieses situativ, Kontext orientiert und pro-Aktiv auf.

3. Unterricht: Exzellenter Unterricht zeichnet sich durch die Gesamtqualität der didaktisch-methodischen Choreografie aus.

4. Verantwortung: Gute Schulen praktizieren, d.h. fordern und fördern, Verantwortungsübernahme durch Lehrerinnen und Lehrer, durch Schülerinnen und Schüler und durch Eltern. Partizipation und Demokratie sind die Stichworte.

5. Schulleben: Gute Schulen pflegen ein Schulleben im Sinne einer aufklärenden demokratischen Öffentlichkeit.

6. Schulentwicklung: Gute Schulen handeln selbstständig oder eigenverantwortlich und zeichnen sich durch ein integratives, demokratisches Führungsmanagement aus.

Das Konzept einer Kulturschule (Fuchs 2017b) orientiert sich an diesem Qualitätsmerkmalen.

Olaf-Axel Burow (hier in Burow/Bornemann 2018, 8 ff.) plädiert in seiner „Positiven Pädagogik“ dafür, das Thema Glück wieder in die Schule einzubringen. Er hat einen „Führungskompass für den Schulalltag“ entwickelt, der bei der Implementierung des Themas „Glück“ (verstanden als Vision, Kreativität, Inklusion, Team und Gesundheit) in der Schule helfen soll. Er besteht aus drei Eckpunkten:

Selbstbestimmung: Kompetenzerleben, Sinn/Zugehörigkeit, Selbstbestimmung

Salutogenese (im Anschluss an Antonovsky): Verstehbarkeit, Bedeutsamkeit, Handhabbarkeit

Wertschätzende Schulleitung und Schulentwicklung: Wertschätzende Diagnose, Vision, Umsetzung.

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Schlussbemerkungen

Ich will an dieser Stelle nicht die Zwischenbilanz aus Kapitel 11 wiederholen, sondern lediglich festhalten, dass es bei aller Offenheit der notwendigen Diskussionen über die grundlegenden Konzepte des guten Lebens und der wohlgeordneten Gesellschaft durchaus akzeptable Kriterien dafür gibt, was man unter einem guten Leben und einer wohlgeordneten Gesellschaft verstehen kann.

Ein recht einfacher Weg, selbst zu solchen Kriterien zu gelangen, besteht darin, von den Gegenbegriffen auszugehen: Wann würde ich ein Leben als schlechtes Leben bezeichnen und wann eine Gesellschaft als definitiv nicht wohlgeordnet?

Ich glaube, diese Urteilsfindung ist deshalb nicht so schwierig, weil man das jeweils zu treffende Urteil am eigenen Leib verspürt: Es geht nicht um abstrakte Kategorien, sondern es geht um das Leben selbst.

Allerdings ist es notwendig, sich immer wieder in eine Distanz zur jeweils aktuellen Situation zu begeben. Selbstreflexion ist ein Wesenselement des menschlichen Lebens. Die Entwicklung einer solchen Fähigkeit zur Selbstreflexion ist daher eine zentrale Bildungsaufgabe.

Bildung kommt auch dort in Spiel, wo es um die Erkenntnis geht, dass man zwar Ressourcen zur Bewältigung seines Lebens benötigt, man aber sein Leben letztlich selbst leben muss. Die Gestaltungsfähigkeit des Menschen ist verbunden mit einer Gestaltungsnotwendigkeit und sie bezieht sich auch auf das eigene Leben.

Eine zentrale Bildungsaufgabe besteht daher darin, zum einen die Fähigkeit und den Willen zu entwickeln, Rahmenbedingungen im Sinne des Projektes des guten Lebens gestalten zu können, und zum anderen sein Leben so zu führen, dass es den selbst gewählten Kriterien eines guten Lebens entspricht. Dazu gehört die Überlegung, dass es bei „Bildung“ ganz im Sinne Humboldts darum geht, eigene Fähigkeiten zu entdecken und zu entwickeln, so dass man Freude an sich selbst entwickeln kann: Bildung selbst ist dann nicht nur Mittel zu einem Zweck, sondern sie wird dann selbst unmittelbar zu einem legitimen Inhalt eines guten Lebens.

Es ist dabei darauf hinzuweisen, dass ein individuell gutes Leben nur gelingen kann, wenn es in seinem sozialen Kontext gesehen wird.

Die Pädagogik kann keine Garantie dafür übernehmen, dass die Ergebnisse ihrer Tätigkeit im Selbstlauf dazu führen, dass die Menschen, mit denen sie es zu tun hat, erfolgreich ihr Leben bewältigen können. Die Autonomie des Individuums bleibt auch in pädagogischen Kontexten unangetastet.

Damit darf sich die Pädagogik allerdings nicht aus der Verantwortung stehlen. Denn wenn Bildung eine zentrale Ressource für das Projekt des guten Lebens ist, dann hat die Pädagogik die Verantwortung, alles zu tun, dass diese Ressourcen in jedem Einzelnen auch entstehen können.

Dies bedeutet, eine gute pädagogische Praxis zu realisieren, dies bedeutet aber auch, sich um die Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen zu kümmern: Pädagogik und Politik sind zwei Seiten derselben Medaille.

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Damit wird Pädagogik zu einem (gesellschafts-) kritischen Geschäft, ganz so, wie sie es im Laufe ihrer Geschichte immer schon war. Bildung, so wurde oben gesagt, ist von seiner Genese her ein Emanzipationsbegriff. Pädagogik insgesamt, so war es schon bei dem wichtigen Begründungsversuch von Comenius, ist in diesen Emanzipationsprozess insgesamt einzuordnen (Fuchs/Braun 2018).

Mit den Worten von Ernst Cassirer:

„Im Ganzen genommen könnte man die Kultur als den Prozess der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen beschreiben. Sprache, Kunst, Religion und Wissenschaft bilden unterschiedliche Phasen in diesem Prozess. In ihnen allen entdeckt und erweist der Mensch eine neue Kraft – die Kraft, sich eine eigene, eine „ideale“ Welt zu errichten.“ (Cassirer 1990, 345)

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Literatur

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