Kant und die Berliner Aufklärung (Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Bd. I:...

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Leibniz' Onto-Logik und die transzendentale Logik Kants Andreas Noordraven, Nijmegen I Aron Gurwitsch hat die Essenz des Leibniz'schen Denkens in der These der immanenten Logizität des Universums oder der durchgängigen Konformität von Logik und Wirklichkeit zusammengefasst. Für Leibniz, so Gurwitsch, ist das Universum realisierte und inkarnierte Logik: „Im Universum ist Logik niedergeschlagen und verkörpert; sie ist in dessen Struktur und Gesamt- verfassung als ihr inhärent eingezeichnet. Das Universum ist realisierte und inkarnierte Logik. Die Konformität zwischen Denken und Sein beruht darauf, daß das Sein nicht nur durch das Denken (das Denken Gottes) konstituiert ist, sondern geradezu - wie paradox es auch klingen mag - realisiertes und inkarniertes Denken ist. Das gilt für das Universum als ganzes wie für alle seine Teile [...]. Alle ontologischen Verhältnisse, welcher Art und Stufe auch immer, tragen logische Sachverhalte in sich als in ihnen verkörpert, als ihnen immanente und sie bestimmende Momente. Daher lassen sich alle Beziehun- gen zwischen Wirklichkeiten, phänomenalen wie metaphysischen, in logi- scher Form ausdrücken; alle haben ein logisches Pendant". 1 Logik ist nach dieser Auffassung zugleich Onto-Logik: die Lehre vom richtigen Denken und die Wissenschaft von den allgemeinen Bestimmungen des Seins sind einerlei. Auf diese grundsätzliche Übereinstimmung zwischen Denken und Sein grün- det sich zunächst Leibniz' Erkenntnisbegriff. Rationale Erkenntnis ist für Leibniz eine adäquate Darstellung der objektiven Realität der Dinge selbst, „weil sie sie nach dem faßt, was die Dinge an sich sind, was ihr Sein begrün- det, und was sie zu denen macht, die sie sind". 2 Endliches Denken ist somit immer Nach-Denken einer vorgegebenen Weltordnung, d. h. eines ursprüng- lich Gegebenen und Vorhandenen. Diese Hauptthese der Leibniz'schen Meta- physik kommt vor allem zum Ausdruck in Leibniz' Begriff der Substanz, die „gleichsam eine ganze Welt" genannt wird, d. h. „gleichsam ein Spiegel Got- tes oder jedenfalls des ganzen Universums, welches jede auf ihre Art aus- drückt, etwa so wie sich eine und dieselbe Stadt, je nach den verschiedenen Standorten des Betrachters, verschieden darstellt". 3 Dies bedeutet für Leibniz zweierlei: einerseits ist jede Substanz immer einer bestimmten Perspektive 1 Aron Gurwitsch, Leibniz. Philosophie des Panlogismus, Berlin/New York 1974, S. 15. 2 Gurwitsch, a. a. O., S. 15-16. 3 Gottfried Wilhelm Leibniz, Metaphysische Abhandlung, in: ders., Die Hauptwerke. Zusam- mengefaßt und übertragen von Gerhard Krüger, Leipzig 1933, S. 35. Brought to you by | National Dong Hwa University Authenticated | 134.208.103.160 Download Date | 3/27/14 9:41 AM

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Leibniz' Onto-Logik und die transzendentale Logik Kants

Andreas Noordraven, Nijmegen

I

Aron Gurwitsch hat die Essenz des Leibniz'schen Denkens in der These der immanenten Logizität des Universums oder der durchgängigen Konformität von Logik und Wirklichkeit zusammengefasst. Für Leibniz, so Gurwitsch, ist das Universum realisierte und inkarnierte Logik: „Im Universum ist Logik niedergeschlagen und verkörpert; sie ist in dessen Struktur und Gesamt-verfassung als ihr inhärent eingezeichnet. Das Universum ist realisierte und inkarnierte Logik. Die Konformität zwischen Denken und Sein beruht darauf, daß das Sein nicht nur durch das Denken (das Denken Gottes) konstituiert ist, sondern geradezu - wie paradox es auch klingen mag - realisiertes und inkarniertes Denken ist. Das gilt für das Universum als ganzes wie für alle seine Teile [...]. Alle ontologischen Verhältnisse, welcher Art und Stufe auch immer, tragen logische Sachverhalte in sich als in ihnen verkörpert, als ihnen immanente und sie bestimmende Momente. Daher lassen sich alle Beziehun-gen zwischen Wirklichkeiten, phänomenalen wie metaphysischen, in logi-scher Form ausdrücken; alle haben ein logisches Pendant".1 Logik ist nach dieser Auffassung zugleich Onto-Logik: die Lehre vom richtigen Denken und die Wissenschaft von den allgemeinen Bestimmungen des Seins sind einerlei. Auf diese grundsätzliche Übereinstimmung zwischen Denken und Sein grün-det sich zunächst Leibniz' Erkenntnisbegriff. Rationale Erkenntnis ist für Leibniz eine adäquate Darstellung der objektiven Realität der Dinge selbst, „weil sie sie nach dem faßt, was die Dinge an sich sind, was ihr Sein begrün-det, und was sie zu denen macht, die sie sind".2 Endliches Denken ist somit immer Nach-Denken einer vorgegebenen Weltordnung, d. h. eines ursprüng-lich Gegebenen und Vorhandenen. Diese Hauptthese der Leibniz'schen Meta-physik kommt vor allem zum Ausdruck in Leibniz' Begriff der Substanz, die „gleichsam eine ganze Welt" genannt wird, d. h. „gleichsam ein Spiegel Got-tes oder jedenfalls des ganzen Universums, welches jede auf ihre Art aus-drückt, etwa so wie sich eine und dieselbe Stadt, je nach den verschiedenen Standorten des Betrachters, verschieden darstellt".3 Dies bedeutet für Leibniz zweierlei: einerseits ist jede Substanz immer einer bestimmten Perspektive

1 Aron Gurwitsch, Leibniz. Philosophie des Panlogismus, Berl in/New York 1974, S. 15. 2 Gurwitsch, a. a. O., S. 15-16. 3 Gottfried Wilhelm Leibniz, Metaphysische Abhandlung, in: ders., Die Hauptwerke. Zusam-

mengefaßt und übertragen von Gerhard Krüger, Leipzig 1933, S. 35.

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verhaftet, von der sie sich niemals lösen kann, andererseits aber setzt die unendliche Vielfalt unterschiedlichster Perspektiven ein immer schon Vorge-gebenes und Vorhandenes voraus, worauf sich all diese Perspektiven beziehen und ohne welches sie überhaupt nicht als Perspektiven verstanden werden könnten. So kann Leibniz sagen, dass jede einzelne Substanz, wenn auch verworren, alles ausdrückt, was im Universum geschieht: Vergangenes, Ge-genwärtiges und Zukünftiges.

Eine weitere These kommt dazu. Leibniz vertritt den Standpunkt, dass nur der Mensch, als apperzipierende oder um sich selbst wissende Substanz, die durchgehende Logizität des Universums als Ausdruck des Denkens Gottes zu verstehen imstande ist und dass in eben diesem Vermögen die Vorzugsstellung des Menschen gegenüber allen anderen mit Vorstellungskraft begabten Wesen begründet liegt. „Daher [ist] das Wesen unserer Seele ein bestimmter Aus-druck, eine Nachahmung oder ein Abbild des göttlichen Wesens, Denkens und Willens und aller darin begriffenen Ideen [...]. Also kann man sagen, Gott sei der einzige unmittelbare Gegenstand außer uns, und wir sähen alle Dinge durch ihn".4 Mit anderen Worten garantiert die von Leibniz unterstellte Kommensurabilität zwischen menschlichem und göttlichem Denken, oder die Bestimmung des menschlichen Wissens als Nachvollzug des Wissens Gottes, dem Menschen einen Einblick in den göttlichen Schöpfungsplan - auch wenn das nicht bedeuten soll, dass die menschliche und die göttliche Erkenntnis völlig identisch sind. Im Gegensatz zur platonisch-neuplatonischen Erkenntnis-metaphysik, zu der man in diesem Zusammenhang auch die erkenntnistheo-retischen Positionen Spinozas und Malebranches rechnen kann, ist Leibniz der Ansicht, dass die perspektivische Bedingtheit der menschlichen Erkennt-nis eine nicht zu überwindende Beschränkung darstellt und dass die intuitive Erkenntnis Gottes dem Menschen grundsätzlich verwehrt ist.5 Trotzdem aber hat der Mensch, und zwar in der Selbstgewißheit des „Ich denke", einen Zugang zur logischen Verfassung der Welt, zumindest in der Weise einer unendlichen Annäherung.6

Das theozentrische Erkenntnismodell, welches das Denken Gottes als Maßstab und Prüfstein des menschlichen Wissens begreift, bildet auch die Grundlage für Leibniz' Wahrheitsbegriff. Wahrheit deutet bei Leibniz auf eine Identitätsbeziehung, d. h. eine analytische Beziehung zwischen einem Urteils-subjekt und einem Prädikat.7 Alle wahren Aussagen weisen demnach eine -jedenfalls implizite - Analytizität auf: „Die Philosophen nennen dies in-esse und sagen, das Prädikat sei in dem Subjekt. So muss der Begriff des Subjekts immer den des Prädikats einschließen, so daß jemand, der den Begriff des

4 Leibniz, a. a. O-, S. 60-61. 5 Die Hypothese liegt nahe, Leibniz' Distanz zu einer jeden mystisch-transzendenten Erkenntnis-

konzeption aus seinem protestantisch-lutherischen Hintergrund zu erklären. Bekanntlich hatte Luther den Wunsch, Gott gleich zu werden, für ein Zeichen unzulässigen Hochmuts gehalten.

6 Vgl. hierzu Gurwitsch, a. a. O., S. 142 ff. 7 Vgl. hierzu Winfried Lenders, Die analytische Begriffs- und Urteilstheorie von G.W. Leibniz

und Chr. Wolff, Hildesheim/New York 1971.

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Subjekts vollkommen verstünde, sofort das Urteil fällen würde, daß das Prä-dikat ihm zugehöre".8 Diese analytische Urteilslehre bezieht sich nicht nur auf die notwendigen Wahrheiten ( vérités de raison), die in allen möglichen Welten gültig sind, sondern auch auf die kontingenten Wahrheiten (vérités de fait), deren Geltung auf die wahrnehmbare Wirklichkeit in Raum und Zeit eingeschränkt ist. Wenn wir die Analytizität eines Urteils durch schrittweise Reduzierung einer nicht-identischen Aussage auf eine identische feststellen können, dann nennen wir dieses Urteil notwendig, wie im Falle arithmetischer und geometrischer Wahrheiten, deren Geltung nicht ohne Widerspruch ge-leugnet werden kann. Lässt sich aber keine Identitätsbeziehung aufweisen, dann nennen wir die Wahrheit des Urteils kontingent. Die Unmöglichkeit, die Identität einer kontingenten Wahrheit feststellen zu können, ergibt sich je-doch nicht aus der Eigenart der kontingenten Aussage selbst, sondern nur aus der Unzulänglichkeit des menschlichen Urteilsvermögens. Während im voll-ständigen Begriff einer jeden individuellen Substanz alle ihre zugehörigen Prädikate schon enthalten sind, die Totalität dieser Prädikate aber nur vom göttlichen Verstände überschaut werden kann, kann es für Gott keinen Un-terschied zwischen logischer und faktischer Wahrheit geben, zwischen a priori und a posteriori oder - in der Sprache Kants - zwischen „analytisch" und „synthetisch". Weil alle wahren Urteile nach Leibniz in letzter Instanz analy-tisch sind, muss der „synthetische" Charakter kontingenter Aussagen als Ausdruck der menschlichen Unfähigkeit zu einer unendlichen konzeptuellen Analysis begriffen werden, d. h. als Folge einer faktischen, und nicht einer qualitativen oder strukturellen Beschränkung des menschlichen Verstandes.

II

In seiner vorkritischen Phase übernimmt Kant die zwei obengenannten Haupt-momente des Leibniz'schen Denkens: das theozentrische Erkenntnismodell und die damit verbundene analytische Urteilslehre. „Es steckt", so heißt es im Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen, „etwas Großes und, wie mich dünkt, sehr Richtiges in dem Gedanken des Herrn von Leibniz: Die Seele befaßt das ganze Universum mit ihrer Vorstel-lungskraft, obgleich nur ein unendlich kleiner Teil dieser Vorstellungen klar ist" (II 199).9 Die Affinität zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Geist gewährt dem endlichen Subjekt einen Einblick in die logische Struktur des Universums, die sich für den unendlichen Verstand Gottes in klarster Weise darbietet. Wenn es dem Menschen nicht gegeben ist, die ganze von Gott

8 Leibniz, a. a. O. , S. 3 4 . 9 Kants Werke werden - mit Ausnahme der Kritik der reinen Vernunft - nach der Ausgabe der

Preußischen Akademie der Wissenschaften (Kant's gesammelte Schriften, Berlin 1 9 0 0 ff.) zitiert; Stellenangaben erfolgen durch Band- und Seitenzahlen. Die Reflexionen aus dem handschriftlichen Nachlass werden mit der Abkürzung „Refl." und ihren Nummern aufge-führt. Die Seitenangaben zur Kritik der reinen Vernunft beziehen sich auf die erste (A) oder zweite (B) Originalausgabe ( 1 7 8 1 bzw. 1 7 8 7 ) .

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gedachte Realität zu überschauen, so ist das nicht einem strukturellen Defekt des menschlichen Verstandes zuzuschreiben, sondern nur die Folge der unend-lichen Komplexität unserer Vorstellungen, die im Bereich des Phänomenalen vorhanden sind. Demnach ist es Kant zufolge die erste Aufgabe der Metaphy-sik, „die Nebel der Verworrenheit zu zerstreuen, die den gemeinen Verstand verdunkeln" (Dissertatio II 395). Die analytische Methode, womit komplexe Zusammenhänge auf einfache Elemente zurückgeführt werden können, ist hier das einzige in Betracht kommende Instrument. Auch wenn eine unend-liche konzeptuelle Analysis dem Menschen verwehrt ist, bleibt dennoch das göttliche Erkenntnisideal in Kants vorkritischer Periode für den Menschen das Maß.

Der transzendentale Idealismus der Kritik der reinen Vernunft bedeutet bekanntlich einen radikalen Bruch mit Kants vorkritischem Leibnizianismus. Die strukturelle Ähnlichkeit zwischen Denken und Sein, der zufolge die menschliche Erkenntnis das Abbild einer an sich bestehenden, vom göttlichen Intellekt gedachten Wirklichkeit ist, wird vom kritischen Denken grundsätz-lich in Frage gestellt. Kants prinzipielle Kritik an der herkömmlichen Verbin-dung von Ontologie und Logik wird besonders deutlich an seinem Begriff einer transzendentalen Logik, also bei seiner Konzeption jener Disziplin, die den Ursprung, den Umfang und die objektive Gültigkeit der menschlichen Erkenntnis bestimmen soll und die lediglich „auf Gegenstände a priori bezo-gen wird, und nicht, wie die allgemeine Logik, auf die empirischen so wohl, als reinen Vernunfterkenntnisse ohne Unterschied" (A 57/B 81f.). Die tran-szendentale Logik befasst sich mit den Gesetzen des Denkens, aber nur so weit sich diese auf Erfahrbares beziehen. Das Universum ist hier nicht länger eine vom göttlichen Geist geprägte und vom Menschen „nachzudenkende" Rea-lität, sondern nur noch das logische Korrelat des synthetisch-konstitutiven Verstandes. Wenn es dem Menschen grundsätzlich verwehrt ist, das Ganze der Welt in den Blick zu bekommen, dann ist das jetzt nicht mehr die Folge unserer Unfähigkeit zu einer unendlichen prädikativen Analysis, sondern ei-ner strukturellen, dem menschlichen Denken inhärenten Beschränkung, die nach Kant in dem transzendentalen Unterschied zwischen Sinnlichkeit und Verstand begründet ist, „zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen [...], die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen" (A 50/B 74). Dieser Unter-schied, und die damit korrespondierende Dualität von Anschauung und Be-griff, bildet nach kritisch-transzendentaler Auffassung den Horizont unseres Denkens.10

Leibniz' Überzeugung, dass es keinen strukturellen Unterschied zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Intellekt gibt - die menschliche Er-kenntnis galt für Leibniz doch als eine unvollkommene, d. h. eine „verworre-ne" und „unklare" Repräsentation der von Gott gedachten, intelligiblen Vorstellungswelt - , wird im Kapitel über die Amphibolie der Reflexions-

10 Zu weiteren Aspekten dieses Unterschieds vgl. Karen Gloy, „Die kantische Differenz von Begriff und Anschauung und ihre Begründung", in: Kant-Studien LXXV (1984), S. 1-37.

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begriffe in der Kritik der reinen Vernunft als eine Art von transzendentalem Realismus kritisiert: Leibniz „intellektuierte die Erscheinungen" (A271/ Β 327), d. h. „Leibniz nahm die Erscheinungen als Dinge an sich selbst, mithin für intelligibilia, d. i. Gegenstände des reinen Verstandes, (ob er gleich, wegen der Verworrenheit ihrer Vorstellungen, dieselben mit dem Namen der Phänomene belegte)" (A264/B 320). Anders gesagt: Leibniz, der „alle Ge-genstände nur mit dem Verstände und den abgesonderten formalen Begriffen seines Denkens verglich" (A 270/B 326), habe sich eines „Kategoriefehlers" oder einer „transzendentalen Amphibolie" schuldig gemacht, indem er den Unterschied zwischen Sinnlichkeit und Verstand nur im logischen und nicht im transzendentalen Sinne auffasste. Mit „logisch" meint Kant in diesem Zusammenhang analytisch; „transzendental" bedeutet dagegen synthetisch.11

Im Gegensatz zum analytischen Verstände bei Leibniz, der immer auf das „Nachdenken" einer vorgegebenen, intelligiblen Weltordnung ausgerichtet war, ist der Verstand beim kritischen Kant „das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen" (A 51/B 75). Die Funktion des Verstandes ist hier nicht länger analytisch, sondern wird als „lauter Spontaneität der Verbindung des Mannigfaltigen einer bloß möglichen Anschauung" (B 428) bestimmt. Folglich geht die synthetische Funktionalität der konzeptuellen Analysis vor-an:

Unter allen Vorstellungen [ist] die Verbindung die einzige, die nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Actus seiner Selbsttätigkeit ist. M a n wird hier leicht gewahr, daß diese Handlung ursprünglich einig, und für alle Verbindung gleichgeltend sein müsse, und daß die Auflösung Analysis, die ihr Gegenteil zu sein scheint, sie doch jederzeit voraussetze; denn w o der Verstand vorher nichts verbunden hat, da kann er auch nichts auflö-sen, weil es nur durch ihn als verbunden der Vorstellungskraft hat gegeben werden können (B 1 3 0 ) .

Nach dieser Auffassung über den Primat der synthetischen Funktionalität des Verstandes kann das Denken die Welt nicht mehr abbilden, sondern ist die Welt gerade umgekehrt eine Funktion des Denkens geworden. Die rein intel-lektuelle Synthesis hat hier den ontologischen Gedanken einer dem mensch-lichen Erkennen vorangehenden intelligiblen Realität ersetzt, die Frage nach dem intelligiblen Charakter der Wirklichkeit hat aus diesem Grund ihre Le-gitimität verloren: „Dieser intelligibele Charakter könnte [...] niemals unmit-telbar gekannt werden, weil wir nichts wahrnehmen können, als so fern es erscheint" (A 540/B 568). Der ontologische Unterschied zwischen intelligibler Welt und Erfahrungswelt kann nach kritisch-transzendentaler Denkart nur noch als epistemologischer Ausdruck verstanden werden: „Die andere Welt wird nicht andere Gegenstände, sondern eben dieselben Gegenstände anders

11 Vgl. Refi. 5554, XVIII 229: „Die reflektierenden Begriffe können logisch, mithin bloß ana-lytisch, oder transzendental, mithin synthetisch, genommen werden". Vgl. zum Unterschied zwischen logischer und transzendentaler Reflexivität Peter Reuten Kants Theorie der Reflexionsbegriffe. Eine Untersuchung zum Amphiboliekapitel der Kritik der reinen Ver-nunft, Würzburg 1989, S. 82-109 und 203-242.

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(nämlich intellectualiter) und in andern Verhältnissen zu uns gesehen vorstel-len" (Refi. 4240, XVII 474). Intelligibilität ist hier weder Merkmal noch Eigenschaft einer dem menschlichen Erkennen vorangehenden Realität, son-dern die charakteristische Bezeichnung einer - dem Menschen eben nicht zukommenden - nicht-phänomenalen Vorstellungsart.

Der methodische Vorrang der synthetischen Funktionalität des Verstandes bestimmt ebenfalls Kants kritische Theorie der Substanz. Mit der Aufhebung des mundus intelligibilis in der Kritik der reinen Vernunft hat der Substanz-begriff des noumenon sich in einen Funktionsbegriff verwandelt.12 Demge-mäß hat die Substanz in der ersten Analogie der Erfahrung keine ontologische Bedeutung mehr, sondern deutet nur noch auf das Substrat unserer empiri-schen Vorstellungen in der Zeit, d. h. auf „das Beharrliche, womit in Verhält-nis alle Zeitverhältnisse der Erscheinungen allein bestimmt werden können [...] d. i. das Reale derselben, was als Substrat alles Wechsels immer dasselbe bleibt" (B 225). Das Unwandelbare im Dasein, wie man es in der Tradition von Aristoteles bis Leibniz genannt hatte, ist hier eine transzendentale Bedin-gung, kraft deren wir Ereignisse als auf einander folgend oder gleichzeitig wahrnehmen können. Und auch umgekehrt werden unsere empirischen Vor-stellungen in der Zeit als „ein modus der Existenz dessen, was bleibt und beharrt" (B 227), vorgestellt. Mit dieser Auffassung hat sich Kant jedoch weit von Leibniz entfernt, für den die Differenz zwischen Substanz und Zeit immer einen unüberbrückbaren Gegensatz gebildet hatte, der nur im Denken Gottes aufgehoben war.

III

Es ist in der neueren Kantforschung die Auffassung geltend gemacht worden, die Bedeutung des kritischen Idealismus könne zwar ohne weiteres anhand der zu Kants Lebzeiten veröffentlichten Werke ausgemacht werden, für das Verständnis der ganzen Tragweite seines Denkens sei die Einbeziehung des unter dem Titel Opus postumum überlieferten Nachlasses unentbehrlich.13

Wenn diese Behauptung zutrifft, so gilt sie besonders für die Bewertung der transzendentalen Logik, die Kant am Ende seiner Denkentwicklung ganz aufs neue zu durchdenken versucht hat und die im Spätwerk eine Transformation erfährt, die an Kühnheit und philosophischer Brisanz ohne Übertreibung der Kopernikanischen Wende in der Kritik der reinen Vernunft gleichgestellt werden kann. Ausgangspunkt der späten Bemühungen Kants um eine allum-

Vgl. zu dieser Formulierung Alfred Baeumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, 2., durchges. und um ein Nachwort erw. Aufl., Darmstadt 1967, S. 346. Vgl. Vittorio Mathieu, Kants Opus postumum, hrsg. von Gerd Held, Frankfurt am Main 1989, S. 9-14; dazu auch Eckart Förster, „Kants Metaphysikbegriff: vor-kritisch, kritisch, nach-kritisch", in: Metaphysik nach Kant? Stuttgarter Hegel-Kongress 1987, hrsg. von Dieter Henrich und Rolf-Peter Horstmann, Stuttgart 1988, S. 123-136.

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fassende Philosophie, in der er seine Gedanken über Metaphysik und Physik, über Gott und Raum, über Materie und Äthers in einem einzigen System zu vereinigen sucht, ist ein Problem, das ihn in allen Phasen seines Denkens beschäftigt hat und das im Nachlass - nicht ganz unerwartet - erneut in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Dieses Problem ist die schon oben aufge-worfene Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein, oder dem von Logik und Wirklichkeit. Wie kann das Sein, das sich unserem Denken ent-zieht, weil es gerade Grundlage und Voraussetzung für jedes Denken ist, dennoch als Gegenstand des Denkens vorgestellt werden? Das Problem der Verbindung von Denken und Sein, das Kant in seiner vorkritischen Phase als das einer Synthesis von Leibniz' Metaphysik und Newtons Naturwissenschaft aufgefasst hatte, und das in seiner kritischen Phase auf eine rein episte-mologische Fragestellung zurückgeführt worden war, erfährt im Nachlass eine Lösung, die „vorher befremdlich war, ja sogar unmöglich zu sein schien" (XXII 400).14 Diese Lösung besteht in einer radikalen Korrektur des kritisch-transzendentalen Denkens, die Kant als einen „Übergang von den metaphy-sischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik" charakterisiert hat. Es wird im Folgenden die These vertreten, dass diese als „Übergang" bezeichnete Bewegung des Denkens, die im transzendentalphilosophischen Sinne „den höchsten Standpunkt der Transzendentalphilosophie im System der Ideen" (XXI 54) darstellt, zugleich im ontologischen Sinne als eine Rück-kehr zu der von Leibniz herrührenden These der durchgehenden Logizität des Universums anzusehen ist.

Kant hat die durchgehende Logizität des Universums, die in der Begriffs-sprache der kritischen Transzendentalphilosophie nur als „Hypothese" ge-dacht werden konnte, im Spätwerk mit dem Ausdruck cogitabile bezeichnet. Im Gegensatz zur physikalisch-mathematischen Weltkonstruktion der Kritik der reinen Vernunft ist die Welt im Opus postumum eine immer schon vor-handene Gesamtordnung, die dem menschlichen Erkennen vorangeht: „Nicht die Subjektivität der Vorstellungen durch die Sinne (primarium dabile), son-dern die Objektivität derselben für die Sinne (primarium cogitabile) ist das was zuerst der Erfahrung zum Grunde liegt" (XXII 309). Der Terminus „cogitabile" soll hier zum Ausdruck bringen, dass das Ganze der Welt jeder sinnlichen Erfahrung prinzipiell entzogen ist und deshalb nur als gedachte Realität eine gesicherte Existenz hat. Andererseits ist diese gedachte Welt als selbstständiges Ganzes uns immer schon von Natur aus zugänglich und ver-traut: wir kennen sie, ohne all ihre Teile zu kennen und sukzessiv durchzuge-hen. Sie ist, wie Löwith es nennt, „nicht das letzte Ende einer ideellen Vollen-dung, sondern das Erste, Vorgängige und immer schon Vollendete".15

Dass der höchste Grund der Einheit von Denken und Sein zugleich ihre Differenz begreiflich machen soll, ist neuerdings besonders von Claudia Bickmann betont worden (Differenz oder das Denken des Denkens. Topologie der Einheitsorte im Verhältnis von Denken und Sein im Horizont der Transzendentalphilosophie Kants, Hamburg 1 9 9 6 ) . Diese These muss im Fol-genden aber unberücksichtigt bleiben. Karl Löwith, Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis zu Nietzsche, in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. IX , Stuttgart 1 9 8 6 , S. 5 8 .

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Auf die Frage, wie das Verbindungsproblem zwischen Denken und Sein gelöst werden kann, oder anders gesagt, wie man sich den Übergang von der Metaphysik zur Physik vorstellen sollte, lautet Kants Antwort: „Der Verstand macht das cogitabile zum dabile" (XXII 385). Der Verstand ist nach Kants spätem Transzendentalismus nicht nur in der Lage, die Erfahrung im katego-rialen Sinne (d. h. nach den Prinzipien der transzendentalen Logik), sondern auch ihrem Inhalt nach (quoad materiale) zu antizipieren. Durch die Kon-struktion eines cogitabile zum Behuf der Erfahrung antizipiert der Verstand die wahrnehmbare Welt, wodurch das cogitabile zum dabile wird, und diese Antizipation ist ein unendlicher Prozess, der nur in asymptotischer Annähe-rung stattfindet.16 Anders als in der Kritik der reinen Vernunft - und dies ist für unsere These ein besonders wichtiges Argument - ist diese Antizipation des Verstandes kein logischer Akt der Synthesis, sondern ein analytischer Akt der Zergliederung einer schon vorhandenen, durchgängig bestimmten Reali-tät. Mit Hinweis auf den von Wolff stammenden Begriff des omnímoda determinatio nennt Kant die durchgängige Bestimmung dieser von unserem Verstände antizipierten Welt eine hinreichende Bedingung für ihre Existenz:

Existentia est omnímoda determinatio, sagt Christian Wolff, und so auch umge-kehrt omnímoda determinatio est existentia als ein Verhältnis gleichgeltender Be-griffe. Aber diese gedachte durchgängige Bestimmung kann nicht gegeben werden; denn sie geht ins Unendliche empirischer Bestimmungen. Nur in dem Begriffe Eines Objekts möglicher Erfahrung, welcher von keiner Erfahrung abgeleitet ist, viel-mehr sie selbst möglich macht, wird jenem objektive Realität, nicht synthetisch, sondern analytisch nach dem Satz der Identität, diese omnímoda determinatio notwendigerweise zugestanden (XXI 603).

Obwohl dieser Gedankengang eine überraschende Affinität mit Leibniz' Theorie der menschlichen Erkenntnis und dessen analytischer Urteilstheorie aufweist, ist es aber nicht Leibniz, sondern Spinoza, den Kant selbst als Vorläufer des transzendentalen Idealismus in der letzten Phase seines Denkens angesehen hat. Die spinozistischen Elemente in Kants Spätwerk sind in der neueren Kantforschung besonders von Burkhard Tuschling hervorgehoben worden.17 Als Beispiel für Kants späte Beschäftigung mit Spinoza nennt Tuschling folgende Stelle, nach der Gott und die Welt beide als „Maxima" innerhalb eines vom denkenden Subjekt ausgehenden Gesamtverhältnisses bestimmt werden:

Gott und die Welt sind beides ein Maximum. Die transzendentale Idealität des sich selbst denkenden Subjekts macht sich selbst zu einer Person. Die Göttlichkeit derselben. Ich bin im höchsten Wesen. Ich sehe mich selbst (nach Spinoza) in Gott,

Vgl. zum Problem der Verbindung von cogitabile und dabile in Kants Spätwerk und beson-ders zur Rolle des cogitabile, das für Kant das „eigentliche Objekt" der Physik darstellt, Vittorio Mathieu, „Die transzendentale Philosophie und die Methode der Physik", in: Akten des Fünften Internationalen Kant-Kongresses, hrsg. von Gerhard Funke, Bonn 1982, Tl. II, S. 81-90. Burkhard Tuschling, „Die Idee des transzendentalen Idealismus im späten Opus postumum", in: Übergang. Untersuchungen zum Spätwerk Immanuel Kants, hrsg. vom Forum für Philo-sophie Bad Homburg, Frankfurt am Main 1991, S. 105-145.

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der in mir gesetzgebend ist [ . . . ] Es ist also zwar nicht das Dasein Gottes als einer besonders existierenden Substanz, aber doch die Beziehung auf einen solchen Begriff als zur Transzendentalphilosophie gehörend, hierdurch hinreichend (in praktischer Rücksicht) erwiesen. - vid. Lichtenbergs Spinoza. Ein System der An-schauung aller Dinge in Gott ( X X I I 5 4 - 5 5 ) .

Tuschling findet die Nennung Spinozas in diesem Zusammenhang „unge-wöhnlich".18 Obwohl ich dieser Meinung zustimmen kann, möchte ich noch einen Schritt weiter gehen und den (von Lichtenberg übernommenen) Spino-zismus in Kants Spätwerk nicht nur als ungewöhnlich, sondern als durchaus problematisch bezeichnen. Wenn der transzendentale Idealismus gelegentlich als „Spinozismus" (XXII 64) angedeutet wird und der Geist des Menschen als „Spinozens Gott" (XXI 99), dann ist das, jedenfalls aus historischem Ge-sichtspunkt, irreführend. Noch in der Kritik der Urteilskraft von 1790 war Spinozas „System der Fatalität" (V 391) von Kant kompromisslos abgelehnt worden, und es ist nicht wahrscheinlich, dass Kant - der nach der Aussage Hamanns mündlich gestanden hat, „den Spinoza niemals recht studiert zu haben"19 - im Spätwerk eine Rehabilitierung des Spinoza vorgenommen hat. Auf die Frage, wie wir uns die im Opus postumum vorgeführte Verbindung von kritischem Idealismus mit Spinozismus vorstellen sollten, lässt sich auf Grund von Kants nur skizzenhaft formulierten Aussagen keine hinreichende Antwort geben. Klar aber ist, dass der im Spätwerk mehrfach wiederholte Gedanke der Anschauung aller Dinge in Gott mit den klassischen Motiven des Spinozismus - etwa mit einer Theorie der Substanz oder der Gottheit - wenig zu tun hat. Die genannte Formel bringt nur zum Ausdruck, dass wir „vom höchsten Standpunkt der Transzendentalphilosophie" (XXI 54) das Ganze der Welt als eine transzendentale Bedingung der Erfahrung zu antizipieren imstande sind und auf diese Weise das ursprüngliche göttliche Tun reprodu-zieren können. Kant unterstellt hier eine von der transzendentalen Konsti-tutionsfunktion des Denkens unabhängige Weltordnung als vorausgehende Bedingung der transzendentalen Synthesis. Diese Weltordnung, die als ge-dachte Realität nur eine Idee sein kann, ist mit der Vorstellung von Gott als Schöpfer der Welt unzertrennlich verbunden: beide Ideen machen im Men-schen ein „System" aus, weil sie nur von ihm in ihrer gegenseitigen Beziehung vorgestellt werden können. Da Gott und Welt jedoch nicht „einander koor-dinierte Wesen" sind, sondern „diese jenem subordiniert ist" (XXII 117), kann Gott der indirekte Bestimmungsgrund der Welt oder „die Idee von dem, was die menschliche Vernunft selbst aus dem Weltall macht" genannt werden (XXI 154). Das bedeutet aber, dass der Mensch - als Mittelbegriff zwischen Gott und Welt - die von Gott schon vorgedachte Welt nachzudenken imstan-de ist, und es ist genau dieser Gedanke, den wir nicht bei Spinoza, wohl aber bei Leibniz finden können. Die strukturelle Ähnlichkeit zwischen Kants Welt-begriff im Opus postumum, der sich als ein Prinzip des inneren Zusammen-

18 Tuschling, a . a . O . , S. 115. " Vgl. Johann Georg Hamann an Friedrich Heinrich Jacobi, in: Immanuel Kant in Rede und

Gespräch, hrsg. und eingeh von Rudolf Malter, Hamburg 1990, S. 274.

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hangs zwischen Denken und Sein unter dem Primat des letzteren ausweisen lässt, und Leibniz' These der durchgehenden Vernunftgemäßheit und logi-schen Gesetzmäßigkeit des Universums, ist hier schwer zu übersehen.

Zwar hat auch Tuschling, in einem späteren Aufsatz zu diesem Thema, die Gedankenentwicklung Kants im Opus postumum als eine Rückkehr zu Leib-niz beschrieben, die eigentliche Pointe dieser Annäherung doch nicht in Leib-niz' These der Logizität des Universums gesehen, sondern in der Rolle einer Leibniz und Kant gemeinsam unterstellten Theorie des transzendentalen Ich, nach der das Ganze der Welt sich aus der reinen Tätigkeit des Subjekts ableiten lässt.20 Diese im nachkantischen Idealismus sowohl von Fichte wie auch vom frühen Schelling vertretene Auffassung kann aber nicht ohne größere Schwie-rigkeiten der Interpretation dem späten Kant zugeschrieben werden und findet sich überhaupt nicht bei Leibniz. Weder für Kant, noch für Leibniz ist die umfassende Ganzheit der Welt ontologisch sekundär und dem selbsttätigen Subjekt untergeordnet. Zwar liegt der Zugang zur Welt im Menschen, das Dasein der Welt lässt sich aber nicht restlos auf einen konstitutiven Akt des Ich zurückführen. Wenn man in der nachkantischen Systemphilosophie eine Parallele zum oben hervorgehobenen Rückgang Kants auf die Seinsbestimmung des Denkens auffinden möchte, dann käme statt Fichtes radikalem Subjektivis-mus oder der Ich-Philosophie des jungen Schelling eher die von Christoph Gottfried Bardiii erstmals entwickelte und dann von Karl Leonhard Reinhold fortgeführte Theorie des logischen Realismus in Betracht.21 Bemerkenswert ist die vom Bardili-Reinhold'sehen Realismus unterstellte ontologische Logik-konzeption, deren Ursprung unverkennbar auf Leibniz zurückgeht. Das gehört aber nicht mehr hierhier und wäre das Thema einer weiteren Untersuchung.

Auch nach der hier entwickelten Interpretation bleiben viele Fragen offen. Doch kann kein Zweifel daran bestehen, dass Kants radikale Leibnizkritik in der Kritik der reinen Vernunft nicht als sein letztes Wort zu nehmen ist, sondern dass diese Kritik eine tiefere Verwandtschaft mit Leibniz voraussetzt, die erst im Opus postumum in aller Klarheit hervortritt. Wenn - wie oben gezeigt wurde - Kants Transformation der transzendentalen Logik im Spät-werk, mit der er seinen Transzendentalismus endgültig begründen wollte, die Vollendung von Leibniz' These der durchgehenden Logizität des Seienden bedeutet, so verleiht das seinem Denken die Einheit und Kontinuität, die sonst fehlen würden. Leibniz' logisch-ontologische Weltkonzeption, die Kant schon 1747 seiner Erstlingsschrift über den Begriff der lebendigen Kräfte zugrunde gelegt hatte, tritt am Ende seiner Denkentwicklung erneut in den Vorder-grund. Sie gewinnt damit einen systematischen Stellenwert, den die Kant-forschung bis heute kaum beachtet hat.

20 Siehe Burkhard Tuschling, „Transcendental Idealism in Leibniz and Kant: The Paradigm, Problems and the Dialectic of the I as the First Principle of Philosophy", in: Proceedings of the Eighth International Kant Congress, ed. by Hoke Robinson, Milwaukee, Wi. 1995, Vol. I, S. 881-903.

21 Vgl. hierzu Martin Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold. Eine syste-matische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchung zur Philosophie Reinholds in der Zeit von 1789 bis 1803, Frankfurt am Main 1995, S. 261-414 .

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