Kant und die Berliner Aufklärung (Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Bd. I:...

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Maximengeleitete Vernunft - Kants Logik der endlichen Vernunft Kurt Walter Zeidler, Wien Der Terminus .Vernunft' und zumal die Rede von einer .Einheit der Vernunft' werden heutzutage vielfach als emphatischer Begriff und als unangemessene Redeweise empfunden, da die Gegenwartsphilosophie weitgehend durch her- meneutische, kommunikationstheoretische, pragmatische und systemtheo- retische Ansätze bestimmt ist, die nicht mehr von einer vorgeblichen Einheit der Vernunft, sondern von der Erfahrung einer ursprünglichen Differenz unterschiedlicher Rationalitätskonzeptionen ausgehen. Mit gewissem Recht könnte Kant als Wegbereiter für diese Zerstückelung der Vernunft in verschie- dene Rationalitätstypen angesehen werden, da er mit der Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft und seinen drei Kritiken den klassi- schen Ansatz für weitere Differenzierungen des Vernunftbegriffs gelegt hat. So haben gerade die neukantianischen Bemühungen um die philologische Erschliessung des .urkundlichen' Kant und die systematische Erneuerung sei- ner Aprioritätslehre 1 wesentlich zur gegenwärtigen Auffächerung der Philoso- phie in divergierende kultur-, sozial- und wissenschaftsphilosophische For- schungsprogramme beigetragen: da der Neukantianismus die kantische Ar- chitektonik der „Erkenntnisvermögen" als bloß .subjektive' und empirisch- psychologische Grundlegung des Apriori kritisierte, sah er sich nämlich bei der Suche nach einer alternativen - streng .objektiven' - Begründung auf die Fakta der Wissenschaft, Kultur und Geschichte verwiesen 2 - und wurde da- durch wider Willen zu einem Wegbereiter für die antisystematischen Tenden- zen, die so maßgeblich das Denken des 20. Jahrhunderts beherrschen. Dage- gen wird man mit Kant an dem systematischen und systembildenden Gedan- ken festhalten müssen, dass jede Differenzierung doch auch so etwas wie einen Grund oder ein Prinzip der Differenz voraussetzt. Wenn Kant von der Vernunft als dem „Vermögen der Prinzipien" spricht, so wird man diese Formulierung daher auch dahingehend interpretieren dürfen, dass die Ver- nunft auch als Vermögen der Differenz und somit als eine endliche Vernunft zu bestimmen ist, die sich inmitten von Differenzerfahrungen jeweils erst als einige Vernunft konstituieren und behaupten muss. Die folgenden Überlegun- Die vorliegende Untersuchung entstand im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Ausbildung der neukantianischen Aprioritätslehren, das vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (Wien) gefördert wird. Vgl. P. Natorp, „Ueber objective und subjective Begründung der erkenntnis", in: Philosoph. Monatshefte 27 (1887), 257-286; W. Windelband, „Kritische oder genetische Methode?" (1883), in: Präludien, 2. Bd., Tübingen 6 1919, 99-135. Brought to you by | National Dong Hwa University Authenticated | 134.208.103.160 Download Date | 3/27/14 9:57 AM

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Maximengeleitete Vernunft - Kants Logik der endlichen Vernunft

Kurt Walter Zeidler, Wien

Der Terminus .Vernunft' und zumal die Rede von einer .Einheit der Vernunft' werden heutzutage vielfach als emphatischer Begriff und als unangemessene Redeweise empfunden, da die Gegenwartsphilosophie weitgehend durch her-meneutische, kommunikationstheoretische, pragmatische und systemtheo-retische Ansätze bestimmt ist, die nicht mehr von einer vorgeblichen Einheit der Vernunft, sondern von der Erfahrung einer ursprünglichen Differenz unterschiedlicher Rationalitätskonzeptionen ausgehen. Mit gewissem Recht könnte Kant als Wegbereiter für diese Zerstückelung der Vernunft in verschie-dene Rationalitätstypen angesehen werden, da er mit der Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft und seinen drei Kritiken den klassi-schen Ansatz für weitere Differenzierungen des Vernunftbegriffs gelegt hat. So haben gerade die neukantianischen Bemühungen um die philologische Erschliessung des .urkundlichen' Kant und die systematische Erneuerung sei-ner Aprioritätslehre1 wesentlich zur gegenwärtigen Auffächerung der Philoso-phie in divergierende kultur-, sozial- und wissenschaftsphilosophische For-schungsprogramme beigetragen: da der Neukantianismus die kantische Ar-chitektonik der „Erkenntnisvermögen" als bloß .subjektive' und empirisch-psychologische Grundlegung des Apriori kritisierte, sah er sich nämlich bei der Suche nach einer alternativen - streng .objektiven' - Begründung auf die Fakta der Wissenschaft, Kultur und Geschichte verwiesen2 - und wurde da-durch wider Willen zu einem Wegbereiter für die antisystematischen Tenden-zen, die so maßgeblich das Denken des 20. Jahrhunderts beherrschen. Dage-gen wird man mit Kant an dem systematischen und systembildenden Gedan-ken festhalten müssen, dass jede Differenzierung doch auch so etwas wie einen Grund oder ein Prinzip der Differenz voraussetzt. Wenn Kant von der Vernunft als dem „Vermögen der Prinzipien" spricht, so wird man diese Formulierung daher auch dahingehend interpretieren dürfen, dass die Ver-nunft auch als Vermögen der Differenz und somit als eine endliche Vernunft zu bestimmen ist, die sich inmitten von Differenzerfahrungen jeweils erst als einige Vernunft konstituieren und behaupten muss. Die folgenden Überlegun-

Die vorliegende Untersuchung entstand im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Ausbildung der neukantianischen Aprioritätslehren, das vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (Wien) gefördert wird. Vgl. P. Natorp, „Ueber objective und subjective Begründung der erkenntnis", in: Philosoph. Monatshefte 27 (1887), 257-286 ; W. Windelband, „Kritische oder genetische Methode?" (1883), in: Präludien, 2. Bd., Tübingen 6 1919, 99-135.

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gen gehen dieser Interpretationsmöglichkeit nach. Sie gehen der Frage nach, inwieweit Kant in seiner Vernunft- und Prinzipienlehre eine Theorie der end-lichen Vernunft vorgelegt hat.

Bekanntlich wird die „Vernunft" als das „Vermögen der Prinzipien" expo-niert, das „im Schließen die große Mannigfaltigkeit der Erkenntnisse des Verstandes auf die kleinste Zahl der Prinzipien (allgemeiner Bedingungen) zu bringen und dadurch die höchste Einheit derselben zu bewirken suche" (KrV A 305/B 361). Dementsprechend besteht der „eigentümliche Grundsatz der Vernunft überhaupt (im logischen Gebrauche)" darin, in fortgesetzter Anein-anderreihung und Umkehrung von Subsumtionsschritten (Prosyllogismen) von Bedingung zu „Bedingung der Bedingung" usw. fortzuschreiten, um letzt-lich „zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu fin-den, womit die Einheit desselben vollendet wird" (A 307/B 364). Das „Un-bedingte", die drei transzendentalen Ideen, erfüllt dabei eine Doppelfunktion, insofern Kant im Begriff der Idee sowohl seine Kritik am vergegenständ-lichenden „dialektischen" Umgang der Schulmetaphysik mit ihren transzen-denten Quasi-Gegenständen (Seele, Welt, Gott) fundiert, wie auch seinen eigenen Versuch eines Abschlusses der transzendentalen Systematik im Sinne der regulativen Ausrichtung „der Verstandeshandlungen [...], welche sonst nur mit der distributiven Einheit beschäftigt sind [... auf] eine gewisse kollek-tive Einheit" (A 644/B 672).

Dieser Doppelsinn und diese Doppelfunktion der kantischen Idee schlägt sich auch in einer zweifachen Transzendentalen Deduktion der Vernunft-prinzipien nieder.3 So hat Kant nicht nur in dem Abschnitt über die,Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft' eine „Deduktion der Ideen der reinen Vernunft" geliefert, in welcher er die „Vollendung des kriti-schen Geschäftes der reinen Vernunft" erblickt (A 669ff./B 697ff.), sondern er hat zuvor, in dem Abschnitt ,Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft' (A 642ff./B 670ff.), auch schon den „Maximen der Ver-nunft" - also den von vornherein in rein regulativer Bedeutung gefassten Prinzipien des Vernunftgebrauchs - „einige objektive Gültigkeit sichern" wollen. Obwohl Kant an dieser Stelle (im Gegensatz zu seinen späteren Aus-führungen) behauptet, dass eine der transzendentalen Deduktion der Ver-standesbegriffe entsprechende Deduktion der Ideen „unmöglich" sei (A 663f./ Β 691f.; cf. A 336/B 393), nimmt er hier doch bereits die spätere .Deduktion der Ideen der reinen Vernunft' vorweg, indem er die ,objektive Gültigkeit' der Ideen hier wie dort auf die Überlegung gründet, dass die systematische Vernunfteinheit als ein „Schema" oder, besser: als das „Analogon eines Sche-ma" für die größtmögliche systematische Einheit der Erfahrungserkenntnis zu deuten sei (cf. A 665/B 693, A 670f./B 698f.). Die ,Deduktion', d.i. der Nachweis der .objektiven Gültigkeit' der Vernunftideen, beruht demnach beide Male auf dem mittelbaren - über den Verstand vermittelten - Gegen-

3 Auf diese viel zu wenig beachteten Problemzusammenhänge hingewiesen zu haben, ist das Verdienst von Rudolf Zocher, „Zu Kants transzendentaler Deduktion der Ideen der reinen Vernunft", in: Zeitschrift für philosophische Forschung 12 ( 1 9 5 8 ) , 4 3 - 5 8 .

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standsbezug der Vernunft. Die in den Ideen gedachte systematische „Vernunft-einheit" kann demzufolge zwar nur „subjektiv als Maxime" dienen, doch kann „das Principium einer solchen systematischen Einheit [gleichwohl] auf unbestimmte Art (principium vagum) [...] auch objektiv" sein (A 680/B 708), sofern man sich die Vernunfteinheit als „Schema des regulativen Prinzips des größtmöglichen empirischen Gebrauchs meiner Vernunft" (A 679/B 707; cf. A 682/B 710) denkt. Gleiches gilt von der zuvor - im Abschnitt ,Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft' (A 642ff./B 670ff.) -entwickelten Theorie des hypothetischen Vernunftgebrauchs, die auf „die systematische Einheit der Verstandeserkenntnisse" zielt (A 647/B 675). Auch hier fungieren die Ideen als Maximen (subjektive Grundsätze), die dennoch „objektive, aber unbestimmte Gültigkeit haben" (A 663/B691) , insofern „die Idee der Vernunft" als „ein Analogon von einem Schema der Sinnlich-keit" verstanden wird, nämlich als „eine Regel oder Prinzip der systemati-schen Einheit alles Verstandesgebrauchs." (A 666/Β 694).

Wie Kant in diesem Zusammenhang näher ausführt, fungieren die Ver-nunftideen Seele, Welt und Gott in den Vernunftmaximen als „ein nach Be-dingungen der größten Vernunfteinheit geordnetes Schema, von dem Begriffe eines Dinges überhaupt, welches nur dazu dient, um die größte systematische Einheit im empirischen Gebrauche unserer Vernunft zu erhalten, indem man den Gegenstand der Erfahrung gleichsam von dem eingebildeten Gegenstande dieser Idee, als seinem Grunde, oder Ursache, ableitet. Als denn heißt es ζ. B., die Dinge der Welt müssen so betrachtet werden, als ob sie von einer höchsten Intelligenz ihr Dasein hätten. Auf solche Weise ist die Idee eigentlich nur ein heuristischer und nicht ostensiver Begriff, und zeigt an, nicht wie ein Gegen-stand beschaffen ist, sondern wie wir, unter der Leitung desselben, die Be-schaffenheit und Verknüpfung der Gegenstände der Erfahrung überhaupt suchen sollen." (A 670f./B 698f., cf. A 644/B 672). Diese Ausführungen belegen, dass die Lehre von den Vernunftmaximen den in der Kritik der Urteilskraft erzielten Abschluss der kritischen Systematik vorwegnimmt (A 646f./B 674f.) und sie bestätigen somit auch indirekt Kants Behauptung, wonach es sich bei der Deduktion der Ideen um „die Vollendung des kriti-schen Geschäftes der reinen Vernunft" handle (A 669f./B 697f.). Trotzdem ist die mit den Vernunftmaximen und mit der,Deduktion der Ideen der reinen Vernunft' erzielte „Vollendung des kritischen Geschäftes der reinen Vernunft" ein Stiefkind der Kantforschung geblieben. Das mag vor allem daran liegen, dass Kant die metaphysikkritische Bedeutung seiner Dialektik in den Vorder-grund stellt. Die Transzendentale Dialektik ist von Kant so sehr als Widerle-gung des transzendentalen Realismus der zeitgenössischen Verstandesmeta-physik angelegt, dass die Ideen nahezu ausschließlich als der nur negativ-dialektische „Begriff des Unbedingten, sofern er einen Grund der Synthesis des Bedingten enthält", erscheinen und man daher allzu leicht übersieht, dass dieser transzendente „Grund der Synthesis des Bedingten" Kant zufolge den-noch auch positiv als ein systematischer Zusammenhang von „Aufgaben" verstanden werden soll, welche „die Einheit des Verstandes, wo möglich, bis zum Unbedingten" fortsetzen (A 322f./B 379f.). Zudem wird die mit der

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Lehre von den Vernunftmaximen angesprochene positiv-dialektische Funkti-on der Vernunft von Kant nur im Sinne einer Art-Gattungs-Dialektik entwik-kelt, denn er bezieht die über den regulativen Gebrauch der Vernunftideen projektierte kollektive Vernunfteinheit so ausschließlich auf die Gegenstands-erkenntnis des Verstandes, dass er die Vernunftmaximen nur anhand der Beziehungen der „Gleichartigkeit des Mannigfaltigen unter höheren Gattun-gen", der „Varietät des Gleichartigen unter niederen Arten" und des „konti-nuierlichen Übergang[s] von einer jeden Art zu jeder anderen" zu illustrieren vermag (A 657f./B 685f.)· Darum vermag Kant die Vernunfteinheit nur auf einem merkwürdigen Umweg zu artikulieren, indem er die Vernunft zum Produzenten fiktiver Gegenstände erklärt aus denen die Vernunft sodann auf fiktive Weise den „Gegenstand der Erfahrung gleichsam [...] ableitet", d. h. uns unter der „Leitung" des fiktiven Gegenstandes ,Idee' anzeigt, „wie wir [...] die Beschaffenheit und Verknüpfung der Gegenstände der Erfahrung überhaupt suchen sollen". Dank dieser doppelten Fiktion gelingt es Kant zwar, eine größtmögliche systematische Einheit und Vollständigkeit der man-nigfaltigen Verstandeserkenntnisse zu antizipieren, es gelingt ihm aber nicht, die Einheit des Prinzips zu artikulieren, das für die systematische Einheit alles Verstandesgebrauchs aufkommen soll. Die Einheit der Vernunft bleibt da-durch ebenso wie die Einheit des Verstandes ein anonymer Bezugspunkt für verschiedene Regeln unter die Mannigfaltiges subsumiert wird: wurde der Verstand im Wesentlichen als Bezugspunkt der Verstandesregeln definiert unter die das Mannigfaltige der Anschauung subsumiert und damit zu gegen-ständlicher Einheit gebracht wird, so wird nunmehr die Vernunft als der imaginäre Bezugspunkt („focus imaginarius") von Vernunftregeln bestimmt, die den mannigfaltigen Verstandeserkenntnissen „die größte Einheit neben der größten Ausbreitung" verschaffen (A 644/B 672).

In genau diesem Problemzusammenhang von Transzendentaler Ästhetik, Analytik und Dialektik liegt allerdings auch das spekulative Potential der Lehre von den Vernunftmaximen. Als „ein nach Bedingungen der größten Vernunfteinheit geordnetes Schema, von dem Begriffe eines Dinges über-haupt", durchkreuzen sie nämlich die methodische Isolierung der Problembe-reiche und Erkenntniskompetenzen von Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft, so dass die doppelte Fiktion, aufgrund derer Kant an einem rein subsumtions-logischen Logikverständnis festhalten kann, ebenso sehr als Kritik dieses deduktiv-analytischen Logikverständnisses interpretiert werden muss. Mit anderen Worten, die doppelte Fiktion, derzufolge die Vernunft fiktive Gegen-stände produziert, aus denen sie sodann den „Gegenstand der Erfahrung gleichsam [...] ableitet", muss als doppelte Negation dahingehend interpre-tiert werden, dass die Vernunft ein nicht auf Gegenstände gerichtetes und ein nicht-deduktives, sondern ein die Gegenstandserkenntnis des Verstandes er-möglichendes synthetisches Vermögen ist. Kant verfügt jedoch offenbar nicht über das logische Instrumentarium um die Vernunft in positiver Weise als Bedingung der Möglichkeit der Verstandeserkenntnis zu bestimmen. Wenn er das „Resultat der ganzen transzendentalen Dialektik" dahingehend zusam-menfasst, dass die systematische „Vernunfteinheit [...] der Vernunft nicht

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objektiv zu einem Grundsatze, [...] sondern subjektiv als Maxime [dient], um sie über alles mögliche empirische Erkenntnis der Gegenstände zu verbrei-ten", so setzt er bereits voraus, dass der Vernunft die „Verstandeserkenntnisse [...] gegeben werden". Und wenn er darauf hinweist, dass die Vernunft als das Principium der systematischen Einheit des empirischen Verstandesgebrauchs „auf unbestimmte Art (principium vagum) [...] auch objektiv" ist (KrVA 680/ Β 708), so verdankt sich diese unbestimmte Objektivität der Vernunft eben nur ihrem mittelbaren (durch den Verstand vermittelten) Erfahrungsbezug.

In den Prolegomena bemerkt Kant zwar die, in diesem Zusammenhange von seinen Voraussetzungen her sich ergebende Paradoxie,4 dass „in der Kritik von Seite 647 bis 668", d. i. in der Lehre vom regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft', „gewisse Vernunftprinzipien vorgetragen [werden], die [...] konstitutiv und gesetzgebend in Ansehung der Erfahrung zu sein [scheinen], da sie doch aus bloßer Vernunft entspringen, welche nicht so, wie der Verstand, als ein Prinzip möglicher Erfahrung angesehen werden darf" (Prolegomena § 60; cf. KrV A663/B691) , doch kann er sich, auf Grund eben dieser Voraussetzungen, eine Beantwortung der Frage, ob denn „mithin auch Erfahrung mittelbar unter der Gesetzgebung der Vernunft ste-he", nur von denen erwarten, „welche der Natur der Vernunft, auch außer ihrem Gebrauch in der Metaphysik, sogar in den allgemeinen Prinzipien, eine Naturgeschichte überhaupt systematisch zu machen, nachspüren wollen". Demnach wäre die ,Vollendung des kritischen Geschäftes' nur von denen zu erwarten, die den Pfad naturphilosophischer Spekulation betreten wollen, den Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen und im Opus postumum betrat. Nun war es aber andererseits gerade Kant, der zeigte, dass wir die „Form eines Ganzen der Erkenntnis", welche die Voraussetzung für „das Systematische der Erkenntnis" ist (A645/B 673), nicht wiederum als ein Objekt der Erkenntnis erkennen, sondern nur als deren Möglichkeitsbedingung denken können. Kant scheint diesem Einwand selbst Rechnung getragen zu haben, wenn er im letzten Konvolut des Opus postumum den Gedanken formuliert, dass die Transzendentalphilosophie als „System des reinen Idea-lismus der Selbstbestimmung des denkenden Subjects" ein System „von sub-jektiven Ideen [ist] welche die Vernunft selbst schafft [...] indem sie sich selbst schafft" (Ak. XXI, 92f.). Mit diesem Gedanken eines Systems „von subjekti-ven Ideen welche die Vernunft selbst schafft [...] indem sie sich selbst schafft", versucht Kant offenbar die Vernunft als eine sich selbst konstituierende Ein-heit von theoretischer und praktischer Vernunft zu bestimmen und dadurch die Differenzen von objektiven Verstandes- und subjektiven Vernunftprin-zipien, sowie von theoretischer und praktischer Philosophie im Begriff eines reinen Idealismus zu überwinden. In Anlehnung an die Terminologie der

Die Rede von einer konstitutiven Funktion regulativer Prinzipien ist insofern paradox, als uns Kant eingeschärft hat, dass konstitutive Verstandes- und regulative Vernunftprinzipien streng zu unterscheiden sind. Da es aber im Hinblick auf die .Vollendung des kritischen Geschäftes' nicht um die kritisch-prohibitive, sondern um die positive Bedeutung der transzendentalen Dialektik geht, versteht sich von selbst, dass auch den regulativen Vernunftprinzipien eine konstitutive Funktion zugedacht werden muss.

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Kritik der Urteilskraft können wir die sich selbst konstituierende Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft als beautonome Vernunft bezeichnen, da sie, ebenso wie die reflektierende Urteilskraft, sich selbst und zugleich ihre Gegenstände schafft, indem sie sich „selbst (als Heautonomie) für die Refle-xion über jene, ein Gesetz vorschreibt" (KdU A XXXV). Für die reflektieren-de Urteilskraft ist dieses Gesetz bekanntlich „das Gesetz der Spezifikation der Natur [...] nach dem Prinzip der Zweckmäßigkeit für unser Erkenntnisver-mögen" (ibid.)· Wie wir bereits gesehen haben, ist das Thema der reflektieren-den Urteilskraft in Kants Lehre von den Vernunftmaximen schon vorwegge-nommen und in seiner logischen Struktur sogar deutlicher herausgearbeitet als dies in der dritten Kritik der Fall ist, da Kant hier nicht nur von dem einen „Gesetz der Spezifikation der Natur" spricht, sondern von den drei - den drei Ideen entsprechenden - „Prinzipien der Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität der Formen", kraft derer die Vernunft dem Verstände sein Feld bereitet, indem sie ihm durch diese Prinzipien „das Verfahren an [zeigt], nach welchem der empirische und bestimmte Erfahrungsgebrauch des Ver-standes mit sich selbst durchgängig zusammenstimmend werden" kann (KrV A 665f./B 693f.).

Nachdem diese drei Vernunftmaximen nur die Gegenstandserkenntnis des Verstandes bzw. nur die bestimmende Urteilskraft regulieren, stellt sich in unserem Zusammenhang allerdings sogleich die weiterführende Frage, ob es nicht auch Maximen gibt, die nicht nur dem „Erfahrungsgebrauch" des Ver-standes, sondern dem Verstandesgebrauch überhaupt größtmögliche Ausbrei-tung und durchgängigen Zusammenhang verschaffen. Diese Frage ist um so berechtigter, als Kant im ,Anhang zur transzendentalen Dialektik' (KrV A 642ff./B 670ff.) die Vernunftmaximen nicht ausschließlich auf die dort genannten logischen Prinzipien der Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität der Formen beschränkt, sondern „alle subjektiven Grundsätze, die nicht von der Beschaffenheit des Objekts, sondern dem Interesse der Vernunft, in Ansehung einer gewissen möglichen Vollkommenheit der Er-kenntnisse dieses Objekts, hergenommen sind, [als] Maximen der Vernunft" bezeichnet (KrV A 666/Β 694). Der Terminus ,Maxime' bezeichnet darum nicht nur subjektive praktische Grundsätze und regulative Grundsätze der Naturforschung (cf. KdU § 70), sondern er bezeichnet auch Grundsätze, welche die Vernunft in ihrem ureigensten Interesse aufstellt. So formuliert Kant (offenbar im Anschluss an die Auseinandersetzung mit Swedenborg) in den Mitte der 70er Jahre gehaltenen Metaphysik-Vorlesungen eine Maxime der gesunden Vernunft, die gebietet, „alle solche Erfahrungen und Erschei-nungen nicht zu erlauben, sondern zu verwerfen, die so beschaffen sind: daß, wenn ich sie annehme, sie den Gebrauch meiner Vernunft unmöglich machen, und die Bedingungen, unter denen ich meine Vernunft allein gebrauchen kann, aufheben." (Ak. XXVIII, 300) Während diese Maxime nur der Selbst-behauptung des Vernunftgebrauchs dient, formuliert Kant Ende der 80er Jahre mehrfach drei Maximen, welche die Vernunft konstituieren, indem sie den Gebrauch der Vernunft regulieren. Es sind das die „Maximen des gemei-nen Menschenverstandes [...]: 1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern

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denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken" (KdU § 40) aus der ,Kritik der ästhetischen Urteilskraft', die Kant gelegentlich auch als „Maxi-men der Vernunft" (Ak. XV, 186f.), in der Jäsche-Logik als „allgemeine Regeln und Bedingungen der Vermeidung des Irrtums" (Ak. IX, 57), oder, in der Anthropologie, als zur „Weisheit [...] führende Maximen" (Ak. VII, 200 und 228f.) bezeichnet.

In diesen drei Maximen einer vorurteilsfreien, erweiterten und konsequen-ten Denkungsart (KdU § 40) finden wir die gesuchten regulativen Grundsätze der sich selbst konstituierenden heautonomen Vernunft, denn sie leisten das, was die „Prinzipien der Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität der Formen" nicht leisteten: sie regulieren nicht nur die Gegenstandserkenntnis des Verstandes, sondern sie regulieren und konstituieren kraft dieser Regula-tion die Vernunft selbst. Sie bestimmen die Vernunfteinheit nicht nur als einen „focus imaginarius", der den mannigfaltigen Verstandeserkenntnissen „die größte Einheit neben der größten Ausbreitung" verschafft (KrV A 644/B 672), sondern sie bestimmen die Einheit der Vernunft als selbstregulative Einheit der drei Momente, die in Gestalt der drei Ideen Seele, Welt und Gott in vorstellungshafte Weite entrückt sind und darum als Ideen nur unvollständig zusammengedacht werden können. Bezeichnenderweise hat Kant diese Schwie-rigkeit noch in den letzten Aufzeichnungen des Opus postumum reflektiert. Der transzendentale Solipsismus' (G. Lehmann) des Nachlasswerkes, der die Ideen Gott und Welt „in uns" zu vereinbaren sucht (Ak. XXI, 38), bietet jedoch keine befriedigende Lösung des Problems. Da die transzendental-logi-sche Struktur der Ideenvermittlung unausgewiesen bleibt, drängen sich in diesem Zusammenhang angesichts der Quasi-Gegenständlichkeit der Ideen geradezu zwanghaft die psychologistischen Vorstellungen und subjektivisti-schen Verdächtigungen auf, die den ,Idealismus' seit jeher wie ein Schatten begleiten. Die Kantinterpretation sieht sich daher an diesem Punkt gezwun-gen, mit Kant einen Schritt über Kant hinauszugehen und zu überlegen, inwiefern mit den drei Ideen der reinen Vernunft ebenso viele charakteristi-sche Aspekte der Vernunft angesprochen sind.5

Die drei in den Vernunftideen vergegenständlichten Aspekte der Vernunft, sind die Momente der Unbedingtheit, der Allgemeinheit und der Gesetzmä-ßigkeit, denn als „Vermögen der Prinzipien" ist die Vernunft durch eben diese drei Momente zu charakterisieren. Sie ist unbedingt, weil sie als Vermögen der Prinzipien kein Bedingtes, sondern nur schlechthinnige Bedingung sein kann. Sie ist ferner allgemein, weil sie als Vermögen der Prinzipien keine besondere, sondern nur allgemeinste Bedingung sein kann. Und sie ist zudem durch das Moment der Gesetzmäßigkeit charakterisiert, weil sie als Vermögen der Prin-zipien keine regellose, sondern nur geregelte Bedingung sein kann. Die „Ma-ximen des gemeinen Menschenverstandes [...]: 1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken" (KdU § 40) konkretisieren diese drei Momente zu regulativen Prinzipien der

5 Die transzendental/ogi'-scfce Struktur der Ideenvermittlung ist näher entwickelt in Verf., Grund-riß der tranzendentalen Logik, Cuxhaven 1992 21997, §§ 26ff.

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Selbstbestimmung der heautonomen und gleichwohl endlichen Vernunft. Sie explizieren die regulative Selbstkonstitution der heautonomen Vernunft, in-dem sie aufzeigen, inwiefern sich eine endliche Vernunft als „Vermögen der Prinzipien" zu konstituieren vermag. Denn die endliche Vernunft ist nicht geradehin das Vermögen der Prinzipien. Die endliche menschliche Vernunft ist weder unbedingt, noch allgemein, noch durchgängig gesetzmäßig. Die endli-che Vernunft steht aber als Vernunft unter dem Anspruch, das Vermögen der Prinzipien zu werden. Genau dieser Anspruch wird von Kant in den drei Maximen des gemeinen Menschenverstandes formuliert. Die erste Maxime, Selbstdenken, formuliert den Anspruch, den das Moment Unbedingtheit an die endliche Vernunft stellt. Die Maxime der aufgeklärten oder vorurteilsfrei-en Denkungsart darf freilich nicht als Freibrief für intellektuelle Willkür verstanden werden. Die Maxime der erweiterten Denkungsart formuliert darum mit der Forderung, An der Stelle jedes andern denken, den Anspruch, den das Moment Allgemeinheit an die endliche Vernunft stellt. Da eine end-liche Vernunft aber nicht selbst denken und an der Stelle jedes andern denken kann, ohne in den Widerspruch mit sich selbst zu geraten oder sich in perspek-tivischen Beliebigkeiten zu verlieren, bedarf sie als zusätzliches Regulativ der Maxime der konsequenten Denkungsart, die den Anspruch der Gesetzmäßig-keit vertritt, indem sie die endliche Vernunft auffordert, jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken.

Machen wir nun die Probe aufs Exempel, indem wir abschließend überle-gen, wie die drei Momente einer unbedingten, allgemeinen und gesetzmäßigen Synthesis, die mit den drei Maximen der vorurteilsfreien, der erweiterten und der konsequenten Denkungsart angesprochen sind, als Ideen der reinen Ver-nunft eine vorstellungshafte Vergegenständlichung erfahren, dann stellen wir fest, dass Kant die Vernunftideen im Ausgang von den Urteilsrelationen ge-winnt, indem er die regulative Einheit von unbedingter, allgemeiner und ge-setzmäßiger Synthesis in das kategorische, das hypothetische und das disjunk-tive Urteil zerlegt und sie sodann in drei unbedingte Quasi-Gegenstände pro-jiziert, unter denen man sich „erstlich ein Unbedingtes der kategorischen Synthesis in einem Subjekt, zweitens der hypothetischen Synthesis der Glieder einer Reihe, drittens der disjunktiven Synthesis der Teile in einem System" vorzustellen habe (KrV A 323/Β 379). Die Lehre vom regulativen Gebrauch der Ideen nimmt diese Vergegenständlichung der drei Vernunftmomente zwar zurück, sie nimmt sie aber in den Maximen der Homogenität, der Spezifika-tion und der Kontinuität der Formen nur im Hinblick auf den „Erfahrungs-gebrauch" des Verstandes zurück, so dass die Einheit der Vernunft selbst unbestimmt bleibt. Dass die Einheit der Vernunft ihrerseits durch die regula-tive Einheit dreier Maximen konstituiert wird und auf welche Weise diese regulative Selbstkonstitution der Vernunft zu denken ist, kann darum aus dem Text der Vernunftkritik nur auf Umwegen erschlossen werden.

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