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41 Kulturelle Literalität Empirische Sonderpädagogik, 2009, Nr. 2, S. 41-59 Kulturelle Literalität: Implikationen des Literacy-Konzepts für eine kompetenz- und alltagsorientierte Didaktik der Lernbehindertenpädagogik Birgit Werner Pädagogische Hochschule Heidelberg Die Entwicklungen didaktischer Modelle in der Lernbehindertenpädagogik lassen sich grob skizzieren als Konzeptentwicklung von einer schädigungsspezifisch orientierten, separaten hin zu einer integrativen, inklusiven Didaktik. Die Kernfrage didaktischer Entscheidungen lau- tet: Mit welchen didaktisch - methodischen und organisatorischen Arrangements gelingt es einer Lehrkraft, in einem zeitlich und institutionell begrenzten Rahmen, Schülern mit äußerst unterschiedlichen Lern- und Leistungsvoraussetzungen möglichst optimale Lern- und Ent- wicklungsräume anzubieten? Ein mögliches Modell zur Beschreibung dieser didaktisch-me- thodischen Arrangements wird im Literacy-Konzept, das den vergleichenden Bildungsstudi- en PISA und IGLU zugrunde liegt, gesehen. In den Ausführungen werden neben der Begrün- dung für dieses Konzept in der Lernbehindertenpädagogik erste methodische Varianten zu dessen Umsetzung im Mathematikunterricht mit lernschwachen Schülern gezeigt. Schlüsselwörter: Literalität, Literacy-Konzept, Lernbehinderung, schriftsprachliche und ma- thematische Kompetenzen Cultural literacy: Implications of the literacy concept for a competence and daily life oriented, close to reality didactics for special education The development of didactics for students with special needs can be bluntly described from an impairment specific orientation to an integrative inclusive didactics. The core issue is: Which didactic, methodological, and organizational arrangement helps teachers who work in a temporally and institutionally limited situation to offer optimal conditions for develop- ment and learning for students with highly differing learning and achievement related quali- fications? The literacy concept that underlies the international student assessments PISA and IGLU may be a promising model. The present article gives reasons for the use of the con- cept in the education of students with learning disabilities. Furthermore, first methodologi- cal variations for the implementation in math lessons for students with learning difficulties are described. Key words: literacy, literacy concept, learning disabilities, reading, writing and mathematical competences

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Empirische Sonderpädagogik, 2009, Nr. 2, S. 41-59

Kulturelle Literalität: Implikationen des Literacy-Konzepts für eine kompetenz- und alltagsorientierte Didaktik derLernbehindertenpädagogikBirgit Werner

Pädagogische Hochschule Heidelberg

Die Entwicklungen didaktischer Modelle in der Lernbehindertenpädagogik lassen sich grobskizzieren als Konzeptentwicklung von einer schädigungsspezifisch orientierten, separatenhin zu einer integrativen, inklusiven Didaktik. Die Kernfrage didaktischer Entscheidungen lau-tet: Mit welchen didaktisch - methodischen und organisatorischen Arrangements gelingt eseiner Lehrkraft, in einem zeitlich und institutionell begrenzten Rahmen, Schülern mit äußerstunterschiedlichen Lern- und Leistungsvoraussetzungen möglichst optimale Lern- und Ent-wicklungsräume anzubieten? Ein mögliches Modell zur Beschreibung dieser didaktisch-me-thodischen Arrangements wird im Literacy-Konzept, das den vergleichenden Bildungsstudi-en PISA und IGLU zugrunde liegt, gesehen. In den Ausführungen werden neben der Begrün-dung für dieses Konzept in der Lernbehindertenpädagogik erste methodische Varianten zudessen Umsetzung im Mathematikunterricht mit lernschwachen Schülern gezeigt.

Schlüsselwörter: Literalität, Literacy-Konzept, Lernbehinderung, schriftsprachliche und ma-thematische Kompetenzen

Cultural literacy: Implications of the literacy concept for a competence and daily life oriented, close to reality didactics for special education

The development of didactics for students with special needs can be bluntly described froman impairment specific orientation to an integrative inclusive didactics. The core issue is:Which didactic, methodological, and organizational arrangement helps teachers who workin a temporally and institutionally limited situation to offer optimal conditions for develop-ment and learning for students with highly differing learning and achievement related quali-fications? The literacy concept that underlies the international student assessments PISA andIGLU may be a promising model. The present article gives reasons for the use of the con-cept in the education of students with learning disabilities. Furthermore, first methodologi-cal variations for the implementation in math lessons for students with learning difficultiesare described.

Key words: literacy, literacy concept, learning disabilities, reading, writing and mathematicalcompetences

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Historische Entwicklungenund die Kernfrage einer Didaktik der Lernbehindertenpädagogikheute

In der Diskussion um eine eigenständigeDidaktik in der Lernbehindertenpädago-gik seit ihrer Entstehung vor gut 100 Jah-ren lassen sich drei größere Entwicklungs-etappen unterscheiden: Mit der nahezuflächendeckenden Unterrichtung seitdem Ende des 19. Jahrhunderts fiel eineerste zentrale didaktische Entscheidung.Der Unterricht für Kinder mit Lernschwie-rigkeiten basierte auf einer schädigungs-spezifischen, defizitorientierten, lehrer-zentrierten, kleinschrittigen Didaktik.Über die separate Institution Sonderschu-le als Form der äußeren Differenzierungrealisierte sich ein Unterricht, der inscheinbar homogenen Kleingruppen ver-suchte, Schülern gemäß ihrer kognitivenEinschränkungen gerecht zu werden. Di-daktische Entscheidungen und Prinzipienbasierten auf der Grundannahme anders-artiger kognitiver Entwicklungen, derenUrsachen mit medizinischen, psychologi-schen und neurologischen Abweichun-gen begründet wurden. In einer zweitenPhase, nach dem Ende des Zweiten Welt-kriegs wurden diese Positionen zunächstnicht revidiert. Die ersten bildungspoliti-schen Entscheidungen nach 1945 rekon-struierten das System einer separaten, be-hinderungsspezifisch besonderen Beschu-lung behinderter Kinder. Wiederum be-gründet mit einer Sonderanthropologie ih-rer Schüler lagen die Bestrebungen darin,diese Formen der äußeren Differenzie-rung durch Maßnahmen der inneren Dif-ferenzierung zu unterstützen (KMK,1960; 1972).

Erst mit veränderten anthropologi-schen Grundlagen, mit der Anerkennungder Vielfalt in der Normalität, mit der Er-kenntnis prinzipiell gleichartiger Entwick-lungs- und Lernprozesse behinderter undnichtbehinderter Kinder seit den 70er Jah-ren änderten sich bildungspolitische, pä-dagogische und damit auch didaktischePositionen. Die bis dahin grundlegendenPrinzipien der äußeren und inneren Diffe-renzierung als geeignete organisatorischeMaßnahmen zur Herstellung möglichsthomogener Lerngruppen wurden erwei-tert um das Prinzip der Individualisierung.

Unter didaktischer Fragestellung wirddie Aufmerksamkeit nicht mehr aus-schließlich auf das Kind gelenkt, sondernrichtet sich auf die Merkmale zur Gestal-tung der Lehr- und Lernsituation selbst. ImMittelpunkt didaktisch-methodischer Ent-scheidungen steht die Gestaltung derLehr- und Lernsituation: Wie kann die Si-tuation verändert werden, damit das Kindbesser lernen kann (Werner, 2003, S.240)? Letztlich liegt der Kern didaktischerEntscheidungen nicht (mehr) in der Aus-differenzierung einer sonderpädagogi-schen, behinderungsspezifischen Didak-tik, sondern in der Weiterentwicklung ei-nes individualisierenden Unterrichts unterBerücksichtigung situationsangemesse-ner, d.h. auch behinderungsspezifischerMethoden.

Entscheidendes Moment für den best-möglichen Unterricht ist die Frage, wie esgelingt, die Lernumgebungen für jedeneinzelnen Schüler so zu gestalten, dass erauf der Grundlage seiner Lern- und Leis-tungsvoraussetzungen die Möglichkeitfindet, sich selbstständig und eigenaktivmit seiner Umwelt auseinanderzusetzen,für seine Entwicklung anregende Impulsezu entdecken und zu nutzen, sowie ei-genständige Lernwege und Lösungsmög-lichkeiten zu finden. Die Kernfrage didak-

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tischer Entscheidungen lautet: Mit wel-chen didaktisch - methodischen und orga-nisatorischen Arrangements gelingt es ei-ner Lehrkraft, in einem zeitlich und institu-tionell begrenzten Rahmen, Schülern mitäußerst unterschiedlichen Lern- und Leis-tungsvoraussetzungen möglichst optimaleLern- und Entwicklungsräume anzubie-ten?

Das Literacy-Modell

Angeregt durch die aktuellen bildungspo-litischen Diskussionen u.a. nach den ver-gleichenden Bildungsstudien PISA (Pro-gramme for International Student Assess-ment) und IGLU (Internationale Grund-schul-Lese-Untersuchung) sowie durchdie pädagogischen und didaktischen An-näherungen zwischen der allgemeinenund der sonderpädagogischen Didaktikim Zuge integrativer bzw. inklusiver Bil-dungsprozesse wird im Folgenden ver-sucht, das den PISA- und IGLU-Studienzugrunde liegende Konzept – das Grund-bildungs-/Literacy-Modell – für die didak-tische Diskussion innerhalb der Lernbe-hindertendidaktik fruchtbar zu machen.

Die Grundidee der PISA- und IGLU-Studie dokumentiert sich in dem Begriffeiner kulturellen Literalität, einer kulturel-len Grundbildung. Kulturelle Literalität er-weitert die Vermittlung eines elementarenBasiswissens in den Kernbereichen Spra-che/Deutsch und Mathematik um dieFunktionalität des vermittelten Wissens.D.h. die Transferierbarkeit, die Anwend-barkeit des (schulisch) vermittelten Wis-sens in alltagsbezogenen, kulturellen, be-ruflichen, sozialen Kontexten wird zumcharakteristischen Merkmal einer Grund-bildung.

Zunächst wird das Literacy-/Grundbil-dungsmodell mit seinen didaktischen und

bildungstheoretischen Grundzügen dar-gestellt. Da eine exakte wörtliche Über-setzung nur schwer möglich ist, werdenbeide Begriffe hier synonym verwendet.Die sich anschließende Unterrichtsse-quenz für den Mathematikunterricht in ei-ner Anfangsklasse einer Förderschule skiz-ziert eine Umsetzungsmöglichkeit.

Der Begriff Literacy wird in der päda-gogischen und bildungspolitischen Litera-tur in einer nahezu unüberschaubarenVielfalt benutzt. Zahlreiche gesellschaftli-che und fachwissenschaftliche Bereichewerden damit in Verbindung gebracht(scientific literacy, visual literacy, family li-teracy, teaching information literacy; me-dia-literacy, computer-literacy; reading li-teracy, health-literacy, emotional literacyusw.). In allen Bereichen fungiert der Be-griff als Definition von Bildungszielen.Gleichzeitig dokumentiert er auch ein ba-sales Verständnis, eine Einstellung gegen-über einer inhaltsbezogenen, fachspezifi-schen Grundbildung einschließlich derMethoden ihrer Vermittlung.

Literacy als kulturelle Literalität

Für die pädagogische und didaktischeDiskussion innerhalb der Lernbehinder-tenpädagogik wird im Folgenden die sehrweit gefasste Literacy-Definition, wie siedie UNESCO und die PISA-Studien nut-zen und die kulturelle Literalität beschrei-ben, zugrunde gelegt. Diese präferiert ei-ne allgemeine Grundbildung als grundle-genden Anspruch eines jeden Menschenzur Ermöglichung (s)einer gesellschaftli-chen Teilhabe.

Die UNESCO definiert Literacy wiefolgt: “Literacy is a human right, a tool ofpersonal empowerment and a means forsocial and human development. Educatio-nal opportunities depend on literacy. Lite-

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racy is at the heart of basic education forall, and essential for eradicating poverty,reducing child mortality, curbing populati-on growth, achieving gender equality andensuring sustainable development, peaceand democracy” (InternetportalUNESCO). Literacy bildet demnach denKern einer Bildung für alle. Sie befähigtdie Menschen zum Lernen und zum Wei-terlernen und sichert ein erfolgreiches le-benslanges Lernen.

Neben diesem humanistischen unddemokratischen allgemeinen Bildungsan-spruch markiert die UNESCO konkrete In-halte: „Literacy is the ability to identify,understand, interpret, create, communica-te and compute, using printed and writtenmaterials associated with varying con-texts. Literacy involves a continuum oflearning to enable an individual to achie-ve his or her goals, to develop his or herknowledge and potential, and to partici-pate fully in the wider society“ (Internet-portal UNESCO).

Wenngleich diese Definition schein-bar vordergründig die Fähigkeit des Le-sens und Schreibens thematisiert, sinddennoch mathematische Kompetenzendarin eingeschlossen. Um in unserer Infor-mationsgesellschaft die Vielzahl unter-schiedlicher medial übertragener Informa-tionen nutzen zu können, sind neben denLese- und Schreibkompetenzen auchgrundlegende mathematische Einsichtennotwenig. So lässt sich ein Fahrplan nur„lesen“, wenn grundlegendes Wissenüber Zeiteinheiten, Zeitspannen im Zu-sammenhang mit Wochentagen vorhan-den ist. Werbeangebote über Preisredu-zierungen benötigen zu einem sinnerfas-senden Lesen und Verstehen neben basa-len Lesekompetenzen grundlegende Ein-sichten in Geldeinheiten, Umrechnungs-modalitäten, Prozentrechnung usw. Her-vorzuheben ist hier die enge Verzahnung

zwischen schriftsprachlichen und mathe-matischen Kompetenzen. Beide Aspektemarkieren die zentralen Bereiche gesell-schaftlicher Teilhabe: „Die Beherrschungder Muttersprache in Wort und Schrift so-wie ein hinreichender Umgang mit ma-thematischen Symbolen und Modellengehören in allen modernen Informations-und Kommunikationsgesellschaften zumKernbestand kultureller Literalität“ (PISA-Konsortium, 2001, S. 20).

Mit der Konzentration auf die Erfas-sung von Basiskompetenzen als Kern ei-ner kulturellen Literalität wird ein didak-tisch und bildungstheoretisch normativesKonzept skizziert (PISA-Konsortium,2001, S. 19). Die Unterrichtsfächer unddie schulischen Themen sind variabel,nicht aber der Auftrag einer Vermittlungnotwendiger kultureller Basiskompeten-zen.

Literale, schriftsprachliche Kompetenz als Teil kultureller Grundbildung

Besonders häufig wird der Begriff Literacymit grundlegenden Lese- und Schreibkom-petenzen gleichgesetzt und mit „Literali-tät“ übersetzt. Diese Lese- und Schreib-kompetenzen beinhalten Fähigkeits- undFertigkeitsbereiche wie ein Text- und Sinn-verständnis, die Vertrautheit mit Büchern,die Fähigkeit, sich schriftlich auszudrü-cken, sprachliche Abstraktionsfähigkeit,die Vertrautheit mit Schriftsprache odermit der literarischen Sprache und auch dieMedienkompetenz (Uhlich, 2003; Mand,2008). Damit geht dieser Bereich von Lite-racy weit über eine Literalität i. S. einer Al-phabetisierung, einer basalen Lese- undSchreibfähigkeit hinaus und betont denfunktionalen Gebrauch dieser Kulturtech-nik. Alphabetisierung zielt auf eine ele-

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mentar-technische Lese-Schreib-Fähigkeitund ist eine notwendige, aber nicht hinrei-chende Bedingung für Literalität. Literali-tät meint den kompetenten Umgang mitgeschriebener Sprache. Dazu gehören ne-ben diesen technisch-funktionalen Basis-fertigkeiten wie beispielsweise (De)ko-dier- und Segmentierungsfähigkeiten u. a.auch das Wissen um die formale Organi-sation und Funktion schriftlicher Kommu-nikationsformen und die Beherrschungkulturspezifischer Standards (Hollenwe-ger & Studer, 1998, S. 8).

Die Lesekompetenz bei PISA wird wiefolgt beschrieben: „Geschriebene Textezu verstehen, zu nutzen und über sie zureflektieren, um eigene Ziele zu errei-chen, das eigene Wissen und Potenzialweiter zu entwickeln und am gesellschaft-lichen Leben teilzunehmen“ (PISA-Kon-sortium, 2001, S. 23). Das Verstehen ba-siert, grob unterschieden, auf textimma-nenten und wissensbasierten Verstehens-leistungen. Beim textimmanenten Verste-hen bilden die im Text enthaltenen Infor-mationen ausreichend Grundlage für dieBeantwortung der Fragen. Das wissensba-sierte Verstehen setzt eine situationsadä-quate Interpretation unter Rückgriff aufweiteres Vorwissen voraus. Lesen selbstversteht sich nicht als reine Fertigkeit bzw.Technik, sondern differenziert sich unterdem Aspekt des Verstehens in drei we-sentliche Dimensionen aus:1. Textarten: Lesekompetenz zeigt sich

darin, verschiedene Arten von Textenlesen zu können, wie z.B. Beschreibun-gen, Erzählungen, Tabellen, Übersich-ten, Fahrpläne, Formulare, Grafiken,elektronische Texte oder auch in Texteeingebundene bildliche Veranschauli-chungen, wie z.B. auf Internetseiten.

2. Leseaufgaben: Lesekompetenz zeigtsich darin, verschiedene Leseaufgabenauszuführen, wie z.B. Informationen

herauszusuchen, Interpretationen zuentwickeln, über die Inhalte eines Tex-tes und auch seine Form zu reflektie-ren.

3. Situationen: Lesekompetenz zeigt sichdarüber hinaus darin, Texte zu lesen,die für verschiedene Situationen ge-schrieben wurden, z.B. private Texte;Texte zur Arbeitsanleitung (PISA-Kon-sortium, 2001, S. 23).

Diese Orientierung an dem gesell-schaftlich erwarteten Grad der Schrift-sprachbeherrschung charakterisiert eben-falls die Diskussion um den funktionalenAnalphabetismus. Auch hier steht die Fä-higkeit zur Nutzung und Anwendung vonSchrift in sozialen, alltäglichen, berufsrele-vanten Kontexten im Mittelpunkt aller In-terventionen.

Wie eng die Verzahnung zwischen Le-se-, Schreib- und mathematischen Kompe-tenzen bei der Bewältigung lebensprakti-scher Situationen ist bzw. wie wichtig die-se zur gesellschaftlichen Teilhabe ist, ma-chen die Ansätze der UNESCO, der PISA-Studie als auch die Alphabetisierungsdis-kussion bei Erwachsenen deutlich. Die in-ternationale Studie zum Stand der Alpha-betisierung bei Erwachsenen „Internatio-nal Adult Literacy Survey“ (IALS) (1994-1998) legt ebenfalls eine funktionale Ori-entierung zugrunde. Das Hauptziel dieserinternational vergleichenden Untersu-chung war herauszufinden, wie gut Er-wachsene Informationen aus der Gesell-schaft herausfiltern und für sich nutzenkönnen (IALS, o.J.). Neben den „klassi-schen“ Lesekompetenzen werden auchmathematische Kompetenzen als Kernbe-standteile der Alphabetisierung benannt.Für die hier geführte Diskussion ist dieAusdifferenzierung des Alphabetisie-rungsbegriffes interessant. Das Literacy-Profil wird auf drei Ebenen analysiert:

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1. Prose literacy (Prosa-Alphabetisie-rung), d.h. die Kenntnisse und Fähigkei-ten, die erforderlich sind, Informatio-nen aus Texten, einschließlich Leitarti-keln, Nachrichten, Geschichten, Ge-dichte und Fiktion zu verstehen und zunutzen.

2. Document literacy (Dokument-Alpha-betisierung), d.h. das Wissen und dieerforderlichen Kompetenzen, um die inverschiedenen Formaten wie Bewer-bungen, Lohnabrechnungen, Fahrplä-nen, Karten, Tabellen und Grafiken ent-haltenen Informationen zu erkennenund zu verwenden;

3. Quantitative literacy (QuantitativeKompetenz), d.h. das Wissen und dieFähigkeiten, die erforderlichen Rechen-operationen, entweder einzeln oderhintereinander auszuführen und dabeiauf abgedruckte Zahlen anzuwenden,wie es beispielsweise nötig ist zum Füh-ren eines Scheckheftes, beim Heraus-finden der Höhe des Trinkgeldes einerRechnung oder bei der Berechnungdes Zinssatzes eines angebotenen Kre-dites (OECD, 2000, foreword).

Alphabetisierung umfasst hier sowohlbasale schriftsprachliche als auch mathe-matische Kompetenzen. Ihre Funktionali-tät, d.h. ihre Anwendbarkeit in variablenAlltagssituationen, begründet ihre Bedeu-tung.

Dieses Verständnis von Literacy decktsich in weiten Teilen mit den Überlegun-gen der UNESCO und dem PISA-Konzeptzu einer allgemeinen Grundbildung.

Kompetenzen

Zentral in der Argumentation um eineGrundbildung ist der Begriff der Kompe-tenzen. Kompetenzen erfassen sowohl

aktuale als auch potentielle Fähigkeitenund Fertigkeiten der Schüler, die jeweilssituations-, d.h. anforderungsabhängigsind. In Anlehnung an Weinert werdenKompetenzen definiert als „die bei demIndividuum verfügbaren oder durch sie er-lernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fer-tigkeiten, um bestimmte Probleme zu lö-sen sowie die damit verbundenen motiva-tionalen, volitionalen (d.h. absichts- undwillensbezogenen) und sozialen Bereit-schaften und Fähigkeiten, um die Pro-blemlösungen in variablen Situationen er-folgreich und verantwortungsvoll nutzenzu können“ (Weinert, 2001). Sie verste-hen sich als Verhaltensdisposition, stellendie Verbindung zwischen Wissen undKönnen her und sind als Befähigung zurBewältigung unterschiedlicher Situatio-nen zu sehen (Klieme, 2004, S. 13). Kom-petenzen gehen weit über die Formulie-rung/Festschreibung traditioneller Wis-sensziele als reproduzierbares Faktenwis-sen hinaus. Kompetenzen sowie Problem-lösefähigkeiten basieren auf einem kogni-tiven Kompetenzbegriff, der sich auf„prinzipiell erlernbare, mehr oder minderbereichsspezifische Kenntnisse, Fertigkei-ten und Strategien bezieht (PISA-Konsorti-um, 2001, S. 22). Er verbindet intellektuel-le Fähigkeiten mit bereichsspezifischemVorwissen, Fertigkeiten und Routinen,motivationalen Orientierungen, metako-gnitiven und volitionalen Kontrollsyste-men sowie persönlichen Wertorientierun-gen in einem komplexen System (Wei-nert, 2001).

Mathematische Literalität als Teilkultureller Grundbildung

Mathematische Grundbildung bedeutet,„die Rolle zu erkennen und zu verstehen,die die Mathematik in der Welt spielt, fun-

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diert mathematische Urteile abzugebenund sich auf eine Weise mit der Mathe-matik zu befassen, die den Anforderun-gen des gegenwärtigen und zukünftigenLebens einer Person als konstruktivem,engagiertem und reflektierendem Bürgerentspricht“ (PISA-Konsortium, 2001, S.23).

Mathematische Kompetenzen lassensich in drei Klassen einteilen:1. Verfahren ausführen;2. Verbindungen und Zusammenhänge

herstellen;3. Mathematisches Denken und Verallge-

meinern.

Des Weiteren erfassen mathematischeKompetenzen die Anwendung von Ma-thematik in unterschiedlichen Situationen(PISA-Konsortium, 2001, S. 23). Sie be-grenzen sich demnach nicht auf dieKenntnis mathematischer Sätze und Re-geln sowie die Beherrschung mathemati-scher Verfahren. Sie zeigen sich vielmehr„im verständnisvollen Umgang mit Ma-thematik und in der Fähigkeit, mathemati-sche Begriffe als ‚Werkzeug’ in einer Viel-falt von Kontexten einzusetzen“ (PISA-Konsortium, 2001, S. 141).

Dieses Grundverständnis von mathe-matical literacy/mathematischer Grund-bildung lehnt sich an das Modell einesrealistischen, an der Wirklichkeit orientier-ten Mathematikunterrichts an. Diese Auf-fassung geht im Wesentlichen auf zweiAnsätze zurück; einmal auf den mathema-tikdidaktischen Ansatz des niederländi-schen Mathematikers Hans Freudenthal(Didactional phenomenology of mathe-matical structures, 1983) sowie auf dieStandards zu Mathematikunterricht desNational Council of teachers of mathema-tics (NCTM) 1989/2000, die mit ihrer Ver-öffentlichung „Currriculum and evaluati-on standards for school mathematics“

konkrete Operationalisierungsmöglichkei-ten für mathematische Kompetenzen vor-legten (vgl. PISA-Konsortium, 2001).

Freudenthals Kernaussage seiner„ Realistischen Mathematik“ besteht darinMathematik zu nutzen, um alltäglicheProbleme und Aufgabenstellungen zu lö-sen (wie z.B. Preise zu vergleichen). ZurLösung alltäglicher mathematischer Pro-bleme sind Rechenverfahren allein nichtausreichend; diese müssen eingebundenwerden in die Lösung konkreter Proble-me.

Der kompetenzorientierte Standarddes NCTM definiert folgende Kompeten-zen als grundlegende Inhalte und Zieldi-mensionen eines Mathematikunterrichts:– Vorbereitung auf offene Aufgabenstel-

lungen, da realistische Probleme undAufgaben in der Regel nicht gut defi-niert sind

– Fähigkeit, die Anwendbarkeit mathema-tischer Konzepte und Modelle auf all-tägliche und komplexe Probleme zu er-kennen

– Fähigkeit, die einem Problem zugrundeliegende mathematische Struktur zu se-hen,

– ausreichende Kenntnis und Beherr-schung von Lösungsroutinen (NCTM,1989).

Literacy als Grundbildungsanspruch in der Lernbehinderten-pädagogik

Dieser Anspruch auf eine Grundbildungerscheint im Kontext der Diskussion umeine integrative bzw. inklusive Didaktiksowie der Ergebnisse der Studien zur Ef-fektivität der Förderschule unumgänglich.Zahlreiche Studien (Tent, 1991; Haeber-

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lin, Bless, Moser & Klaghofer, 1991; Ahr-beck, Bleidick & Schuck, 1997) als auchdie Ergebnisse der PISA-Studie kritisierendie unzureichende Effektivität dieserSchulform (vgl. zusammenfassend, Schrö-der, 2000; Bless, 2000). Der Förderschulegelang es bisher nicht bzw. nur unzurei-chend ihre Schüler nachhaltig besser aufnachschulische berufliche und Ausbil-dungssituationen vorzubereiten. NachAngaben des Bundesministeriums für Bil-dung und Forschung besteht die Gruppegering Qualifizierter bzw. Ungelernter, de-ren Anteil bei fast 15 % der Schulabgän-ger liegt, zumeist aus ehemaligen Förder-schülern (BMBF, 2005, S. 86). Deutlichüber 50 % der Absolventen von Sonder-und Förderschulen bleiben ungelernt, ab-solvieren also keine Berufsausbildung (El-linger, Stein & Breitenbach, 2006, S. 123).Einer der Gründe dafür wird in den unzu-reichenden mathematischen und schrift-sprachlichen Kompetenzen der Schulab-gänger gesehen. Trotz rechnerischer undlesetechnischer Fertigkeiten können siediese nicht adäquat in realen, berufsorien-tierten und ausbildungsbezogenen Situa-tionen anwenden.

Die Möglichkeit und Fähigkeit zur Teil-habe am gesellschaftlichen Leben sind diezentralen Zielkategorien aller Schulfor-men, d.h. auch die der Förderschulen. Ge-rade für diese meist aus bildungsfernenFamilien bzw. bildungsbenachteiligendenVerhältnissen stammenden Schüler ist diebestmögliche Vorbereitung auf eine be-rufliche und soziale Integration oberstesZiel.

Das Literacy-Konzept betont ebenfallsdiese funktionale Orientierung, d.h. fokus-siert auf die Bewährung von Kompeten-zen in authentischen Anwendungssitua-tionen. Damit geht der Literacy-Begriffweit über die Aufgaben und Ansprücheeiner elementaren Alphabetisierung und

der Vermittlung von elementaren Fertig-keiten in Mathematik hinaus. Ebenso wer-den Fragen einer curricularen Validitätnachrangig gegenüber einer Auswahl au-thentischer und subjektiv bedeutsamerVerwendungs- und Lebenssituationen.

Lesen, Schreiben, Rechnen sindbasale kulturelle Werkzeuge

Die Kulturtechniken, d.h. schriftsprachli-che und mathematische Kompetenzengelten im Literacy-Konzept als basale Kul-turwerkzeuge. Sie sind die wichtigstenVoraussetzungen zur Generalisierung uni-verseller Prämissen für die Teilhabe anKommunikation und Lernfähigkeit (PISA,2001, S. 21). Diese Basiskompetenzenwerden als basale Kulturwerkzeuge in va-riierenden Anwendungssituationen mo-delliert. Sie zielen auf bereichsspezifischesowie fachübergreifende Kompetenzbe-reiche ab, die im Sinne einer Handlungs-fähigkeit auf die aktive Teilnahme am ge-sellschaftlichen Leben vorbereiten sollen.

Realitätserschließung undAlltagsnähe als Primat in der Didaktik der Lernbehindertenpädagogik

Diese Auffassung zu den Lese- und ma-thematischen Kompetenzen unterstreichtderen Bedeutung in allen Schulformen.Mit diesen Intentionen werden grundle-gende Parallelen zur didaktischen Diskus-sion in der Allgemeinen sowie der Lernbe-hindertenpädagogik deutlich. Didaktisch-methodische Maßnahmen in dieser son-derpädagogischen Fachrichtung orientie-ren sich seit Beginn an einer Vorbereitungihrer Schüler auf das zukünftige, weitge-

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hend selbständige Leben. Spätestens seitden 70er Jahren sind hier die Kriterien„Berufs- und Lebens- bzw. Alltagsrele-vanz“ zentral und zielführend für die inter-ne didaktische Diskussion (Klein, 2007;Schröder, 2007; Hofsäss, 2007). Schrift-sprachliche und mathematische Kompe-tenzen standen und stehen dabei im Vor-dergrund.

Viele in der Didaktik der Lernbehin-dertenpädagogik diskutierten Ansätze fo-kussieren auf eine elementare Grundbil-dung zur Realisierung gesellschaftlicherTeilhabe für diese Schülergruppe.

Problemorientiertes, handelndes Ler-nen fordern bereits in den 70er JahrenVertreter der Lernbehindertendidaktik wieMann (1979), Rohr (1975) und Wittoch(1976) mit Konzepten zu einem lebens-praktisch orientierten sowie berufs- undproblemzentrierten Unterricht bei lern-schwachen Schülern.

Nestle (1976, S. 171) kritisiert die Re-duktion des Allgemeinbildungsanspru-ches an Förderschulen und fordert alsGrundintention dieser Schulform eine„sinnhafte und differenzierte Realitätser-schließung“, um eine allgemeine z.T. kul-tur- und schulbedingte Lernbehinderungzu vermeiden.

Begemann (1975; 1997) nimmt die Ei-genwelt des Kindes als didaktisches Krite-rium: Hilfsschulgemäßer Unterricht ist alshandelnde, einsichtige Eigenwelterweite-rung zu verstehen. „Der Aufbau dermenschlichen Person erfolgt in einer Er-oberung gewisser Weltausschnitte zu ei-ner Eigenwelt. Dieser Unterricht hat dieKinder in ihrer Eigenwelt aufzusuchenund durch Aufgaben und Begegnungenzu erweitern, die Möglichkeiten und Be-gabungen zu fördern, so daß die Kinderfür ihre Welt befähigt werden, so daß siedarin ihre Aufgaben erkennen und ihnen

entsprechen können“ (Begemann, 1975,S.56).

Kulturtechniken im Sinne einer funk-tionalen Anwendung mit Sach- und Hand-lungsbezug sowie Formen des sozialenLernens prägen auch Böhms didaktischeÜberlegungen. Kulturtechniken werdenzwar lehrgangsmäßig vermittelt, findenaber ihre Umsetzung, ihre Anwendung inden Kerngebieten wie „Vorbereitung aufdie Berufs- und Arbeitswelt“ (Böhm, 1983,S. 300).

Besonders Hiller (1989) konzentriertsich in seinem Konzept einer realitätsna-hen (Jugend)Schule auf die Lebensweltder Schüler: „Eine Schule für benachteilig-te Kinder und Jugendliche muss die Le-benswelt ihrer Schüler nachweislich zumBezugspunkt machen. Denn diese hat ih-re bisherige Lebensgeschichte geprägtund wird sie auch weiterhin bestimmen“(Vorwort, o. S.).

Angerhoefer (1998) fordert aufgrundveränderter sozialer und wirtschaftlicherRahmenbedingungen die Vermittlung vonSchlüsselqualifikationen im Kontext einerallgemeinen Grundbildung an Förder-schulen. Auch sie greift, ähnlich wie Hiller(1989) den Begriff einer „realitätsnahenSchule“ auf, die primär auf eine Erwerbs-tätigkeit der Förderschüler abzielt. We-sentliche Akzentuierungen im curricula-ren Bereich finden sich in den beiden Be-reichen Lebensweltbezogenheit und Aus-bildung lebensbedeutsamer Handlungs-kompetenzen in Einheit mit der Ausbil-dung allgemein-formaler Funktionen, beidenen die Kulturtechniken eine wesentli-che Rolle spielen (Angerhoefer, 1998, S.106).

Haugwitz, Koch und Unterstab (2002)begründen mit den spezifischen Lebensla-gen und Zukunftsperspektiven der För-derschüler eine umfassende Material- und

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Ideensammlung für einen lebenspraktischorientierten Unterricht in der Oberstufeder Förderschulen. Nur mit einer Reformdes Unterrichts selbst lässt sich der An-spruch der Förderschule auf die Umset-zung ihrer Qualifikations- und Allokations-funktion, der Vermittlung erwünschterGrundwerte und ihrer Sozialisationsfunkti-on gerecht werden.

Das Konzept des Gemeinsamen Un-terrichts versucht gerade bei lernschwa-chen Kindern eine Bildungsbenachteili-gung zu vermeiden und Chancengleich-heit herzustellen (Balgo & Werning,2003). Die Diskussion innerhalb der Inte-grationsdidaktik favorisiert mehrheitlichdidaktische Modelle wie die des Entde-ckenden Lernens und Formen des offe-nen bzw. projektorientierten Unterrichts.

All diese Modelle zielen auf eine indi-viduelle Passung der Lernangebote mitden individuellen Lern- und Leistungsvo-raussetzungen der Schüler und gelten ge-rade für lernschwache Kinder als geeigne-ter Zugang zu schulischen Bildungsinhal-ten (Wittmann, Müller, Berger et al.,2001; Werning & Lütje-Klose, 2006,2007; Mand, 2003; Walter & Wember,2007; Hartke, 2007; Reiß & Werner,2007; Heimlich, 2007). Sie verzichten aufeine Spezifizierung und/oder eine Reduk-tion der Bildungsinhalte und fokussierenauf ein anwendungsfähiges, alltagsorien-tiertes und berufsrelevantes Basiswissen.Zentrale Inhalte sind auch in diesen Kon-zeptionen die Vermittlung von Kulturtech-niken in den Bereichen Deutsch und Ma-thematik.

Diese Konzepte basieren weitgehendauf einem systemisch-konstruktivistischorientierten Lehr- und Lernverständnis.Der Schüler als eigenaktives Wesen istprinzipiell in der Lage, im Rahmen seinerinneren Strukturen die ihn umgebendeWelt zu (re)konstruieren und für sich nutz-

bar zu machen. Unterricht hat dabei (le-diglich) die Funktion, angemessene Lern-und Erfahrungsräume zu schaffen. Lernenvollzieht sich in subjektiven Erfahrungs-räumen und dient dem Aufbau, der Erhal-tung sowie der Erweiterung seiner indivi-duellen Handlungsfähigkeiten, die denSchüler zur Teilhabe am gesellschaftli-chen Leben befähigen.

Annäherungen zwischendem Literacy-Modell und der Didaktik in der Lernbehindertenpädagogik

Die didaktischen Konzeptionen in derLernbehindertendidaktik finden vor allemin ihrer Forderung nach einer funktiona-len, lebensnahen und berufsrelevantenBildung ihre grundlegende Gemeinsam-keit mit dem Literacy-Modell.

Annäherungen lassen sich vor allemauf drei Ebenen feststellen:– Kompetenzorientierung: Alle neueren

didaktischen Konzeptionen sowohl inder Allgemeinen als auch in der Sonder-pädagogik legen ihren Schwerpunkt aufdie Anbahnung und Vermittlung vonKompetenzen. Thematisch werden dieschriftsprachlichen und mathemati-schen Konzepte in den Vordergrund ge-stellt.

– Situationsorientierung: Das Lernen inSituationen und Zusammenhängen, diefür Schüler sinnhaltig sind, Alltags- undBerufsrelevanz aufzeigen, wird curricu-lar und didaktisch aufbereitet.

– Natürliche Differenzierung: Es sindden Schülern Lern- und Erfahrungsräu-me bereitzustellen, in denen alle Kindersich mit ihren individuell unterschiedli-chen Lern- und Leistungsvoraussetzun-gen gemeinsam mit einem Unterrichts-

50 B. Werner

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gegenstand/-thema auseinandersetzenkönnen.

Die Ergebnisse der PISA- und IGLU-Studien verstärkten auch in der Sonderpä-dagogik die Diskussion um die Wirksam-keit pädagogischer Maßnahmen sowiedie Messbarkeit von Ergebnissen. Nebenbildungspolitischen Aspekten stehen vorallem Fragen des Zusammenhangs vonSchülerleistungen und sozialer Benachtei-ligung sowie dem Erfassen und zielgerich-teten Fördern von Schulleistungen wiederverstärkt im Mittelpunkt (v. Stechow &Hofmann, 2006). Dass dabei gerade fach-didaktische Fragen im Bereich Deutschund Mathematik innerhalb der Lernbehin-dertenpädagogik immer noch unzurei-chend thematisiert werden, wird immerwieder angemahnt (Moser-Opitz, 2006;Seitz, 2005). Das grundbildungsorientier-te, funktional ausgerichtete und kompe-tenzorientierte Grundverständnis des Lite-racy-Modells als schulformunabhängigeKonzeption bietet eine geeignete Grund-lage zur Gestaltung von Lehr- und Lern-prozessen in allen sonderpädagogischenHandlungsfeldern einschließlich integrati-ven bzw. inklusiven Settings.

Didaktisches Vorgehen nachdem Literacy-ModellNachfolgend soll ein mögliches didakti-sches Vorgehen im Sinne dieses Literacy-Konzepts für den Bereich Mathematikun-terricht dargestellt werden.

Das Literacy-Konzept Mathematik be-tont den funktionalen Gebrauch dieserKulturtechniken und warnt vor der Reduk-tion mathematischen Könnens auf forma-lisierte Automatismen. „MathematischeKompetenz zeigt sich ... im verständnis-vollen Umgang mit Mathematik und in

der Fähigkeit, mathematische Begriffe alsWerkzeuge in einer Vielfalt von Kontex-ten einzusetzen. Die konkrete Bearbei-tung und Lösung einer mathematischenAufgabenstellung wird als Prozess der Er-stellung, Verarbeitung und Interpretationeines mathematischen Modells verstan-den“ (PISA-Konsortium, 2001, S. 146).

Die Abb. 1 illustriert die Zusammen-hänge zwischen sachstrukturellen, alltags-und lebensweltlichen Faktoren und lässtsich wie folgt lesen:

Ausgangspunkt jeglicher mathemati-scher Überlegungen ist eine Realsituation:„Anja, Klaus und Peter spielen nach der

Schule zusammen Memory. Auf dem Tisch

liegt eine Tüte mit noch 9 Schokoladen-

bonbons. Sie wollen sie unter sich auftei-

len. Wie viele Bonbons bekommt jedes

Kind?“

Um dieses Problem zu lösen, mussdiese Realsituation strukturiert und verein-facht werden. Die sachbezogenen Fakto-ren werden herausgefiltert, zusammenge-fasst, unwesentliche Aspekte weggelas-sen. Es gilt herauszuarbeiten, dass diesesProblem als ein mengentheoretisches,mathematisches Problem zu lösen ist.

Damit ist ein Realmodell entwickeltworden: Neun Bonbons sind auf drei Kin-

der aufzuteilen.

Über das Mathematisieren, d.h. dasEntwickeln mathematischer Lösungs- bzw.Rechenwege wird das entsprechende ma-thematische Modell entwickelt. So lässtsich diese Situation z.B. über folgendeStrategien lösen:– die Stück-für-Stück-Zuordnung: jedes

Kind bekommt jeweils einen Bonbon,

bis die Gesamtmenge verteilt ist;

– Verteilung gebündelter Mengen: zuerst

bekommt jedes Kind zwei Bonbons, da-

nach noch einen;

51Kulturelle Literalität

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– Verteilung gebündelter Mengen in der

Dreierbündelung: jedes Kind bekommt

sofort drei Bonbons.

Während diese Lösungswege mehr-heitlich auf der konkret-handelnden Ebe-ne erfahren werden können, lassen sichweitere, abstraktere Lösungswege findenbzw. erarbeiten, beispielsweise: 3 + 3 + 3;(2 + 1) x 3; (1 + 2) x 3 oder 3 x 3 oder 9 : 3.

In der Phase der Verarbeitung diesesmathematischen Modells wird die Aufga-be ausgerechnet, das mathematische Er-gebnis ermittelt: 9 : 3 = 3.

Dieses formal abstrakte, mathemati-sche Ergebnis ist nun zu interpretierenund als Realergebnis zu verstehen: Die

Zahl „3“ bedeutet in diesem Zusammen-

hang: Wenn neun Bonbons auf drei Kinder

aufgeteilt werden, erhält jedes Kind drei

Bonbons.

Dieses Ergebnis, das zunächst nur fürdiese konkrete Situation gültig ist, wird ab-

schließend in der Phase der „Validierung“auf vielfältige Realsituationen übertragen,d.h. diese Verteilungsstrategien geltenauch für alle anderen Mengen mit der An-zahl 9, für andere Verteilungssachverhal-te, in anderen Situationen: Immer, wenn

neun Gegenstände auf drei Personen, in

drei Gruppen usw. zu verteilen sind, erhält

jede Person, jede Gruppe drei dieser Ge-

genstände.

Die Kompetenz von Kindern, Sachauf-gaben zu lösen, lässt demnach Rück-schlüsse auf die Qualität und den Umfangihrer mathematischen Kompetenzen zu.

Das nachfolgend skizzierte Vorgehenillustriert eine mögliche Unterrichtsse-quenz im Mathematikunterricht einer An-fangsklasse zum Thema Einführung desZahlenraums bis 100 sowie der Bünde-lungsstrategien:

Ausgangspunkt ist hier die spielerischeAlltagssituation, in der Kinder ihr klassen-eigenes Murmelturnier vorbereiten. Dieslässt sich am besten durch das konkrete

52 B. Werner

Real-

situation

Real-

modell

Mathe-

matisches

Modell

Mathe-

matisches

Ergebnis

Strukturieren

Mathematisieren

Verarbeiten

Reale

Ergebnisse

Interpretieren

Validieren

Abb. 1: Grundbildungsmodell Mathematik nach IGLU (Bos, Lankes, Prenzel et al., 2003,

S. 191) und PISA (PISA-Konsortium, 2001, S. 144)

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Spiel arrangieren. Die dazu notwendigenvielen Murmeln müssen vorab gezähltwerden (s. Abb. 2).1

Diese als reale Situation im Alltag derKinder erlebte Situation wird nun durchstrukturierende Fragen und Strategien(man muss schätzen bzw. zählen) zumRealmodell: Die Anzahl der Elemente ei-ner Menge muss erfasst werden.

In diesem „Realmodell“ erfahren dieKinder die verschiedenen Möglichkeiten,die Anzahl größerer Mengen zu erfassen.Hier dargestellt sind unterschiedliche Le-ge-, Zähl- und Notationsstrategien (Abb.3). Wichtig erscheint hierbei, dass keineder zu diskutierenden und von Schülernauszuprobierenden Strategien als einzigrichtige bewertet wird. Entscheidend ist,ob einer der angebotenen Strategien fürdas einzelne Kind nachvollziehbar undsinnvoll ist. Es werden von Kindern dieje-nigen Vorgehensweisen übernommen,

die aus ihrer Sicht am besten zu ihren in-neren Strukturen, zu ihrem Vorwissen, zuihren bereits vorhandenen Kenntnissen,Strategien usw. passen. Lernen verstehtsich so als ein re-, de- und konstruierenderProzess, als Verknüpfung, Erweiterung ei-nes bereits vorhandenen Wissensnetzes.

Nachdem diese Varianten zur Erfas-sung größerer sortierter und unsortierterMengen auf vielfältige Art ausprobiertwurden, wird eine Entscheidung über ei-ne möglichst effektive Strategie getroffen,um die Ausgangsfrage beantworten zukönnen: Wie viele Murmeln sind in demGlas?

In diesem Fall bietet sich die 10er Bün-delung als effektive Möglichkeit an (Abb.4). In dieser Alltagssituation lassen sichzahlreiche Handlungen sowie deren Ab-straktionen auf vielfältige und unter-schiedliche Weise umsetzen.

53Kulturelle Literalität

1 Für die Nutzung der Idee und der grafischen Umsetzung zum Thema "Murmelspiel" danke ich herz-lich Frau Katrin Schoener, Sonderschullehrerin an der Wilhelm-Busch-Schule (Förderschule) in Mann-heim.Frau Anne Sutter (stud. paed., Pädagogische Hochschule Heidelberg) danke ich ebenso herzlich fürdie gelungene grafische Umsetzung dieser Idee.

Abb. 2: Alltagssituation – Murmeln schät-

zen

Abb. 3: Zähl- und Notationsstrategien

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Das mathematische Ergebnis wird imnächsten Schritt dann formalisiert, d.h. mitden konventionellen mathematischen Zei-chen und Begriffen notiert sowie interpre-tiert: Unabhängig davon, wie die Mur-meln gezählt werden, erhält man die Ge-samtzahl von 86.

Informell können hier die Begriffe Ei-ner bzw. Zehner eingeführt werden. Dieverschiedenen Darstellungsarten wieStrich-Bündelungen oder Skizzen der ge-füllten Murmelsäckchen erleichtern dieEinsicht in die notwendige Abstraktionvon konkreten Handlungen über die bild-liche, symbolische bis hin zur formal-abs-trakten Ebene. Diese Situation bietet überein erstes Erkennen der dekadischenStruktur unseres Zahlensystems hinausdie Möglichkeit, Additions- und Subtrakti-onsaufgaben im Zahlenraum bis 100 zuentdecken und zu rechnen.

Im letzten Schritt sind diese Vorge-hensweisen und Strategien (hier Zähl- undBündelungsstrategien) in anderen alltags-und lebensrelevanten Situationen zu eva-luieren. So bietet es sich beispielsweisean, im Supermarkt nach Verpackungen zusuchen, in denen unterschiedlichste Wa-ren gebündelt sind, z.B. Wattestäbchen,Kaugummipackungen, Getränkeverpa-

ckungen, Bonbontüten, Eier-, Gebäck-,Teigwarenverpackungen usw.

Eine solche Vorgehensweise sichert al-len Kindern mit unterschiedlichsten Lern-und Leistungsvoraussetzungen eine indivi-duelle Lernmöglichkeit. So lassen sich fürKinder beispielsweise einfache Zählstrate-gien und -prinzipien erfahren und Zusam-menhänge zwischen Zahlwort und Zif-fernsymbol erkennen. Selbst Kinder, dieausschließlich im pränumerischen Bereicharbeiten, können Erfahrungen in Klassifi-kations- und Seriationsstrategien (Mur-meln sortieren und zusammenfassen,mengentheoretische Vergleiche zu‚mehr’ und ‚weniger’) sammeln. AndereKinder wiederum erkennen die Notwen-digkeit der Bündelung größerer Mengen,wieder andere Kinder haben die Möglich-keit, additive Strukturen des dekadischenPositionssystems zu rekonstruieren.

Neben dem Bereitstellen der entspre-chenden Rahmen für die Schüler bestehtfür die Lehrkraft die Möglichkeit, durchBeobachtung des Lernverhaltens der Kin-der oder auch durch Befragung zu ihrenÜberlegungen und Denkvorgängen diag-nostische Hinweise zu bekommen.

Empirische Begründungen

Auch wenn eine solche Vorgehensweise(noch) nicht umfassend empirisch abgesi-chert ist, untermauern folgende For-schungsbefunde dieses Konzept. Unum-gänglich sind nachfolgende Forschungs-aktivitäten. Bisher erfasste Faktoren für einerfolgreiches Lernen von Mathematikbzw. im Mathematikunterricht, die das Li-teracy-Konzept charakterisieren, lassensich wie folgt skizzieren:

54 B. Werner

Abb. 4: Bündeln von 10er Mengen

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Vorwissen und Intelligenz. Gerade imschulrelevanten Unterrichtsbereich Ma-thematik wird ebenso wie für Deutsch be-sonders deutlich, dass erfolgreiches Ler-nen nur indirekt von der Intelligenz ab-hängt: Entscheidender ist für beide Berei-che das (fachspezifische) Vorwissen. Intel-ligenz kann dabei den Erwerb und denAbruf der notwenigen Wissensbasis steu-ern, dieses (fehlende bzw. noch nicht vor-handene Wissen) aber keinesfalls erset-zen (Stern & Neubauer, 2007). Stern(2004) stellte in mehreren eigenen und inRückgriff auf zahlreiche ähnlich gelagerteUntersuchungen zur Wirksamkeit einzel-ner Faktoren auf den Unterricht fest, dassIntelligenz eben nicht der entscheidendeFaktor für den Erwerb mathematischerKompetenzen ist. Entscheidend für erfolg-reiches Lernen ist – nicht nur in Mathema-tik – das fachspezifische Vorwissen. HoheIntelligenz ist erst dann von Vorteil, wennsie in bereichspezifisches Wissen umge-setzt werden dann. D.h. eine hohe Intelli-genz kann zwar den Erwerb spezifischerKenntnisse begünstigen, ihn aber nicht er-setzen. Fehlendes Wissen lässt sich nichtallein durch hohe Intelligenz ausgleichen.Die Bedeutung des fachspezifischen Vor-wissens in Mathematik (Mengen- undZahlvorwissen) hat Krajewski (2003) in ih-rer Längsschnittsuntersuchung dokumen-tiert. Die hier skizzierte methodische Vor-gehensweise biete allen Schülern dieMöglichkeit, ihre Vorerfahrungen zu nut-zen und zu erweitern.

Unterrichtsstil bzw. Grundhaltungen

der Lehrkräfte. Die SCHOLASTIK-Studie(Schulorganisierte Lernangebote und So-zialisation von Talenten, Interessen undKompetenzen) (vgl. Weinert & Helmke,1997, S. 3) machte u.a. Aussagen darüber,inwieweit Leistungsunterschiede bzw.Leistungszuwächse dem unterrichtenden

Lehrer zuzuschreiben sind. Hier wurdespeziell die fachspezifische pädagogischeGrundhaltung der Lehrer erfasst. Verstan-den wird darunter das Verständnis, wie„bestimmte Themen, Probleme oder Fra-gen strukturiert, dargestellt, an den Inte-ressen und Fähigkeiten der Lernenden an-gepasst und für den Unterrichtsstoff auf-bereitet werden sollen“ (Stern, 2004, S.48). Demnach weiß ein guter Lehrer, wieseine Schüler lernen, sich bestimmte In-halte aneignen. Aus dem Lösungsverhal-ten der Schüler und einer Analyse ihrerFehler kann er unvollständige, aber poten-tiell sinnvolle Lösungswege erkennen(Stern, 2004, S. 48). Mit Hilfe von Frage-bögen wurde in dieser Studie die Grund-haltung der Lehrkräfte bezüglich der Lö-sung von Textaufgaben erfragt. Es zeigtsich ein enger Zusammenhang zwischenden geäußerten Grundhaltungen derLehrkräfte und den Leistungen innerhalbder Klassen. Lehrer, die sich der Bedeu-tung eines aktiven, problemorientiertenMathematikunterrichts bewusst sind, set-zen auch verstärkt Textaufgaben zur Er-weiterung des mathematischen Grundver-ständnisses ein. Diese im weitesten Sinneals konstruktivistische Grundhaltung cha-rakterisierte Auffassung brachte keineschlechteren Ergebnisse bei Additions-und Subtraktionsaufgaben als in einemstärker rezeptiv orientierten Unterricht.25 % der zwischen den Klassen zu beob-achtenden Varianz im Lernzuwachs beiTextaufgaben zur Addition und Subtrakti-on lassen sich auf die Lehrerüberzeugun-gen zurückführen. Bei Multiplikations-und Divisionsaufgaben zeigte sich sogarein positiver Trend (Stern, 2004, S. 49).Auch lässt sich in dieser Studie kein Hin-weis darauf finden, dass diese Art von Ma-thematikunterricht zu Lasten schwach ler-nender Schüler gehe. Es wird davon aus-gegangen, dass sich diese Tendenzen,

55Kulturelle Literalität

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über mehrere Jahre betrachtet, eher ver-stärken, d.h. der Einfluss der Lehrervaria-ble noch größere Bedeutung erlangenkann (Stern, 2004, S. 50).

Blum unterstreicht zur Sicherung undStärkung einer mathematischen Grundbil-dung folgende Aspekte:– mehr inner- und außermathematische

Vernetzungen,– weniger Verfahren und Kalküle,– mehr Denkaktivitäten und Eigenkon-

struktionen der Schüler,– mehr Reflexionen,– flexiblerer Methodeneinsatz (Blum,

2001, S. 181).

Diese Ergebnisse verbinden sich mitder Forderung, Mathematik als Denk-werkzeug zur Modellierung mathemati-scher Strukturen in alltäglichen Situatio-nen zu vermitteln (Baumert, Bos & Leh-mann, 2000; Baumert, Lehmann & Lehr-ke, 1997). Wenngleich diese Forderungsich an den Analysen des Mathematikun-terrichts an Grund- und Hauptschulen ori-entiert, ziehen die PISA-Autoren analogeKonsequenzen für die Förderung geradeschwächerer Schüler: „Es muss versuchtwerden, auch schwächere Schüler – an-hand einfacher Inhalte – an Modellie-rungsprozesse und offenere Aufgaben he-ranzuführen. Nicht die Reduktion, son-dern die Verstärkung des Anspruchsni-veaus nicht die des ‚technischen’ Ni-veaus, ist gefordert“ (PISA-Konsortium,2001, S. 187). Müller, Steinbring und Witt-mann fordern analog die Gestaltung„substantieller mathematischer Lernum-gebungen“, die das Kennenlernen inner-mathematischer Strukturen mit Anwen-dungsfähigkeiten verbinden (Wittmann,Steinbring & Müller, 2004, S. 13).

Lebensrelevanz bzw. subjektive Be-

deutsamkeit der Aufgaben. Gerade der

Mathematikunterricht unterstreicht dieBedeutung des Faktors „subjektive Be-deutsamkeit“ für den Erfolg im Mathema-tikunterricht. Vielen sind sicher aus der ei-genen Schulzeit noch Aufgabenstellungenzum Thema lineare Gleichungen, vollstän-dige Induktion, Beweise usw. in Erinne-rung, deren Sinnhaftigkeit sich auch nachmehrfachen Erklärungen durch die Fach-lehrer häufig nicht erschloss.

Schwächere Schüler zeigen schlechte-re Leistungen im Lösen von Textaufgaben,weil sie Probleme in der Ablösung vonkonkreten Situationen und dem Herstel-len von Beziehungen zwischen Mengenund Zahlen haben (Hasemann & Stern,2003, S. 3). Die unterschiedliche Wahr-nehmung mathematischer Sachverhalte,d.h. die Rekonstruktion und Abstraktionmathematischer Strukturen von konkretenObjekten und Situationen charakterisie-ren die qualitativen Unterschiede im ma-thematischen Denken der Schüler (Hase-mann & Stern, 2003, S. 3). Noch bevorAufgaben auf ihre rechnerisch-techni-schen Anforderungen analysiert werden,muss zunächst geklärt werden, was sichdie Kinder unter der vorgegebenen Situa-tion vorstellen, inwieweit sie mathemati-sche Strukturen darin erkennen und dorttatsächlich Rechenaufgaben enthaltensind. Gerade wenn Kinder diese Zusam-menhänge zwischen lebensweltlich kon-kret und allmählich formal-abstrahierendnicht allein finden, sind in diesem Bereichbesondere didaktisch-methodische Anre-gungen notwendig. Nicht das Training derformal-abstrakten Rechenfertigkeiten, son-dern das Verstehen des komplexen undhoch komprimierten, formal-abstraktenZeichensystems ist zu thematisieren. Die-se Zusammenhänge können beispielswei-se durch offene Aufgabenformen provo-ziert werden:

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– Rechengeschichten erfinden,– Geschichten zu Bildern erzählen und

Rechenaufgaben finden,– Rechenmauern lösen und selbst bilden,– Alltagssituationen wie Einkaufen, Tisch

decken, Frühstück vorbereiten,– Spiele wie „Mensch ärgere dich nicht“,

„Räuber und Goldschatz“, Kniffel, „El-fer ’raus“.

Fazit

Dieses Konzept nutzt die durch For-schungsergebnisse gestützten Faktoren ei-nes erfolgreichen Mathematikunterrichts.Es greift im Unterricht solche Themen undSituationen auf, die für die Schüler alltags-und berufsrelevant sind. Diese Situatio-nen bieten Schülern die Möglichkeit, ei-genständig mathematische Strukturen zure- und zu konstruieren. Nicht nur das for-male Ergebnis, sondern die mathematisie-rende Analyse der Situationen selbst so-wie die unterschiedlichen Lösungsmög-lichkeiten auf der Basis fachspezifischenWissens und individueller Kompetenzenbilden den zentralen Inhalt derartigerLehr- und Lernsituationen.

Eine solche situations- und kompe-tenzorientierte Herangehensweise istnicht gebunden an eine bestimmte Schul-form. Sie lässt sich nicht leiten von aus-schließlich sachstrukturellen und fachwis-senschaftlichen Überlegungen, sondernsetzt die Kompetenz der Kinder und de-ren subjektiv bedeutsamen Probleme ausihrer Lebenswelt in den Mittelpunkt allerdidaktisch-methodischer Entscheidungen.

Eine didaktisch-methodische Herange-hensweise auf der Basis des Literacy-Mo-dells leistet wertvolle Beiträge zur – Professionalisierung der Fachdidaktik,– Sicherung einer Allgemeinen Grundbil-

dung,

– Verminderung von (Bildungs-)Benach-teiligung speziell für Kinder aus er-schwerten Lern- und Lebenssituationen,

– Konkretisierung einer integrativen Di-daktik bzw. Inklusionsdidaktik,

– Prävention von Lernschwierigkeiten.

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Anschrift der Autorin:

PROF. DR. BIRGIT WERNER

Institut für Sonderpädagogik

Keplerstr. 87

69120 Heidelberg

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59Kulturelle Literalität