Kulturhauptstadt 2010

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sterpräsident Dr. Jürgen Rüttgers über die Kulturlandschaft NRW UPLÄTZE RUHR 2010 ∙ Konrad Beikircher über den Vielvölker- t zwischen Rhein und Weser ∙ Kathedralen der Kunst im Revier Besten im Westen ∙ eater und Museen in NRW

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Ministerpräsident Dr. Jürgen Rüttgers über die Kulturlandschaft NRW SCHAUPLÄTZE RUHR 2010 ∙ Konrad Beikircher über den Vielvölker-staat zwischen Rhein und Weser ∙ Kathedralen der Kunst im Revier Die Besten im Westen ∙ # eater und Museen in NRW

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2 V E R L A G S S O N D E R V E R Ö F F E N T L I C H U N GI N H A L T„DIE KULTUR IST DER MOTOR DES WANDELS“ Fragen an den Ministerpräsidenten

von Nordrhein-Westfalen, Dr. Jürgen Rüttgers

Was versprechen Sie sich von der Kulturhauptstadt 2010 und

warum hat die Landesregierung die Bewerbung des Ruhrge-

biets als Kulturhauptstadt Europas 2010 unterstützt?

Kultur ist Motor des Wandels im Ruhrgebiet. Fast alle Ökonomen sagen, dass Kreativität und Ideen die wichtigste

wirtschaftliche Produktivkraft des 21. Jahrhunderts sind. Schon heute sind zwischen 20 und 30 Prozent aller Erwerbs-

tätigen in den hochentwickelten Ländern in kreativen Berufen tätig. Wenn wir als Land in Kultur investieren, investie-

ren wir damit auch in den Wirtschaftsstandort. Gerade auch jetzt, in Zeiten einer Wirtschaftskrise, brauchen wir mehr

Kunst und Kultur, nicht weniger. Kultur und Kreativität sollen zu einem Markenzeichen unseres Landes werden.

Als Kulturhauptstadt Europas 2010 kann das Ruhrgebiet ein zentraler Dreh- und Angelpunkt dafür werden, das bei-

spiellos dichte und vielfältige kulturelle Potenzial der Region voll auszuschöpfen und national wie international bekannt

zu machen. Ich behaupte, dass es kaum irgendwo auf der Welt eine so dichte und reiche Kulturlandschaft gibt mit so vie-

len Museen, �eatern, Konzert- und Opernhäusern und Orchestern wie hier.

Werden aus Anlass der Europäischen Kulturhauptstadt Ruhr 2010 auch die Landesmittel zur Kulturförderung

erhöht? Warum ist das Kulturressort in der Staatskanzlei verankert?

Kulturpolitik ist in Nordrhein-Westfalen Chefsache und hat nach dem Regierungswechsel einen zentralen Stellen-

wert erhalten. Deshalb haben wir die Kulturabteilung in der Staatskanzlei verankert und damit ins Zentrum des Regie-

rungshandelns geholt. Aus dem gleichen Grund haben wir bereits vor der Kulturhauptstadtentscheidung begonnen, die

Mittel unseres Kulturförderetats im Verlauf einer Legislaturperiode zu verdoppeln. Die Kulturhauptstadt 2010 wird vom

Land mit insgesamt rund 120 Millionen Euro unterstützt.

Welchen Beitrag leistet die Kultur für den Strukturwandel im Ruhrgebiet?

Nach 150 Jahren industrieller Urbanisierung hat sich die Region schon jetzt zu einer Metropole der Kultur und des

Wissens gewandelt. Dabei hat die Kultur heute mehr denn je eine Avantgardefunktion für die Wirtschaft. Diese Funk-

tion der Kultur lässt sich allein an den Synergieeffekten großer Kulturveranstaltungen ablesen. Auch die Steigerungsra-

ten der Kulturwirtschaft im Ruhrgebiet weisen bereits jetzt beachtliche Zahlen auf. Kultur ist damit ein nicht zu unter-

schätzender Wirtschaftsfaktor.

Was trägt Ruhr 2010 zur Förderung der Breitenkultur bei und wie werden Breitenkultur und „Hochkultur“

im Rahmen von Ruhr 2010 gefördert?

Ohne Kultur für alle gibt es keine Spitzenkultur. Unser Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ ist beides. Indem wir

jedem Kind im Ruhrgebiet ermöglichen, ein Instrument zu lernen, leisten wir kulturelle Breitenförderung. Diese kommt

mit einem Zuwachs an Nachwuchsmusikern aber der sogenannten Hochkultur zugute. Auch für die Besucher wird es im

Kulturhauptstadtjahr beides geben: Projekte, die Besucher in großem Stil ansprechen, und solche, die vielleicht nur für

einige wenige etwas sind. Dabei ist es uns wichtig, dass sich die Kulturhauptstadt unter dem Leitbild „Metropole im Wer-

den“ nicht als reine Festivalveranstaltung versteht. Sie ist vor allem ein Entwicklungsprojekt von europäischer Dimensi-

on, bei dem das Programm einen Beitrag zur Entwicklung der „Metropole Ruhr“ leisten soll. Ideen und Projektvorschlä-

ge sollen sich daher auf die Programmatik „Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel“ einlassen, wie es „Jedem Kind

ein Instrument“ beispielhaft tut.

Welche kulturellen Einrichtungen (beispielsweise Museen, #eater, Oper) gehören in der Region zu den

„Leuchttürmen der Kultur“?

Für mich ist entscheidend, dass Reichtum und Vielfalt an kommunalen �eatern, Opern und Museen insgesamt

zum Leuchten kommen: �eater oder Opern in Duisburg, Oberhausen, Mülheim, Essen, Bochum, Hagen, Dortmund,

Castrop-Rauxel, Dinslaken und Gelsenkirchen genauso wie Museen in Duisburg, Bochum, Essen, Dortmund, Bottrop,

Gladbeck, Marl, Unna, Haltern und Hagen.

Dazu kommt für mich aber auch die Route der Industriekultur mit einzigartigen Orten, etwa dem Gasometer in

Oberhausen, der Bochumer Jahrhunderthalle, der Zeche Zollverein in Essen und dem Landschaftspark Duisburg Nord

– die als Kulturorte ihre ganz eigene, unnachahmliche Wirkung entfalten.

Trotz RuhrTriennale ist NRW noch nicht in der Liga von Bayreuth oder Salzburg angekommen. Will das Land künftig

in diese Liga aufsteigen?

Die RuhrTriennale ist heute schon das interessanteste Festival Europas. Das sagt ein Expertengutachten. Unser

Bundesland wird sein kulturelles Profil noch weiter schärfen und in der Förderung der Spitzenkultur noch zulegen.

Was sind Ihre kulturellen Lieblingsplätze in NRW?

Es gibt in allen Teilen des Landes wunderbare Orte. Einer meiner Lieblingsplätze ist die Museumsinsel Hombroich

bei Neuss mit ihrer einzigartigen Verbindung von Natur, Kunst und Architektur. Faszinierend ist aber auch die Zeche

Zollverein in Essen. Allein ihretwegen lohnt sich die Reise nach Nordrhein-Westfalen.

Die Fragen stellten Astrid Prange und Walther Wuttke.

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Ruhr 2010: Im Programm der Kultur-

hauptstadt reiht sich Höhepunkt an

Höhepunkt.

IMPRESSUM

„Nordrhein-Westfalen ist kultig“ ist eine Beilage des Rheinischen Merkur in Zusammenarbeit mit Tourismus NRW e. V. Gefördert durch:

Redaktion: Marcel Tilger, Walther Wuttke (ViSdP)Schlussredaktion: Bernhard MoggeGestaltung: Lutz JahrmarktVerlag Deutsche Zeitung GmbH, Heinrich-Brüning-Straße 953113 Bonn. Geschäftsführer: Bert G. Wegener

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Konrad Beikircher: Im Schmelztiegel

zwischen Rhein und Ruhr leben die

Menschen in Harmonie zusammen.

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Welterbe: Vier Kulturstätten im

Westen besitzen das begehrte Siegel

der Unesco.

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Sammlerin: Julia Stoschek hat in

ihrem Düsseldorfer Privatmuseum

einzigartige Video- und Medienkunst

zusammengetragen.

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Die Besten im Westen.

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Das Land der Museen.

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Ludwig van Beethoven, Heinrich Heine oder

Joseph Beuys: gewichtige Namen, die auf eine

wichtige Kulturregion hinweisen. Das Kul-

turland Nordrhein-Westfalen hat viele bedeutende

Künstler hervorgebracht. Und das schon zu einer

Zeit, als unser Bundesland noch gar nicht existierte.

Heute ist Nordrhein-Westfalen eine der dichtesten

Kulturregionen Europas und lockt mit seinen zahl-

reichen Museen, öffentlichen und privaten Bühnen,

Orchestern und Konzerthallen, Musicals und Veran-

staltungen jährlich viele Millionen kulturinteressier-

te Gäste an.

Die Kulturlandschaft in unserem Land ist

abwechslungsreich und spannend. In der Bildenden

Kunst schaffen hier mehr als 30 000 Künstler eine

kreative Vielfalt, wie sie kein anderes deutsches Bun-

desland aufzuweisen hat.

Aber wir in Nordrhein-Westfalen können auch

feiern. Unsere Kulturveranstaltungen sind legen-

där: Das international renommierte Beethovenfest

in Bonn feiert den Komponisten Ludwig van Beet-

hoven und die RuhrTriennale bietet neben hochka-

rätigem Musikgenuss auch �eater, Literatur und

Kunst an den Schauplätzen herausragender Indus-

triedenkmäler wie der Jahrhunderthalle in Bochum

oder der Salzfabrik im Zollverein in Essen. Das Kla-

vierfestival Ruhr umfasst dieses Jahr rund 80 Kon-

zerte, bei denen nicht nur viele junge Künstler debü-

tieren, sondern mit Lang Lang oder Daniel Baren-

boim auch die ganz Großen der Musikwelt zu Gast

sind. Bei der „Extraschicht“ feiern Hunderttausende

vor spektakulärer Kulisse in Zechen und Stahlwer-

ken, auf Halden und an Fördertürmen die Nacht der

Industriekultur.

Eines der Hauptmotive unserer Gäste ist es,

Kultur zu erleben. Und für ein Kulturerlebnis der

besonderen Art bietet Nordrhein-Westfalen Super-

lative: Mit dem Kölner Dom, dem Aachener Dom,

der Zeche Zollverein und dem Schloss Augustusburg

haben wir vier Unesco-Welterbestätten. Der Aachener

Dom mit seinem Kunstschatz wurde als erste deut-

sche Kulturstätte 1978 von der Unesco zum Weltkul-

turerbe gekrönt. Allein der Kölner Dom zählt zu den

beliebtesten Sehenswürdigkeiten in ganz Deutsch-

land und hat 2008 rund 6,5 Millionen Besucher aus

dem In- und Ausland angezogen.

Die Geschichte Nordrhein-Westfalens sichert

uns beim �ema Industriekultur einen Platz in der

ersten Reihe. Eindrucksvolles Zeugnis dafür legt

die Zeche Zollverein in Essen ab. Die Anlage beein-

druckt durch das Zentrum für Kreativwirtschaft

und Einblicke in die Arbeit eines Steinkohleberg-

werks mit einer kulturellen Bandbrei-

te, die ihresgleichen sucht. Aber es gibt

viele weitere Stätten, die die industri-

elle Vergangenheit auf faszinieren-

de Weise in kulturelle Gegenwart und

Zukunft transportieren. Der Gasome-

ter in Oberhausen zum Beispiel gilt

mit seinem unvergleichlichen Raum-

erlebnis als „Kathedrale der Indus-

trie“. Die Route der Industriekultur mit

allein drei Parcours durch das industrie-

kulturelle Erbe Nordrhein-Westfalens bietet hier

Gelegenheit, Industriedenkmäler kompetent und

hautnah zu erleben.

In diesem Jahr begehen wir dazu ein kulturhisto-

risches Jubiläum: Nordrhein-Westfalen feiert 2000

Jahre Varusschlacht. Die sagenumwobene Schlacht

im Teutoburger Wald wird mit einem bundesland-

übergreifenden Ausstellungsprojekt der Extraklasse

gewürdigt. „Imperium Konflikt Mythos – 2000 Jah-

re Varusschlacht“ beleuchtet die unterschiedlichen

Facetten des historischen Geschehens. Der römische

Feldherr Varus und Arminius der Cherusker entfüh-

ren die Besucher an historische Stätten, die Geschich-

te an Originalschauplätzen wieder lebendig werden

lassen.

Das nächste Großprojekt befindet sich in der

heißen Vorbereitungsphase: Europas Kulturhaupt-

stadt Ruhr 2010 verleiht der Kulturlandschaft Nord-

rhein-Westfalens zusätzliche Dynamik. Mit einem

außergewöhnlichen Programm und nachhaltigen

Projekten wie dem Neubau des Folkwang-Museums

in Essen oder dem Museum Küppersmühle im Duis-

burger Innenhafen wird die Kulturhauptstadt Bilder

erzeugen, die das Ruhrgebiet und ganz

Nordrhein-Westfalen in den Köpfen

der Menschen weit über das Jahr 2010

hinaus als Kulturland verankern.

Und falls Sie jetzt Geschmack an

Vergangenem, Gegenwärtigem und

Zukünftigem in unserem Land gefun-

den haben, lade ich Sie herzlich ein,

Nordrhein-Westfalens Kulturland-

schaft heute wie in Zukunft zu entde-

cken und zu erleben!

Prof. Dr. Ute Dallmeier

Geschäftsführerin Tourismus NRW e. V.

KULTUR HAT HIER TRADITIONAls eine der spannendsten

und dichtesten Kulturregionen

Europas bietet NRW ein rei-

ches Veranstaltungsprogramm –

unter anderem in spektakulären

Industriedenkmälern

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RUHR MUSEUM

Gedächtnis und Schaufenster

der neuen Metropole Ruhr ist

das Ruhr Museum in der ehe-

maligen Kohlenwäsche der Zeche Zoll-

verein. Allein schon das spektakuläre

Domizil macht es zu einem Regio-

nalmuseum neuen Typs. Die ehema-

lige Kohlenwäsche ist eigentlich kein

Gebäude, sondern vielmehr die Hül-

le für eine riesige Maschine, in der die

geförderte Steinkohle aufbereitet wur-

de. Dem ursprünglichen Produktions-

fluss entsprechend fahren die Besucher

zunächst auf die 24-Meter-Ebene, um

anschließend in die Museumsräume

der unteren Etagen geleitet zu werden.

Mit der Eröffnung im Herbst 2009

wird in einer Dauerausstellung die

gesamte Natur- und Kulturgeschichte

der Metropole Ruhr präsentiert. Die

umfangreichen Sammlungen des neu-

en Museums zur Geologie, Archäolo-

gie, Geschichte und Fotografie beruhen

im Wesentlichen auf den Sammlungen

des ehemaligen Ruhrlandmuseums der

Stadt Essen. Zum Ruhr Museum gehört

außerdem das inzwischen größte und

bedeutendste Archiv historischer

und zeitgenössischer Fotografien der

Metropole Ruhr; es ist damit das Bild-

gedächtnis der gesamten Region.

Internet: www.ruhrmuseum.de

SCHACHTZEICHEN

Der Bergbau, der über Jahr-

zehnte das Bild der Region an

der Ruhr prägte, hat seine Spu-

ren hinterlassen, doch greifbar sind sie

heute kaum noch. An die längst ver-

füllten Schächte erinnert lediglich ein

Deckel mit dem Namen der ehema-

ligen Zeche. Der einstige Lebensmittel-

punkt für Hunderttausende Menschen

ist wieder unter Tage verschwunden.

Im Kulturhauptstadtjahr 2010 wer-

den nun viele der 900 verzeichneten

Schächte wieder sichtbar gemacht. In

der gesamten Metropole Ruhr ragen

dann gleichzeitig Hunderte riesige Bal-

lons bis zu 80 Meter hoch in den Him-

mel und zeigen den Betrachtern maxi-

mal zwei Wochen lang jene Orte auf, an

denen in den vergangenen 100 Jahren

Kumpel unter Tage geschuftet haben.

„Schachtzeichen“ setzt ein künstle-

risches wie auch emotionales Zeichen

im und vor allem für das Ruhrgebiet.

Die 53 Städte und Gemeinden werden

Teil einer Gesamtinszenierung, die auf

eine gemeinsame Geschichte verweist

und zugleich die Vision der „Metropo-

le Ruhr“ verspricht.

Internet: www.ruhr2010.de/

schachtzeichen

ROUTE WOHNKULTUR

Wie wohnen eigentlich die

Menschen der Metropole

Ruhr? Von der Fabrikanten-

villa bis zur Gartenlaube, vom Gründer-

zeitviertel zum Gemeinschaftswohn-

projekt, von der Hochhaussiedlung der

1970er-Jahre übers Fachwerkhaus im

alten Dorfkern bis zum Hausboot auf

dem Kanal – das Ruhrgebiet schreibt

viele Wohngeschichten, die so vielfäl-

tig, widersprüchlich und eigen sind wie

die Region selbst. Die „Route Wohn-

kultur“ bildet die Vielfalt alltäglicher

Wohnwelten ab. Typische Zechensied-

lungen, gelungene und gescheiterte

Experimente, aus der Mode gekom-

mene, wiederentdeckte und behut-

sam erneuerte Wohnformen werden

in einen im wahrsten Wortsinn erfahr-

baren regionalen Zusammenhang

gestellt. Zu Ruhr 2010 werden rund

50 Wohnungen der Route als „Schau-

wohnungen“ der Öffentlichkeit in einer

„Ausstellung“ zugänglich gemacht und

in einem „Reiseführer“ verzeichnet.

Internet: www.wp.

routederwohnkultur.de

Unter Tage über Tag:

Hunderte riesiger Ballons

über dem alten

Bergbaurevier erinnern

an frühere

Schachtanlagen.

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SCHAUPLÄTZE RUHR 2010UNTERNEHMEN

SAMMELN

Hinter den Fassaden der gro-

ßen Unternehmen der Metro-

pole Ruhr verbergen sich wah-

re Kunstschätze. Allerdings sind diese

über Jahrzehnte gewachsenen Samm-

lungen der Öffentlichkeit zumeist

nicht zugänglich. Für die Ruhr 2010

öffnen die Unternehmen nun erst-

mals ihre Tore und knüpfen damit an

große Vorbilder an: Bereits Anfang des

vergangenen Jahrhunderts zeigte der

Industrielle, Mäzen und Kunstsamm-

ler Ernst Osthaus seine Kunstwerke der

Öffentlichkeit. Im Rahmen der Unter-

nehmensgalerie Ruhr stellen Unterneh-

men ihre Sammlungen sowohl in ihren

eigenen Räumen wie auch in einer

zentralen Schau aus und präsentieren

damit auch ihr Engagement im Kultur-

bereich. Getragen wird das Projekt vom

Verein Pro Ruhrgebiet, vom Museum

Bochum und von vielen Unternehmen

der Region.

BILDER EINER

METROPOLE

Paris galt von 1850 an als die

Hauptstadt der modernen

Welt. In Europas erster Metro-

pole vollzog sich die Revolution der

bildenden Kunst. Die Impressionisten

entwickelten neue künstlerische Ver-

fahren, um die spezifische Atmosphä-

re der industriellen Großstadt darzu-

stellen: Schnelligkeit und Wandel, Frei-

zeit und Zerstreuung, aber auch Ano-

nymität und Kommunikation, Ballett

und !eater, Distanz und Verführung.

Vom 2. Oktober 2010 bis zum 30.

Januar 2011 präsentiert das Muse-

um Folkwang den Blick der Impressi-

onisten auf die Metropole Paris. Bilder

von Edouard Manet, Claude Monet,

Edgar Degas, Auguste Renoir, Camil-

le Pissaro oder Paul Signac zeigen die

Boulevards, Cafés, Plätze und Bahn-

höfe der pulsierenden Metropole als

neues Phänomen in der zweiten Hälfte

des 19. Jahrhunderts.

FOTOGRAFIE UND ROCK

Die Rockmusik-Fotografie ist

von Stars auf beiden Seiten

der Kamera geprägt: Die Aus-

stellung der Fotografischen Samm-

lung im Museum Folkwang zeigt vom

2. Juli bis 10. Oktober 2010 Werke

von Ron Galella, Annie Leibovitz,

David Bailey, Richard Avedon, Anton

Corbijn und anderen Fotografen von

Weltrang, die an der Mythenbildung

um Stars wie Elvis Presley, Little

Richard, Jimi Hendrix, Janis Joplin,

David Bowie und den Beatles einen

entscheidenden Anteil hatten. „A Star

Is Born“ verbindet Selbstdarstellung

und Darstellung mit 250 Arbeiten,

darunter Plattencover, Fotografien,

Zeitschriften und Autogrammkarten

aus gut 60 Jahren. Glamour-Porträts,

journalistische Dokumente von Live-

Auftritten sowie PR-Material wie auch

Fotografien, die den Kult um Instru-

mente belegen, vervollständigen die

erste große Ausstellung zu diesem

!ema in Deutschland. Die von Ute

Eskildsen kuratierte Ausstellung ent-

steht als Kooperation des Museums

Folkwang und der RWE AG.

ANNO 1225

Willkommen im 13. Jahr-

hundert! Frisch und ganz

ohne Staub zeigt das West-

fälische Landesmuseum für Archäolo-

gie in Herne in einer historischen Aus-

stellung den rücksichtslosen Weg der

Herren von Moers an die Macht. Um

1200 bauten die Edelherren von Moers,

Gefolgsleute der Erzbischöfe von Köln,

ihre erste, bescheidene Wohnturmburg.

Ein Vierteljahrhundert später wird der

Kölner Erzbischof Engelbert von Berg

umgebracht, und kurz darauf nennt

sich Dietrich II. von Moers erstmals

Graf. Als nächsten Schachzug verhei-

ratet er seinen Sohn Dietrich III. mit

Elisabeth, der Tochter des 1226 für den

Mord am Erzbischof hingerichteten

Grafen Friedrich III. von Altena-Isen-

burg. Nach der verlorenen Schlacht bei

Worringen 1288 nutzen die Herren von

Moers das entstandene Machtvakuum

und erreichen als Gefolgsleute der Gra-

fen von Kleve um 1300 einen ersten

Höhepunkt ihrer Macht, die sie bis

zur Mitte des 15. Jahrhunderts weiter

ausbauen. Diese machtpolitischen Ver-

werfungen und Ränkespiele erzählt die

packende Ausstellung vor dem Hinter-

grund der vorindustriellen Geschich-

te. Begleitet wird die Ausstellung von

einem Außenprogramm in zahlreichen

Burgen und Schlössern der Region.

Das Veranstaltungsprogramm der Kulturhaupt-

stadt 2010 ist reich an Höhepunkten

T E X T Walther Wuttke

Aus dem Verborgenen:

Kunstschätze aus den Sammlungen

großer Unternehmen werden

erstmals öffentlich präsentiert.

Geld ist Macht:

Die Herren von Moers

spielten im Land eine

bedeutende Rolle.

Hütten und Paläste:

Wie Menschen

im Ruhrgebiet gelebt

haben und noch

heute wohnen, lässt

sich auf der

„Route Wohnkultur“

besichtigen.

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VIELVÖLKER STAAT

Nordrhein-Westfalen ist – wir wissen es – ein

schönes Land. Die wunderbaren Skigebiete

im Rheinland, die herrlichen westfälischen

Seenplatten, die riesigen Rinder-Auen und Weide-

landschaften zwischen Dortmund und Oberhausen,

die sauerländische Steppe – alles weltberühmte Fern-

erholungsparadiese, wie jeder weiß, der schon mal im

Stau zwischen Siegen und Hagen stand und von den

kühn geschwungenen Autobahnvolten weit ins Land

hinein schauen durfte.

Alles schön und gut, aber weiß außer uns hier

in NRW überhaupt jemand, worin die wahre Größe

unseres Landes besteht? Nordrhein-Westfalen, Herr-

schaften, ist die Wiege Europas, mehr noch: ein Eu-

ropa im Kleinen und damit das Modell dafür, dass

es geht!

Wo in anderen Bundesländern ethnische Öde

vorherrscht: In Hessen gibt’s nur Hessen, in Mecklen-

burg-Vorpommern nur Mecklenburg-Vorpommern,

im Saarland nur Saarländer, in Bremen nur Bremer,

oder, um den Kreis weiter zu ziehen: in Liechten-

stein gibt’s nur Liechtensteiner, in Luxemburg nur

Luxemburger oder in San Marino nur Matrosen, von

den anderen Ländern ganz zu schweigen, so war das

in Nordrhein-Westfalen immer schon anders. Hier

haben sich Rheinländer, Niederrheiner, Selfkanter,

Nordeifeler, Sauerländer, Bergische, Siegerländer,

Revierkumpels, Lipper, Münsteraner und Ostwest-

verwandtschaft dieser beiden Regionen in alle Ewig-

keit gefestigt – das eigentliche Wunder ist, dass die

beiden sich in Paderborn zum ersten Mal trafen und

dabei nicht nur nicht „laufen jejangen“ sind, sondern

außer aneinander auch am Westfalen Gefallen fan-

den. Was übrigens für die oft unterschätzte Raffi-

nesse des Westfalen spricht: Er galt nämlich damals

als Sachse, hatte aber die Zeichen der Zeit erkannt

und war kurz vor dem Besuch der beiden rasch zum

„normalen Glauben“ konvertiert – im Gegensatz zu

den übrigen Sachsen, deren Halsstarrigkeit ja 30 000

von ihnen den Hals kostete. Zu Recht, wie uns die

Geschichte lehrt, denn wären sie damals ebenfalls

Rechtgläubige geworden, wären uns sicher das Trio

infernale Ulbricht, Pieck und Grotewohl und in der

Folge der Helium-Pavarotti Honecker und damit letzt-

lich die teure Wiedervereinigung erspart geblieben.

Nun denn: Hat nicht sollen sein.

Die Westfalen hatten also ihren Göttern abge-

schworen (einige von ihnen haben sich allerdings bis

heute in Ansätzen erhalten: die Herforder Tulpe, das

Hasenfenster, die Liebe zur Posaune und die Vereh-

rung der Kartoffel als omnium remedium) und sich

damit als mit dem genetisch katholischen Rhein-

länder koalitionsfähig erwiesen. Kaiser und Papst

sahen darin die Chance, von diesen beiden Enden

her – Aachen und Paderborn – Nordrhein-Westfalen

quasi aufzurollen und Krone und Tiara zuzuführen.

falen – um nur die wichtigsten zu nennen – im Rah-

men einer gigantischen Wohngemeinschaft zu einer

Einheit zusammengeschmiedet, die weltweit einmalig

ist. Diese Gegensätze! Diese Harmonie!

Hätte man Basken, Elsässer, Bretonen und Schot-

ten zusammengepfercht, es wäre nichts gegen das

Gemisch, das wir aufzuweisen haben.

Das funktioniert, weil der Rheinländer in die-

sem Gemisch der Katalysator ist. Ohne seine ruhige

Fürsorglichkeit, seine wundervolle Zurückhaltung

in allen Bereichen öffentlichen Lebens und seine

unglaubliche Unaufdringlichkeit – Eigenschaften,

welche die schroffen Gegensätze der anderen eth-

nischen Gruppen mildern, ja geschmeidig einander

nähern – wäre wohl nie was draus geworden.

Also: In Nordrhein-Westfalen funktioniert es und

zwar ohne in eine Legierung zu verschmelzen, in der

jede Eigenart der Einzelelemente aufgehoben wäre

zugunsten eines wie auch immer gearteten Neuen.

Das Wunder Nordrhein-Westfalen begann im

achten Jahrhundert. Und es begann natürlich mit

einer Männerfreundschaft. Genauer: mit der Freund-

schaft zwischen Karl dem Großen und Papst Leo III.

Das eigentliche Wunder dabei ist aber nicht, dass der

Aachener Kaiser (auch Klenkes-Karl genannt) sich

mit dem süditalienischen Römer Leo III. anfreun-

dete, ist doch seit Agrippina, der Mutter Neros, die

in Rom Karneval und Kölsch einführte, die Seelen-

T EX T Konrad Beikircher

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ÖLKER NRWSTAAT

Schon 804, als Karl und Leo in Aachen Weihnachten

feierten (dabei soll Leo so exzessiv den Printen zuge-

sprochen haben, dass er ab da im Rheinland nur noch

„dä Printepaaps“ genannt wurde), war Nordrhein-

Westfalen als solches schon so gefestigt, dass dies in

der berühmten Soester (das damals noch Sose hieß)

Eidesformel seinen Ausdruck finden konnte:

„Ben zi bena, bluot zi bluoda, lid zi geliden, SOSE

gelimida sin“ also: „Bein mit Bein, Blut mit Blut, Glied

mit Glied – in Soest miteinander verschweißt.“

In einem feierlichen Akt in den Domen zu Kalter-

herberg, Köln, Soest und Paderborn unterzeichneten

Printen-Leo und Klenkes-Karl den Eid (übrigens: Um

ein Haar hätte Leo den ganzen Vatikan nach Pader-

born geholt – was für eine Vorstellung: urbi et orbi in

westfälisch Platt, das wäre denn doch etwas extrem,

oder?), der Rest ist Geschichte.

Natürlich sind wir in Nordrhein-Westfalen froh,

dass nach 1945 Persönlichkeiten wie Pinkus Mül-

ler (unter anderem Erfinder der Weitwurf-Frikadel-

le), Lübkes Hein (als sauerländischer Partykracher

unvergessen), Adenauer (DER kölsche Experte für

das rechtsrheinische Sibirien) und Willy Weyer (als

geistiger Vater Jürgen Möllemanns das missing link

zwischen Anspruch und Zumutung, also zwischen

Rheinland und Westfalen) den Besatzern die histo-

rische Dimension Nordrhein-Westfalens klarmachen

konnten und damit für die Kontinuität dieses Wun-

derlandes sorgten, aber: Wir hätten es auch ohne sie

hingekriegt.

Und da sind wir bei der Frage: Was bindet bezie-

hungsweise unterscheidet die Mitglieder dieser

Wohngemeinschaft Nordrhein-Westfalen an- bezie-

hungsweise voneinander?

Sie bindet das aneinander, was sie voneinander

unterscheidet, Defizite und Fähigkeiten ergänzen sich

wie sonst nirgends zum Wunderpuzzle NRW.

Der Niederrheiner weiß nix, kann aber alles erklä-

ren (so hat es Hanns Dieter Hüsch, der niederrhei-

nische Prophet aus Moers, formuliert) und ist damit

der geborene Pressesprecher.

Der Selfkanter, als Nicht-Mehr-Rheinländer und

Noch-Nicht-Holländer erst seit 1963 Mitglied der

Familie NRW, hat dem nichts hinzuzufügen, was ihn

zum Regierungspräsidenten geradezu prädestiniert.

Der Nordeifeler ist die lebende Brücke in die ger-

manische Vergangenheit (wer einmal die Kirmes in

Dreiborn erlebt hat, weiß, was ich meine) und damit

geborener Archivar.

Der Sauerländer trifft den Nagel immer auf

den Kopf – und zwar von beiden Seiten (o Heinrich

Lübke, wie fehlst du uns!), ideale Eigenschaft für

Präsidenten.

Der Bergische lebt am liebsten in Höhlen (was er

vom Neandertaler gelernt hat) und ist so stolz darauf,

schreiben zu können, dass er sich immer noch nicht

vom Schiefertäfelchen trennen kann, höchste Eig-

nung für Spitzenpositionen in Landschaftsverbän-

den und Polizeipräsidien.

Der Siegerländer hat seine Zunge jegli-

chen hochdeutschen Verkrampfungen verwei-

gert (das rollende „R“ ist mehr ein Erstickungsan-

fall denn ein Sprachlaut), er ist damit der perfekte

Fremdsprachenkorrespondent.

Der Kumpel vom Revier weiß immer, wat Sache

is, über Tag und unter Tage, und ist damit wie keiner

für Tacheles geeignet.

Der Lipper hat das Sparbuch erfunden, weiß

aber nicht mehr, wo er es hingelegt hat; was muss

ein Finanzminister mehr aufweisen?

Der Münsteraner war immer gut im Glauben

(wovon die Wiedertäufer ein Lied singen könnten,

hätten die Münsteraner sie nicht aufgeknüpft), ver-

waltet bis heute die konstantinische Schenkung und

ist damit der geborene Nuntius apostolicus.

Der Ostwestfale sagt a) immer die Wahrheit,

aber b) immer im falschen Moment, eignet sich

also hervorragend zum professionellen Zeugen vor

Untersuchungsausschüssen.

Der Rheinländer schließlich ist die Apotheose

dieses Schmelztiegels, die Kraft, die alles eint, der

kölsch-mediterrane Balsam, der im geschmeidigen

Klüngel alles zusammenhält, was sonst unweigerlich

auseinanderlaufen würde.

Konrad Beikircher:

In seinem Bühnen-

programm widmet

sich der Kabarettist

vor allem der Sprache

und dem Wesen

des Rheinländers.

Europa im Kleinen:

Im Schmelztiegel im Westen leben ver-

schiedene Ethnien

harmonisch zusammen

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Wie soll ich Ihnen den Eindruck dieser Schlösser aus flüs-

sigem Metall, dieser glühenden Kathedralen, der wunder-

baren Symphonie der Pfiffe, von wunderbaren Hammer-

schlägen schildern, die uns umhüllt.“ Mit dieser Hymne beschrieb

der Komponist Max Reger im Jahr 1905 seinen Besuch in einem

Eisenhüttenwerk in Duisburg. Inzwischen ist der letzte Akkord

dieser Sinfonie zwar längst verklungen. Doch Regers ästhetische

Assoziation nahm hellsichtig etwas vorweg: Mit dem Sterben der

Montanindustrie des Ruhrgebiets wandelten sich ihre Produktions-

stätten in „Industriekultur“, in denen fortan die Kunst den Takt

vorgab.

Den Höhepunkt dieser Entwicklung markiert die RuhrTrien-

nale. Allen Unkenrufen vom „Montan-Salzburg“ zum Trotz, ihre

Geburt im Jahr 2002 setzte ein deutliches Zeichen für einen Neu-

anfang an den traditionsbeladenen Produktionsorten, die nun zum

Schauplatz eines Festivals mit internationalem Ruf werden sollten.

Wie ernst dieser Anspruch gemeint war, bezeugte schon die Beru-

fung von Gérard Mortier als Gründungsintendant.

Der Belgier kam mit den Lorbeeren der Erneuerung der Salzbur-

ger Festspiele an die Ruhr und schuf die organisatorische, vor allem

aber die ästhetische Struktur des Festivals. Neben Musiktheater,

Schauspiel, Tanz, einer Songwriter-Schiene ist es vor allem die Rei-

F E S T S P I E L

Die Stars der RuhrTriennale

sind ihre Spielorte

T E X T Hans-Christoph Zimmermann

KATHEDRALEN DER KUNST

Energie: Die Zeche Zweckel

in Gladbeck gehört zu den

Spielorten, in denen industrielle

Vergangenheit und kulturelle

Gegenwart verschmelzen.

Zentrum: Die 1908 erbaute

Jahrhunderthalle

in Bochum ist der Mittelpunkt

der RuhrTriennale.

Page 9: Kulturhauptstadt 2010

9K U LT U R H A U P T S T A D T 2 0 1 0

he „Kreationen“, die zum Herzstück der RuhrTriennale wurde: Da

traf der Regisseur Johan Simons auf den Autor Ralf Rothmanns und

die Musik Giuseppe Verdis; die Komponistin Bernice Johnson Rea-

gon und der Regisseur Robert Wilson dramatisierten einen Roman

Gustave Flauberts. Die „Kreationen“ sind Projekte an den Schnitt-

stellen verschiedener Kunstsparten, die offen für ästhetische Expe-

rimente votierten – auch auf das Risiko des Scheiterns hin.

Nach dem ersten dreijährigen Triennale-Zyklus wechselte der

flämische Maître de plaisir an die Pariser Oper und hinterließ ein

funktionierendes Festival mit internationaler Sogkraft. Sein Nach-

folger Jürgen Flimm folgte den angelegten Pfaden, unterlegte sei-

ne Amtszeit allerdings mit dem historischen Dreisprung Romantik

– Barock – Mittelalter. In eine Krise geriet die RuhrTriennale dann

durch den unerwarteten Tod der designierten Intendantin Marie

Zimmermann; Flimm als Retter in der Not hängte noch eine Inte-

rims-Spielzeit dran.

Ob die Jahrhunderthalle in Bochum, die Kraftzentrale in Duis-

burg oder die Zeche Zweckel in Gladbeck – es ist die Aura der Orte,

die die RuhrTriennale außergewöhnlich macht. Das verspürte auch

Willy Decker, als er hier vor zwei Jahren Frank Martins Oper „Le Vin

herbé“ inszenierte: „Diese Räume mit ihrer besonderen Ausstrah-

lung von Energie und Kreativität haben meine Arbeit substanziell

verändert.“ Der Musiktheater-Regisseur bereitet gerade seine erste

Spielzeit als neuer Intendant der Halden-Hügel vor und hat aus die-

ser Raumerfahrung auch als Grundthema der Triennale von 2009

bis 2011 die tiefe Verwandtschaft zwischen dem Kreativen und dem

Spirituellen gewonnen: „Es geht darum, Urmomente von Transzen-

denz und Religiosität mit künstlerischen Mitteln zu ergründen.“

Programmdetails will er noch nicht verraten, doch klar ist, dass sich

die drei Triennale-Ausgaben mit der jüdischen, der islamischen und

schließlich der buddhistischen Religion beschäftigen werden.

Einer dieser Räume, die Willy Decker nachhaltig beeindruckt

haben, ist die Jahrhunderthalle in Bochum. Sie bildet das Zentrum

des Festivals, und wenn je das Wort von der „Industrie-Kathedra-

le“ seine Berechtigung hatte, dann hier. Die 1903 vom Bochumer

Verein für Bergbau und Gussstahlfabrikation errichtete stählerne

Hallenkonstruktion ist in Form einer dreischiffigen Basilika gestal-

tet und wurde bis in die späten 1960er-Jahre als Gaskraftzentrale

genutzt. Mit ihren gewaltigen Dimensionen von 158 Meter Länge,

34 Meter Breite und 21 Meter Höhe wurde sie seit 2003 zum wich-

tigsten Spielort der RuhrTriennale. Wo sonst hätte Ilya Kabakovs

gewaltiges Kirchenkuppel-Bühnenbild für Olivier Messiaens Oper

„Saint François d’Assise“ Platz gefunden? Welches #eater hätte es

dem Regisseur David Poutney ermöglicht, mit zoomartig fahrbaren

Zuschauertribünen die Zeit- und Raumkonzeption von Bernd Alois

Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ derart kongenial zu überset-

zen? Die Spielorte der RuhrTriennale mögen sich weiträumig über

das gesamte Ruhrgebiet verteilen, letztlich sind sie es, die die Iden-

tität der RuhrTriennale stiften und jährlich aufs Neue Künstler von

internationalem Rang ins Ruhrgebiet locken.

RuhrTriennale 2009, vom 15. August bis 11. Oktober, Info und Kar-

ten: 0700/20 02 34 56.

KUNST

Industrie-Kathedrale:

In der Gebläsehalle in Duisburg

herrscht heute

kulturelles Schaffen.

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10 V E R L A G S S O N D E R V E R Ö F F E N T L I C H U N G

SÖNKE WORTMANNDer Regisseur und Produzent hat

den Deutschen ihr Sommermärchen

auf Zelluloid beschert. „Deutschland.

Ein Sommermärchen“ ist die überaus

erfolgreiche Filmdokumentation der

Fußballweltmeisterschaft von 2006.

Für Wortmann verbinden sich darin

seine Leidenschaften: Film und Fuß-

ball. Mit der Kickerkarriere hatte es

nicht geklappt, umso besser lief es für

den 1955 in Marl Geborenen beim Film.

Kassenknüller wie sein Erstling „Allein

unter Frauen“, „Der bewegte Mann“,

„Das Superweib“ und der Fußballfilm

„Das Wunder von Bern“ begründeten

seinen Ruhm, dem auch kommerzi-

elle Flops nichts anhaben konnten. Er

drehte mit Hollywood-Größen wie Rod

Steiger und Burt Reynolds und natür-

lich mit allen, die in Deutschland Rang

und Namen haben. Ein Sommermär-

chen ging übrigens auch für viele Kin-

der in Erfüllung: Den Erlös aus seinem

WM-Film spendete Wortmann den

SOS-Kinderdörfern.

HERBERT GRÖNEMEYERKeiner hat so wunderbar das alte Ruhr-

gebiet besungen wie Herbert Gröne-

meyer. Sein erstes Lebensjahr ver-

brachte er allerdings im Harz, bevor die

Familie nach Bochum zog, wo Herbert

sich schon früh Richtung Schauspiel

und Musik orientierte und am !eater

erste Meriten als Pianist und Darsteller

erwarb. Als Rockmusiker blieb er lan-

ge unbekannt. Aber einmal im Leben

passt alles zusammen: Für Grönemeyer

war das 1984 mit seinem Album „4630

Bochum“. Der liebenswert-ironische

Song „Männer“ traf den Nerv nicht

nur aller Frauen, und der Titelsong

„Bochum“ wurde sofort zur Hymne

des Ruhrgebiets und der Stadt „tief im

Westen, wo die Sonne verstaubt“. Zwar

hat der auch sozial und politisch enga-

gierte Sänger und Schauspieler längst

den blauen Himmel über der Ruhr mit

dem Londoner Smog vertauscht, aber

sein dreifach geknödeltes „Booochum“

erklingt noch bei jedem Heimspiel des

lokalen Fußballclubs VfL.

DIE BESTEN IMWESTENG R Ö S S E N

MANFRED EIGENDer Ehrenbürger der Ruhr-Universität

Bochum ist so etwas wie ein Superwis-

senschaftler. Die Bandbreite seiner For-

schungen reicht von den physikalischen

Eigenschaften chemischer Prozesse

über das Alter der Erbsubstanz DNA

bis zu einem physikalisch-chemischen

Modell zur Entstehung des Lebens.

Für die Entwicklung einer Methode

zur Untersuchung chemischer Reakti-

onen von weniger als einer Millionstel

Sekunde Dauer erhielt er gemeinsam

mit zwei englischen Wissenschaftlern

1967 den Nobelpreis für Chemie. Der

frühere Leiter des Max-Planck-Insti-

tuts für Physikalische Chemie in Göt-

tingen lehrt und forscht heute meist in

Kalifornien. 1927 in Bochum geboren,

wollte Manfred Eigen eigentlich Musik

studieren. Geblieben ist seine musika-

lische Leidenschaft: Er spielt

Cello und Klavier.

HELGE SCHNEIDERManchen erschließt sich sein Sinn für

Humor überhaupt nicht. Seine Fans lie-

gen der „singenden Herrentorte“ aber

zu Füßen. Was ist der 1955 in Mülheim

an der Ruhr geborene Helge Schneider

eigentlich? Er spielt exzellent eine gan-

ze Reihe von Instrumenten, er hat Filme

gemacht, vor und hinter der Kamera,

malt, schreibt Bücher und Hörspiele.

Alles richtig gut, aber die Nation lacht

sich schlapp vor allem über seine Non-

sens-Lieder, summt „Katzeklo, Katze-

klo, ja das macht die Katze froh“ oder

„Es gibt Reis, Baby“. Sein Grinsen bei

den bizarren Liveauftritten ist debil bis

diabolisch, aber wer denkt, hier stüm-

pert sich einer was zurecht, fällt zum

Beispiel bei den Jazzimprovisationen

vor Staunen fast vom Stuhl. Das würde

Helge Schneider gefallen.

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Page 11: Kulturhauptstadt 2010

11K U LT U R H A U P T S T A D T 2 0 1 0

WESTENSie verkörpern

das Lebensgefühl des Landes:

Stars aus dem Ruhrgebiet

OTTO REHHAGELDer 1938 in Essen geborene Fußballer

hat auch Erfahrungen als Spieler – für

Rot-Weiß Essen, Hertha BSC und den

1. FC Kaiserslautern. Seine Erfolgs-

geschichte begann aber erst als Trainer,

vor allem für Bremen, Bayern Mün-

chen und Kaiserslautern. Er sammel-

te reihenweise Rekorde: die weitaus

meis-ten Einsätze als Bundesligatrai-

ner, in Folge (nicht ganz unlogisch) die

meisten Siege, Unentschieden und

Niederlagen, darunter auch mit 0:12

die höchste, 1978 im Borussia-Duell

(seine Dortmunder gegen Mönchenglad-

bach). Auch Beinamen sammelte er

reichlich: vom wenig rühmlichen

„Otto Torhagel“ bis zum euphorischen

„Rehakles“, mit dem ihn die inzwischen

von ihm trainierte griechische Natio-

nalmannschaft für den Europamei-

stertitel 2004 in den Fußballer-Olymp

erhob.

PINA BAUSCHWuppertal – das ist nicht nur die einzig-

artige Schwebebahn. Weltweit berühmt

gemacht hat die Stadt an der Wupper

Pina Bausch. Die 1940 in Solingen

geborene Tänzerin und Choreografin

ist längst Kult, ihr Tanztheater legen-

där. Ihre Ausbildung absolvierte sie

unter anderem an der Folkwangschu-

le in Essen und der Juilliard School in

New York; Engagements in aller Welt

folgten. Hacke, Spitze – das war einmal.

Pina Bausch, die bereits als Kind klei-

ne Auftritte hatte, hat den Tanz revo-

lutioniert. Bekannt wurde sie 1976 mit

den „Sieben Todsünden“ nach Bertolt

Brecht mit der Musik von Kurt Weill.

Seither reißen ihre Inszenierungen die

Fans von den Stühlen, tragen ihr Einla-

dungen zu den renommiertesten Festi-

vals sowie sämtliche Ehrungen ein, die

man in diesem Metier gewinnen kann,

und machen das „Tanztheater Pina

Bausch“ zum weltweit geschätzten

Kulturexportartikel.

GÖTZ GEORGEGeboren ist der vielseitige Schauspie-

ler 1938 in Berlin. Vereinnahmt hat

ihn aber die Stadt Duisburg, in deren

schmuddeligen Ecken und Hafenan-

lagen er sich von 1981 bis 1991 als

„Tatort“-Kommissar Horst Schimanski

in die Herzen der Zuschauer spielte.

Meist im knitterigen Trenchcoat, mit

handfegergroßem Schnäuzer und

locker sitzenden Fäusten, mimte er den

sensiblen Kumpel mit großem Herzen,

der kleinen Gaunern schon mal was

nachsah, bei schlimmen Fingern und

üblen Ungerechtigkeiten aber fuchs-

teufelswild und unnachgiebig reagierte.

Die Rolle des „Schimmi“, die ihn zum

beliebtesten Darsteller der ARD-Serie

machte, verstellt leicht den Blick auf

die große Bandbreite dieses Sprosses

einer Schauspielerfamilie: Klassi-

ker von Shakespeare bis Tschechow,

schwierigste Rollen wie Josef Mengele

oder „der Totmacher“ Fritz Haarmann

und komödiantische Kabinettstück-

chen machten ihn zu einem der aner-

kanntesten deutschen Schauspieler.

FRITZ PLEITGENViele öffentlich-rechtliche Fernsehzu-

schauer können sich sein Gesicht über-

haupt nicht mehr wegdenken vom Bild-

schirm. Lange Jahre hat Fritz Pleitgen

das Erste Deutsche Fernsehen und

vor allem dessen größten Sender, den

Westdeutschen Rundfunk, mitgeprägt.

Auslandskorrespondent an den Brenn-

punkten der Welt, Fernsehchefredak-

teur und Hörfunkdirektor, schließlich

WDR-Intendant, dazu langjähriger

Leiter des ARD-Presseclubs und Prä-

sident der Europäischen Rundfunk-

union – multipel und ubiquitär, zählt

der 1938 in Duisburg geborene Pleit-

gen längst zum TV-„Urgestein“, den

es auch nach der Pensionierung nicht

im Sessel hält. Schönes Beispiel dafür

sind seine späten Reportagen aus Russ-

land und den USA. Für „Ruhr2010“

ist der Fernsehmann und Fußballfan

seit bald zwei Jahren Vorsitzender der

Geschäftsführung.

T E X T Bernhard Mogge

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prunkliebenden Wittelsbacher Kurfürsten Clemens

August, der in Bonn residierte und hier die Sommer-

monate verbrachte. Die höfische Gesellschaft und

ihre illustren Gäste, darunter Casanova, der 1760

ein Galadiner für die Damen der Kölner Schickeria

gab, genossen Luxus pur – die Architektur des west-

fälischen Stararchitekten Schlaun ließ der Bauherr

vom Münchner Hofbaumeister Cuvilliers ausschmü-

cken, der bayerische, französische und italienische

Rokoko-Künstler für die Ausführung des verschwen-

derischen Interieurdesigns zu gewinnen wusste. Sen-

sationell geriet das berühmte Treppenhaus Balthasar

Neumanns, der das Emporschreiten zum Gardensaal

als Aufstieg in höhere Sphären von Adel und Ruhm

inszenierte. Bis 1996 nutzte der Bundespräsident den

Effekt grandioser Erhöhung für festliche Empfänge

von Staatsgästen.

Der Kreis der NRW-Kulturerbestätten schließt

sich in Essen – mit einem gewaltigen Paukenschlag.

An die Stelle von Gold, Silber und Marmor rücken

Kohle und Stahl, die Erinnerung an Puder und Par-

füm vertreibt der Schweiß der Kumpel: 2001 eroberte

sich die 1986 stillgelegte Zeche Zollverein den über-

raschenden und doch verdienten Ehrenplatz unter

den prämierten Kulturdenkmälern. Dass auch die

Schwerindustrie mit Schmutz und Maloche Denkmal-

schutz und -verehrung beanspruchen darf, erfährt

der Besucher auf dem Museumspfad durch das Gelän-

de mit den Gebäuden der ehemaligen Sieberei und

der Kohlenwäsche, vorbei an gigantischen Maschi-

nen und Transportbändern, die von der Gewinnung

und Aufbereitung des schwarzen Goldes erzählen. Die

Schachtanlage unter dem imposanten Förderturm

galt einst als modernste und „schönste Zeche der

Welt“. Das von Sir Norman Foster zu einem Design-

zentrum ausgebaute Kesselhaus und weitere Bauten

mit vielfältigen kulturellen Nutzungen bilden inzwi-

schen das Herzstück des Projekts Kulturhauptstadt,

mit dem sich die Ruhrmetropole Essen unverwechsel-

bar der europäischen Öffentlichkeit präsentiert.

Königlicher Sitz:

Im Aachener Dom wurden im

Lauf von 600 Jahren

30 deutsche Könige gekrönt.

Attraktionen im

Über"uss: Mit 7000 Quadrat-

metern verfügt der Kölner Dom

über die weltweit

größte Kirchenfassade.

Schwarzes Gold:

Die Schachtanlage des Essener

Zollvereins galt einst

als schönste Zeche der Welt.

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Es ist schwierig, noch nie gesehene Fotos zu

machen, schon wegen der Milliarden Aufnah-

men, die täglich auf Speicherkarten gesammelt

werden. Das Massenmedium überschwemmt auch

die denkbar kleinsten Nischen mit seiner unaufhalt-

samen Bilderflut. Der Fotokünstler Andreas Gursky

hat das Kunststück geschafft, unverwechselbar zu

fotografieren und dem Betrachter ebenso spektaku-

läre wie neuartige Ansichten der Welt vor Augen zu

führen.

Sein Erfolgsrezept funktioniert nach einem

bewährten Muster, das vom mythischen Riesen Goli-

ath bis zum Höhenrausch der Wolkenkratzer ver-

schleißresistent ist – durch schiere Größe, überwälti-

gende Dimensionen. Gurskys suggestive Fotoarbeiten

bringen es dank revolutionärer Vergrößerungstech-

niken auf Kantenlängen von mehreren Metern und

können in Museen und Privatkollektionen endlich

mit Gemälden im XXL-Format konkurrieren.

Vier Meter lang und fast zwei Meter hoch ist

das berühmte Bild „Montparnasse“, der Blick auf Le

Corbusiers gigantische Wohnmaschine in Paris. Die

Architektur erstreckt sich über die gesamte Bildflä-

che und erweckt mit ihrer monotonen Rasterstruktur

den Eindruck einer beinahe abstrakten Kompositi-

on. Inhaltlich scheint die Aussage auf die Eintönigkeit

und Uniformität heutiger Großstadtexistenzen zu

zielen. Wenn man sich jedoch dem vermenschlichten

Bienenstock nähert, füllen sich die aneinandergereih-

ten Waben mit Leben. Vorhänge sind zurückgezogen,

in den Wohnzellen agieren Personen, führen Männer,

Frauen und Kinder die nach dem Zufallsprinzip insze-

nierten Komödien des Alltags auf.

Die Doppelschau von Totale und Detail gelingt

durch die Schärfe der Megafotografie, die durch einen

einzigen Druck auf den Auslöser gar nicht zustan-

de kommen könnte. Das monumentale Werk ist

durch die Kombination mehrerer Einzelaufnahmen

am Computer entstanden. Verträgt sich der objek-

tive Dokumentarstil mit manipulatorischen Eingrif-

fen, denen das gesamte Werk unterworfen ist? Den

Künstler ficht solches Bedenken nicht an: „Wirklich-

keit ist überhaupt nur darzustellen, indem man sie

konstruiert.“

Den Weltruhm begründete das Fotobild „99

Cent“, Porträt eines amerikanischen Ramsch-Dis-

counters mit seinen Endlosregalen, die mit Süßig-

keiten und buntem Plastikkitsch zum Einheitspreis

gefüllt sind. Der unnachahmlich cool organisisierte

Alptraum vom Konsumparadies, gegen den sich die

Reklameikonen der US-Popmaler wie heimelige Idyl-

len ausnehmen, entzückte die Auktionsschickeria der-

maßen, dass für das Opus bei Sotheby‘s im Mai 2006

der Weltrekordpreis von 2,25 Millionen Dollar bewil-

ligt wurde. Gursky wurde zum Superstar der globalen

Fotokunst, Sammler und Museumskuratoren began-

nen, dem „German über-photographer“, wie ihn ein

englisches Kunstmagazin nannte, die teuren Großfor-

mate aus den Händen zu reißen. Kluge Produktions-

strategie sorgt dafür, dass die Objekte der Begierde

Raritäten bleiben: Der gierige Markt muss sich mit

wenigen Arbeiten pro Jahr bescheiden, die Abzüge der

Motive sind auf sechs Exemplare begrenzt.

Herkunft, Ausbildung und Karriere weisen den

Erfolgskünstler mit Ausstellungen im New Yorker

Museum of Modern Art, im Pariser Centre Georges

Pompidou oder in der Londoner Tate Modern als

Profi aus. Gurskys Weg begann 1955 in Leipzig, wo

sein Vater Werbefotograf war. Nach der Flucht in den

Westen ließ sich die Familie im Ruhrgebiet nieder, wo

der Fotografiestudent ab 1978 überragende Lehrer

fand: an der Folkwangschule in Essen Otto Steinert,

den Begründer der „Subjektiven Fotografie“, danach

an der Düsseldorfer Akademie Hilla und Bernd Becher,

die auf ihren asketischen Lichtbildern Industriekon-

struktionen in bizarre Skulpturen verwandelten.

Noch unter dem Einfluss der Lehrer stehen

Gurskys Bildnisse von Pförtnern in den Zentralen

nordrhein-westfälischer Konzerne. Auf dem Weg zu

eigener Weltsicht nahm die Distanz zu den gewähl-

ten Sujets kontinuierlich zu. Die Landschaften und

urbanen Räume, die der Globetrotter in allen Welt-

gegenden erkundete, wurden größer, die Menschen

immer kleiner. Es gab keine Gesichter, keine Einzel-

schicksale mit zentralen Aktionen mehr: Gurskys �e-

ma wurde der globalisierte Massenmensch, geformt

zu Ornamenten, anvisiert wie durch ein umgekehrtes

Fernrohr. Um den Überblick zu gewinnen, ließ er sich

mit seiner Kamera von einem Kran in den Himmel

hieven, gern benutzt er den Helikopter: „Manchmal

habe ich das Gefühl, mit dem Blick eines außerplane-

tarischen Wesens durch den Sucher zu schauen.“

So glaubt auch das Publikum wie im freien Raum

vor seinen Motiven zu schweben. Staunend wird es

Zeuge, zu welchen Schauspielen das Menschenge-

wimmel fähig ist. Auf dem Panorama-Tableau „Love

Parade“ tummeln sich Tausende tanzender Jugend-

licher. Kollektive Hysterie beobachtet der Kamera-

mann in Börsensälen, greifbar wird dagegen die Stil-

le der Lernenden in der Stockholmer Bibliothek. Eine

Fabrik mit menschlichen Arbeitsameisen in Vietnam,

wilde Popkonzerte und Fußballstadien, der Industrie-

hafen von Salerno, die Kolossalgemälde aus Unterta-

nenmaterial für den nordkoreanischen Diktator Kim

Jong Il – alles Choreografien und Dekorationen, in

denen die Menschheit einem Heer von Statisten Platz

macht. Die Botschaft des Fotografen ist schmerzlich

und faszinierend zugleich. Als Andreas Gursky in Gos-

lar den Kaiserring empfing, war der Begründung der

Jury zu entnehmen, seine Bilder „sprengen die ver-

engte Perspektive des individuellen Betrachters“.

DER KÜNSTLER

K U N S T

Alexander Gursky und Julia Stoschek gehen neue Wege: Der Fotograf schafft Monumen-

tales, seine Lebensgefährtin sammelt Mediales

T E X T Wolf SchönGursky der Große: Dank revolutionärer

Vergrößungstechnik bringen es seine Bilder auf

Kantenlängen von mehreren Metern.

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Neue-Medien-Kunst? Selbst aufgeschlossene

Kunstliebhaber mit forschem Blick nach vorn

wandten sich da mit Grauen ab. Die freiwil-

lige Dunkelhaft hartgesottener Medienfreaks, die

vor flimmernden Monitoren rudelweise auf Schaum-

stoffmatten lagerten, war nun wirklich nicht jeder-

manns Sache. Auch nicht die knackend rotierenden

Dia karussells, mit denen sich progressive Fotokünst-

ler zu profilieren suchten.

Spätestens seit es Julia Stoschek gibt, hat sich die

düstere Unterwelt der schönen Künste in ein strah-

lendes Paradies verwandelt. Vier Jahre war das neue

Jahrtausend alt, als die schöne junge Fee aus dem

oberfränkischen Coburg in der Düsseldorfer Altstadt

mit ihrem Zauberstab ein historisches Fabrikgebäu-

de berührte. 2007 war das Wunderwerk perfekt, war

aus dem denkmalgeschützten Gemäuer ein hyper-

modernes Gehäuse für die technikgesteuerte Kunst

von morgen geworden. Wenn in den kunstvoll ver-

schachtelten Räumen mit faszinierenden Ausblicken

durch großzügig geöffnete Etagen Hightech-Bea mer

flimmerfreie Filmbilder im XXL-Format produzie-

ren oder Mehrkanalprojektionen für hochkomplexe

Schauspielcollagen sorgen, glaubt sich der Besucher in

futuristisches Neuland versetzt, das die Erinnerung

an traditionelle Gemäldegalerien wie auf Knopfdruck

verblassen lässt.

Dennoch gleicht die Entstehungsgeschichte des

einzigartigen Privatmuseums für Video- und Medi-

enkunst einer Erzählung aus dem Märchenbuch, die

auf wunderbare Weise wahr geworden ist. Mit einem

goldenen Löffel wurde das Glückskind Julia geboren,

Tochter einer Großindustriellen aus einer Unter-

nehmerdynastie, die ein Vermögen mit der Herstel-

lung von Autoelementen gemacht hat. Im Alter von

27 Jahren verließ die studierte Jungmanagerin den

weltweit vernetzten Familienbetrieb, wohl weil sich

mit unwiderstehlicher Macht die ererbten musischen

Gene gemeldet hatten. Eine Großmutter war Schau-

spielerin gewesen, ein Urgroßvater hatte es bis zum

Generalmusikdirektor gebracht.

Da fasste Julia Stoschek den Entschluss, ein eige-

nes Kunstimperium aufzubauen, und zwar auf schwie-

rigem Gelände, wo Artefakte nicht im Vorbeischlen-

dern konsumiert werden können. Die Künstler, die sie

zu elektrisieren begannen, fordern von ihrem Publi-

kum Zeit und Konzentration. Bisweilen wird aus der

Teilhabe an der anderen Art des Sehens eine Gedulds-

probe – wie bei der Videoarbeit des Amerikaners Paul

Pfeiffer, der in Echtzeit Wespen beim Bau und der

Pflege ihres Nestes zeigt. Volle drei Monate dauert es,

bis das Band den Projektor durchlaufen hat.

Nur weist der Werktitel „Empire“ in eine ganz

andere Richtung. Denn immerhin wird hier von der

bienenfleißigen Natur ein Reich in einer Zeitspan-

ne errichtet, die rekordverdächtig erscheint. Ein

vergleichbares Tempo legte jedenfalls die rasante

Porsche-Fahrerin vor, die mit 33 Jahren zur promi-

nentesten deutschen Nachwuchssammlerin aufge-

stiegen ist und als neuer Fixstern am Himmel des

Kunstbetriebs strahlt. Mehr als 400 Arbeiten hat sie

inzwischen zusammengetragen. Seit 2006 sitzt der

Shooting Star in der Ankaufskommission der Medien-

abteilung des New Yorker Museum of Modern Art,

unterstützt mit Stipendien junge Medienkünstler und

finanziert Ausstellungen sowie Produktionskos ten. In

Münster bekam die versierte Ausstellungsmacherin

eine Professur für kuratorische Praxis. „Ich möchte

die Kunst meiner Generation dokumentieren“, sagt

Julia Stoschek. Es ist die Fernseh-, Video- und Inter-

net-Generation, mit der sie sich identifizieren kann.

Und auf die Frage „Warum sammeln Sie?“ ant-

wortete sie in einem Interview: „Entdeckergeist, und

weil die Möglichkeit, mit Kunst zu leben, einen gro-

ßen Reiz auf mich ausübt.“ Das ist wörtlich gemeint.

Die Hausherrin wohnt in ihrem Medienpalast, wo die

Berliner Architekten Kuehn und Malvezzi das Dach-

geschoss zu einem weiträumigen Wohnsalon mit rie-

sigen Atelierfenstern ausgebaut haben. Auf der Dach-

terrasse des 500 Quadratmeter großen Lofts steht

ein eleganter Glaspavillon des amerikanischen Docu-

menta-Künstlers Dan Graham, der in einem Fest aus

Licht das unendliche Firmament reflektiert.

In den darunter liegenden Hauptgeschossen mit

angeschlossenem Kinosaal präsentiert die Sammle-

rin in wechselnden Inszenierungen ihre Kollektion

aus Videoarbeiten, Fotografien, Filmen und Instal-

lationen, wobei ihr Ansatz ist, persönliche Vorlieben

mit einem repräsentativen Überblick über das medi-

ale Genre zu verschmelzen. Die Pionierin inmitten

einer quicklebendigen Avantgarde vergewissert sich

der Klassiker des Mediums, zu denen Gordon Matta-

Clark, Chris Burden oder Marina Abramovic zählen.

Hauptthema der zweiten Schau aus den eigenen

Sammlungsbeständen ist der Aspekt der Körperlich-

keit, mit der vor allem Künstler der Body-Art und der

Performance-Kunst experimentieren. Unter der Über-

schrift „Number Two: Fragile“ geht es um Selbstinsze-

nierungen, Schmerz, Zerbrechlichkeit und Transfor-

mationen der Gestalt. Prominentester Akteur ist der

Szene-Star Bruce Nauman, der in seinem Video „Art-

Make-Up“ in einem minutiösen Prozess seinen Kör-

per weiß, pink, grün und schwarz einfärbt, um ihn vor

der frontal ausgerichteten Kamera durch den Akt der

Verfremdung in eine Skulptur zu verwandeln.

Samstags von 11 bis 16 Uhr sind die eigenwil-

ligen Spektakel um die menschliche Existenz nach

Vor anmeldung (0221/175 21 66) öffentlich in der

Julia Stoschek Collection an der Schanzenstraße zu

besichtigen. Der Eintritt ist frei.

Internet: www.julia-stoschek-collection.net

KÜNSTLER

UND DIE SAMMLERIN

Modernes Märchen: Julia Stoschek hat

in ihrem Privatmuseum einzigartige Video- und

Medienkunst zusammengetragen.

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Die Macher von Ruhr 2010 vergessen bei keiner Gelegenheit, ihn zu erwäh-

nen. Sie verdanken ihm das Motto der Kulturhauptstadt: Wandel durch

Kultur – Kultur durch Wandel. Dabei ist dieser wichtige Förderer der Ruhr-

Kultur schon 1921 gestorben: Karl-Ernst Osthaus, Begründer der Folkwang-Tra-

dition und Mäzen von historischem Rang.

Mit 22 Jahren erbte Osthaus 1896 das Vermögen seines Großvaters, eines rei-

chen Industriellen. Als Geisteswissenschaftler ganz aus der familiären Art geschla-

gen, investierte er einen großen Teil des Geldes in sein Folkwang-Projekt. So ent-

stand 1902 in Hagen aus Osthaus’ eigener Sammlung das Folkwang-Museum als

weltweit erstes Museum für moderne Kunst. Osthaus holte Künstler nach Hagen

und bot ihnen Arbeitsmöglichkeiten. Er machte Hagen zu einem kulturellen Zen-

trum und wünschte sich das ganze Ruhrgebiet als „Großstadt des Westens“ mit

starken kulturellen Akzenten: „Kunst für alle.“ Nach seinem frühen Tod allerdings

verkauften die Erben seine Sammlung nach Essen. So erst kam diese Stadt in den

Besitz dieses bis heute am hellsten funkelnden kulturellen Juwels an der Ruhr.

Osthaus bot nahezu das Idealbild eines klassischen Mäzens, der Kunst und

Künstler unterstützt, aus Interesse und mit Leidenschaft, aber darüber hinaus

ohne Eigennutz, ohne Anspruch auf Gegenleistung. So etwas ist selten, aber den-

noch hat Mäzenatentum an der Ruhr Tradition: Ob Krupp, Haniel oder Grillo – die

Größen der Wirtschaft bedachten ihre Städte immer wieder mit Fördergeldern für

Kulturelles. Bekanntes Beispiel ist das Essener Grillo-�eater von 1892. Inwieweit

die Herren auch ihren persönlichen Ruhm oder das Wohlergehen ihrer Firma im

Auge hatten, sei dahingestellt. Aber Firmenfahnen wehten damals nicht neben

dem Opernhaus; das Konzept modernen Sponsorings war noch nicht erfunden.

Einzelne Mäzene, die große Summen für Kunst und Kultur spenden, sind rar

geworden – auch an der Ruhr. Zu diesen seltenen Exemplaren gehören die Kunst-

sammler Klaus Maas und Dirk Krämer. Ihr Engagement für zeitgenössische Künst-

ler mündete jüngst in den Bau eines privaten Museums in Duisburg, das moderne

und alte, vorwiegend asiatische Kunst in wechselnden Dialogen inszenieren soll.

Dass der Name des Museums, DKM, auf die Initialen der Sammler zurückgeht

und dass diese Sammler ein Bauunternehmen betreiben, das weiß man. Mehr aber

auch nicht: Ein Imagege-

winn für das Unterneh-

men ist da nicht einkal-

kuliert. Vergleichbar ist

die Rolle des Bochumer

„Lottokönigs“ Norman

Faber: Nur durch seine

Millionenspende kann

die Stadt ihren Sympho-

nikern eine eigene Spiel-

stätte bauen.

Ein ganz besonderer

Fall ist im Ruhrgebiet die

Krupp-Stiftung und ihr

langjähriger Chef Berthold Beitz. Alfried, der letzte Krupp, hatte sein Vermögen

1968 in diese Stiftung eingebracht, und die Alfried Krupp von Bohlen und Hal-

bach-Stiftung hatte alle Geschäftsanteile an der Firma Krupp übernommen. Die

Erträge sollten ausschließlich für gemeinnützige Zwecke verwandt werden, und

dazu zählten von jeher Kunst und Kultur. Heute hält die Stiftung 25,1 Prozent

an der �yssenKrupp AG. Es handelt sich bei ihren Spenden nicht um Sponsoring

durch die Firma �yssenKrupp, sondern um institutionalisiertes Mäzenatentum,

über den Tod des Mäzens Alfried Krupp hinaus. Spektakulärste Spende der Stif-

tung sind jene 55 Millionen Euro, mit der sie den Neubau des Museums Folkwang

ermöglichte. Ob die Stiftung ohne den 95-jährigen Beitz diesen Schritt getan hät-

te, ist fraglich. Nur Beitz konnte wohl diese Entscheidung treffen – im unerschüt-

terlichen Bewusstsein, das Vermächtnis seines einstigen Vertrauten Alfried Krupp

auszuführen. Insofern muss man auch Beitz zu den großen Mäzenen rechnen.

Im Übrigen ist Mäzenatentum heute am ehesten in Stiftungen und Förder-

vereinen verwirklicht. Die bekanntesten der Region sind Initiativkreis Ruhr (IR)

mit 68 beteiligten Großunternehmen und Pro Ruhrgebiet mit 350 Unterneh-

men. Bekanntestes Förderprojekt des Initiativkreises ist das Klavierfestival Ruhr.

Beim Kulturhauptstadt-Projekt ist der IR mit 25 Prozent als Gesellschafter der

Ruhr 2010 GmbH beteiligt und steuert 8,5 Millionen des – eher bescheidenen –

Gesamtetats von 63 Millionen Euro bei. Pro Ruhrgebiet hat sich unter anderem

um die RuhrTriennale verdient gemacht, als Förderer und als Gesellschafter der

Trägergesellschaft Kultur Ruhr GmbH. Die Namen der beteiligten Unternehmen

und Personen sind zwar öffentlich, stehen aber nicht im Vordergrund.

Aber an der Ruhr gibt es seit Jahren auch das sichtbare Spenden, das Spon-

soring. Es reicht von kleinen, umso wichtigeren Spendern wie den lokalen Spar-

kassen-Stiftungen bis zu den Ruhr-Größen Eon, RWE und Evonik. Deren Namen

und Logos sind bei spektakulären Kunstausstellungen und Festivals allgegenwär-

tig. Für die Macher der Kulturhauptstadt 2010 dürfte es davon ruhig noch mehr

geben: Bislang haben sich Eon, RWE und Haniel als Hauptsponsoren mit je mindes-

tens zwei Millionen Euro zu Wort gemeldet; ein vierter Großsponsor soll im März

präsentiert werden. Aber dass Sponsoren sich nach vorn drängelten, kann man

nicht behaupten. Nun

hat Ruhr 2010 auf die

Gemeinnützigkeit ver-

zichtet: So können zwar

Spenden nicht mehr von

der Steuer abgesetzt wer-

den, doch es darf öffent-

lich mehr darüber gere-

det werden, wer Gutes

tut. Das, hofft man,

könnte manchen Spen-

der beflügeln. Richtige

Mäzene sind natürlich

weiterhin willkommen.

KUNST BRAUCHT MÄZENE

M Ä Z E N E

Wer bezahlt die Kultur? Im Ruhrgebiet

unterstützen kunstbewusste Unternehmer den Betrieb T E X T Martin Kuhna

Karl-Ernst Osthaus:

Der Gründer des Folkwang-

Museums prägte das Ruhr-2010-

Motto „Wandel durch

Kultur - Kultur durch Wandel“.

Berthold Beitz:

Der 95-jährige Chef der Krupp-

Stiftung bezuschusste den

Folkwang-Neubau mit

55 Millionen Euro und handelte

damit im Geiste Alfried Krupps.

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18 V E R L A G S S O N D E R V E R Ö F F E N T L I C H U N G

Im September 2006 brannte der Fundus des Schau-

spielhauses Bochum nieder. Eine Katastrophe für

das �eater, wurden dabei doch Dekorationen und

Kostüme von fast einem Dutzend laufender Inszenie-

rungen zerstört. Doch so groß der Schaden, so über-

wältigend war auch die Hilfsbereitschaft. „Wir lieben

unser Schauspielhaus, ob wir regelmäßig hingehen

oder nicht. Das hat nichts miteinander zu tun“, sagte

damals eine Spenderin.

Man muss hier nicht das große Wort von der Soli-

darität bemühen. Die jüngere Geschichte bescherte

Nordrhein-Westfalen bis auf Detmold kein Hof- oder

Residenztheater. Die Bühnen zwischen Weser, Ruhr

und Rhein sind dezidierter Ausdruck eines kommu-

nalen Bürgerwillens, der bis heute nachwirkt. Meine

Stadt, mein �eater. Und so reihen sich die Häuser

im Abstand von weniger als 50 Kilometer aneinan-

der: Der Deutsche Bühnenverein zählte in der Sai-

son 2006/2007 21 Stadt- und vier Landestheater, 39

Privattheater und eine unüberschaubare freie Sze-

ne, die zusammen 4,7 Millionen Besucher anlockten.

„Die Dichte der �eaterlandschaft in NRW und die

dadurch entstehende gegenseitige Belebung ist ein

großer Reiz“, sagt denn auch Amélie Niermeyer, die

Intendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses.

So reichhaltig das Angebot, so unterschiedlich

sind die Charaktere der Häuser. Das Düsseldorfer

Schauspielhaus, das als einziges �eater zur Hälf-

te von der Landesregierung unterstützt wird, pflegt

einen bürgerlich-literarischen Spielplan, durchsetzt

mit internationalen Projekten. In Köln dagegen ver-

sucht Intendantin Karin Beier, die Zuschauer mit

sinnlichem Schauspielertheater und anspruchsvoller

Avantgarde zu locken. Ganz anders in Münster, wo

Wolfgang Quetes ein Vierspartentheater mit weitem

ländlichem Einzugsgebiet leitet. Der westfälische

Menschenschlag sei zwar nicht so leicht zu begeis-

tern wie der im Ruhrgebiet, sagt der Intendant. Doch

wenn die Besucher die Arbeit akzeptieren, dann sei

die Identifikation sehr groß.

Derzeit ist Aufbruch angesagt an den Bühnen

in Nordrhein-Westfalen. Die Generation der Baby-

boomer erobert die Chefsessel der �eater und frönt

dabei einer Vielfalt der ästhetischen Formen, die vom

klassischen Regietheater bis zur Performance reicht.

Aber auch die Mentalitäten ändern sich. „Die sozi-

alen und demografischen Besonderheiten der Stadt-

landschaft Ruhrgebiet lassen keine andere Chance, als

über neue Publikumsstrukturen nachzudenken“, sagt

der Essener Schauspiel-Intendant Anselm Weber, der

demnächst ans Schauspielhaus nach Bochum wech-

selt. Unter seiner Leitung hat das �eater der Kultur-

hauptstadt 2010 einen enormen Aufschwung erlebt,

der einerseits Regisseuren wie dem Emotionsthea-

traliker David Bösch zu verdanken ist, andererseits

einer Hinwendung zur Stadt. Da stand ein „Sommer-

nachtstraum“ neben einem Stück mit Migranten, ein

Alten-Projekt neben einer „Antigone“. Das �eater

wurde im emphatischen Sinn wieder Stadt-�eater,

das sich für alle Bewohner gleichermaßen öffnete

– ohne den Qualitätsanspruch zu senken. In die-

sem Sinn ist das �eater des Ruhrgebiets auch ein

Zukunftslabor der Republik, in dem kulturelle Stra-

tegien für den Umgang mit Migration, schrump-

fenden Städten und demografischem Wandel erprobt

werden.

Der Tanz spielt dabei eine ganz entscheidende

Rolle. Das erkennt jeder, der einmal nicht zu einer

Vorstellung, sondern zum nachmittäglichen Kurs-

programm ins Tanzhaus NRW in Düsseldorf pilgert.

Doch nicht nur deshalb hat die Landesregierung gera-

de ein „Tanzkonzept“ mit erhöhten Zuschüssen vor-

gestellt. Der Tanz ist traditionell eine Bank in NRW.

Natürlich wegen Pina Bausch, der Grande Dame des

Tanztheaters. Vor allem aber, weil Düsseldorf mit

dem Tanzhaus NRW sowie Essen mit dem Zentrum

PACT Zollverein und der Folkwang-Hochschule regel-

rechte Brutstätten der Avantgarde sind.

Und auch an den Opernhäusern tut sich was. Mit

den Intendanten Christoph Meyer in Düsseldorf/

Duisburg und Uwe Eric Laufenberg in Köln kommen

auch hier die Babyboomer zum Zug. Sie werden dem

NRW-Flaggschiff, dem Essener Aalto-�eater Kon-

kurrenz zu machen versuchen. Dort zeigt Intendant

Stefan Soltesz seit Jahren, dass Qualität nur aus dem

Dreiklang Ensemblearbeit, anspruchsvolle Regie und

musikalische Perfektion entsteht. Dass sein Haus

gerade zum Opernhaus des Jahres gewählt worden

ist, freut ihn. Doch er bleibt bescheiden, der Erfolg

sei nicht zuletzt der Identifikation des Essener Publi-

kums mit seinem �eater geschuldet. Das kommunale

Selbstverständnis ist die Basis der vielfältigen �ea-

terlandschaft in NRW und es steht zu hoffen, dass

dies auch in der Finanzkrise so bleibt.

„WIR LIEBEN UNSER SCHAUSPIELHAUS, OB WIR HINGEHEN ODER NICHT“

T H E A T E R

NRW besitzt eine dichte

�eaterlandschaft. Das Pro-

gramm reicht von Regietheater

bis zu Tanzperformance

T E X T Hans-Christoph Zimmermann

Mehr als nur Theater:

Auf NRWs Bühnen

werden neue kulturelle

Strategien für gesellschaftliche

Probleme entwickelt.

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Ob der Rhein nun pathetisch als deutscher

Schicksalsstrom seinen Weg nach Norden

sucht oder sich lieber mit dem prosaischen

Titel der meist befahrenen Wasserstraße Europas

bescheidet, sei dahingestellt. Ganz gewiss passt auf

den Flusslauf zwischen Bonn und Duisburg aber ein

Bild, das sich auf ein schimmerndes Schmuckstück

bezieht: Wie Perlen an einer Schnur reihen sich links

und rechts des silbernen Rhenus die schönsten und

wichtigsten Museen des Bundeslandes. Nichts ist

unmöglich, alles vom reichen Erbe der Römerzeit bis

zu den Highlights der internationalen Avantgarde

steht Kunstgenießern im Überfluss zur Verfügung.

Das Flaggschiff der Bonner Museumsmeile ist

die Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepu-

blik Deutschland. Als die Schaubühne für Weltkunst-

events in den 1980er-Jahren nach Plänen des Archi-

tekten Gustav Peichl entstand, wurde geklotzt, nicht

gekleckert: 5600 Quadratmeter Ausstellungsfläche

misst der Bau mit den Lichtkegeln auf dem Flachdach,

ausgestattet mit einem millionenschweren Etat, der

spektakuläre Gastspiele wie den Auftritt der Vatika-

nischen Museen ermöglichte. Das Haus entwickelte

sich rasch zum Motor des überregionalen Kulturtou-

rismus; den Besucherrekord hält die Tutanchamun-

Schau mit rund 850 000 Eintrittskarten.

Der Katzensprung in die Domstadt Köln wird mit

einem Universum der Kunst belohnt, für das die Bür-

germuseen Kölns mit Stifternamen von Wallraf und

Schnütgen bis Peter Ludwig weltweit bekannt sind.

Letzterer hat mit seinen Bildergeschenken den Vogel

der Popularität abgeschossen. Das Bad in der Menge

amerikanischer Pop-Art, wozu sich noch die umfang-

reichste deutsche Picasso-Kollektion gesellt, ist nach

dem Geschmack jüngerer Leute.

In die gleiche Richtung zielte Hugo Borger, der

Gründungsdirektor des neuen Römisch-Germa-

nischen Museums, der sein Haus wie einen Kon-

sumtempel von Karstadt und Kaufhof organisierte.

Passend zu den Schaufenstern und Regalen mit verlo-

ckenden Angeboten ist die Hauptattraktion ein echtes

Schnäppchen: In den Museumsschoß fiel das Lucius-

Poblicius-Grabmal, das Hobby-Archäologen im Keller

eines Privathauses ausgruben. Zeitlich eingerahmt

wird von beiden Häusern im Schatten des Doms das

„hillige Köln“ mit gleich drei Aufbewahrungsorten

der christlichen Geschichte. Punktgenau über dem

Grundstück von Stephan Lochners Malerwerkstatt

erhebt sich der Ungers-Neubau des Wallraf-Richartz-

Museums mit der weltweit reichsten Sammlung mit-

telalterlicher Tafelmalerei, während das Schnütgen-

Museum die Plastik und das liturgische Gerät der reli-

giösen Hauptepoche bereithält.

Das Kolumba-Museum mit integriertem Ein-

blick in Kölns archäologische Unterwelt demons-

triert in ständigem Wechsel den Einfluss der spiri-

tuell inspirierten Vergangenheit auf die geistesver-

wandte Gegenwart. Auch die übrigen Schatzhäuser

verdanken sich der Spendierlaune weitblickender

Mäzene: das Rautenstrauch-Joest-Museum für Völ-

kerkunde, das Museum für Ostasiatische Kunst und

das Kunstgewerbemuseum.

Die Landeshauptstadt Düsseldorf trumpft seit

1961 mit ihrer Staatssammlung auf. Das Gehäuse auf

dem zentralen Grabbeplatz könnte nobler nicht sein:

Das tiefschwarze Baukunstwerk hat die Form eines

hochglanzpolierten Konzertflügels. Bespielt wurde

das edle Instrument bis 1990 von Werner Schma-

lenbach, der sich mit dem Scheckbuch der Regierung

bei den ersten Adressen des Kunsthandels bedienen

konnte. Das Ergebnis: eine Sinfonie aus Meisterwer-

ken der klassischen und zeitgenössischen Moderne.

Den zweiten Pol des üppigen Düsseldorfer Kunst-

lebens mit der berühmten Akademie, der Kunsthalle

und dem Hetjens-Keramikmuseum bildet die weitläu-

fige Anlage „museum kunst palast“. Grundstock der

städtischen Sammlung sind die Gemälde der Düssel-

dorfer Malerschule, flankiert von kunsthistorischen

Solitären aus dem Barock, dem Kunsthandwerk des

integrierten Kunstgewerbemuseums, Werken der

rheinischen Szene und den zahllosen Glaskunstwer-

ken der Stiftung Hentrich.

Linksrheinisch erwartet den Pilger auf den Pfa-

den der Kunst ein Leckerbissen: die landeseigene Stif-

tung Insel Hombroich, ein wahr gewordenes Utopia,

auf dem das Zusammenspiel von Natur und Kultur

wirklich geworden ist. Anfang der 1980er-Jahre ent-

deckte der Sammler Karl-Heinrich Müller einen ver-

wilderten Park an der Erft und machte das Gelände

zum Zentrum seiner Auen- und Terrassenlandschaft.

Genial war die Idee, für die Ausgestaltung des Gar-

tens heimische Künstler zu gewinnen. Der Bildhauer

Erwin Heerich vergrößerte seine strengen und doch

poetischen Skulpturen zu Baukunstwerken, deren

Namen nach Dichtung klingen: das Labyrinth, der

Turm, die Schnecke, das Zwölf-Räume-Haus. Der

urige Beuys-Schüler Anatol richtete in einer Blockhüt-

te eine Werkstatt ein, der wilde Maler Tadeusz bezog

einen eigenen Pavillon, ebenso Gotthard Graub-

ner, der Schöpfer der weichen Kissenbilder, dem der

Mäzen die Präsentation seiner hochkarätigen Samm-

lung anvertraute. Jenseits von Chronologie und Stil-

richtungen entstanden Dialoge zwischen früher asia-

tischer und europäischer Kunst von Rembrandt bis

Matisse, von Corinth bis Yves Klein und Chillida.

Was die rheinische Museumslandschaft bisher

ausgespart hat, liefert mit imposanter Geste das Duis-

burger Lehmbruck-Museum – einen umfassenden

Überblick über die Skulptur der Moderne. Von Wil-

helm Lehmbruck stammen die zentralen Skulpturen,

um die sich in Sälen und im Grün des Ausstellungs-

parks Arbeiten nahezu aller wichtigen Bildhauer des

20. und 21. Jahrhunderts gruppieren – von Barlach

bis Beuys, von Archipenko bis Laurens, von Lipchitz

und Brancusi bis Giacometti und Moore.

LAND DER MUSEEN

Nichts ist unmöglich:

In Düsseldorf, Hombroich, Bonn und Duisburg

gastieren Jahr für Jahr die wichtigsten

Ausstellungen der Republik.

Wer dem Rhein folgt, passiert einige der schönsten Museen von NRW

T E X T André Schmitt

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