List und Lüge in der theologischen Tradition

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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg EBERHARD SCHOCKENHOFF List und Lüge in der theologischen Tradition Originalbeitrag erschienen in: Margot Schmidt u.a. (Hrsg.): Von der Suche nach Gott : Helmut Riedlinger zum 75. Geburtstag. Stuttgart-Bad Cannstadt: Frommann-Holzboog, 1998, S. [489] - 507

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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

EBERHARD SCHOCKENHOFF List und Lüge in der theologischen Tradition Originalbeitrag erschienen in: Margot Schmidt u.a. (Hrsg.): Von der Suche nach Gott : Helmut Riedlinger zum 75. Geburtstag. Stuttgart-Bad Cannstadt: Frommann-Holzboog, 1998, S. [489] - 507

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List und Lüge in der theologischen Tradition

Eberhard Schockenhoff / Freiburg i. Br.

Die Zusammenstellung der beiden Begriffe List und Lüge im Titel diesesBeitrags legt die Vermutung nahe, die moraltheologische Tradition kenneden Begriff der List ausschließlich in seiner engen Definition, verstanden alsarglistige Täuschung, nicht dagegen in seinen weiteren Bedeutungsvarian-ten, zu denen — entsprechend der »weiten« Definition — vor allem Witz undFindigkeit, Mut zu ungewöhnlichen Vorgehensweisen, Bewunderung vonEinfallsreichtum, Überraschung und Erstaunen gehören. Wer etwa das ein-flußreiche, in der katholischen Welt unseres Jahrhunderts weit verbreiteteHandbuch des Moraltheologen Bernhard Häring >Das Gesetz Christi< auf-schlägt, findet dort zwar keine formale Listdefinition, wohl aber die fragloswiedergegebene Identifikation von List, Täuschung und Betrug auf der ei-nen und Lauterkeit, Ehrlichkeit und wahrer Klugheit auf der anderen Seite.»Der Gegensatz zu dieser irdischen Schlauheit, deren Mittel Verstellung,List und Lüge sind, ist die Schlichtheit und Lauterkeit, die allen krummenWegen abhold, auch in der Wahl der Mittel wahr und aufrichtig ist. DerKluge ist in seinen Zielen und Wegen ehrlich.«' Die aufsteigende TriasVerstellung, List und Lüge steht dabei für die Schlauheit des irdischenMenschen, während die Kinder des Lichtes auch auf den dunklen Wegendieser Welt aufrichtig, redlich und lauter bleiben. Dem bibelfesten Leserkommen allerdings hier schon Zweifel, ob die Anklänge an den neutesta-mentlichen Sprachgebrauch das Zeugnis der Schrift nicht etwas vorschnellund allzu einseitig in Anspruch nehmen. Stellt nicht das Lukasevangeliumin 16,8 die Klugheit dieser Welt den Kindern des Lichtes als Vorbild vorAugen, dem sie in der Verfolgung des Guten nacheifern sollen? Fordertnicht Matthäus dazu auf, klug wie die Schlangen und arglos wie die Taubenzu handeln? Ganz zu schweigen davon, daß die Bibel in beiden Testamen-ten von der trefflichen List heiliger Frauen und Männer zu berichten weiß,ohne an ihrem Verhalten irgendwelchen Anstoß zu nehmen?

Der Überblick über die vielfältigen Stellungnahmen der theologischenTradition wird zeigen, daß die These von der Vorherrschaft einer engen,

1 Bernhard Häring, Das Gesetz Christi, Bd. 3, Freiburg 8 1967, 43f.

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negativ konnotierten Listdefinition nur als Tendenzanzeige gültig ist. Siebedarf im Einzelfall erheblicher Modifikationen, um als Gesamtbild zutref-fen zu können. Um diesen Differenzierungsvorschlag zu begründen, werdeich zunächst den »mainstream« moraltheologischer Listbewertung vorstel-len. In einem zweiten Schritt möchte ich anhand einiger Beispiele aus allenEpochen der Kirchengeschichte aufzeigen, daß die von Anfang an vorhan-dene Unterströmung einer positiveren Sicht listigen Verhaltens zumindestin der Situation der Selbstverteidigung oder zur Abwehr von Schaden im-mer präsent geblieben ist. Ein Ausblick am Schluß wird zeigen, warum estrotz dieser Ansätze zu einer weiteren Listkonzeption auf dem Hinter-grund des christlichen Welt- und Menschenbildes nicht zu einer vorbehalt-losen Bejahung der Strategie des listigen Menschen kommen kann.

1.

1. Die List als Sünde gegen die Klugheit— Thomas von Aquin

Die Einordnung in das klassische Tugendschema der aristotelisch-thomani-schen Ethik bietet einen guten Leitfaden, um ein Verständnis dafür zu ge-winnen, warum die List in der moraltheologischen Bewertung in die Nähevon Täuschung, Verstellung und Betrug geriet, ohne allerdings mit ihnenformell identifiziert zu werden. Im architektonischen Gesamtaufriß der>Summa theologiae< des Thomas von Aquin wird die List: »dolus«, zusam-men mit der Klugheit des Fleisches: »prudentia carnis«, der Verschlagen-heit: »astutia«, und dem Betrug: »fraus«, unmittelbar als ein Widerspruchzur Klugheit diskutiert, der dieser äußerlich verwandt ist. Die sittlich ver-werfliche Bewandtnis der List und ihr sündhafter Charakter ergeben sichjedoch in erster Linie aus ihrem Gegensatz zur Gerechtigkeit gegenüberdem Nächsten, unter deren Teiltugenden die Wahrhaftigkeit in Wort undTat einen besonderen Rang einnimmt. Indem die List in diesen doppeltenKontext der Wahrheits- und Wahrhaftigkeitssemantik gestellt wird, ist eineentscheidende Weichenstellung bereits vorgenommen: Sie muß nun in allenihren Erscheinungsformen als ein Verstoß gewertet werden, der sich ent-weder gegen die rechtverstandene Klugheit und damit gegen die Vernunft-natur des Handelnden selbst oder gegen die Gerechtigkeit und damit gegenden Wahrheitsanspruch des anderen richtet.

Die Möglichkeit zu einer positiven oder wenigstens neutralen Bewertung der List ergibt sich dann allenfalls aus dem abgestuften Verpflich-

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tungsmodus der Wahrhaftigkeit: Anders als die Gerechtigkeit ist die Wahr-heitspflicht kein »debitum legale« im strikten Sinn, keine Rechtspflicht, diewir jedermann in gleicher Weise schulden. Sie ist vielmehr moralischePflicht, insofern nämlich jeder Mensch »ex honestate«, das heißt aufgrundmenschlicher Ehrenhaftigkeit dem anderen die Offenbarung und Mittei-lung der Wahrheit schuldet. 2 Die Tugend der Wahrhaftigkeit unterscheidetsich von der bloßen Etikette und Höflichkeit dementsprechend dadurch,daß es in ihr nicht nur um die gefällige, verläßliche und reibungslos einge-spielte Verwirklichung der Sozialnatur des Menschen — aristotelisch ge-sprochen um eine reine Umgangstugend — sondern um die Möglichkeit ge-selligen Zusammenlebens überhaupt geht.

Wenn die List so von Anfang an in den Sog dessen gerät, was man dasPathos der Wahrhaftigkeit nennen könnte, so hat dies in der Einschätzungseinen Grund, daß die menschliche Gesellschaft ohne die gegenseitige Ver-pflichtung ihrer Mitglieder auf die Wahrheit und ohne die bis zum Erweisdes Gegenteils beiderseitig unterstellte Glaubwürdigkeit des Wahrheits-zeugnisses überhaupt nicht funktionieren könnte.' Dennoch gilt die im na-türlichen Sprachzweck und in der Vernunftnatur des Redenden begründeteWahrheitspflicht nicht unterschiedslos gegenüber jedermann. Vielmehrbedarf auch die Wahrheitsmitteilung, um tugendhaft zu sein, der Ausba-lancierung eines rechten Maßes zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig—eine Festlegung, die gemäß dem aristotelischen Verständnis in allenHandlungen das Werk der Klugheit ist. Es ist daher immer und ausnahms-los verboten, einen anderen Menschen durch die Mitteilung des Falschen—sei es in sprachlichen oder nichtsprachlichen Zeichen4 — zu täuschen, eskann aber sehr wohl erlaubt und unter Umständen sogar geboten sein, ge-genüber zudringlich Fragenden die Wahrheit teilweise oder ganz zu ver-bergen. Dieses berechtigte Verbergen der Wahrheit nennt Thomas eine»dissimulatio«, wobei die Vorsilbe »dis-« den Unterschied zur moralischverwerflichen »simulatio« oder »hypocrisis« als einer bewußten Verstel-lung im Sinne der äußeren Kundgabe eines Nicht-Wirklichen markiert.'

Diese Unterscheidungsformel, die ein teilweises Verbergen der Wahr-heit, nicht aber die aktive Täuschung des anderen erlaubt, wird auch bei der

2 Thomas von Aquin, Summa theologiae II-II 109,3.

3 II-II 109,3 ad. 1.

4 11-11 111,1.

5 II-II 110,3 ad 4; 111,1 ad 4; 111,2.

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Beurteilung der Kriegslist beibehalten. Es kann demnach auch im Kriegniemals gestattet sein, den Gegner durch Scheinabkommen, Vertragsbruchoder die Nicht-Einhaltung gegebener Zusagen in einen Hinterhalt zulocken, während es sehr wohl legitim und unter Umständen sogar gebotenist, sein Unwissen auszunützen und ihn durch ein Verbergen der eigenen.Pläne in einen Hinterhalt laufen zu lassen. 6 Diese äußerst restriktive Zulas-sung militärischer List setzt voraus, daß auch die kriegerische Auseinander-setzung im gerechten Krieg noch dem Anspruch eines zu wahrenden, be-ziehungsweise wiederherzustellenden »ordo iustitiae« unterworfen ist. Diemittelalterliche »bellum-iustum-Theorie« versteht den Krieg als ein not-wendiges Mittel zur Bestrafung der Schuldigen, die der legitime Fürst kraftder ihm aufgetragenen Sorge für das Wohl der »res publica« durchzuführenhat. Weil der in diesem Sinne gerechte Krieg sich von ungesetzlichem Auf-ruhr und Tumult dadurch unterscheidet, daß er der Sicherung des Friedensund damit der Mehrung des Guten dient, dürfen auch die in ihm ange-wandten Mittel diesem obersten Ziel nicht widersprechen.' Die militärischeStrategie des kriegführenden Fürsten muß die Transparenz der sittlichenOrdnung deshalb wenigstens insoweit widerspiegeln, als sie ihr nicht direktzuwiderlaufen darf, wie es durch bewußte Irreführung, Rechtsbruch oderVertragsuntreue der Fall wäre.

Das zurückhaltende Zugeständnis einer listigen Abwehr zudringlicherFragen, die den legitimen Geheimhaltungsanspruch des Sprechenden ver-letzen, und das Verbergen militärischer Absichten im Krieg bleiben die ein-zigen Einschränkungen, die Thomas gegenüber der unbedingten Wahrhaf-tigkeitspflicht gelten läßt. Er kann sich eine Gesellschaftsordnung, die aufdas augenzwinkernde Rechnen mit der List der anderen gegründet wäre, inder Menschen ihre Handlungsziele voreinander verbergen und ihren Wor-ten einen unwirklichen Sinn beilegen, offenbar überhaupt nicht vorstellen.Es überrascht nicht, daß unter solchen sozialpsychologischen Prämissen dieList als ausgesprochen bedrohliches Phänomen erscheinen muß. Ihr Cha.-rakter als erfindungsreiches Gesellschaftsspiel, das auf einer anderen Grammatik sozialen Handelns beruht, kann überhaupt nicht in den Blick gera-

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ten, da sie von vornherein den Stempel des gemeinschaftswidrigen oder so-gar gemeinschaftszerstörenden Verhaltens trägt.

Der letzte Grund, warum List und Lüge der moraltheologischen Tradi-tion als moralisch verwerflich erscheinen, besteht aber nicht allein darin,

6 II-II 40,3.

7 Vgl. II-II 40,1.

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daß sie den Menschen gemeinschaftsunfähig machen. List und Lüge ver-weisen vielmehr auf eine tieferliegende Verkehrung im Menschen, die alsdie eigentliche Substanz der Sünde in diesem Bereich anzusehen ist.' Tho-mas unterscheidet in der begriffsgerechten Definition des »mendaciums«drei Momente, deren zentrales Mittelstück auch für die Abgrenzung von»astutia«, »dolus« und »fraus«: Verschlagenheit — List — Betrug, gültig ist.Zur Lüge im Vollsinn gehören demnach erstens die materiale Falschheit desAussageinhaltes: »falsitas materiale«, zweitens das Bewußtsein des Spre-chenden, etwas Falsches zu sagen, also die Diskrepanz von Denken undSprechen: »falsitas formale«, und drittens die im Hörer hervorgebrachtefalsche Vorstellung: »falsitas effective«. 9

Auch Thomas greift also auf die beiden Definitionselemente Täu-schungsabsicht und Unwahrheit der Aussage, beziehungsweise falsche Zei-chenkundgabe zurück, deren genaueres Verhältnis in der augustinischenDefinition: »mendacium est quippe falsa significatio cum voluntate fallen-di«, noch ungeklärt geblieben war. 10 Gegenüber der augustinischen Be-handlung der Wahrhaftigkeitsproblematik erscheint die Bedeutung dersubjektiven Täuschungsabsicht bei Thomas aber eher zurückgenommen,denn die »cupiditas fallendi« zählt bei ihm nur noch zum letzten Abschlußder Lüge, aber nicht mehr zu ihrem artbestimmenden Wesen. Die Substanzder Lüge besteht nun vielmehr im Auseinanderfallen von Zeichen und Be-zeichnetem, also in dem »duplex cor«, dem gespaltenen Herzen, das zurUnwahrheit menschlicher Rede in Form einer falschen Zeichenkundgabenach außen führt."

Folgerichtig gibt auch im Wortfeld von »dolus« nicht die Täuschungs-absicht, sondern der illusionäre Scheincharakter des Handlungsstrategemsden Ausschlag: Verschlagenheit, List und Betrug kommen darin überein,daß der so Handelnde seine Ziele »non veris viis sed simulatis et apparenti-bus«, nicht auf wahren Wegen, sondern auf vorgespielten Scheinwegen ver-folgt, wobei es gleichgültig ist, ob diese Vorspiegelung eines falschen Schei-nes um guter oder schlechter Ziele willen erfolgt. 12 Im einzelnen unter-scheiden sich »astutia«, »dolus« und »fraus« nur dadurch, daß die »astutia«

8 Vgl. II-II 110,3 ad 4.

9 Vgl. II-II 110,1.

10 Vgl. Augustinus, Contra mendacium XII 26, (CSEL 40) 446; (PL 40) 537.

11 Vgl. S.th. 110,1 ad 3.

12 Vgl. II-II 55,3.

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auf das listige Ersinnen, der »dolus« auf die Verwirklichung in Wort undTat, der »fraus« dagegen ausschließlich auf die äußere Verwirklichung eineslistigen Handlungsstrategems gerichtet sind. Das eigentliche Wesen derList, das ihren verschiedenen Erscheinungsformen gemeinsam ist, liegt je-weils in der Nicht-Übereinstimmung von Denken, Handeln und Sprechenmit dem inneren Bewußtsein des Menschen." Ihre Verwerflichkeit gründetalso nicht allein in der Absicht, den anderen böswillig zu täuschen — auchseine wohlmeinende Verführung zum Guten würde ja das Verwerflich-keitskriterium der List erfüllen —, sondern in einem tiefersitzenden Defekt,nämlich dem gestörten Wirklichkeitsbezug, den der Handelnde in seinemReden und Tun verrät. List und Lüge entfremden den Sprechenden seinereigenen Vernunftnatur und verletzen zugleich die Forderung der Gerech-tigkeit im Verhältnis zu den anderen. Sie untergraben so die Transparenzder sittlichen Ordnung nach beiden Seiten — aus der Richtung des Spre-chenden wie im Blick auf den Adressaten, dem unsere Rede oder unserHandeln in Wort und Tat gelten soll.

2. Frommer Betrug und heilige List — die anti-augustinische Unterströ-mung in der moraltheologischen Tradition

Neben dieser durch Augustinus und Thomas auf eine sehr restriktive Beur-teilung der List festgelegten Generallinie, die sich mit geringfügigen Modi-fikationen bis in unsere Zeit hinein durchhält, gibt es in allen Epochen eineanti-augustinische Gegenströmung, in der es zu einer überraschend unbe-fangenen oder sogar rückhaltlos positiven Bewertung der List kommenkann. Es handelt sich dabei zwar jeweils um Einzelstimmen, die in ihrerZeit — man denke nur an die heftige Kontroverse zwischen Hieronymusund Augustinus im fünften oder an die Auseinandersetzungen um die»restrictio mentalis« im 17. Jahrhundert — keineswegs unumstritten blieben.Dennoch lassen sich diese von der Grundtendenz abweichenden Positionennicht als gelegentliche vor-augustinische Irritationen einzelner Kirchenväteroder als spätere Rückfälle hinter die bei Thomas erreichte Eindeutigkeit des

sittlichen Urteils abtun, wie es einem lange Zeit vorherrschenden historio -

graphischen Entwicklungsschema entsprach. Vielmehr sind die einzelnen

Stellungnahmen jeweils daraufhin zu befragen, welche Antwort sie auf einebestimmte, nur aus ihrem historischen Kontext heraus verständliche Kon-

13 Vgl. II-II 55,4-5.

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fliktsituation zu geben versuchen. Der gemeinsame Nenner, der es recht-fertigt, diese Antwortversuche zu einer »Unterströmung« zusammenzufassen, liegt dabei darin, daß sie die strikte Unterscheidung zwischen bewuß-

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ter Täuschung und zugestandenem Zurückhalten der Wahrheit als zu starrempfinden und durch die Zulassung situationsadäquaterer Reaktionsweisenim Einzelfall ersetzen wollen.

In diesem Sinn sollen nun drei Positionen aus verschiedenen Epochender Kirchengeschichte vorgestellt werden: aus dem frühen Christentum,fast zeitgleich mit Augustinus, eine Eulogie auf die »herrliche, schöne List«aus der Feder des Johannes Chrysostomus sowie die Überlegungen zurKorrektur einmal getroffener Entscheidungen in den Unterredungen desJohannes Cassian, aus der beginnenden Neuzeit die heftigen Auseinander-setzungen um die »locutio ambigua« und die »restrictio mentalis«, soweitsie im Werk des Alphons von Liguori einen Nachhall finden, und aus dem19. und 20. Jahrhundert die Behandlung der Wahrheitsproblematik durchden Tübinger Moraltheologen Franz Xaver Linsenmann und einige zeitge-nössische Autoren.

1. Die Lehre des Johannes Chrysostomus

Die Theorie über die Anwendung von List und Täuschung, die der Kir-chenvater Johannes Chrysostomus, gestorben 407, im ersten Buch seinerSchrift >Über das Priestertum< entwickelt, ist in mancherlei Hinsicht be-merkenswert. Sie nötigte die Herausgeber der >Bibliothek der Kirchenvä-ter< zu dem in eine Fußnote verpackten Eingeständnis, daß sie, obgleich inder patristischen Literatur keineswegs singulär, »in mancher BeziehungBedenken (erregt) und sich mit der Pflicht unbedingter Wahrhaftigkeitkaum vereinbaren (läßt)«. 14 Noch bemerkenswerter ist, daß Chrysostomussein Loblied auf die bewundernswerte List nicht, wie bereits vor ihm Hie-ronymus und viele andere Kirchenväter, zur Verteidigung der »listig« han-delnden Frauen und Männer aus der Bibel, sondern zu seiner eigenenRechtfertigung anstimmt. Der junge Rechtsanwalt und begabte Rhetor warselbst in eine Zwangslage geraten, aus der er sich nicht anders als durch dieAnwendung einer List, die von einem seiner besten Freunde als heimtücki-

14 BKV27,111.

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sche Falle empfunden wurde, zu befreien wußte. Beide waren der damali-gen Praxis entsprechend per »acclamationem populi« zu Bischöfen gewähltworden und hatten sich gegenseitig ihr Wort verpfändet, die Bürde desAmtes gemeinsam zu tragen. Ob die Betonung der eigenen Unwürdigkeitauf seiten des Chrysostomus allein der üblichen rhetorischen Stilfigur oderauch aufrichtigem Empfinden entsprach, mag dahingestellt bleiben. 15 Je-denfalls erschien zum festgesetzten Zeitpunkt der Bischofskonsekrationnur der ahnungslose Basilius. Chrysostomus dagegen hielt sich versteckt,um auf diese Weise dem Bischofsamt zu entkommen, sei dies aus Rücksichtauf seine Mutter, die bereits Witwe war, sei es, weil er sich zum damaligenZeitpunkt noch nicht bereit fand, seine Karriere als Rechtsanwalt aufzuge-ben.

Auf die schweren Vorhaltungen, die Basilius ihm daraufhin gemacht ha-ben muß, antwortet Chrysostomus in einem literarischen Zwiegesprächmit dem getäuschten Freund. Darin vertritt er die These, daß die Anwen-dung einer List zur Erreichung eines guten Zwecks und bei entsprechenderAbsicht durchaus lobenswert sein könne. Sind diese beiden Bedingungen— objektiv begründeter Zweck und gute subjektive Absicht — erfüllt, so ver-diene eine listige Handlungsweise keineswegs als Täuschung oder Betrugbezeichnet zu werden, denn, so führt Chrysostomus mit entwaffnenderOffenheit aus: 16

»Eine rechtzeitige und in der richtigen Absicht vorgebrachte Täuschung hat so gro-

ßen Gewinn zur Folge, daß schon oftmals gar manche es büßen mußten, weil sie es an

einem listigen Vorgehen fehlen ließen.«

Die Geschichte kennt zahlreiche Beispiele von Feldherren, die Sieg undRuhm allein aufgrund ihrer List errangen, wodurch sie die geschlagenenFeinde obendrein dem Spott der Nachwelt aussetzen. Auch die Ärzte ver-danken bisweilen ihren Erfolg weniger der Heilkunst als vielmehr dem Ge-schick, mit dem sie die Gedanken ihrer Patienten von der Beschäftigungmit der Krankheit abzulenken verstehen. Schließlich versteigt sich Chry-sostomus gar zu der Behauptung, daß List und kluge Berechnung nicht nurin manchen Grenzsituationen, sondern in allen Lebensbereichen das Ver-halten der Menschen untereinander bestimmen:''

15 Vgl. dazu die Einführung von A.-M. Malingrey, in: De sacerdotio, (SC 272) 19-22.

16 De sacerdotto 1 6, 17-19: »Toadirrov yap g)(El Kipöog EiiKatpog dur(trl Kai p.ETeX

670« ytvo!..tivri ötavoiag 1X Ön i1 7ZCXpEKp01360(VTO KUi Ö1KT1V ÖOÜVCIl

TroXXxicKtg«, (SC 272) 90; Deutsche Übersetzung zit. nach (BKV 27) 111.

17 De sacerdotio 1 6, 50-55. Deutsche Übersetzung zit. nach (BKV 27) 112f.

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»Nicht nur im Kriege jedoch, auch in Friedenszeiten kann gar oft die Anwendungder List nicht umgangen werden, und dies wie bei den öffentlichen Angelegenheitendes Staates so im häuslichen Familienkreise. Der Mann bedient sich ihrer gegenüberder Frau, die Frau gegenüber dem Manne, der Vater gegenüber dem Sohne, derFreund gegenüber dem Freunde, ja sogar die Kinder gegenüber ihrem Vater.«

Wenn die Anwendung von List und Tücke aber zu den Grundformen dessozialen Alltags gehört, die selbst das Verhalten der Ehepartner zueinanderbestimmen, dann darf auch Basilius — so wird man die Argumentation desChrysostomus zu seiner eigenen Entlastung verstehen müssen — die Listseines Freundes nicht als einen böswilligen Vertrauensbruch werten. Diean sich völlig indifferente Anwendung einer listigen Handlungsweise, darinfaßt Chrysostomus das Ergebnis seiner Verteidigungsrede zusammen, wer-de wie bei Esau, Abraham, Mose und dem Apostel Paulus auch in seinemFall durch die gute Absicht und den erkennbaren Nutzen für die Kirchemehr als gerechtfertigt.

2. Die Lehre des Johannes Cassian

Nicht weniger pragmatisch klingen die Ratschläge, die der ägyptischeMönchsvater Josef in den Unterredungen des Johannes Cassian, gestorben430/35, zwei jungen Mönchen gibt, die sich vor Antritt ihrer Wüstenreisedem eigenen Abt gegenüber feierlich zur Rückkehr in ihr Heimatklosterverpflichtet hatten. Angesichts des größeren geistlichen Nutzens, den siedurch ein längeres Verweilen in der Einsamkeit der Wüste zu erlangen hof-fen, stehen sie nun vor dem Dilemma, daß die Treue zu dem einmal gege-benen Versprechen sie am eigenen spirituellen Fortschritt hindert und dieerzwungene Rückkehr in das syrische Klosterleben ihrem geistlichenWachstum gar ein abruptes Ende bereiten könnte. Wer als Kenner mona-stischer Literatur nun erwartet, der erfahrene Seelenführer würde seinenjugendlichen Besuchern den Wert geistiger Disziplin, regelmäßiger Übungund beharrlicher Treue erläutern, muß zu seinem Erstaunen feststellen, daßder alte Mönchsvater den Mut zur Korrektur einer einmal getroffenen Ent-scheidung noch höher stellt. Josef entkräftet jeden der fingierten Einwände,die ihm die jungen Mönche entgegenhalten, und bestärkt sie in dem, was sienur allzu gerne hören wollen: Daß sie um des zu erwartenden geistlichenWachstums willen den Schaden der Lüge oder eines nicht erfüllten Ver-sprechens: »mendacii vel non impletae promissionis dispendium«, auf sich

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nehmen sollten, da dieses einmalige Übel nicht andauere, während der ent-gangene geistige Gewinn ihnen für immer fehle."

Dieser im Blick auf eine konkrete Wahl gegebene Ratschlag wird an-schließend in eine allgemeine Theorie der geistlichen Entscheidungsfindungeingebettet. Johannes Cassian vertraut ganz auf das kluge Offenhalten ver-schiedener Optionen und warnt davor, sich den Weg zur größeren Voll-kommenheit durch die voreilige Festlegung auf eine einzige Wahlmöglich-keit zu verbauen. Ausschlaggebend für die Bewertung einer neu ins Blickfeldtretenden Handlungsalternative erscheint vor allem, ob sie geeignet ist, un-sere Absicht fester auf das Ziel des geistlichen Fortschritts hin zu richten.Erweist sich eine früher getroffene Festlegung dem als hinderlich, so kannihre Korrektur nicht als Bruch eines Gelöbnisses oder als Verletzung einesVersprechens gelten." Niemand ist nämlich an die »Fessel eines Verspre-chens«: »sacramenti vinculo«, gebunden, wenn dieses ihn daran hindert, dasZiel zu erreichen, um dessentwillen er es gegeben hat: seine eigene Voll-kommenheit.

Solange dieses Ziel beibehalten wird, schadet die Zurücknahme eines un-vorsichtigen Versprechens: »refragatio sponsionis incautae«, keineswegs. 20

Das Beispiel der Heiligen zeigt im Gegenteil — zuvor folgen wieder die be-kannten Hinweise auf die Esau-Jakob-Geschichte, auf die List der HureRahab und auf das Beispiel des Apostels Paulus, der sich zum Schein alsgesetzestreuer Jude ausgab —, daß eine frei angenommene List: »adfaectatiasimulatio«, oftmals größeren Nutzen bringt als die angeborene Liebe zurWahrheit: »ingenita veritas«. 21 Ebenso beweist die rhetorische Stilfigur, de-rer sich die alten Mönchsväter bedienten, um ihre eigenen Tugenden unterder Maske anderer zu verbergen, daß es besser sein kann, »unter der Deck-farbe einer solchen Figur zu lügen«: »rectius enim est sub talis figurae colore mentiri«, als an einer »unvernünftigen Beobachtung der Wahrheit«: »ob-

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servantia irrationabilis istius veritatis«, festzuhalten."Der Widerspruch zwischen Wahrheit und Lüge, der in der augustini-

schen Tradition mit dem kontradiktorischen Gegensatz zwischen Gut undBöse zusammenfällt, wird in dieser Theorie der geistlichen Entscheidungs-

18 Coilatio XVII 8, (SC 54) 255.

19 Ebd., 14, (SC 54) 259.

20 Ebd.

21 Ebd., 19, (SC 54) 262.

22 Ebd., 24, (SC 54) 272.

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findung in einen erstaunlichen Pragmatismus aufgelöst. An die Stelle dermoralischen Grunddifferenz, auf der die gesamte sittliche Ordnung beruht,tritt die Aufforderung zu einer stets neu zu leistenden Folgenabwägung,deren Ergebnis jederzeit wechseln kann. Konkret heißt dies: Wenn derVorteil, der uns aus der Bekundung der Wahrheit erwachsen würde, diedaraus entspringenden Nachteile nicht ausgleichen kann, ist eine »nützlicheund heilsame Verstellung«: »utilis ac salubris hypocrisis«, als das bessereMittel zur Erreichung unserer Handlungsziele gerechtfertigt."

Nur für den Bereich der beiden biblischen Hauptgebote und die Treuezur monastischen Berufung möchte Johannes Cassian diese pragmatischeHandlungsregel nicht gelten lassen. Was die Grundausrichtung des eigenenLebensentwurfes anbelangt, so bleibt der einfache Christ oder der Mönchentsprechend dem Wort des Herrn »euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein«nach Mt 5, 37 durch das Taufversprechen oder das »votum monasticum«gebunden» Unterhalb dieser Schwelle, in allen übrigen der Verwirklichungder eigenen Lebenspläne dienenden Entscheidungen, ist das moralischeUngleichgewicht zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Berechenbarkeitund List dagegen aufgehoben. Die List wird nicht nur in Ausnah-mesituationen zugestanden, sondern es ist nun generell zu prüfen, ob sienicht die bessere Lösung zur Erreichung unserer Handlungsziele darstellt.Das Offenhalten verschiedener Vorgehensweisen, das je neue Sich-Einstel-len auf wechselnde Situationen und die mangelnde Vorhersehbarkeit unse-rer Entschlüsse — alles Bestimmungen, die dem weiteren Listbegriff zuzu-rechnen wären — werden hier ausgesprochen positiv beurteilt, während dieGegenbegriffe Wahrheit, Versprechen und Festlegung: »definitio«, für einevorschnelle Einengung, mangelnde Flexibilität und ein eingeschränktes Re-aktionsvermögen stehen. Kurz: Während eine unverhoffte List stets denCharme des Neuen auf ihrer Seite hat, wird die Wahrheitssemantik ganzentgegen dem vorherrschenden Grundzug der theologischen Tradition mitvorschneller Einengung der Handlungsmöglichkeiten und einer gegen dielangfristigen Interessen des Handelnden gerichieten Korrekturunfähigkeitgleichgesetzt.

23 Ebd., 20, (SC 54) 266.

24 Ebd., 28-29, (SC 54) 281.

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3. »Locutio ambigua« und »reservatio mentalis« des 17. Jahrhunderts

Das nächste Beispiel führt in großem zeitlichen Sprung in eine historischeEpoche, der sich die Problematik von Wahrheit, List und Lüge in einembesonderen Kontext stellte. Die Diskussionen, die unter den katholischenMoraltheologen und Kirchenrechtlern des 17. Jahrhunderts um die »oratiomixta« und die »reservatio mentalis« geführt wurden, müssen vor demHintergrund der damaligen Gerichtspraxis und Strafverfolgung gewertetwerden. Ein Angeklagter konnte gezwungen werden, entweder einen Rei-nigungseid abzulegen oder sich selbst geheimer Vergehen anzuklagen, überdie keine Zeugenaussagen vorlagen. Ein Zeuge dagegen konnte zur Offen-legung dessen, was er als Geheimnis im Dienst als Beamter, Arzt oder Rat-geber erfahren hatte, gezwungen werden; ebenso mußte er über strafbareHandlungen von Blutsverwandten aussagen. Die Prozeßordnungen desfrühneuzeitlichen Justizwesens sahen zudem die Anwendung der Folter alsMittel der Geständniserpressung sowie grausame Körperstrafen im Falleder Verurteilung vor. Dagegen kannten sie noch keinerlei Schutzvorkeh-rungen zugunsten der Angeklagten. Insbesondere gab es noch kein Äqui-valent zu unserem heutigen Zeugnisverweigerungsrecht, so daß jedermanndamit rechnen mußte, durch eine unbedachte Aussage, die er als Zeugeoder Angeklagter vor Gericht machte, einen anderen Menschen oder sichselbst in Lebensgefahr zu bringen. Die damals überall in Europa regionalaufflackernden Hexenverfolgungen belegen zur Genüge, wie schnell hun-derte und tausende unschuldiger Menschen unter dem Anschein eines or-dentlichen Gerichtsverfahrens zu Tode kommen konnten.

Welcher Mittel darf sich ein Angeklagter oder vor Gericht zur Aussagegezwungener Zeuge in einer solchen Situation zur Bewahrung eines Ge-heimnisses oder zur Abwehr zudringlicher Fragen bedienen? Der >Cate-chismus Romanus< III 9 gestand mit den streng thomistischen Theologennur Schweigen und Gottvertrauen zu und erinnerte im übrigen daran, daßder Christ im Ernstfall auch zum Martyrium für die Wahrheit bereit seinmüsse. Andere Theologen gingen jedoch weiter und erlaubten neben deroffenen Zurückweisung indiskreter Fragen auch die »locutio ambigua« undden geheimen Gedankenvorbehalt, mit dem eine Antwort versehen wird,um den Fragenden in die Irre zu führen. Die Anhänger der Mentalrestrik-tion begründeten ihre Position durch eine Reihe sprachphilosophischerAnnahmen, die das Konzept eines einzigen, der menschlichen Rede vonNatur aus innewohnenden Sprachzweckes zu erweitern suchten. Dazu boten sich ihnen im wesentlichen zwei Wege an, indem sie entweder die inne-

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ren, zurückbehaltenen Gedanken des Sprechenden zur Wirklichkeit der

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Rede hinzuzählten oder dem Fragenden ein Recht auf die Wahrheit ab-sprachen. Nach der Theorie der »oratio mixta« ergibt sich die Wahrheitmenschlicher Rede aus ihrem hörbaren Teil und dem nur innerlich ge-formten Sprachlaut. Gemäß der auf den Völkerrechtler Hugo Grotius zu-rückgehenden Falsiloquium-Theorie ist die Falschaussage gegenüber einemunberechtigten Fragesteller als »locutio mere materialis« gerechtfertigt, dadieser kein Recht auf die Wahrheit hat und auch der Begriff der Lüge inso-fern gar nicht erfüllt ist."

4. Die »restrictio mentalis« bei Alphons von Liguori

Die kasuistische Behandlung der »restrictio mentalis« im Werk des Al-phons von Liguori, gestorben 1787, ist insofern von besonderem Interesse,als sie auf der Linie eines mittleren, gemäßigten Probabilismus das Weiter-wirken dieser Theorien über ihre durch Innozenz XI. im Jahr 1679 erfolgteVerurteilung hinaus bezeugen. 26 Mit einer Reihe zeitgenössischer Autorenunterscheidet Alphons den inneren Gedankenvorbehalt von der reinenAmphibolie, die sich die Mehrsinnigkeit der menschlichen Sprache zunutzemacht, um einen Fragesteller ohne materiale Falschaussage zu täuschen. 27

Die Theorie der Mentalreservation beruht dagegen auf dem Gedanken, daßder Redende einen Teil seiner Rede für sich zurückbehält, indem er eineninneren Vorbehalt anfügt, der für die Wahrheit seiner Aussage unerläßlich,aber dem Hörenden nicht ohne weiteres erkennbar ist. Als Beispiel wirdregelmäßig die Aussage »nescio« genannt, die mit dem gedanklichen Zusatz»pro te« versehen wird. Bei hartnäckigem Nachfragen wird empfohlen,ausdrücklich eine begangene Tat in Abrede zu stellen, dabei jedoch an et-was anderes zu denken, was man tatsächlich nicht begangen hat. Nur die»reservatio pure mentalis«, bei der unser Gedankenvorbehalt nach außen inkeiner Weise erkennbar ist, fällt Alphons zufolge unter die lehramtlicheVerurteilung der Kirche. Dagegen bleibt eine »reservatio late (non pure)

25 Vgl. dazu Gregor Müller, Die Wahrhaftigkeitspflicht und die Problematik der Lüge,

Freiburg 1962, 191-203.

26 Vgl. dazu Benjamin Nelson, Der Ursprung der Moderne, Frankfurt 1977, 165ff. undLouis Vereecke, Da Guglielmo d'Ockham a sant'Alfonso di Liguori. Saggi di storiadella teologia morale moderna 1300-1787, Milano 1990, 715-742.

27 Theologia moralis I, Kap. II, dubium IV; Nr. 151; Ed. Gaude I, 467.

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mentalis« grundsätzlich statthaft und in vielen Fällen zum Schutz eines Ge-heimnisses sogar moralisch geboten.

Unter dem Begriff der zulässigen »reservatio« ist eine listige Verstellungzu verstehen, durch die der Fragende — notfalls auch unter Eid — in einerWeise getäuscht wird, die er bei genügender Geistesgegenwart, Aufmerk-samkeit und Umsicht hätte durchschauen können. Dazu genügt es, daß derinnere Gedankenvorbehalt des Redenden nicht gänzlich im Geheimen ver-bleibt, sondern wenigstens grundsätzlich an irgendwelchen äußeren An-zeichen erkennbar sein könnte, auch wenn die List einer solchen Aussagenatürlich darauf abzielt, den Fragesteller in die Irre zu führen. Streng ge-nommen, so rechtfertigt Alphons diese für einen treuen Thomas-Schülerimmerhin erstaunliche Ansicht, täuschen auf diese Weise nicht wir den an-deren, sondern wir lassen aus begründetem Anlaß nur zu, daß er sich selbsttäuscht: »Ex iusta causa permittimus, ut ipse se decipiat.« 28 Ohne diesenAusweg gäbe es überhaupt kein sicheres und legitimes Mittel zum Schutzvon Geheimnissen mehr, was für die Aufrechterhaltung gelingendermenschlicher Kommunikation auf Dauer nicht weniger schädlich als dieZulassung der Lüge sein müßte. 29 Alphons beruft sich zur Rechtfertigungseiner Ansicht dabei ausdrücklich auf das Argument der menschlichen So-zialnatur und des natürlichen Sprachzweckes, mit dem Thomas die aus-nahmslose Verwerflichkeit der Lüge begründet hatte. Er versteht die be-grenzte Zulassung der Mentalreservation also nicht als Abweichen von derTradition, sondern als eine zeitgemäße Adaption der thomanischen These,wonach eine bewußte Falschaussage immer verboten, ein kluges Verbergender Wahrheit jedoch unter Umständen moralisch gerechtfertigt sein kann.

Die kasuistische Beurteilung forensischer Einzelsituationen zeigt, daßAlphons dabei recht großzügig verfahren kann. Gegenüber einer zudring-lich fragenden Privatperson oder einem seine Rechtsbefugnis überschrei-tenden Richter gesteht er die Falschaussage unter Meineid ohne weitereBedingung zu. Selbst in einer durch die Rechtsordnung gedeckten gericht-lichen Befragung sieht er einen unter Mentalreservation erfolgten Meineid,das sogenannte »iuramentum dolosum«, als erlaubt an, sofern der Ange-klagte dadurch schwerwiegenden Übeln wie der Todesstrafe, dem Kerker,der Verbannung oder der Konfiszierung seiner Güter entgehen kann. ZurBegründung heißt es lapidar: »lex humana non potest sub gravi obligare

28 Nr. 151; I 468.

29 Vgl. Nr. 153; 1 470.

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homines cum tanto onere.«" Die Zulassung einer listigen Verstellung, dieZuhilfenahme einer mehrdeutigen Aussage oder die Zuflucht zu einem in-neren Gedankenvorbehalt wollen also keineswegs einen grundsätzlichenZweifel gegenüber dem Anspruch der Wahrheit bestärken oder einem ge-nerellen Laxismus Vorschub leisten, wie es Pascal seinen Gegnern spätervorwerfen sollte. Die aus heutiger Sicht merkwürdigen Argumentations-figuren, die zur Rechtfertigung der List aufgeboten wurden, müssen viel-mehr als Ausdruck einer berechtigten Inschutznahme des einzelnen vordem Zugriff absolutistischer Willkür durch die Staatsgewalt verstandenwerden. Sie sind aus heutiger Sicht Vorläufer einer modernen Rechtskulturund stehen so für eine Humanisierungstendenz des Rechtes, nicht für einegrundsätzliche Skepsis gegenüber dem Anspruch der Wahrheit.

5. Moderne Autoren für die Rechtfertigung der List

In unserem Jahrhundert stellt sich die Frage nach der moralischen Erlaubt-heit von List und Lüge vor dem Hintergrund der nationalsozialistischenZwangsherrschaft mit besonderer Schärfe. Kann die Verteidigung desRechts gegenüber der Übermacht des Bösen eine Abweichung von derWahrheit legitimieren? In seinem während des Dritten Reiches geschriebe-nen und zunächst nur in einigen maschinenschriftlichen Kopien in Umlaufgebrachten Büchlein >Seid klug wie die Schlangen und einfältig wie dieTauben< beschreibt der katholische Theologe Matthias Laros eine konkreteSituation, in die damals jeder unversehens geraten konnte: 31

»Mein Freund ist von der Gestapo verhaftet und angeklagt, daß er ausländische Sen-der gehört habe. Ich werde als Zeuge vor Gericht geladen, weil von edlen Volksge-nossen bei der Anzeige gemeldet worden war, daß ich während des Abhörens dasZimmer betreten habe und der Apparat kurz nachher abgestellt wurde, so daß ichAugen- und Ohrenzeuge der verbotenen Handlung sei. Das trifft zu, und ich müßteunter normalen Umständen, wenn die Frage berechtigt, wäre, mit einem glatten jaantworten. Die Folge wäre, daß der Freund, gegen alles 'natürliche Recht, mit jahre-langem Zuchthaus bestraft und schließlich in ein Konzentrationslager verschlepptwürde. Ich kann, wie die Dinge liegen, keine ausweichende Antwort geben oder gardie Auskunft verweigern, ohne daß beides als Bejahung aufgefaßt würde, und dasSchicksal des Freundes wäre auch damit besiegelt.«

30 Vgl. Nr. 156; I 471.

31 Matthias Laros, Seid klug wie die Schlangen und einfältig wie die Tauben, Frankfurt

1951, 37.

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Die Antwort ist für Laros wie auch für andere Theologen dieser Zeit, MaxPribilla, Arthur Vermeersch, Karl Hörmann, nicht fraglich:"

»Wir können uns nicht denken, daß Gott beleidigt oder mein Verhältnis zu ihm tan-giert werde, wenn ich die Bösewichter durch falsche Auskunft irreführe. Ebensowe-nig ist es einsichtig, daß ich in meiner tiefsten Personenwürde dadurch verletzt wür-de, daß darin eine Selbstunterschreitung liege oder gar ein Zwiespalt in meine sittlich-religiöse Persönlichkeit komme. Im Gegenteil, ich fühle mich durch die Klugheit derSchlange den Bösewichtern überlegen und freue mich, dadurch dem Guten und demWillen Gottes dienen zu können. Ich empfände auch keinerlei Beschämung, wenndas Gegenteil meiner Aussage aufgedeckt würde; denn ich habe von meinem gutenRecht, dem Zugriff der Häscher mich zu entziehen, nach Möglichkeit Gebrauch ge-macht und würde nur bedauern, daß es nicht gelungen ist, besser zu täuschen.«

Unter den moraltheologischen Autoren der Gegenwart, die sich in ähnli-cher Weise geäußert haben, finden sich verschiedene Begründungen für dieRechtfertigung der List, die sich allerdings nur in Nuancen unterschei-den." Manche leiten das Recht zur listigen Täuschung der Gestapo auseiner Analogie zur legitimen Selbstverteidigung in Notwehrsituationen her,andere betonen den Gesamtkontext menschlicher Rede, die ihren wahrenSinn nicht allein aus dem gesprochenen Wortlaut erhält, sondern erst ausden konkreten Umständen — wir würden heute sagen: der gesamten Sprach-handlung — unter denen ein Gespräch zustande kommt. Neben dem Mate-rialobjekt, dem Widerspruch zwischen Denken und Sprechen, und demFormalobjekt, der Absicht zu täuschen, rechnen sie eine dritte Bedingungzum Begriff der Lüge: die Verletzung des Rechtes auf Wahrheit. Wenn derFragende kein Recht auf die Wahrheit hat, weil seine Frage nur dazu dient,Glaube und Vertrauen unter den Menschen zu zerstören, dann ist der Sinnder menschlichen Sprache bereits so tiefgreifend zerstört, daß die not-wendigen Voraussetzungen zur Definition der Lüge gar nicht mehr gege-ben sind. Der Fragende hat überhaupt kein Recht, daß ihm die Wahrheitgesagt wird, vielmehr verdient er die Täuschung, nicht nur um seiner selbstwillen, sondern auch im Interesse der öffentlichen Ordnung, die auf dieGlaubwürdigkeit der Menschen und die Verläßlichkeit ihrer Sprache ge-gründet ist. List und Täuschung können in solchen Grenzsituationen nichtnur moralisch hingenommen, sondern zum Schutz der sittlichen Ordnungund zur Vermeidung des Unrechtes sogar geboten sein. Kurz: 34

32 Ebd., 57.

33 Vgl. dazu Gregor Müller, Die Wahrhaftigkeitspflicht, (wie Anm. 25) 217 -229.

34 Matthias Laros, (wie Anm. 31) 75; vgl. auch 58f.; 82.

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»Brutaler Gewalt und rechtlosem Terror kann nur mit der überlegenen Klugheit derSchlange begegnet werden, die im Notfall nicht nur sticht und einen bedrohlichenSchädling unschuldig macht, sondern ihn auch bewußt täuscht und irreführt.«

Schlußbemerkung

Die dargestellten Beispiele aus verschiedenen Epochen der Kirchenge-schichte zeigen, daß die theologische Tradition in solchen Grenzsituationenauch zu einer überraschend positiven Bewertung von List und Lüge fähigwar. Am Ende verzichtet sie sogar auf alle Winkelzüge, die der Theorie vonder »reservatio mentalis« im 17. Jahrhundert noch anhaften, und erklärt diebewußte Falschaussage und listige Täuschung zu einem legitimen Mittel derGeheimhaltung, sofern man sich selbst oder andere nur so vor Terror undVerfolgung bewahren kann. Allen diesen Beispielen ist jedoch gemeinsam,daß es sich jeweils um äußerste Notfälle handelt, in denen man sich nichtanders vor extremer Ungerechtigkeit schützen kann. Die sittliche Ordnungist gewissermaßen durch das bestehende Unrecht schon so tiefgreifend ver-letzt, daß die Zuflucht zu List und Lüge den Charakter der Notwehr an-nimmt, weil eine auf Wahrheit und Transparenz gegründete Kommunika-tion ohnehin nicht mehr möglich ist. Die Beschränkung auf solche Ex-tremfälle, die man in Analogie zu einem juristischen Sprachgebrauch als ei-ne Art übergesetzlicher Notstandssituationen bezeichnen könnte, machtaber auch deutlich, wo die Grenze einer solchen positiven Bewertung vonList und Lüge durch die theologische Tradition liegt.

In äußersten Grenzfällen zur Wahrung des Rechtes vorbehaltlos bejaht,in einer gewissen Grauzone des privaten Lebens nicht gänzlich verboten,sollen List und Lüge doch keineswegs die reguläre Alltagskommunikationder Menschen bestimmen. Als alternative Grammatik sozialen Handelns,die der Wahrheitspflicht gleichrangig zur Seite gestellt wäre und einen Um-gang der Menschen miteinander begründete, in dem jeder von vornhereindamit rechnet, durch das Raffinement des anderen getäuscht zu sein, wirddie List gerade nicht ins Spiel gebracht. Vielmehr steht menschliche Kom--munikation unter dem Anspruch der Wahrheit, dem sich alle Kommunika-tionsteilnehmer unterwerfen sollen. In den Rang einer Tugend, die derWahrhaftigkeit gleichgestellt wäre, kann die List vor diesem Hintergrundnicht aufrücken.

Das widerspräche einem Grundzug der europäischen Metaphysik, fürdie Sein, Wirklichkeit, Transparenz und Wahrheit im letzten austauschbareBestimmungen für das Sein im ganzen sind. Das widerspräche auch der op-

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timistischen Annahme einer langen Tradition philosophischer Anthropo-logie, die von der Wahrheitsfähigkeit des menschlichen Geistes überzeugtist und deshalb im Streben nach Wahrheit den letzten Sinn menschlicherExistenz erkennt. Während List und strategisches Geschick im besten Fallindividuelle Trefflichkeiten bezeichnen, die den einen auf Kosten der ande-ren auszeichnen mögen, stellt die Wahrheit ebenso wie die moralischenIdeale der Freiheit und Gerechtigkeit ein Gut dar, das wir nur gemeinsambesitzen können, indem wir es den anderen mitteilen. In der Suche nachWahrheit erkennt die Theologie zusammen mit einer breiten Strömungphilosophischen Denkens den eigentlichen Sinn menschlicher Existenz, inihrem gemeinsamen Besitz die höchste Erfüllung des menschlichen Wesens:Die Anschauung Gottes ist nichts anderes als ein Verkosten der göttlichenWahrheit in Liebe und Freude. Diese spekulative Theologie der Wahrheitund ein ihr entspringendes Ethos der Wahrhaftigkeit setzen dem Versucheiner Aufwertung der List von vornherein enge Grenzen, auch wenn diesein der moraltheologischen Tradition von einzelnen Autoren für bestimmteAusnahmesituationen entsprechend der weiteren Definition ihres Begriffsals ethisch gerechtfertigt angesehen wird.

Die Tatsache dieser im ganzen eher reservierten Einstellung gegenüberder List, die sich bis in einzelne Strömungen der zeitgenössischen Moral-philosophie hinein verfolgen läßt," wirft natürlich die Frage auf, ob wir eshier mit einem Sonderweg des westlichen, unter dem Einfluß der griechi-schen Philosophie und des Christentum stehenden Kulturkreises zu tunhaben. Die zahlreichen Hinweise auf eine viel unbefangenere Würdigung,ja sogar auf eine ausgesprochene Bewunderung der List in der chinesischenEthik deuten in diese Richtung. Endgültig klären läßt sich eine solche Ver-mutung aber nur, wenn die soziale, politische und ethische Bewertung listi-gen Handelns in außereuropäischen Kulturen auch auf dem Hintergrundder jeweiligen Komplementär- oder Gegenbegriffe zu »List« und »Lüge«untersucht wird. Es wäre deshalb ein lohnendes Unterfangen, in den Mär-

35 Eine rein strategische Durchsetzung der eigenen Handlungsziele ist etwa für dieDiskursethik, dem derzeit einflußreichsten Paradigma der philosophischen Ethik,mit der Grundnorm vernunftgemäßen Argumentierens in einer offenen Kommuni-kationsgemeinschaft keineswegs vereinbar. Das Verbergen eigener Handlungszieleund der Einsatz von Überraschung, Manipulation und taktischer Berechnung be-stimmen zwar faktisch den Umgang der Menschen untereinander, sie sollen jedoch,damit moralische Normen unter den Bedingungen vernünftiger Geltung anerkanntwerden können, auf universale Transparenz und allgemeine Einsehbarkeit hinüberstiegen werden.

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chen, Weisheitserzählungen und philosophischen Texten anderer Kulturennach einem Äquivalent zu suchen, das der überragenden Bedeutung derWahrhaftigkeitspflicht bei uns entspricht und von dort aus nach der Stel-lung der List zu fragen.