Living Martha Stewart

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32 ENTDECKEN Vom Traum zum Beruf DIE HERRIN DER HUTE In ihrer Berliner Atelierwohnung geht NELE SCHREINER einer kleinen, feinen Arbeit nach: Sie fertigt Kopfbedeckungen nach Maß an. Zu Besuch bei einer der wenigen Modistinnen, die es hierzulande gibt. Festlicher Fascinator mit Blumendekor oder sportliche Strohkappe: Beim Kopfputz sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt.

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Hutmacher Nele Fotos Bettina von Kameke

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ENTDECKENVom Traum zum Beruf

DIE HERRIN DER

HUTEIn ihrer Berliner Atelierwohnung

geht NELE SCHREINER einer kleinen, feinen Arbeit nach:

Sie fertigt Kopfbedeckungennach Maß an. Zu Besuch bei

einer der wenigen Modistinnen, die es hierzulande gibt.

Festlicher Fascinator mit Blumendekor

oder sportliche Strohkappe: Beim Kopfputz sind der

Fantasie keine Grenzen gesetzt.

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HUTE

E s gibt Tage, da führt eine Schlange von dem hellen gelben Eckhaus in der Schönfließerstraße bis hin zur nächsten Kreuzung. Geduldig stehen die Men-schen an für etwas, das man in Berlin tatsächlich nicht an jeder Ecke be-

kommt: frisches selbst gebackenes Brot, hausgemachte Croissants, Schrippen und Kuchen. Dass in demselben Gebäude, durch das seit 1906 der süße Duft der Bäcke-rei Siebert zieht, noch eine weitere Seltenheit herge-stellt wird, verrät nicht einmal das Namensschild. Man muss schon wissen, wo man klingelt, wenn man zur Hutmacherin möchte.

Nele Schreiner, die hier am obersten und bürger-lichsten Zipfel des Szeneviertels Prenzlauer Berg zu-sammen mit ihrem eineinhalbjährigen Sohn Eddie und ihrem Lebensgefährten Pierre wohnt, hat einen Raum des hellen Altbau-Apartments zum Atelier umfunktio-niert. Hier lagern in Schachteln gestapelt ihre Schätze. Und hier werden sie auch angefertigt: Kopfbedeckun-gen jeder Façon. Sportliche Samtkappen, sommerliche Strohhüte, förmliche Filzchapeaus, verspielte Haar-schleifen, verführerisch wippende Fascinators … Die 30-jährige Wahlberlinerin ist Hutmacherin. Offizielle Berufsbezeichnung: Modistin.

„Das Tolle an meinem Job ist, dass man direkt am Objekt modelliert und sofort ein Ergebnis sieht“, sagt Nele Schreiner. „Anders als bei einer Schneiderin, die erst einmal verschiedene Schnittteile zusammenfügen muss.“ Eine weitere Besonderheit des Hutmachens: die Vielzahl an Möglichkeiten und Materialien. „Beim Putz sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt“, sagt Nele. „Man kann alles zum Dekorieren verwenden: Blumen, Federn, Perlen, Spitze …“

Mindestens genauso vielseitig ist auch Nele Schrei-ners Portfolio an Aufträgen. Sie arbeitet mit drei Bou-tiquen zusammen, ist halbtags für die Berliner Opern-werkstätten im Einsatz und führt mit Designerkollegin Sandra Maier das gemeinsame Accessoirelabel NCA, dessen Hüte, Haarbänder und Ketten über den eigenen Onlineshop vertrieben werden. Als Roland Emmerich in Babelsberg 2010 den Kostümfilm „Anonymous“ drehte, war die Modistin am Set. Und Jazzmusiker Roger Cicero trägt auf dem Foto eines Tourplakats

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Oben: Fast fertig: Nele Schreiner ver-stärkt den Rand einer Kappe mit einer Gim-pe (Ripsband). Unten: Kopfkollektion: Für jede Hutform gibt es eine eigene Vorlage aus Holz, nach der modelliert wird.

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einen Hut, an dem Nele Schreiner ihren ersten Seiden-einfass, eine spezielle Randverarbeitung, nähte. Damals war sie noch in Berlin in der Ausbildung bei Fiona Bennett, Deutschlands bekanntester Modistin.

Weil sie lieber mit ihren Händen arbeiten wollte, brach sie mit 21 Jahren ihr Theaterwissenschafts- und Kunstgeschichtsstudium in Mainz/Wiesbaden ab, überlegte, recherchierte und kam schließlich auf den Beruf der Modistin. Klein, fein, kreativ, der perfekte Job. Mit nur einem Haken. Denn die Branche der Hut-macher ist mindestens genauso klein und fein wie das Produkt, was sie herstellen. „Als ich mich bei der Wiesbadener Handwerkskammer nach einem Ausbil-dungsplatz erkundigen wollte, haben sie mich ausge-lacht und wieder nach Hause geschickt“, erinnert sich Nele Schreiner. Doch sie ließ nicht locker. Es folgte: tagelanges Herumgooglen, Branchenbuch-Wälzen und Telefonieren kreuz und quer durch Deutschland und die Schweiz. Gesucht? Ein Modisten-Atelier, das aus-bildet. „Am Ende hatte ich acht Läden auf meiner Liste“, sagt sie. Es wurde Berlin, die deutsche Mode-hauptstadt. Nur eineinhalb Monate, nachdem sie die Universität abgebrochen hatte, saß Nele Schreiner in Fiona Bennetts Ladengeschäft in der Großen Hambur-ger Straße und arbeitete an ihrem ersten Kopfschmuck.

Dass Hüte nicht nur für besondere Anlässe oder als Wetterschutz gedacht sind, sondern etwas für jeden Tag, müssen wir erst wieder lernen. Unter Modefans sind aktuell vor allem Klassiker wie Fedora, Borsalino oder Trilby gefragt. Ein schöner Trend, aber: „Man muss Huttragen üben“, sagt Nele Schreiner. „Es darf nicht aufgesetzt aussehen, sondern muss selbstver-ständlich sein.“ Bis in die Fünfzigerjahre hinein war es das auch. Da gehörte der Hut zu einem anständigen Erscheinungsbild dazu. Doch mit dem Aufstieg des Automobils begann der Niedergang der Kopfbede-ckungen. Welche Dame von Welt konnte mit ihrem Putz schon erhobenen Hauptes in die Tiefen eines „Borgward Isabella“ steigen? Hüte wurden unmodern. Und die ursprünglich drei Berufe des Hutgarnierers, Hutmachers und Putzmachers zu einem zusammenge-fasst, der seitdem alles macht: Form, Verarbeitung und Verzierung. Doch genau darin liegt auch der Reiz. Rou-tine? Gibt es nicht. Schließlich ist jedes Modell anders.

Und jedes Stück ein Einzelstück, das genau an die Kopfform und -proportionen des Kunden angepasst wird. „Ich sehe den Unterschied zu einem industriell gefertigen Hut sofort“, sagt die Expertin.

Gerade arbeitet sie an einem Fascinator, einem fest-lichen Minikopfschmuck, wie man ihn oft auf engli-schen Hochzeiten trägt. Sie steckt ein bordeauxrotes, glattes Stück Filz mit Nadeln auf einer hölzernen Kopf-form fest. Drückt ein nasses Tuch darauf und bringt den Filz mithilfe eines Bügeleisens in die gewünschte Form. Jetzt folgt der Filzstreifen der Rundung des Kopfes. Bis er dekoriert und fertiggestellt werden kann, muss der künftige Fascinator allerdings noch trocknen. In der Zwischenzeit widmet sich Nele Schreiner einem anderen Modell: einer Kappe, deren Kante sie innen mit einem Ripsband versäubert, das mit unsichtbaren Stichen angenäht wird. „Dieses Fut-terband wird vorher auf die Kopfgröße des Kunden eingestellt“, erklärt sie. „Es definiert die Hutgröße und garantiert den perfekten Sitz.“

Wer einmal gesehen hat, mit wie viel Fingerspitzen-gefühl so ein Stück entsteht, wird nur noch achsel-zuckend an den Fließbandmodellen in der Fußgänger-zone vorbeimarschieren. „Ein guter Hut ist ein Begleiter fürs Leben“, sagt Nele Schreiner. „Man muss ihn höchstens einmal auffrischen oder das Hutband austauchen.“ Und jedes Modell, von der Glocke bis zum Canotier, hat seine eigene hölzerne Vorlage zum Modellieren. Nur so kann man den Filz- oder Strohrohling in die gewünschte Form ziehen. Wie lange man an einem Hut sitzt? Hängt vom Modell ab. Eine schlichte Kappe ohne Putz kann in zwei Stunden gemacht sein, aber: „Ich habe während meiner Aus-bildung auch mal zwei Wochen lang nur damit zuge-bracht, Federn zu fixieren“, erinnert sie sich.

„Ich war schon recht blauäugig, als ich mich vor zweieinhalb Jahren selbstständig gemacht habe“, sagt die Modistin rückblickend. „Ich habe gar nicht groß überlegt, ob ich davon überhaupt leben kann. Ich habe es einfach gemacht.“ Gut so. Denn sie sorgt mit ihrer Arbeit dafür, dass eine Handwerkstradition, die bis in die griechische Antike zurückgeht, weiterlebt. Und in die Zukunft geführt wird. Auch, wenn sie selbst so gut wie nie Hut trägt. Aber das ist eine andere Geschichte.

1. Feinstarbeit: Mit Nadeln wird der künftige Fascinator an der Kopfform festgesteckt.

2. Schraubstock: Mit dem Huterweiterer kann ein fertiges Modell um bis zu 1,5 Größen gedehnt werden.

3. Bunte Mischung: Stroh- und Filzhüte warten auf ihren neuen Besitzer.

4. Ordnung: Näh-garn und Ripsband in einer von Nele Schreiners vielen Schubladen, die ihre Arbeitsutensilien beherbergen.

5. Herrin der Hüte: die Modistin in ihrem Berliner Atelier.

6. Maßarbeit: Mit diesem Hutmesser wird die Größe ermittelt.

7. „All my beautiful Friends“: Für ihre Kollektionsfotos standen Freun-dinnen Modell.

8. Hübschmacher: Mit Wasserdampf und Bürste wird ein Hut aufgefrischt.

9. Fundstücke: Tolle Hutschachteln entdeckt sie oft auf dem Flohmarkt.

Her mit dem Hut! Nele Schreiners aktuelle Kollektion können Sie unter nca-berlin.combewundern und be-stellen. Rote Kappe (8) ca. 125 Euro

MARTHA STEWART LIVING 02/14

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