Materialtheorie · 8.5.3 Adhäsiver Kontakt mit Elastomeren 141 Aufgaben 143 9 Granulare Medien 149...

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Technische Universität Berlin Polytechnische Universität Tomsk Materialtheorie Ein Vorlesungskurs im Rahmen des Double Degree Master-Programms in Engineering Science Valentin L. Popov, Jasminka Starcevic Tomsk, 2011

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Technische Universität Berlin

Polytechnische Universität Tomsk

Materialtheorie

Ein Vorlesungskurs im Rahmen des

Double Degree Master-Programms in Engineering Science

Valentin L. Popov, Jasminka Starcevic

Tomsk, 2011

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung 1

2 Plastische Deformation von Metallen 3

2.1 Kristallgitter 3

2.2 Zugproben plastisch deformierbarer Materialien 5

2.3 Theoretische Festigkeitsgrenze 5

2.3.1 Mechanische Abschätzung 6

2.3.2 Thermodynamische Abschätzung 6

3 Versetzungen 9

3.1 Versetzung als Grenze einer Schubzone: Der Burgersvektor 9 3.2 Stufen- und Schraubenversetzungen 10

3.2.1 Stufenversetzungen 10

3.2.2 Schraubenversetzungen 11

3.2.3 Der allgemeine Fall (gemischte Versetzungen) 12

3.3 Annihilation von Versetzungen 12

3.4 Die Peach-Köhler-Kraft 13

3.5 Die Linienspannung einer Versetzung 14

3.5.1 Spannungsfeld, Energie und Linienspannung einer Schraubenversetzung 14

3.5.2 Linienspannung einer Stufenversetzung 15

3.6 Versetzungsreaktionen 16

3.7 Wechselwirkungen von Versetzungen 16

3.7.1 Wechselwirkung von Schraubenversetzungen 16

3.7.2 Wechselwirkung von Stufenversetzungen 17

3.8 Skalare Versetzungsdichte 17

3.9 Biegung eines Versetzungssegmentes 18

3.10 Wie kommen Versetzungen in einen Kristall? 19

3.10.1 Der Frank-Read-Mechanismus: 19

3.11 Stapelfehler und Partialversetzungen 20

3.12 Messung und Abbildung von Versetzungen 21

3.12.1 Versetzungsmodelle 21

3.12.2 Ätz-Verfahren 22

3.12.3 Moiré-Effekt 23

3.12.4 Röntgen-Beugung 23

3.12.5 TEM (Transmissions-Elektronen-Mikroskopie) 24

3.12.6 Marker-Methode 24

3.12.7 Spannungsoptische Verfahren 25

3.12.8 Messung mobiler Versetzungen in Supraleitern 25

Aufgaben 26

4 Verfestigungsmechanismen 35

4.1 Übersicht 35

4.2 Punktdefekte, Fremdatome 35

4.3 Ausscheidungen 36

4.3.1 Starke Hindernisse 37

4.3.2 Schwache Hindernisse 37

4.4 Versetzungen anderer Gleitsysteme (Waldversetzungen) 38

iv Inhaltsverzeichnis

4.5 Weitreichende Spannungsfelder von Versetzungen 40

4.6 Gleichzeitige Wirkung von mehreren Verfestigungsmechanismen 40

4.7 Mikroplastische Deformation 40

4.8 Sprünge, Kinks und Jogs 41

4.9 Versetzungsklettern 42

4.10 Speicherung von Versetzungen 42

4.11 Speicherung von Versetzungen in einkristallinen Metallen 44 4.12 Verfestigung eines einkristallinen Metalls 45

4.13 Verfestigung eines polykristallinen Metalls 46

4.14 Vernichtung von Versetzungen 47

4.15 Verteilung von Versetzungen in Schubzonen; Spannungskonzentrationen 48

4.16 Skaleneffekte 50

4.17 Geschwindigkeitsabhängigkeit der plastischen Deformation und Kriechen 52

4.17.1 Logarithmisches Kriechen 52

4.17.2 Stationäres Kriechen 52

4.18 Superversetzungen in geordneten Mischkristallen 53

4.19 Superlegierungen 55

Aufgaben 56

5 Riss, Bruch und Ermüdung 59

5.1 Das Griffith-Bruchkriterium. 59

5.1.1 Sprödbruch 59

5.1.2 Effektive Oberflächenenergie, Bruchzähigkeit 60

5.1.3 Spannungskonzentration an einer Rissspitze 60

5.1.4 Anwendungen des Griffith-Kriteriums 61

5.1.5 Griffith-Kriterium für dünne Schichten und dünne Fasern 62 5.2 Spannungskonzentration in einer Probe mit einer Kerbe 62 5.3 Tieftemperaturversprödung (und andere Versprödungsarten) 63 5.4 Kinetische Theorie des Bruchs nach Zhurkov (1957) 64

5.5 Ermüdung 66

Aufgaben 69

6 Verbundwerkstoffe 75

6.1 Festigkeit-Sprödigkeit-Dilemma 75

6.2 Kraftfluss in faserverstärkten Verbundwerkstoffen 75 6.3 Bio- und Nanokomposite 75

6.3.1 Optimales Längenverhältnis 76

6.3.2 Optimales Volumenverhältnis 78

6.4 Thermozyklisches Kriechen 78

Aufgaben 81

7 Formgedächtnislegierungen 85

7.1 Deformation bei Phasentransformation 85

7.2 Phasenübergang 1. Art: Die Clausius-Clapeyron-Gleichung 85 7.3 Parameter des Phasenübergangs Austenit - Martensit 86

7.4 Mikrostrukturen bei verschiedenen Temperaturen 88

7.5 Effekte bei Formgedächtnislegierungen 89

7.5.1 Das Zwei-Phasenmodell 89

7.5.2 Pseudoelastizität 90

7.5.3 Pseudoplastizität 92

7.5.4 Formgedächtnis 92

7.5.5 Reaktive Spannungen 93

v Inhaltsverzeichnis

7.6 Modellierung von Formgedächtnislegierungen als Phasenübergang 2. Art 93

7.6.1 Phasenübergänge zweiter Art 93

7.6.2 Anteil der Martensitphase als Zustandsgröße 94

7.6.3 Das Modell für Formgedächtnislegierungen 95

7.7 Thermodynamische Eigenschaften 96

7.7.1 Innere Reibung 96

7.7.2 Bewegungsgleichungen 97

7.8 Analytische Untersuchungen des Modells 97

7.9 Typische thermomechanische Belastungsfälle 98

7.9.1 Maximale Phasendeformation 98

7.9.2 Beginn der Phasentransformation 99

7.9.3 Minimale Spannung, für die die maximale Deformation erreicht wird 99 7.9.4 Reaktive Spannungen 100

7.9.5 Berechnung eines Aktuators 101

7.10 Numerische Untersuchung des Modells 102

7.10.1 Pseudoelastizität ( )58T C= ° 102

7.10.2 Pseudoplastizität 103

7.10.3 Deformation aus der martensitischen Phase 103

7.10.4 Transformationsplastizität 103

7.10.5 Reaktive Spannungen 104

7.10.6 Anomaler Rückgang der Deformation 105

7.10.7 Zwei-Wege-Effekt 105

7. 11 Anwendungen von Formgedächtnislegierungen 106

7.11.1 Medizintechnik 106

7.11.2 Verbindungselemente 107

7.11.3 Sicherheitstechnik 108

7.11.4 Aktuatoren 109

8 Elastomere / Gummi 111

8.1 Einführung 111

8.2 Thermodynamische Effekte und Thermodynamik von Gummi 112 8.3 Statistische Theorie von Gummi 113

8.3.1 Diffusion auf kubischem Gitter 114

8.3.2 Entropie von langen Ketten 115

8.3.3 Ein- und zweiachsige Deformationen 116

8.3.4 Einachsige Deformationen 116

8.3.5 Zweiachsige Deformation 118

8.4 Viskoelastische Eigenschaften von Elastomeren 119

8.4.1 Spannungsrelaxation in Elastomeren 119

8.4.2 Komplexer, frequenzabhängiger Schubmodul 120

8.4.3 Eigenschaften des komplexen Moduls 121

8.4.4 Energiedissipation in einem viskoelastischen Material 122 8.4.5 Messung komplexer Module 123

8.4.6 Rheologische Modelle 124

8.4.7 Ein einfaches rheologisches Modell für Gummi („Standardmodell“) 126 8.4.8 Einfluss der Temperatur auf rheologische Eigenschaften 127 8.4.9 Masterkurven 128

8.4.10 Prony-Reihen 129

Aufgaben 132

8.5 Gummireibung und Kontaktmechanik von Gummi 135

8.5.1 Reibung zwischen einem Elastomer und einer starren rauen Oberfläche 135

vi Inhaltsverzeichnis

8.5.2 Rollwiderstand 139

8.5.3 Adhäsiver Kontakt mit Elastomeren 141

Aufgaben 143

9 Granulare Medien 149

9.1 Kontinuumsmechanik von granularen Medien und Struktur von Verwerfungen 149

Aufgaben 152

Weiterführende Literatur 153

1 Einleitung

Die Einsatzgebiete von Materialien sind mannigfaltig und fast unüberschaubar. Allein eine Aufzählung von Materialeigenschaften, die von Interesse für praktische Anwendungen sind, könnte mehrere Seiten einnehmen. Für praktische Anwendungen können thermodynamische, mechanische, chemische, optische, elektrische, magnetische, tribologische u.a. Eigenschaften oder eine Kombination von ihnen von Interesse sein. Dieses Buch beschränkt sich auf die Diskussion von mechanischen Eigenschaften von Werkstoffen. Aber auch diese sind auf viel-fältige Weise mit anderen Eigenschaften verbunden. Um ein Bild von diesen komplizierten Zusammenhängen zu geben, betrachten wir fünf Materialklassen, welche diese Zusammen-hänge illustrieren: (a) Metallische Stoffe, Legierungen und intermetallische Verbindungen, (b) Verbundwerkstoffe, (c) Formgedächtnislegierungen, (d) Elastomere und (e) granulare Medien. So werden die Funktionseigenschafen von Formgedächtnislegierungen durch ein Zu-sammenspiel von mechanischen und thermodynamischen Eigenschaften bestimmt. Dasselbe gilt auch für die Elastizität von Elastomeren. Die Diskussion der tribologischen Eigenschaften von Elastomeren gibt einen Einblick in den Zusammenhang zwischen Prozessen im Volumen eines Materials und seinen Oberflächeneigenschaften. Bei granularen Medien ist es genau umgekehrt: tribologische Wechselwirkungen bestimmen die makroskopischen Volumenei-genschaften.

Makroskopische Materialparameter werden durch ein ebenso kompliziertes Zusammenspiel von verschiedenen Skalen bestimmt – von der atomaren Skala über eine Hierarchie von mesoskopischen Skalen, welche mit der Struktur der Stoffe zusammenhängen, bis hin zur Skala des Körpers als Ganzem. Dieses Buch behandelt Strukturen und Phänomene der mesoskopischen Skala und versucht, von dieser Skala den Weg zur makroskopischen Ebene aufzuzeigen. In metallischen Legierungen ist es die Skala von Strukturen wie Versetzungen, Schubzonen, Stapelfehlern, Phasenausscheidungen oder Körnern bzw. die mesoskopische Struktur eines Verbundes. In Formgedächtnislegierungen gehen wir von der Phänomenologie des Wachstums und des Rückgangs der martensitischen Phase in einem mesoskopischen re-präsentativen Volumen aus. In Elastomeren beschäftigen wir uns mit der statistischen Physik und Thermodynamik von Polymermolekülen. Die kleinere, atomare Struktur bleibt dabei im-mer weitgehend außer Betracht, auch wenn Sie selbstverständlich die Grundlage der Phäno-mene auf der mesoskopischen Ebene bildet. Atomare Wechselwirkungen im Zusammenhang mit der Thermodynamik bestimmen die Art des Kristallgitters, die Konzentration und Stabili-tät der Punktdefekte oder der Phasenstruktur. Diese durchaus wichtige Strukturen und Prozes-se werden im Rahmen dieses Buches als gegebener empirischer Hintergrund betrachtet, auch wenn viele Fäden, die sich von der mikroskopischen Skala ziehen, mitverfolgt werden.

Der Aufbau des Buches ist wie folgt: Wir beginnen mit der Untersuchung metallischer Werkstoffe. Die Elastizität dieser Stoffe ist trivial und wird nicht betrachtet. Wir gehen daher gleich zur Untersuchung der plastischen Deformation und der Verfestigung über. Mechanis-men der plastischen Deformation von metallischen Stoffen sind aus zweifacher Hinsicht inte-ressant: zum einen als solche (zum Beispiel für die Umformung sowie andere Herstellungs-verfahren) und zum anderen im negativen Sinne, als ein Prozess, der verhindert werden muss. Metalle werden in der Regel durch das Abgleiten entlang Gleitebenen deformiert. Die Träger der plastischen Deformation sind dabei Versetzungen. Versetzungen werden in diesem Werk als innere Grenzen der Gleitzonen definiert und betrachtet – ein Zugang, der es viel einfacher macht, ihre Eigenschaften zu verstehen und diese in einen Zusammenhang mit Prozessen der plastischen Deformation zu bringen, als die übliche Definition von Versetzungen als topologi-sche Defekte im Kristallgitter. Der weitere Weg über Schubzonen, der als "elementarer Bau-stein" der Plastizität in Metallen betrachtet wird, führt auf natürliche Weise zum Bruch, wobei sowohl die Theorie von Griffith als auch die kinetische Theorie des Bruches von Zhurkov vorgestellt werden. Die Diskussion der Verfestigungsmechanismen führt letztendlich zum

2 1 Einleitung

Verständnis des "Festigkeits-Sprödigkeits-Dilemmas". Dieses zu lösen ist nur im Rahmen von Verbundwerkstoffen möglich. Das Thema Verbundwerkstoffe und insbesondere Nanokompo-site schließt diesen ersten Abschnitt ab. Danach wenden wir uns den Funktionseigenschaften von Formgedächtnislegierungen zu, die einen völlig anderen physikalischen Mechanismus der "plastischen" Deformation aufweisen. Die plastische Deformation geht in diesen Stoffen über Phasentransformationen und ist somit sehr eng mit ihrer Thermodynamik verbunden. An-schließend betrachten wir Elastomere, in denen selbst die Elastizität durch ihre Thermodyna-mik bestimmt wird (Entropieelastizität). Abschließend diskutieren wir kurz die Eigenschaften von granularen Medien.

2 Plastische Deformation von Metallen Ein großer Teil dieser Vorlesung beschäftigt sich mit der plastischen Deformation von Metal-len, Legierungen und intermetallischen Verbindungen, die entweder durch Gleiten (gewöhnli-che plastische Deformation) oder durch Phasentransformation (Formgedächtnislegierungen) verformt werden. In den meisten Fällen geht es um polykristalline und mehrphasige Materia-lien.

2.1 Kristallgitter

Um die plastische Deformation zu verstehen, schauen wir uns zunächst an, wie einfache Kris-talle aufgebaut sind. Die Atome sind auf periodisch wiederkehrenden Plätzen in einem sog. Kristallgitter verteilt. Eine sog. Einheitszelle wird dabei in alle drei Raumrichtungen perio-disch fortgesetzt und bildet so das gesamte Gitter. Allerdings müssen nicht alle Plätze eines Gitters besetzt sein. Wir wollen hier nur die vier wichtigsten Gitterformen ansprechen.

sc: Das einfachste Gitter, das wir später als anschauliches Modell benutzen wollen, ist das einfach kubische Gitter (single cubic, sc). Denkt man sich einen Würfel, so sind alle Ecken des Würfels mit Atomen besetzt. Da jeder Würfel 8 Ecken hat, ein Atom aber auch gleichzei-tig Verbindung zu 8 Würfeln hat, kommt im Mittel gerade 1 Atom auf einen Würfel. Ist der Abstand zwischen den Atomen a, so ist das mittlere Volumen pro Atom also a3.

bcc: Wenn man in den Würfel des einfach kubischen Gitters noch ein zentrales Atom ein-

fügt, erhält man das sog. kubisch raumzentriete Gitter (body centered cubic, bcc). Da hier zwei Atome pro Einheitszelle vorhanden sind, ist das Volumen pro Atom gerade 3 / 2a .

Abb. 2.1 bcc: Eine kubisch-raumzentrierte Kristallstruktur haben unter anderem: α-Eisen, Chrom, Molybdän, Niob, Rubidium, Tantal, Vanadium und Wolfram

Sehr viele Kristalle bilden sog. dichteste Packungen. Stellt man sich die Atome als starre Kugeln vor, so entspricht dieses Kristallgitter der Anordnung von Atomen, als wären diese Kugeln regelmäßig möglichst dicht gepackt. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten der Packung, die die Materialeigenschaften stark beeinflussen. Stellen wir uns eine Schicht mit Kugeln vor, dicht gepackt (A). Dies ergibt ein hexagonales Gitter. Darauf packen wir eine weitere Schicht (Abb. 2.2), die ebenfalls ein hexagonales Git-ter bildet (B). Für die nächste Schicht gibt es nun zwei Möglichkeiten: Die unterste Schicht ist gestrichelt dargestellt, die zweite mit durchgezogenen Linien):

4 2 Plastische Deformation von Metallen

A

B

Abb. 2.2 Zwei Schichten von dicht gepackten Kugeln; jede Schicht ist ein hexagonales Gitter.

fcc: Die dritte Schicht (C) wird so gelegt, dass eine Kugel sowohl über einer Lücke in der ersten wie auch der zweiten Schicht liegt. Die vierte Schicht wird dann wieder wie die erste (A) gelegt und so weiter (ABCABC…). Diese Anordnung hat ein Inversionszentrum, d.h. wenn wir eine Kugel aus der zweiten Schicht mit einer der ersten Schicht verbinden und die Verbindungslinie umkehren (Punktspiegelung), erreichen wir eine Kugel aus der dritten Schicht. (Wer das nicht sieht: Murmeln besorgen und ausprobieren, Marzipankugeln o.ä. ge-hen auch.) Wenn wir diese Anordnung auf ein Gitter, das aus Würfeln zusammengesetzt ist, abbilden, erhalten wir das sog. kubisch flächenzentrierte Gitter (face centered cubic, fcc). Wenn man auf diesen Würfel von seiner Diagonalen her sieht, so erkennt man die hexagona-len Lagen der Kugeln. Meist werden die Kugeln jedoch kleiner dargestellt, sodass sie sich nicht berühren, damit man vom Gitter noch etwas erkennt. Die drei hellroten Kugeln in der Abb. 2.3 liegen in einer, die drei dunkelroten Kugeln in einer zweiten hexagonalen Schicht.

Plastische Deformation heißt nun, dass atomare Ebenen aufeinander abgleiten (s.u.). An-schaulich ist klar, dass dies gerade die Ebenen sein werden, in denen die Atome in hexagona-ler Anordnung geschichtet sind. Dies sind in der Würfeldarstellung gerade die Ebenen, die senkrecht auf den Diagonalen des Würfels stehen (man spricht von der 111-Ebene), und da es aus Symmetriegründen vier davon gibt, sind es vier Gleitebenen im fcc-Kristall. In jeder Ebe-ne können die Atome in drei Richtungen verschoben werden (ein hexagonales Gitter hat sechs Richtungen, je zwei unterscheiden sich nur durch das Vorzeichen), daher gibt es 12 verschie-dene, aber äquivalente Gleitmöglichkeiten.

Abb. 2.3 fcc: Eine kubisch-flächenzentrierte Kristallstruktur haben bei Metallen z.B. Aluminium, Blei, γ-Eisen, Gold, Kupfer, Nickel, Platin, Silber.

hcp: Wenn die dritte Schicht Kugeln so gelegt wird, dass Kugeln über denen in der ersten Schicht liegen (ABAB…), ist das die zweite Möglichkeit der dichtesten Kugelpackung. Die-ses Gitter hat kein Inversionszentrum. In diesem System gibt es nur eine Ebene, in der einfa-ches Gleiten möglich ist (gegenüber den vier im fcc-System) mit wieder drei Richtungen, also hat dieses System nur drei Gleitmöglichkeiten. Diese Anordnung heißt hexagonal dichteste Packung (hexagonal closest packing, hcp).

2.3 Theoretische Festigkeitsgrenze 5

Abb. 2.4 hcp: Folgende Metalle kristallisieren in hexagonaler Kristallstruktur: Beryllium, Magnesium, Titan, Zirconium, Hafnium, Osmium, Yttrium, Zink, Cadmium, Thallium und diverse Lanthanoide.

2.2 Zugproben plastisch deformierbarer Materialien

Wenn an eine homogene zylindrische einkristalline Probe eine Zugspannung angelegt wird, so deformiert sich der Körper weder homogen, noch isotrop. Teile des Kristalls beginnen, sich gegenüber den anderen entlang den Gleitebenen zu verschieben, während Bereiche zwischen zwei aufeinanderfolgenden Gleitebenen unverändert bleiben. Die Gleitverschiebung kann et-wa 0,1 - 1 µm erreichen, der Abstand zwischen zwei Gleitebenen beträgt einige µm. Der gan-ze Gleitvorgang dauert größenordnungsmäßig 0,01 s oder weniger. Untersuchungen an vielen kristallinen Materialien haben gezeigt, dass die Gleitebenen immer diejenigen Flächen im Kristall sind, die die dichteste Packung aufweisen (s.o.).

Abb. 2.5 Abgleiten währen eines Zugversuches; Für das Abgleiten ist die in der Gleitebene wirksame Schubspannung entscheiden.

2.3 Theoretische Festigkeitsgrenze

Versuchen wir nun abzuschätzen, wie groß die Festigkeit von Kristallen ist. Das Gleiten fin-det erst dann statt, wenn die Spannung einen kritischen Wert überschreitet, der zwischen 10-5 G und 10-3 G liegt.

6 2 Plastische Deformation von Metallen

2.3.1 Mechanische Abschätzung

Betrachten wir zwei benachbarte Atomlagen im Kristall, Abb. 2.6. Um sie relativ zu einander zu bewegen, muss eine tangentiale Spannung τ angebracht werden.

a

b Abb. 2.6 Ein einfaches Modell zur mechanischen Abschätzung der theoretischen Festigkeit.

Diese Spannung muss periodisch mit der Periodenlänge b sein. Nehmen wir der Einfachheit halber eine harmonische Form an, so muss τ lauten:

2

( ) sinx

x Kb

πτ = . (2.1)

Makroskopisch ist die Spannung (lineare Elastizitätstheorie für kleine Deformationen) be-kanntlich:

x

G Ga

τ γ= = . (2.2)

Bei kleinen Verschiebungen x gilt andererseits für unsere angenommene periodische Span-nung:

2

2x a x

K Kb b a

πτ π=≃ . (2.3)

Aus dem Vergleich beider Ansätze folgt: / 2K Gb aπ= . Die maximale Spannung, die der

Kristall aushalten kann (wenn der Sinus zu 1 wird), ist also max 2

bK G

π= = . Für das hexa-

gonale Gitter (wie oben gezeigt) ist / 2 / 3 1,15b a = ≈ , somit ergibt sich für die theoretische Festigkeit:

max

10,18

3K G Gτ

π= = ≈ . (2.4)

Im dreidimensionalen Fall ergibt sich ein etwas anderes Ergebnis, aber schon diese einfache Abschätzung zeigt, dass die theoretische Festigkeitsgrenze mehrere Größenordnungen über der gemessenen Festigkeit realer Kristalle liegt.

2.3.2 Thermodynamische Abschätzung

Große lokale Spannungen können nicht nur zum Gleiten, sondern auch zum spannungsbe-dingten "Schmelzen" führen.

t

t

Abb. 2.7 Ein einfaches Modell zur thermodynamischen Abschätzung der theoretischen Festigkeit.

2.3 Theoretische Festigkeitsgrenze 7

Damit dieser Prozess spontan stattfinden kann, muss die Energieverminderung durch das Ver-schwinden elastischer Energie gleich der Energievergrößerung durch Schmelzen sein:

2

2q

G

τρ = , (2.5)

wobei q die spezifische Schmelzwärme, τ die Tangentialspannung, ρ die Dichte und G der Schubmodul ist. Für die kritische Schubspannung ergibt sich:

max 2Gqτ ρ= (2.6)

Mit den Werten 52,7 10 /q J kg= ⋅ , 37,8 10ρ = ⋅ 3/kg m , 980 10G Pa= ⋅ ergibt sich für Eisen

11max 2 0,18 10 0.23Gq Pa Gτ ρ= = ⋅ ≈ (2.7)

Auch mit dieser Abschätzungsmethode kommen wir auf ca. 1/5 des Schubmoduls als theore-tische Festigkeitsgrenze. Reale Fließgrenzen aller Werkstoffe betragen meist nur einen Bruch-teil der theoretischen Festigkeitsgrenze. Die Ursache hierfür liegt in der (falschen) Annahme, dass sich in der mechanischen Abschätzung alle Atome einer Ebene gleichzeitig verschieben. Dies ist aber nicht der Fall. Es bilden sich Defekte aus lokalen Verschiebungen. (Verglichen z.B. mit einem Teppich, den man als Ganzes nicht über eine Ebene ziehen kann, wohl aber dadurch, dass man eine „lokale“ Falte bildet und diese dann fortbewegt.) Diese Defekte, die die Träger der plastischen Deformation sind, nennt man Versetzungen

3 Versetzungen In Abb. 3.1 wird die Bildung und die Bewegung einer Versetzung (sog. Stufenversetzung) ge-zeigt. Deren Bewegung von einer Seite des Kristalls zur anderen führt zur Verschiebung des Bereichs oberhalb der Gleitebene gegenüber dem unterhalb der Gleitebene um eine Gitterpe-riode.

Abb. 3.1 Bildung einer Stufenversetzung durch Anlegen einer Scherspannung

Der Begriff der Versetzung wurde zum ersten Mal zur Beschreibung der Phänomene in kris-tallinen Materialien von Taylor sowie unabhängig von ihm von Orowan und Polyani 1934 angewandt. In diesem Fall geht es um die sogenannte Stufenversetzung. Man kann sich vor-stellen, dass eine Stufenversetzung durch Schneiden des Kristalls entlang einer Halbebene und Hinzufügen einer atomaren zusätzlichen Halbebene erzeugt wird. Daher besteht das übli-che Symbol für die Stufenversetzungen aus zwei Strichen, wobei der horizontale Strich die Gleitebene und der vertikale Strich die extra Halbebene bezeichnet .

3.1 Versetzung als Grenze einer Schubzone: Der Burgersvektor

Eine andere Definition einer Versetzung hebt ihre unmittelbare Verbindung zwischen den Versetzungen und dem plastische Gleiten hervor. Ein Kristallgitter hat folgende offensichtli-che Eigenschaft: Wenn wir einen Teilbereich des Kristallgitters oberhalb einer möglichen Gleitebene gegenüber dem zweiten genau um eine Gitterperiode verschieben, so ändert sich der Zustand des Kristalls nicht.

Abb. 3.2 Verschiebung des Kristallgitters um eine Periode.

In einem makroskopisch großen Kristall sollte es möglich sein, diese Verschiebung in ei-nem begrenzten Gebiet der Gleitebene auszuführen, so dass nach der Verschiebung sowohl im Bereich, wo die Verschiebung stattgefunden hat, als auch im Bereich, wo keine stattgefun-den hat, das beinahe ideale Kristallgitter wiederhergestellt ist. Der verschobene Bereich wird von dem nicht verschobenen Bereich durch eine geschlossene Grenze getrennt, die wir als Versetzungslinie bezeichnen. Der verschobene Bereich pflanzt sich weiter fort, zusammen mit der Weiterbewegung dieser Grenze – die Versetzung bewegt sich dann.

10 3 Versetzungen

Abb. 3.3 Versetzungslinie begrenzt den verschobenen Bereich.

Offenbar ist eine Verschiebung, bei der innerhalb des verschobenen Gebietes keine Defekte zurückbleiben, nur gleich bestimmten Gitterperioden.

Dieser Verschiebungsvektor ist also diskret. Er heißt Burgersvektor der Versetzung. Aus der gegebenen Definition kann man sofort die wichtigsten Eigenschaften von Versetzungen herleiten:

• Der Burgersvektor der Versetzung bleibt entlang einer Versetzungslinie konstant. • Die Versetzungen sind linienhafte Objekte. • Sie können im Inneren eines Kristalls nicht enden. • Der Burgersvektor liegt immer in der Gleitebene einer Versetzung.

Bemerkung: Durch Wachstum (also nicht Gleiten) können auch Versetzungen entstehen, die diese Bedingungen nicht erfüllen.

3.2 Stufen- und Schraubenversetzungen

Eine Versetzung kann lokal immer durch drei Vektoren charakterisiert werden:

l�

: Der Linienvektor l�

(Einheitsvektor) zeigt immer in Richtung der Versetzungslinie. Man beachte, dass die Orientierung Konvention ist und willkürlich festgelegt werden kann.

b�

: Der Burgersvektor b�

gibt die Größe der Verschiebung an. Meist ist dies ein atomarer Abstand. Dieser Vektor hat also eine bestimmte Länge. Seine Orientierung ist an die von

l�

gebunden. m�

: Dieser Vektor ist der Normalen-(Einheits-)vektor der Gleitebene.

3.2.1 Stufenversetzungen

Mathematisch können wir den Burgersvektor einer Stufenversetzung folgendermaßen definie-ren (hier am Beispiel eines einfach kubischen Gitters): Wir starten an irgendeinem Punkt und machen einen Umlauf (den sog. Burgersumlauf) um die Versetzung. Der Linienrichtungsvektor läuft in die Darstellungsebene hinein, der Umlauf erfolgt also in Form einer Rechtsschraube (mathematisch positiv). Wir zählen ein Parallelo-gramm ab (hier 2x3), wobei wir uns an den Atomen als „Referenzpunkte“ orientieren. Im ide-alen Kristall, den wir immer als Referenz heranziehen, wäre ein Parallelogramm natürlich ge-schlossen.

l

b 3

3

22

3.2 Stufen- und Schraubenversetzungen 11

Abb. 3.4 Darstellung des Burgersumlaufs um eine Stufenversetzung.

Da eine Versetzung aber einen topologischen Defekt darstellt, ist der Umlauf hier nicht ge-schlossen. Den Unterschied bezeichnen wir als Burgersvektor. Hier ist er als Differenzvektor vom Ende des Umlaufs zum Anfang definiert. (Bemerkung: Es gibt andere Definitionen, dann ändert sich das Vorzeichen des Burgersvek-tors). Man beachte, dass die Definition des Burgersvektors an die Linienrichtung gekoppelt

ist: Jede Gleichung, die also neben dem Betrag b auch die Richtung b�

enthält, muss auch den

Linien-(Einheits-)Vektor l�

enthalten, wenn das Vorzeichen eine Rolle spielt! Für Stufenversetzungen ist erkennbar, dass der Burgersvektor in der Gleitebene liegt, und

der Normaleneinheitsvektor auf dieser Gleitebene ist gegeben durch b l

mb

×=� �

(er zeigt also

in Richtung der – anschaulich - eingeschobenen Ebene). Die „Herstellung“ einer Stufenver-setzung können wir uns so vorstellen, dass wir den Körper entlang der Gleitebene „aufschnei-den“ und die obere Hälfte bis zur Linie der Versetzung (= Schnittlinie = Ende des geschnitte-nen Bereichs) um einen atomaren Abstand nach rechts verschieben. Die Verschiebung erfolgt also senkrecht zur Schnittlinie (daher ist der Burgersvektor selbstverständlich auch senkrecht zum Linienrichtungsvektor).

3.2.2 Schraubenversetzungen

Für Schraubenversetzungen verschieben wir die Ufer des geschnittenen Bereichs parallel zur Schnittlinie. Die Atome der beiden Ufer kommen wieder zur Deckung, das funktioniert natür-lich in der unmittelbaren Nachbarschaft der Versetzungslinie nicht, da hier ja wieder ein topo-logischer Defekt entsteht.

Abb. 3.5 Schematische Darstellung einer Schraubenversetzung.

Wieder können wir den sog. Burgersumlauf durchführen.

Abb. 3.6 Darstellung des Burgersumlaufs bei einer Schraubenversetzung.

12 3 Versetzungen

Wir erkennen, dass für Schraubenversetzungen Burgersvektor und Linienrichtungsvektor pa-rallel sind. Hier gibt es für den Burgersvektor zwei Möglichkeiten: parallel oder antiparallel zum Linienrichtungsvektor. Dies sind zwei unterschiedliche Varianten einer Schraubenver-setzung. Diese Unterscheidung wird für die Versetzungswechselwirkungen wichtig werden, denn gleichartige Schraubenversetzungen stoßen sich ab, ungleichartige ziehen sich an.

Man beachte, dass hier keine eindeutige Gleitebene existiert: Der Gleitebenen-

Normalenvektor m�

muss immer senkrecht zu b�

und l�

liegen, was in diesem Fall aber nicht eindeutig ist. Dadurch wird das sogenannte Quergleiten möglich (siehe Abb. 3.7). So kann es passieren, dass es in einer Kristallebene ein Teil-Versetzungselement gibt, das nicht geschlos-sen ist.

Abb. 3.7 Quergleiten einer Schraubenversetzung

3.2.3 Der allgemeine Fall (gemischte Versetzungen)

Eine Versetzung grenzt einen Bereich der Gleitebene, wo bereits eine Verschiebung gesche-hen ist, von einem unverschobenen Bereich ab. Somit ist es klar, dass der Burgersvektor einer Versetzung entlang ihrer Linie konstant bleibt. Der Tangentialvektor der Versetzung (der Li-nienrichtungsvektor l

) dagegen kann sich ändern. Dadurch ändert sich aber auch der Winkel zwischen dem Linien- und dem Burgersvektor entlang einer Versetzung und damit auch der Typ der Versetzung vom Stufen- zum Schraubencharakter oder umgekehrt. Im Allgemeinen haben wir es mit "gemischten" Versetzungen zu tun. Oft gibt es allerdings bevorzugte Rich-tungen, in denen die Versetzungslinien orientiert sind, wie im Bild einer Versetzungsstruktur in einer intermetallischen Verbindung 3Ni Al .

Abb. 3.8 Versetzungsstruktur in 3Ni Al

3.3 Annihilation von Versetzungen

Treffen zwei Versetzungen in der gleichen Gleitebene aufeinander, und sind ihre Burgersvek-toren betragsmäßig gleich, aber antiparallel, so können diese sich gegenseitig vernichten. Dies

3.4 Die Peach-Köhler-Kraft 13

gilt nur bei gleichem Linienrichtungsvektor. (Abb. 3.9 a): die beiden Stufenversetzungen sind gleich, lediglich die zusätzlich hineingeschobenen Ebenen sind entgegengesetzt. Genauso vernichten sich zwei Versetzungen mit gleichem Burgersvektor und antiparallelen Linienrich-

tungen. (Abb. 3.9 b): Beide Areale wurden mit der gleichen Verschiebung b�

erzeugt, bei glei-chem Umlaufssinn sind die sich nahekommenden Linien aber entgegengesetzt orientiert. Also können sich die Versetzungen dort gegenseitig vernichten. Anschaulich werden die beiden

verschobenen Gebiete einfach verbunden, indem der Zwischenraum nun ebenfalls um b�

ver-schoben wird.

verschoben verschobenverschoben

Versetzungslinie Versetzungslinie

nicht verschobennicht verschoben

b)

a)

Abb. 3.9 Annihilation von Versetzungen

3.4 Die Peach-Köhler-Kraft

Versetzungen können durch den Kristall laufen. Dafür ist aber eine treibende Kraft nötig. Diese entsteht, wenn von außen ein Spannungsfeld aufgebracht wird. Allerdings laufen die Versetzungen nicht sofort los, sie müssen erst eine Art „Haftreibung“ überwinden, d.h. die Schubspannung muss erst einen Wert fτ überwinden.

B

H

Abb. 3.10 Wandern der Versetzung nach Anlegen einer ausreichend größeren Spannung.

Wie groß ist nun die auf eine Versetzungslinie wirkende Kraft? Im Modellkristall mit der Hö-he H, der Breite B und der Dicke d wird eine Stufenversetzung mit der Länge l=d erzeugt. Diese wandert durch den Kristall. Das Bild zeigt nur schematisch, was passiert, in Wirklich-keit ist dem ganzen Prozess noch eine elastische Deformation überlagert. Nehmen wir also an, dass wir eine große Scherspannung τ angelegt haben, bevor die Versetzung anfängt zu laufen. Eine Erhöhung der Spannung führt nun zum Laufen der Versetzung bis zum Ende des Kris-talls. Die zusätzlich erforderliche Scherdeformation zur Erhöhung der Spannung wurde dadurch abgebaut, da nun ja nur die ursprüngliche Deformation vorhanden ist (im Bild ist die-se abgezogen, daher ist am Anfang und am Ende gar keine elastische Deformation zu sehen). Wir können nun die Kraft auf die Versetzung berechnen. denn zum einen haben wir Arbeit verrichtet, um die zusätzliche elastische Deformation hervorzurufen, andererseits wird gerade

14 3 Versetzungen

diese Arbeit verwendet, um die Versetzung von links nach rechts laufen zu lassen. Es gilt also folgende Gleichung, wenn wir noch annehmen, dass die Spannung τ annähernd konstant bleibt:

, also: L L

bW V BHD f DB f b

Hτγ τ τ= = = = . (3.1)

Dabei ist V das Volumen, γ die zusätzlich aufgebrachte Scherdeformation und Lf die Kraft

auf die Versetzung pro Längeneinheit! Lf DB ist also gerade die Arbeit der Versetzung bei

konstanter Kraft. Die Kraft Lf bτ= ist die sogenannte Peach-Köhler-Kraft und beschreibt die Kraft auf eine

Einheitslänge einer Versetzung, wenn am Ort der Versetzung die Spannung τ beträgt. (Man beachte, dass dies nicht immer die Spannung sein muss, die von außen an der Kristall ange-legt wurde.) Eine genauere Betrachtung erfordert eine tensorielle Darstellung. Es ist anschaulich klar, dass die Peach-Köhler-Kraft immer senkrecht zur Versetzungslinie gerichtet sein muss. Der vektorielle Ausdruck für die Peach-Köhler-Kraft ist

( )Lf l bσ= × ⋅� � �

, (3.2)

wobei σ der volle Spannungstensor am Ort der Versetzung ist. Durch das Kreuzprodukt ist sichergestellt, dass die Kraft immer senkrecht zur Versetzungslinie wirkt.

3.5 Die Linienspannung einer Versetzung

Wie oben gesehen wirken elastische Spannungsfelder auf Versetzungen. Umgekehrt aber er-zeugen Versetzungen aufgrund ihrer Topologie auch Spannungsfelder im umgebenden Mate-rial. Mit einer Versetzung hängt also eine zusätzliche Energie zusammen, die proportional zur Länge der Versetzungslinie ist. Diese resultiert aus der Tatsache, dass sich die Atome in der Näher des topologischen Defekts „Versetzung“ nicht auf ihrer energetisch günstigsten Lage befinden, sondern eine höhere potentielle Energie besitzen. Bezieht man die Energie einer Versetzung auf eine Einheitslänge, so erhält man einheitenmä-ßig eine Kraft. Dies ist die sogenannte Linienspannung. Eine Verlängerung der Versetzungs-länge erfordert Arbeit, ähnlich dem Verlängern einer gespannten Saite. Daher ist die Linien-spannung gleich der Kraft, mit der eine Versetzungslinie "gespannt" ist.

3.5.1 Spannungsfeld, Energie und Linienspannung einer Schraubenversetzung

Für eine Schraubenversetzung können wir dieses Spannungsfeld nun abschätzen:

3.5 Die Linienspannung einer Versetzung 15

Abb. 3.11 Schematische Darstellung einer Schraubenversetzung.

Gegeben sei eine Schraubenversetzung mit dem Burgersvektor b . Wenn wir uns im ursprüng-lichen, nicht deformierten Kristall einen Kreisring mit dem Radius r merken und seine De-formation im Zustand mit der Schraubenversetzung verfolgen, so ist leicht zu sehen, dass dies reiner Schub ist. Der Schubwinkel ist

2

b

π= . (3.3)

Die Schubspannung ist daher gleich

2

GbG

rτ γ

π= = . (3.4)

r

bb

2 rp

Abb. 3.12 Darstellung der Deformation an einem Versetzungsring bei Schraubenversetzung.

Die Energiedichte (Energie pro Volumeneinheit) ist gleich 2 / 2Gγ , die gesamte Energie die-ser einen Versetzung daher:

1 1

0 0

2 2

22 4

R R

VolumenR REnergiedichte

G GbW L rdr L dr

r

γ ππ

= ⋅ =∫ ∫�����. (3.5)

Das Integrationsvolumen ist ein Zylinder (Radius R1), aus dem ein Kern (Radius R0) ausgelas-sen wird. Für die Energie pro Längeneinheit (Linienspannung) erhalten wir:

2

1 0ln( / )4L

W Gbw R R

L π= = . (3.6)

Das Ergebnis ist ganz ähnlich der Linienspannung für die Stufenversetzung (s.o.). Auch hier müssen wir wieder einen Kern mit dem Radius R0 (in der Größenordnung eines Burgersvek-tors) aus der Integration herausnehmen, da für kleinere Radien die Kontinuumsannahme nicht mehr funktioniert und wir atomar rechnen müssten.

Schlussfolgerung: Es ist energetisch vorteilhaft, Versetzungen mit kleinstem Burgersvektor zu erzeugen (da beispielsweise 2 2 2(2 )b b b> + ).

16 3 Versetzungen

Hinweis: Bewegt sich eine Schraubenversetzung mit der Geschwindigkeit v , so wächst ih-

re Linienenergie: 2 21 /L

v

ww

v c=

−, wobei c die transversale Schallgeschwindigkeit ist.

3.5.2 Linienspannung einer Stufenversetzung

Für eine Stufenversetzung gilt:

2

1

0

ln4 (1 )L

RW Gbw

L Rπ ν= ≈

−. (3.7)

Hier sind W: Versetzungsenergie, L: Referenzlänge, wL: Linienspannung, also Energie pro Versetzungslänge, G: Schubmodul, ν : Poisson-Zahl, b: Burgers-Vektor, 1R : charakteristische

Länge der Versetzung bzw. der Schubzone, 0R Radius des Versetzungskerns (dieser kann

meist gleich dem Burgersvektor angenommen werden). Setzt man hier Zahlwerte etwa für Kupfer ein ( 40G GPa= , 0,25b nm= , 1/ 3ν = , 0R b= , 8

1 10R m−= , erhält man: 91,8 10Lw N−≈ ⋅ .

Auf atomare Abstände bezogen (d.h. mit einem Burgersvektor als Referenzlänge multipli-ziert) ergibt sich eine Energie von: 194,5 10 2,8LW w b Nm eV−= ⋅ ≈ ⋅ ≈ . Die Einheit Elektro-

nenvolt ist recht häufig in der Literatur anzutreffen, da typische Versetzungsenergien auf ato-mare Längen bezogen in der Größenordnung 1 eV liegen.

3.6 Versetzungsreaktionen

Beim Zusammentreffen zweier Versetzungen mit den Burgersvektoren 1b�

und 2b�

kann sich

eine Versetzung mit dem Burgersvektor 3 1 2b b b= +� � �

bilden. Das passiert allerdings nur dann,

wenn dies energetisch vorteilhaft ist (s.o.), d.h. wenn 2 2 23 1 2b b b< + . Umgekehrt kann eine

Versetzung mit dem Burgersvektor 3 1 2b b b= +� � �

in zwei Versetzungen zerfallen. Dafür muss

die Bedingung 2 2 23 1 2b b b> + erfüllt sein. Solche Umwandlungen nennt man Versetzungsreak-

tionen. Versetzungsreaktionen sind auch zwischen Teilversetzungen (s.u.) möglich. Als Er-gebnis einer Reaktion können Versetzungen mit einem Burgersvektor entstehen, der keiner leichten Gleitebene im Gitter angehört. Dadurch entstehen nicht bewegliche, sogenannte Lo-mer-Cottrell-Versetzungen.

3.7 Wechselwirkungen von Versetzungen

Versetzungen erzeugen ein elastisches Spannungsfeld. Andererseits wirkt auf Versetzungen in einem Spannungsfeld die Peach-Köhler-Kraft. Daraus folgt, dass eine Versetzung auf eine andere über das elastische Spannungsfeld wechselwirkt und beide aufeinander Kräfte ausü-ben.

3.8 Skalare Versetzungsdichte 17

3.7.1 Wechselwirkung von Schraubenversetzungen

Zwei Schraubenversetzungen mit gleichen (parallelen) Burgersvektoren stoßen sich mit der Kraft pro Längeneinheit

2

2l

Gbf b

π= = (3.8)

ab, wobei wir hier für die Spannung das oben berechnete Spannungsfeld einer Schraubenver-setzung eingesetzt haben. Versetzungen mit entgegengesetzten (antiparallelen) Burgersvekto-ren ziehen sich mit der gleichen Kraft an. Das kann zur Annihilation führen.

3.7.2 Wechselwirkung von Stufenversetzungen

Für Stufenversetzungen ist es einfacher, die Kraft zwischen ihnen in einen radialen und einen Winkel-Anteil aufzuteilen. Zwei parallel gelagerte Stufenversetzungen (wobei sich eine im Koordinatenursprung befindet) mit den Burgersvektoren b1 und b2 wechselwirken mit der Kraft:

1 2 1 2 und sin 22 (1 ) 2 (1 )r

b b b bG Gf f

r rϕ ϕπ ν π ν

= =− −

. (3.9)

Die Projektion auf die Gleitebene ist gleich

1 2 cos cos22 (1 )x

b bGf

rϕ ϕ

π ν=

−. (3.10)

Sie wird Null für / 2ϕ π= und / 4ϕ π= . Für beide Winkel verschwindet die Kraft, die La-gen müssen aber nicht stabil sein.

Die erste Lage entspricht einem stabilen Gleichgewicht für gleichgerichtete Burgersvekto-ren (Abb. 3.13 a). Die Stufenversetzungen lagern sich bevorzugt übereinander an. Dies führt zur Bildung von Kleinwinkelkorngrenzen.

a) b) c) Abb. 3.13 Gleichgewichtslagen zweier Stufenversetzungen mit parallelen und antiparallelen Burgersvektoren.

Die zweite Lage ist stabil für antiparallele Burgersvektoren. Sie führt zur Bildung von Ver-setzungsdipolen (Abb. 3.13 b). Die Versetzungen lagern sich hier bevorzugt in 45°-Winkeln an. Versetzungsdipole sind nach außen hin „neutral“: Wenn man einen Burgersumlauf macht, der beide Versetzungslinien enthält, so ist das Ergeb-nis null. Dennoch erzeugen diese Dipole ein Spannungsfeld, das nach außen hin aber schnel-ler abfällt als das Spannungsfeld einer einzelnen Versetzung.

3.8 Skalare Versetzungsdichte

Um Versetzungen zu beschreiben, wird oft die skalare Versetzungsdichte als Gesamtlänge al-ler Versetzungen pro Volumen definiert:

18 3 Versetzungen

Gesamtlänge aller Versetzungen

Volumenρ = . (3.11)

Man beachte, dass die skalare Versetzungsdichte die Einheit 1/m2 hat. Für Versetzungen mit parallelen Linienrichtungen kann man sich diese Größe auch als Zahl der Versetzungen pro Fläche, die eine Testfläche senkrecht zur Linienrichtung durchstoßen, vorstellen. Die Gesamtlänge aller Versetzungen ist eine wichtige Größe, denn sie stellt eine thermody-namische Zustandsgröße dar. Das ist wichtig, denn der Vorgang der plastischen Deformation ist ein dynamischer Prozess, der weg- und zeitabhängig ist.

3.9 Biegung eines Versetzungssegmentes

Gibt es im Kristall ein Versetzungssegment, das an beiden Enden unbeweglich befestigt und einer Scherspannung τ in seiner Gleitebene ausgesetzt ist, so biegt es sich zu einem Bogen mit dem Radius R , da ja auf das Versetzungsstück die Peach-Köhler-Kraft wirkt.

2rR

Abb. 3.14 Versetzungssegment: unbelastet und gebogen nachdem es mit einer externe Kraft belastet wurde.

Durch diesen Prozess nimmt jedoch die Versetzungslänge zu, d.h. es muss Arbeit geleistet werden. Die Gleichgewichtsbedingung kann man am einfachsten an einer geschlossenen kreisförmigen Versetzungslinie mit dem Prinzip der virtuellen Arbeit berechnen.

R

dRf

f

Abb. 3.15 Deformation der Versetzungslinie nach der angelegten Spannung

Wir betrachten eine geschlossene Versetzungslinie. Bei geeigneter Spannung wirkt die Peach-Köhler-Kraft (pro Länge) immer radial nach außen. Wird der Radius von R auf R+dR vergrößert, so leistet die Kraft 2 2lF f R b Rπ τ π= = die Arbeit d 2 dW bR Rπτ= . Andererseits

wird die Versetzung ja verlängert, d.h. die Linienspannung leistet die Arbeit 2 dLdW w Rπ= − .

Nach dem Prinzip der virtuellen Arbeit ist das System im Gleichgewicht, wenn die Gesamtar-beit verschwindet, d.h. Lw R bτ= . Daraus folgt der Krümmungsradius der Versetzung:

LwR

bτ= . (3.12)

Wenn die Spannung steigt, so wird der Krümmungsradius kleiner (eine gerade Linie hat den Krümmungsradius „∞“). Wenn sich das Versetzungssegment also zu einem Bogen formt, wird der Krümmungsradius mit wachsender Spannung immer kleiner, bis schließlich R=r wird, d.h. der Krümmungsradius ist die Hälfte der ursprünglichen Versetzungslänge 2r. Steigt

3.10 Wie kommen Versetzungen in einen Kristall? 19

die Spannung noch etwas weiter an, so gibt es kein Gleichgewicht mehr: Der Radius wird wieder größer, die Spannung jedoch nicht. Das Segment wird instabil und expandiert sehr schnell (s.u.).

r

Abb. 3.16 Bildung eines instabilen Versetzungsbogens.

3.10 Wie kommen Versetzungen in einen Kristall?

(a) Kristalle wachsen mit Versetzungen (Illustration Abb. 3.17).

(b) Die durch Wachstum vorhandenen Versetzungen vermehren sich während der plastischen Deformation. Ein Mechanismus ist die sogenannte Frank-Read-Quelle (Frank and Read, 1950).

Abb. 3.17 Kristallwachstum infolge der Versetzungen.

3.10.1 Der Frank-Read-Mechanismus:

Wir betrachten noch einmal ein Versetzungssegment (Abb. 3.18), d.h. eine Versetzung wird an zwei Hindernissen festgehalten (1). Greift eine äußere Spannung an, so beult sich die Ver-setzung zwischen den Haltepunkten kreisbogenförmig aus (2 bis 4). Der Widerstand, den die Versetzung der Spannung entgegensetzt, steigt zunächst stetig an, da die Krümmung des Bo-gens zunimmt (also der Krümmungsradius abnimmt). Hat sie Halbkreisgestalt erreicht (4), wird sie instabil, da nun der Krümmungsradius wieder wächst - sie dehnt sich auch ohne zu-nehmende Spannung weiter aus (5 und 6). Dabei wickelt sie sich um die Verankerungspunkte herum, die hinten liegenden Segmente laufen aufeinander zu, bis sie sich treffen und annihi-lieren (7 bis 8). Das ursprüngliche Segment wird wiederhergestellt, und es bleibt ein Verset-zungsring um das Segment herum bestehen, der sich weiter ausdehnt. Anschließend kann der Prozess neu beginnen.

12

3

4

56

7

8

Fpl

s

20 3 Versetzungen

Abb. 3.18 Die durch zwei Punkte verankerte Versetzung wirkt als Quelle immer neuer Versetzungslinien.

Dieser Mechanismus wird als Frank-Read-Quelle bezeichnet. Die Spannung, bei der die In-stabilität einsetzt, wird als Orowanspannung bezeichnet. Sie ist gegeben durch:

c

Gb

lτ α= , (3.13)

wobei l der Abstand der Verankerungspunkte ist. α ist ein Zahlenfaktor, der vom Charakter der Versetzung und von ihrer Umgebung abhängt.

Abb. 3.19 Eine Frank-Read-Quelle in Silizium, mit Kupfer sichtbar gemacht (W. C. Dash, /. AppL Phys.,21: 1193A956).

Man erkennt deutlich die Vorzugsrichtungen im Kristall. Das Kreismodell ist also nur eine Näherung.

3.11 Stapelfehler und Partialversetzungen

Die kleinste Verschiebung einer atomaren Ebene in einem kubisch flächenzentrierten Gitter ist keine Periode des Gitters. Eine Periode bekommt man durch zwei solcher Verschiebungen

um Vektoren 2b�

und 3b�

. Wird eine atomare Ebene nur um den kleinsten Vektor 2b�

verscho-

ben, so entsteht eine „falsch gepackte“ Ebene: ein Defekt, den man Stapelfehler nennt. Wird nur ein Teil des Kristalls um diesen Vektor verschoben, bildet seine Grenze eine Partialver-setzung.

B B

B BB

B B

A

AA

CC

C

b1

b2b3

Abb. 3.20 Partialversetzung eines Teil des Kristalls

Am einfachsten kann man Bildung eines Stapelfehlers an einem zweidimensionalen Gitter verdeutlichen (Abb. 3.21):

3.12 Messung und Abbildung von Versetzungen 21

Abb. 3.21 Stapelfehler in einem Gitter

Von der zweiten zur dritten Ebene kommt es zu einem Stapelfehler. Die Grenze dieser Ver-schiebung ist eine Partialversetzung. Erst eine weitere Verschiebung der oberen beiden Ebe-nen um eine atomare Position nach rechts ergibt wieder das ursprüngliche Gitter, nun ist die Grenze eine echte Versetzung (Verschiebung um eine ganze Periode b).

Die Abb. 3.22 zeigt eine Molekulardynamische Simulation (Prof. S. Schmauder, Universi-tät Stuttgart): Eine volle Versetzung, bestehend aus zwei partiellen Versetzungen mit einem Stapelfehler dazwischen, umläuft einige Hindernisse.

Abb. 3.22 "Umlaufen" von 2 3Al O Ausscheidungen durch eine Versetzung, bestehend aus zwei partiellen Ver-

setzungen. Das Bild stellt die Ergebnisse einer molekulardynamischen Simulation dar (Prof. S. Schmauder, Uni-versität Stuttgart).

Die Breite des Stapelfehlers hängt von der jeweiligen Energie ab: Der Stapelfehler selbst hat eine Energie, die mit seiner Fläche wächst. Die volle Versetzung ohne Stapelfehler dazwi-schen kann jedoch eine sehr hohe Energie besitzen, sodass der energetisch günstigste Zustand (Energieminium) dadurch erreicht werden kann, dass die volle Versetzung etwas „auseinan-derläuft“.

3.12 Messung und Abbildung von Versetzungen

Zum Abschluss dieses Kapitels wollen wir einen Blick auf Methoden werfen, mit denen man Versetzungen messen und sichtbar machen kann. Meist basieren diese Verfahren darauf, dass

1. die atomaren Bindungsverhältnisse in der Umgebung einer Versetzung gestört sind, 2. die Versetzungen elastische Felder besitzen, 3. Versetzungen in bestimmten Materialien elektromagnetische Wechselwirkungen hervor-

rufen.

22 3 Versetzungen

3.12.1 Versetzungsmodelle

Die wesentlichen Eigenschaften von Versetzungen kann man an Modellen sehen, bei denen z.B. kleine Stahlkügelchen oder andere Objekte die Atome darstellen. 1947 haben Bragg und Nye ein Seifenblasenmodell vorgestellt, an dem man alle wesentlichen Eigenschaften von Kristallen erkennen kann, beispielsweise Punktdefekte (a), Korngrenzen (b) und Versetzun-gen (c und d).

a) b)

c) d)

Abb. 3.23 Seifenblasenmodelle von Defekten nach Bragg.1

3.12.2 Ätz-Verfahren

Wenn Versetzungslinien an der Oberfläche enden, sind die Atome in ihrer Umgebung schwä-cher gebunden als auf einer ungestörten Oberfläche. Dies macht man sich in folgendem Ver-fahren zunutze: Die Oberflächen werden geätzt. An ungestörten Oberflächen findet dabei konstanter Materialabtrag statt, an Versetzungsendpunkten hingegen werden Atome leichter entfernt, es entstehen kleine „Grübchen“.

Damit kann man sogar eine Versetzungswanderung beobachten, denn erneutes Ätzen, nachdem sich eine Versetzung fortbewegt hat, führt zu einem neuen Ätz-Grübchen an der neuen Position, wohingegen das Grübchen an der alten Position verflacht, da dort die Atome nun wieder gleichmäßig abgetragen werden (Versetzung B, Abb. 3.24 rechts, dreimaliges Ät-zen). Unbewegte Versetzungen erzeugen dagegen tiefere Grübchen (Versetzung A, Abb. 3.24 rechts).

1 Bragg, L. and Nye J.F. A dynamical model of a crystal structure. – Proc. Roy. Soc. of London, 1947, pp. 474-481. (Wiedergegeben in: R.P. Feynman, • Band II: Hauptsächlich Elektromagnetismus und Struktur der Materie. Deutsch von Marlis Mitter, Oldenbourg Verlag, München 1991, 3. Auflage 2001, ISBN 3486255894

3.12 Messung und Abbildung von Versetzungen 23

Abb. 3.24 Versetzungsbeobachtungen nach dem dreimaligem Ätzen eines Lithium-Fluorid-Crystals2

3.12.3 Moiré-Effekt

Der Moiré-Effekt entsteht bei der Überlagerung von periodischen Mustern. Die Überlagerung von zwei regelmäßigen Gittern führt zu Helligkeitsschwankungen mit einer Periode, die viel größer als sein kann als die der ursprünglichen Gitter. Da Versetzungen das umliegende Gitter deformieren, kann man diese Deformation quasi „vergrößern“, wenn man ein Gitter mit Ver-setzungen und ein ideales Gitter überlagert. In der Praxis funktioniert das z.B. mit den Metal-len Palladium und Gold (Abb. 3.25).

Abb. 3.25 TEM-Aufnahme eines Moiré-Gitters aus der Überlagerung von Palladium- und Gold-Layern zur Sichtbarmachung von Versetzungen in einem der Layer

3.12.4 Röntgen-Beugung

Wenn Röntgen-Strahlen auf Gitterebenen fallen, dann werden sie gestreut. Wenn die von ei-ner Ebene gestreuten Strahlen mit denen in Phase sind, die an parallelen Ebenen gestreut wer-den, tritt konstruktive Interferenz auf. Dazu müssen die Röntgen-Strahlen der Wellenlänge λ

unter einem bestimmten Winkel (Bragg-Winkel) auftreffen:sin , 1,2,...2Br n nd

λα = =

(d: Abstand der Gitterebenen). In Richtung dieses Winkels werden also Intensitätsmaxima erwartet. In der Umgebung von Versetzungen sind jedoch die Gitterebenen wegen der Span-nungsfelder der Versetzungen gestört, sodass hier die gemessenen Intensitäten in der Umge- 2 GILMAN and JOHNSTON (1957), Dislocations and Mechanical Properties of Crystals, p.116, Wiley.

24 3 Versetzungen

bung von Versetzungen abnehmen. Versetzungen erscheinen hier also als schwarze Linien (Abb. 3.26).

Abb. 3.26 Versetzungen in Silizium im Röntgen-Durchlicht (nach Lange, 1959). a und b korrespondieren mit unterschiedlichen Bragg-Reflexionen und zeigen Versetzungen verschiedener Gleitsysteme

3.12.5 TEM (Transmissions-Elektronen-Mikroskopie)

Ähnlich wie das Röntgen-Verfahren funktioniert das Transmissions-Elektronen-Mikroskop (TEM), wo Elektronen statt Röntgenstrahlen an den Gitterebenen gestreut werden. Man un-terscheidet zwei Methoden: bright field imaging (Hellfeld-Aufnahme) bedeutet, dass die un-ter Bragg-Reflexion durch den Kristall durchlaufenden Elektronen gemessen werden. Da die-se bevorzugt an Versetzungen gestreut werden, sind Versetzungslinien im Bild schwarz. Dark field imaging (Dunkelfeld-Aufnahme) bedeutet, dass nur der Bereich betrachtet wird, der idea-lerweise schwarz sein sollte. Werden Elektronen jedoch an Versetzungen in diesen Bereich gestreut, gibt es helle Linien (Bild ganz rechts).

Abb. 3.27 Links: Schematischer Aufbau eines TEM mit den beiden Feld-Methoden. Rechts: Versetzungen in einer Dunkelfeldaufnahme

3.12.6 Marker-Methode

Versetzungen sind zu klein, als dass man sie im optischen Mikroskop sehen könnte. Man kann aber ausnutzen, dass der Atomzusammenhang in der Umgebung einer Versetzung ge-stört ist: In bestimmten Situationen gelingt es, sog. Marker-Atome in den Kristall zu bringen,

3.12 Messung und Abbildung von Versetzungen 25

die bevorzugt in die Nähe von Versetzungslinien diffundieren. Im Bild rechts ist Silber be-nutzt worden, um Versetzungslinien in einer dünnen Scheibe eines KCl-Kristalls sichtbar zu machen. Ist die Marker-Konzentration hoch genug, kann man die Silber-Atome auch im opti-schen Mikroskop erkennen.

Abb. 3.28 Aufnahme eines dünnen KCl-Kristalls in einem optischen Mikroskop. Silberpartikel haben sich an den netzförmig verteilten Versetzungen angelagert. (Aus AMELINKX, Acta Metall.6,34,1958)

3.12.7 Spannungsoptische Verfahren

In einigen Kristallen tritt der sogenannte photoelastische Effekt auf: Die Polarisation von Licht wird durch elastische Spannungsfelder geändert. In Abb. 3.29 sind die Spannungsfelder von Stufenversetzungen unter zwei verschiedene Blickrichtungen (einmal 45° (a), einmal 0° (b)) zu erkennen.

Abb. 3.29 Spannungsoptische Aufnahme von Stufenversetzungen in Y3Al 5O12: links α=450, rechts α =00. Die Gleitebene liegt horizontal. Für α=450 ergibt sich eine vierblütige, für α=00 eine sechsblütige Rosette.

3.12.8 Messung mobiler Versetzungen in Supraleitern

In Supraleitern 2. Art gibt es einen Effekt, bei dem der magnetische Fluss (der bei diesen Sup-raleitern teilweise in das Material eindringen kann) von der Bewegung der Versetzungen be-einflusst wird. Misst man also den magnetischen Fluss, so kann man dadurch auf die Zahl der mobilen Versetzungen schließen. Im Gegensatz zu den oben genannten Methoden kann man dadurch zum einen nur die mobilen Versetzungen untersuchen, zum anderen gelingt hier die Messung von Versetzungen während der plastischen Deformation.

26 3 Versetzungen

In Abb. 3.30 ist zu erkennen, wie groß die Zahl der mobilen Versetzungen in verschiedenen Stadien der plastischen Deformation ist. Diese Stadien werden später noch genauer unter-sucht.

Abb. 3.30 Oben: typischer Spannungs- Dehnungsverlauf für einen Blei-5%-Indium-Kristall, bei 4,2 K mit einer Dehnungsrate von 10-4/K verformt. Die Spannung wurde entsprechend der dehnungsbedingten Querschnittsän-derung korrigiert. Unten: die beobachtete Änderung des Fließverhaltens als Funktion der plastischen Deformati-on. Die Änderung des Fließverhaltens wurde als Funktion der Dehnung mit der Variation der benutzten Deh-nungsrate korrigiert.

Gut zu erkennen ist, dass zunächst nur die vorhandenen Versetzungen gleiten, dann nimmt die Zahl der Versetzungen zu (Versetzungsmultiplikation), bis sie schließlich fast wieder konstant bleibt. Am Ende, kurz vor dem Bruch der Probe, wird die Zahl der Versetzungen wieder schlagartig kleiner. Man beachte, dass sich diese Kurve auf einen Einkristall bezieht, der ideal für Gleiten ausgerichtet wurde (d.h., es ist nur eine wesentliche Gleitebene vorhanden).

4 Verfestigungsmechanismen

4.1 Übersicht

Folgende Mechanismen behindern ein Versetzungsgleiten: 1. Knotenbildung (Vernetzungshärtung). Netzwerke von „verhakten“ Versetzungen machen

ein Material spröder, weil dadurch die Versetzungsbewegung gehemmt wird. Netzwerke werden vor allem bei der Bearbeitung eines Materials gebildet („work hardening“).

2. Korngrenzenhärtung. Beim Auftreffen einer wandernden Versetzung auf eine Grenze zwischen zwei gegeneinander missorientierten Kristallkörnern ist die Periodizität gestört, die ursprüngliche Gleitebene setzt sich nicht „nahtlos“ fort. Der Grad der Behinderung hängt von der Größe der Missorientierung ab.

3. Fremdatome - insbesondere mit deutlich unterschiedlicher Größe – stellen ein Hindernis beim Versetzungsgleiten dar. Dieser Effekt wird - durch das ein Fremdatom umgebende Spannungsfeld - noch verstärkt und kann zum Festhalten („pinning“) der Versetzung führen (Beispiel: Legieren von Cu mit Sn).

4. Dispersionshärtung. Größere dispergierte Teilchen stellen stärkere Hindernisse dar: Das Gleiten wird von nahe beieinander liegenden Teilchen behindert. Weitere Versetzungsringe werden erzeugt („Orowan“-Mechanismus).

5. Ausscheidungshärtung. Wandernde Versetzungen bleiben an ausgeschiedenen Partikeln (mit einer anderen Struktur) hängen. (Beispiel: Cu-Al: bei hohen Temperaturen feste Lösung, bei tiefen Temperaturen Ausscheidungen von Partikeln mit CuAl2-Strukur). Dieser Mechanismus ist natürlich in mehrphasigen Materialien besonders wirksam.

6. Legierungshärtung. In geordneten Legierungen führt eine einzelne Versetzung zu einer (energiereicheren) Antiphasendomäne. Erst eine zweite folgende Versetzung baut diese Domänengrenze wieder ab. Versetzungspaare sind aber weniger beweglich („Superversetzung“).

7. In mehrphasigen Systemen lassen sich gezielt Mikrostrukturen durch „Tailoring “ (= geeignete Temperatur-Zeitbehandlung) erzeugen, die durch die Phasenchemie, die Transformationskinetik, die atomaren Strukturen und die Größenverteilung der ausgeschiedenen Phasen bestimmt werden. Beispiel: „Stahl“ (Fe + C), in dem die Koexistenz einer Reihe struktureller Phasen (Austenit, Martensit, Ferrit, Zementit u.a.), mehr oder minder große Kohlenstoffausscheidungen, spezielle Gefüge („Martensit“-Gefüge) und innere Spannungen (und auch Zulegierungen) die Eigenschaften der jeweiligen Stahlsorte bestimmen.

8. Transformationshärtung. Viele Verbindungen durchlaufen Phasentransformationen. Eventuell koexistierende Phasen führen zu Mikrostrukturen, die eine Härtung bedingen.

Unabhängig vom Mechanismus ist bei vielen Verfestigungsvorgängen gleich, dass ver-

schiedene Defekte im idealen Kristall zusätzliche Spannungsfelder erzeugen, die von den Versetzungen überwunden werden müssen. Daher sind die kritischen Spannungen, die von verschiedenen Defekten erzeugt werden, von Interesse.

4.2 Punktdefekte, Fremdatome

Sitzt an einem Gitterplatz ein Fremdatom mit einem etwas größeren Radius als die Gitterato-me, so erzeugt es eine radiale Verschiebung ur. Betrachten wir eine Kugel mit dem Radius r

36 4 Verfestigungsmechanismen

um das Fremdatom. Durch dieses entsteht im Abstand r die radiale Verschiebung ur, sodass diese Kugel jetzt eine Volumenänderung erfährt

3 3 24 4( ) 4

3 3r rV r u r r uπ π π∆ = + − ≈ . (4.1)

Daraus folgt bei bekanntem Überschussvolumen V∆ die radiale Verschiebung: 24r

Vu

rπ∆= .

Die radiale Spannungskomponente ist

32 (1 )rr

E V

π ν∆= −+

. (4.2)

Ist die Konzentration der Fremdatome /n N V= , so kann der mittlere Radius zwischen ihnen als 1/31/ n abgeschätzt werden. Der mittlere Abstand zwischen einer gleitenden Versetzung

und einem Fremdatom ist ( )1/31/ 2l n≈ . Die auf die Versetzung wirkende Spannung hat also

die Größenordnung

f E Vnσ = ∆ . (4.3)

Sie ist umso größer, je größer die Konzentration der Fremdatome und das Extravolumen des Fremdatoms sind. Die Möglichkeit, die zum Gleiten einer Versetzung benötigte Spannung (und damit die Festigkeit) durch diesen Mechanismus zu erhöhen, ist jedoch begrenzt durch die thermodynamische Stabilität der festen Lösung (irgendwann erfolgt die Ausscheidung ei-ner zweiten Phase). Eine hohe Nichtgleichgewichtskonzentration kann z.B. durch Abschre-cken erreicht werden.

4.3 Ausscheidungen

Trifft eine Versetzung auf ein Hindernis, so kann sie es entweder schneiden (das ist z.B. der Fall bei kleinen kohärenten Ausscheidungen, Abb. 4.1a) oder es umlaufen (Abb. 4.1b).

a)

b) VersetzungVersetzungsringTeilchen

Abb. 4.1 Versetzungen und Hindernisse: a) Versetzungen schneiden die Teilchen unter Bildung einer Antipha-sengrenze oder von Versetzungspaaren; b) Versetzungen umgehen die Teilchen und hinterlassen dabei einen Versetzungsring (Orowan-Mechanismus).

4.3 Ausscheidungen 37

4.3.1 Starke Hindernisse

Wenn die Hindernisse nicht leicht durchschnitten werden können, z.B. weil ihre Gitterebenen nicht zu dem Gitter des Metalls passen (inkohärente Ausscheidungen), werden sie umlaufen.

Sind die Hindernisse klein, und beträgt der mittlere Abstand zwischen ihnen l (gemessen in der Gleitebene der Versetzung), so läuft die Versetzung um sie herum (einschließlich Annihi-lation von zusammentreffenden Teilen), wenn ihr Krümmungsradius von der Größenordnung

l wird. Dafür ist die Spannung 1 0ln( / )4

Lw GbR R

lb lτ

π= = erforderlich.

a

l

r

Abb. 4.2 Inkohärente Ausscheidungen

Sei nun r der mittlere Abstand zwischen den Ausscheidungen (im Volumen), a ihr Radius, 3n r−≈ ihre Konzentration und l wieder der Abstand zwischen den Ausscheidungen in einer

Gleitebene. Es ist leicht zu sehen1, dass 3 2

1a

r l≈ . Daraus folgt 3/2 1/2/l r a≈ . Für die Span-

nung, die zum Umlauf nötig ist, bekommen wir:

1/2 1/2 1/21/2 1/2

1 03/2ln( / )

4L L Lw w a w a n Gb

R R a nlb br b

τπ

= = ≈ ≈. (4.4)

Sie ist proportional zur Quadratwurzel aus der Konzentration der Ausscheidungen.

4.3.2 Schwache Hindernisse

Bei schwachen Hindernissen (z.B. kohärente Ausscheidungen, deren Gitterebenen mehr oder weniger gut zu denen des Ursprungsmaterials passen, oder auch andere Versetzungen) kann es sein, dass sie bereits bei einem Umlaufwinkel kleiner 180° durchschnitten werden. Die auf das Hindernis wirkende Kraft ist gleich ( )2 sin / 2F f ϕ= (Abb. 4.3).

F

f f

j/2j/2

j/2

l

R

1 Wir teilen das Volumen in Scheiben der Fläche A und der Dicke 2a einund zählen in jeder dieser Scheiben alle Hindernisse, de-

ren Mittelpunkt in dieser Scheibe liegt. Dadurch ist sichergestellt, dass alle Teilchen nur einmal gezählt werden. Die Dichte der Teil-

chen pro Fläche A ist ungefähr 1/l2, also liegen im Mittel A/ l2 Teilchen in einer Scheibe. Daraus folgt:2

3 3 2

/ 1 1

2

A l an

aA r r l≈ ≈ ⇒ ≈ . Da

dies alles nur Abschätzungen sind, können wir auf den Faktor ½ verzichten.

38 4 Verfestigungsmechanismen

Abb. 4.3 Kohärente Ausscheidungen

Daraus ergibt sich der kritische Winkel, bei welchem das Hindernis durchgeschnitten wird:

( )max 2 sin / 2cF f ϕ= .

Der mittlere Abstand zwischen zwei Hindernissen, auf denen ein Versetzungssegment hängt,

ist gleich ( )1/32l SR= (nach Labusch), wobei S die mittlere Fläche pro Stopper ist (bei Ver-

setzungen ist dies 21/S lρ≈ ≈ ).

j/2

R

h

l

l

Abb. 4.4 Modellvorstellung für die Berechnung der Spannung, die zur Erzeugung des gebogenen Versetzungs-segments, erforderlich ist

Dies kann man so sehen: In Abb. 4.4 ist die Fläche pro Stopper etwa l2. Die effektive Fläche ist jedoch in etwa so groß, wie die Fläche des gebogenen Versetzungssegmentes oberhalb der gestrichelten Linie. Diese kann sich nicht zu einem Halbkreis ausbilden, da vorher schon

Hindernisse durchschnitten wurden. Diese Fläche ist abzuschätzen: 1

2S hl≈ . Dabei ergibt

sich h zu:2 2

2 für .2 8

l lh R R l R

R

= − − ≈

≪ Also ist ( )

31/3

2 216

lS l SR

R≈ ⇒ ≈ , was bis

auf den Faktor 2 der Beziehung von Labusch entspricht. Wenn das Versetzungssegment bis

zum kritischen Winkel gebogen ist, so kann man aus sin2 2

c l

R

ϕ = zusammen mit der La-

busch-Beziehung den kritischen Radius berechnen (hier unter der Annahme, dass die schwa-chen Hindernisse Versetzungen sind, die durchschnitten werden):

3/2 1/2 3/21 2sin 2 sin

2 2c c

cR S

ϕ ϕρ≈ ≈ .

Die zur Erzeugung dieser Krümmung erforderliche Spannung ist gleich:

3/2 1/21 0 1 0ln( / ) ln( / )sin

4 2 2cL

c c

w Gb GbR R R R

R b R

ϕτ ρπ π

= = =

. (4.5)

Dies schreibt man in der allgemeinen Form:

1/2Gbτ α ρ= . (4.6)

Hier ergibt unsere Abschätzung: 3/21 0

1ln( / )sin

2 2cR R

ϕαπ

=

.

4.4 Versetzungen anderer Gleitsysteme (Waldversetzungen) 39

4.4 Versetzungen anderer Gleitsysteme (Waldversetzungen)

Im Allgemeinen sind in einem metallischen Kristall bereits nach einer geringen plastischen Deformation mehrere Gleitsysteme aktiv. Versetzungen eines „fremden“ Gleitsystems stellen für andere Versetzungen Hindernisse (sog. „Wald“-Versetzungen, englisch: forest disloca-tions) dar.

l

L

L

L Abb. 4.5 „Wald“-Versetzungen

Der mittlere Abstand zwischen den Wald-Versetzungen berechnet sich aus 2 2l N L= und 3/LN L ρ= ⇒ 1/2l ρ −≈ . Die „Umlaufspannung“ ist daher:

1/2

1/21 0ln( / )

4L Lw w Gb

R Rlb b

ρτ ρπ

= = =. (4.7)

Dies schreibt man wieder in der Form:

1/2Gbτ α ρ= , (4.8)

wobei 1 0ln( / )

4

R Rαπ

≈ . Da auch andere Beiträge zur Verfestigung diese Abhängigkeit den

Faktor 1/2ρ aufweisen (s.o.), betrachtet man α als einen phänomenologischen Koeffizienten, den man empirisch ermittelt. Seine Größenordnung kann aber auch analytisch abgeschätzt werden:

Für 61 10R m−≈ , 10

0 2,5 10R m−≈ ⋅ erhält man 0.66α ≈ , was tatsächlich ein typischer Wert

ist. Für schwache Hindernisse ergibt sich ungefähr ( ) 3/20.66(sin )cα ϕ≈ (siehe oben). In

Abb. 4.6 (Versetzungsdichte in Kupfer vs. kritische Spannung) erkennt man, dass dieser Zu-sammenhang auch gemessen wird (man beachte die doppelt-logarithmische Skala: Die Stei-gung ist 2, das bedeutet: 1/2ln 2 lnρ τ τ ρ⇒∼ ∼ ).

Abb. 4.6 Versetzungsdichte in Kupfer vs. kritische Spannung

40 4 Verfestigungsmechanismen

4.5 Weitreichende Spannungsfelder von Versetzungen

Eine Versetzung erzeugt im Abstand r von ihrer Achse ein Spannungsfeld der Größenord-

nung2

GbG

rτ γ

π= = . Auch wenn eine andere Versetzung so verläuft, dass sie die erste Verset-

zung nicht schneiden muss, muss dieses Spannungsfeld beim „Vorbeilaufen“ durch die äußere Spannung überwunden werden. Da der halbe Abstand r zwischen zwei Versetzungen von der Größenordnung 1/2 / 2ρ − ist, benötigt man dafür die Spannung

1/2Gbτ ρπ

≈ . (4.9)

. Auch dieser Beitrag hat die Form 1/2Gbτ α ρ= mit 0,3α ≈ .

4.6 Gleichzeitige Wirkung von mehreren Verfestigungsmechanismen

Man unterscheidet grob zwei Fälle: Kommen die Verfestigungsmechanismen von der glei-chen räumlichen Skala, und sind die Hindernisse von vergleichbarer Festigkeit, so summiert man "quadratisch". D.h. wären die kritischen Spannungen bei alleiniger Wirkung nur eines Mechanismus 1σ bzw. 2σ , so wird die kritische Spannungen nach der Regel

2 21 2cσ σ σ≈ + berechnet.

Abb. 4.7 Unterschiedlichen räumlichen Skalen der Verfestigungsmechanismen

Haben sie sehr unterschiedliche Festigkeit und/oder kommen sie von verschiedenen Skalen, so summiert man sie linear: 1 2cσ σ σ≈ + . Oft kann man schreiben: 1/2

F Gbτ τ α ρ= + .

4.7 Mikroplastische Deformation

Die bisher berechnete kritische Spannung war nur eine sehr grobe Abschätzung. In Wirklich-keit gibt es eine Verteilung von Abständen zwischen Hindernissen, weswegen eine bestimmte plastische Deformation auch schon vor dem Erreichen der „makroskopischen Fließgrenze“ stattfindet. Eine analytische Berechnung des quasistatischen Wanderns durch eine zufällige Verteilung von Hindernissen ergibt die folgende Abhängigkeit der „freien Weglänge“ einer Versetzung von der Spannung (Abb. 4.8). Dies zeigt, dass der Begriff der Fließgrenze selbst für Temperatur 0T = relativ ist.

4.8 Sprünge, Kinks und Jogs 41

Abb. 4.8 Freie Weglänge von Versetzungen bezogen auf den mittleren Abstand zwischen Hindernissen

4.8 Sprünge, Kinks und Jogs

Durch das „Schneiden“ einer Stufen- mit einer Schraubenversetzung entstehen zwei sog. jogs. Man erkennt, dass die Schraubenversetzung sich nun schlechter bewegen kann, weil sie den jog „mitschleppen“ muss, was eine höhere Energie erfordert.

bb

Abb. 4.9 „Jogs“

Für die Stufenversetzung ist der jog durch die Änderung der Gleitebene zu erkennen. Der Be-griff jog wird meist für Sprünge in Versetzungslinien in verschiedenen Gleitebenen benutzt. Es gibt auch Sprünge von Versetzungen innerhalb einer Gleitebene. Ideale Richtungen der Versetzungslinien sind z.B. echte Stufen- oder Schraubenversetzungen. Für eine gemischte Versetzung kann es nun günstiger zu sein, statt „schräg“ nun gerade, aber mit Sprüngen zu verlaufen, sodass die Versetzungslinie sich möglichst entlang am Kristallgitter orientiert. Die-se Sprünge heißen kinks. In Abb. 4.10 ist einer Stufenversetzung mit kinks der Länge L und Höhe a dargestellt, wobei das Stück der Länge a offensichtlich Stufencharakter hat.

L

a

b

l

y

x Abb. 4.10 „Kinks“

42 4 Verfestigungsmechanismen

4.9 Versetzungsklettern

Eine Stufenversetzung kann sich nicht senkrecht zu ihrer Gleitebene bewegen, ohne die Mas-seerhaltung zu verletzen. Durch Diffusion können sich aber Atome aus dem Zentrum der Ver-setzung wegbewegen (Abb. 4.11).

Abb. 4.11 Versetzungsklettern durch Diffusion

Die Versetzung bewegt sich an diesem Punkt um einen Atomabstand nach oben. Man nennt dies Versetzungsklettern. Wenn ein Atom zu der Versetzung hin diffundiert, klettert die Ver-setzung um einen Atomabstand nach unten. Die Versetzungslinie bekommt durch dieses eine Atom nun einen jog, da sich die Versetzung auf einer atomaren Breite in eine andere Gleit-ebene bewegt hat. Da Klettern mit Diffusion verknüpft ist, ist es thermisch aktiviert und spielt bei niedrigen Temperaturen kaum eine Rolle. Die Kletterrichtung ist zufällig an die atomare Diffusion gekoppelt, allerdings kann durch die Peach-Köhler-Kraft eine Vorzugsrichtung ent-stehen. Klettern ist ein Mechanismus, mit dem eine Versetzung von einer „gesperrten“ Gleitebene (z.B. mit einem Hindernis) auf eine andere, „leichte“ Gleitebene wechseln kann.

4.10 Speicherung von Versetzungen

Durch Vernetzung, gegenseitige Verhinderung und Beugung wird die Gesamtlänge von Ver-setzungen im Kristall größer. Dadurch steigt auch die Zahl der Hindernisse, und der Kristall verfestigt sich („work hardening“). Auf den ersten Blick scheint die Erzeugung von Verset-zungen ein sehr komplizierter Prozess zu sein. In Wirklichkeit gibt es einfache Zusammen-hänge, die ihn in vielen Fällen ausreichend gut beschreiben.

1

1

1 Abb. 4.12 Versetzungsring in einem Einheitsvolumen

Emittiert eine Frank-Read-Quelle einen Versetzungsring, so läuft die Versetzung nicht un-endlich. Im Kristall kann es feste Hindernisse geben, die nicht durchschnitten oder umlaufen werden können (z.B. Korngrenzen, andere Phasen u.ä.). Andererseits bekommt eine Verset-zung durch Schneiden von Versetzungen anderer Gleitsysteme Sprünge (jogs), die ihre Be-

4.10 Speicherung von Versetzungen 43

wegung abbremsen. Je größer der Weg ist, den die Versetzung zurückgelegt hat, desto mehr Sprünge hat sie. Diese bringen Sie schließlich zum Stehen. Ohne an dieser Stelle die Frage zu beantworten, durch welchen Mechanismus die Größe dieser sog. Schubzone bestimmt wird, nehmen wir ihre charakteristische Größe als D an und berechnen die Zuwachsrate der Verset-zungsdichte.

D

Quelle

Abb. 4.13 Schubzone einer Versetzung

Betrachten wir eine Schubzone in einem Würfel mit der Seitenlänge L. Durch Erzeugung eines Versetzungsringes ändert sich die Versetzungsdichte um 3/D Lρ π∆ ≈ . Die dabei statt-

gefundene plastische Deformation ist 2

34

D b

L

πε∆ ≈ .

Das Verhältnis von beiden ist:

4 F

Db Db

ρε

∆ ≈ =∆

. (4.10)

Hat man eine beliebige Verteilung von Versetzungen, rechnen wir kontinuierlich:

Abb. 4.14 Verteilung von Versetzungen

3

0

1( )2

R

n r rdrL

ρ π∆ = ∫ , (4.11)

wobei n(r) die Verteilung (Dichte) der Versetzungen entlang des Radius‘ ist. Die Summe (kontinuierlich das Integral) über alle Umfänge wird mit n(r) gewichtet. Für die plastische Deformation ergibt sich entsprechend:

23

0

1( )

R

b n r r drL

ε π∆ = ∫ , (4.12)

dies entspricht einer Summation (Integration) über alle verschobenen Flächen, die ja proporti-onal zur plastischen Deformation sind.

Wenn wir der Einfachheit halber annehmen, dass N Versetzungen gleichmäßig in der Schubzone D=2R verteilt sind, wird n(r)=N/R, und wird erhalten:

3 30

12

RN Nrdr R

L R Lρ π π∆ = =∫ und 2

3 30

1

3

RN N bRb r dr

L R Lε π π∆ = =∫ .

44 4 Verfestigungsmechanismen

Das Verhältnis ist nun: 3 6

bR bD

ρε

∆ = =∆

. Für andere Verteilungen n(r) ergibt sich allgemein:

d F

d bD

ρε

= (4.13)

mit einer dimensionslosen Konstanten 4,7 6F ≈ − .

4.11 Speicherung von Versetzungen in einkristallinen Metallen

Eine von einer Frank-Read-Quelle generierte Versetzung würde sich instabil unendlich weit bewegen, wenn nicht die Reibungskraft, die in Folge des Mitschleppens von Sprüngen ent-steht, mit dem zurückgelegten Weg steigen würde.

R

Abb. 4.15 Versetzungsbewegung unter Mitschleppen von Sprüngen, die durch Zwischengitteratome und Leer-stellen produziert werden.

Nehmen wir an, es gibt drei äquivalente, senkrecht zu einander stehende Gleitsysteme. Dann ist die Zahl der Sprünge, die auf einer Versetzung auf dem Weg r entstehen, gleich

213( )N r rπ ρ= . Davon ist die Hälfte 21

6( )iN r rπ ρ= Zwischengitteratome produzierenden

Sprünge, und 216( )vN r rπ ρ= Leerstellen produzierende Sprünge. Diese Sprünge werden bis

zum Radius R mitgeschleppt. Das heißt, von r bis R werden in jedem atomaren Schritt (hier b) im Mittel je Ni Leerstellen und Nv Zwischengitteratome mitgeschleppt. Der zurückgelegte Weg, gemessen in atomaren Einheiten, ist also (R-r)/b. Dazu wird die Energie

( ) ( )

( ) ( )

0 0

3

0

( ) ( ) 1 mit

3

( )

3 18

i vN R N R

i i v v i v

R

i v i v

R r R rE u dN u dN dN dN rdr

b b

R r Ru u rdr u u

b b

πρ

π πρ ρ

− −= + = =

−= + = +

∫ ∫

(4.14)

benötigt. Die Energien der Leerstellen und Zwischengitteratome uv und ui werden als konstant angenommen. Die auf demselben Wege durch die Spannung eingebrachte Energie ist:

2

0 0

2 2R R

LE f rdr b rdr R bπ τ π π τ= = =∫ ∫ . (4.15)

Die Versetzung wird gestoppt, wenn diese beiden Energien gleich sind. Dies passiert bei ei-nem Durchmesser:

( )236

2i v

bD R

u u

τρ

= =+

. (4.16)

4.12 Verfestigung eines einkristallinen Metalls 45

Unter Berücksichtigung von typischen Energien der Zwischengitteratome und Leerstellen (für

einfache kubisch flächenzentrierte Gitter): 30,1vu Gb≈ , 30,3iu Gb≈ ergibt sich: 90

DGb

τρ

= .

Das schreibt man in der Form:

B

DGb

τρ

= (4.17)

mit einem empirischen Koeffizienten B. Der empirisch richtige Koeffizient B ist in Wirklichkeit ca. 10 mal größer als berechnet und

liegt bei 800 bis 1000B ≈ . Das liegt daran, dass einige der Sprünge beweglich sind (kinks), andere Sprünge mit entgegengesetztem Vorzeichen annihilieren können. So entsteht eine Überschätzung der Reibungskraft um etwa eine Größenordnung. Die Größe D kann als Größe der Schubzone gedeutet werden.

4.12 Verfestigung eines einkristallinen Metalls

Wir nehmen nun an, dass zum einen die Gleichung für die Speicherung von Versetzungen

gilt: d F

d bD

ρε

≈ , zum anderen schreiben wir als typische Größe der Schubzone: B

DGb

τρ

= .

Weiterhin können wir die kritische Spannung abschätzen zu: 1/2Gbτ α ρ= . Daraus folgt:

1/2d F

d bB

ρ ρε α

= . (4.18)

Dies ist eine Differentialgleichung für die Funktion ( )ρ ε . Ihre Lösung lautet:

1/2 1/20 2

F

bBρ ρ ε

α= + . (4.19)

Für die Spannung ergibt sich mit 1/2Gbτ α ρ= :

0 2

GF

Bτ τ ε= + . (4.20)

Die Spannung steigt linear mit der Deformation.

Die Ableitung 2

d GF

d B

τε

Θ = = nennt man Verfestigungskoeffizient.

Für einfache kubisch flächenzentrierte Metalle (z.B. Cu, Au) ist 4

2 2 800 400

GF G G

BΘ ≈ ≈ ≈

⋅.

Man vergleiche das mit dem experimentellen Verfestigungsdiagramm. Dort ist 100MPaΘ ≈ ( 40G GPa≈ für Kupfer).

46 4 Verfestigungsmechanismen

Abb. 4.16 Verfestigungsdiagramm für Kupfer

4.13 Verfestigung eines polykristallinen Metalls

Im Fall polykristalliner Metalle wird die Versetzungsbewegung – bei nicht zu großen Verset-

zungsdichten – durch Korngrenzen beschränkt. Wieder können wir d F

d bD

ρε

= und

1/2Gbτ α ρ= benutzen. Die Größe der Schubzone ist jetzt jedoch konstant und entspricht der mittleren Korngröße. Dann erhält man:

0

F

bDρ ρ ε= + (4.21)

und für die Spannung ergibt sich:

1/2

1/20

FGb Gb

bDτ α ρ α ρ ε ≈ ≈ +

. (4.22)

Für kleine Anfangswerte der Versetzungsdichte gilt also:

1/2

FGb

bDτ α ε =

. (4.23)

Das ist das für viele polykristalline Metalle typische parabolische Stadium der Verfestigung. Bei gegebener Deformation ist die Spannung umgekehrt proportional zur Quadratwurzel aus der Korngröße: 1/2Dτ −∝ .

4.14 Vernichtung von Versetzungen 47

Abb. 4.17 Beispiele für die Abhängigkeiten der Spannung von der Korngröße für verschiedene Kupferlegierun-gen (legiert mit Ni, Ge, Zn, Al in verschiedenen Konzentrationen).

4.14 Vernichtung von Versetzungen

Versetzungen mit verschiedenen Vorzeichen ziehen sich an und bilden Dipole, wenn sie sehr nahe aneinander vorbeigleiten. Diese können durch Klettern annihilieren. Bei einem Abstand kleiner als etwa 10b ist ein diffusionsloses (kraftinduziertes) Klettern möglich. Ein Teil der Versetzungen wird daher auch bei T=0 annihilieren. Klettern kann außerdem durch Punktde-fekte gefördert werden, die bei der plastischen Deformation selbst produziert werden. Die Gleichung für die Speicherung von Versetzungen muss daher durch einen Vernichtungsterm ergänzt werden. Es können keine zusätzlichen Versetzungen mehr hinzugefügt werden, wenn eine gewisse Sättigungsdichte sρ erreicht ist. Für einkristalline Metalle gilt dann:

1/2 1s

d F

d bB

ρ ρρε α ρ

= −

(4.24)

sρ ist also die maximale Versetzungsdichte, die im Material gespeichert werden kann. Eine

Lösung der Gleichung in dimensionslosen Variablen (mit / sρ ρ ρ=ɶ und 1/2/ (2 )sF bBε ε α ρ=ɶ ) ist in Abb. 4.18 gezeigt.

0,2

0,4

0,6

0,8

1,0

0

r~

Ö

~e

0 2 4 6 8 Abb. 4.18 Gleichung für die Speicherung von Versetzungen

Die maximale erreichbare Spannung bestimmt sich aus der maximal möglichen Versetzungs-dichte sρ , die im Material in einem Nichtgleichgewichtszustand noch existieren kann. Sie be-

rechnet sich aus der Bedingung, dass die Wechselwirkungsspannung zweier sich nahe kom-mender Versetzungen die Reibspannung Rτ überwinden muss, damit diese annihilieren:

2

2 Rc

Gbf b

π≈ ≈ ⇒

21 R

cr Gb

πτ≈ ⇒ 2 2

2 2 2

41 Rc

cr G b

π τρ ≈ ≈ ⇒ 1/2c RGb Cσ α ρ τ≈ = . (4.25)

Für verschiedene Materialien liegt die Konstante C zwischen 10 und 30. Das bedeutet, dass die maximale Spannung an die "Reibungsspannung" von Versetzungen im Gitter gekoppelt ist.

Berücksichtigt man auch Diffusion von Zwischengitteratomen und Leerstellen, die durch die plastische Deformation selbst erzeugt wurden, nimmt die kinetische Gleichung für die Versetzungsdichte die folgende Form an:

48 4 Verfestigungsmechanismen

1/2

1/2

1 2

1d F

d bB

ρ ρ ρρε α ρ ρ

= − −

. (4.26)

Dabei kommt eine zweite temperaturabhängige Referenzdichte 2 2( )Tρ ρ= ins Spiel. Die Lö-

sung dieser Differentialgleichung (Abb. 4.19, man denke daran, dass τ ρ∼ ist) gibt diesen

Verlauf wieder. Dabei wurden die Abkürzungen 1/ ,ρ ρ ρ=ɶ 2 2 1 / ρ ρ ρ=ɶ und

( )1/ 2F bBε ε α ρ=ɶ benutzt. Für T=0 wird 2ρ = ∞ , mit steigenden Temperaturen sinkt der

Wert dieser Referenzdichte, und die Sättigungsversetzungsdichte wird kleiner.

0,2

0,4

0,6

0,8

1,0

0,5 1,0 1,5 2,0~e

r =0,12

~

r =12

~

r =2

∞~

r~

Ö

Abb. 4.19 Temperaturabhängige Referenzdichte über die Deformation

Das komplette Gleichungssystem für Versetzungen und Punktdefekte bei beliebigen Tem-peraturen ist kompliziert und wird hier nicht behandelt.

Abb. 4.20 Verfestigungsdiagramme für Kupfer bei verschiedenen Temperaturen

Thermisch aktivierte Vernichtungsprozesse (Diffusion von Punktdefekten, Klettern von Versetzungen) führen also zur starken Temperaturabhängigkeit der maximal erreichbaren Spannung. (s. Bild rechts: die Punkte sind Messwerte, die Kurven erhält man, wenn man nur

1ρ berücksichtigt. Für steigende Temperaturen nimmt die Sättigungsversetzungsdichte und

damit auch die maximale Spannung ab).

4.15 Verteilung von Versetzungen in Schubzonen; Spannungskonzentrationen 49

4.15 Verteilung von Versetzungen in Schubzonen; Spannungskonzentrationen

Laufen mehrere Versetzungen nacheinander und wird die Bewegung der ersten Versetzung verhindert, so bilden sie Versetzungsgruppen von der Art, wie Abb. 4.21 gezeigt.

Abb. 4.21 Aufgestapelte Versetzungsgruppen in leicht bearbeitetem austenitischem rostfreiem Stahl

Man sieht, dass die Verteilung der Versetzungen nicht gleichmäßig ist. Bei der Berechnung der Verteilung nimmt man oft an, dass jede Versetzung unter der Wirkung anderer Verset-zungen im Gleichgewicht ist, d.h. die Reibspannungen werden vernachlässigt. Es ist leicht zu verstehen, dass diese Versetzungsverteilung als tangentialer Riss betrachtet werden kann, da bei einem solchen die Risshälften gegeneinander verschoben sind, genau wie bei Versetzun-gen. Zur Berechnung der in der Schubzone auftretenden Spannungen betrachten wir einen Schnitt der Länge l in einem elastischen Kontinuum. Das Kontinuum wird nun einer tangenti-alen Spannung τ ausgesetzt. Es kann gezeigt werden, dass die relative Verschiebung der Rissufer durch die Funktion:

( )2 22(1 )( ) / 2u x l x

G

ν τ−= − (4.27)

beschrieben wird, wobei x von –l/2 bis + l/2 entlang des Risses läuft. Die resultierende Span-nungsverteilung ergibt sich zu:

0 für 2

2

xy

l lx

lx

σ τ= >−

. (4.28)

Die größte Verschiebung gibt es im Zentrum des Risses: max

(1 )(0)

lu u

G

ν τ−= = . Stellt man

sich nun vor, dass diese Verschiebung durch N Burgersvektoren b zustande kommt, so erhält

man die Zahl der Versetzungen in der Schubzone: max 2(1 )2

u lN

b Gb

ν τ−= = . Der Faktor 2 ent-

steht, da zu jeder Versetzung eine zweite mit entgegengesetztem Burgersvektor vorhanden sein muss, damit die Verschiebung an den Enden des Risses null wird. N/2 misst also gerade die Zahl der Versetzungsdipole. Da die Risslänge gerade einer Schubzone entspricht, können

wir B

D lGb

τρ

= = ansetzen und erhalten für die Zahl der Versetzungen die Abschätzung:

22 (1 ) 70 600N Bα ν≈ − ≈ ÷ . (4.29)

50 4 Verfestigungsmechanismen

Am Rande der Schubzone gibt es eine Spannungskonzentration max Nσ τ≈ . Diese Span-

nungskonzentration ist die Hauptursache für die Bildung von Mikrorissen und einen späteren Bruch.

Riß

Abb. 4.22 Ausbildung des Risses durch Spannungskonzentration am Rande der Schubzone.

4.16 Skaleneffekte

Nano-indentierung

Mikro-indentierung

Pseudo-elastizität

Makro-plastizität

(theoretischeGrenze)

(H~1/h)

10nm 100nm 10-100µm Abb. 4.23 Hierarchie von räumlichen Skalen

Aus der Vorstellung über Versetzungen als Träger der plastischen Deformation ergibt sich ei-ne Hierarchie von räumlichen Skalen. Untersuchen wir diese exemplarisch am Beispiel einer Indentierung.

d

d

Abb. 4.24 Spannungsverteilung bei Indentierung mit einem zylindrischen Indentor

Wird ein elastisches Medium mit einem zylindrischen Stempel mit dem Durchmesser d belas-

tet (Abb. 4.24), so fällt die Spannung in der Tiefe nach dem Gesetz 2

02

d

r

ττ ≈ ab. Ist nun r der

mittlere Abstand zwischen zwei Versetzungen, so wirkt am Ort einer Versetzung im Mittel

die Spannung : 20dτ τ ρ≈ , bzw.

0

τ ρ≈ . Da die Spannung zum Bewegen von Versetzun-

gen 1/2f Gbτ τ α ρ= ≈ ist, erhält man:

0 0

1f

f

d Gbτ

ατ ρ τ τ

≈ = . (4.30)

Nanoindentierung: Ist die Spannung am Ort der Versetzungen auch beim Erreichen der theoretischen Festigkeitsgrenze 0 /10th Gτ τ= ≈ immer noch kleiner als die Spannung, die

zum Bewegen von Versetzung erforderlich ist, so gibt es bis zur theoretischen Festigkeits-

4.16 Skaleneffekte 51

grenze keine plastische Deformation. Auf der kleinsten Skala 0

10

f

Gd bα

τ≈ misst man also

die größte Härte. Für deformationsverfestigtes Kupfer mit 40f MPaτ ≈ , 40G GPa≈ , 102,5 10b m−≈ ⋅ und 0.5α ≈ ergibt sich 0 12d nm≈ .

Pseudoelastizität: Bei einem Durchmesser zwischen 0d und 1/21 100

f

Gbd nm

αρτ

−≈ ≈ ≈

(d.h. bis zum mittleren Abstand zwischen zwei Versetzungen) wird zum größten Teil eine re-versible Versetzungsbewegung stattfinden mit nur einem geringen plastischen Anteil (Pseu-doelastizität).

Abb. 4.25 Daten für die Härte vom polykristallinen Kupfer in Abhängigkeit von der Indentierungstiefe. Man beachte, dass auf der Abszisse 1/h aufgetragen wurde.

Mikroindentierung: Liegt d zwischen 1d und der Größe einer Schubzone:

2 50f

f

B GD Bb m

Gb

τα µ

ρ τ≈ ≈ ≈ , (4.31)

so sind wir im Bereich der „Mikroindentierung“, bei der das Quadrat der Härte umgekehrt proportional zur Indentierungstiefe ist. Denn mit d D≈ erhalten wir für die Spannung:

( )22 FGb

bdτ α ε= . (4.32)

Bei einer Indentierung mit einer kegelförmigen Spitze (Spitzenwinkel 2θ) ist die Deformation die ganze Zeit ungefähr konstant: / tand hε θ≈ ≈ . Das Quadrat der Spannung ist daher um-gekehrt proportional zur Indentierungstiefe:

2 1

hτ ∼ . (4.33)

Experimentell gilt für die Härte H die folgende Gleichung:

2 *

0

1H h

H h

= +

. (4.34)

Erst bei noch größerem Indenter kommen wir in den Bereich der „herkömmlichen“ makro-skopischen plastischen Deformation.

52 4 Verfestigungsmechanismen

Strukturen verschiedener Art (wie einzelne Kristalle, Einschlüsse anderer Phasen usw.) wer-den diese Hierarchie natürlich beeinflussen.

Abb. 4.26 Härte in Abhängigkeit von der Kontakttiefe für (a) einkristallines Kupfer, (b) einkristallines Wolfram und (c) geschmolzenen Quarz

4.17 Geschwindigkeitsabhängigkeit der plastischen Deformation und Kriechen

Bisher haben wir stillschweigend die plastische Deformation am absoluten Temperaturnull-punkt betrachtet. Bei endlicher Temperatur können sich Versetzungen auch infolge thermi-scher Fluktuationen und Diffusion von den Hindernissen „befreien“. Da diese Prozesse durch thermische Fluktuationen bedingt sind, ist ihre Intensität dem Arrhenius-Faktor 0 /U kTe− pro-portional, wobei 0U die Aktivierungsenergie, k die Boltzmannsche Konstante und T die abso-

lute Temperatur sind. Das einfachste Modell für die thermisch aktivierte Deformation wird durch folgende Gleichung beschrieben:

0 0/ ( ( ))/0

cU kT V kTe e σ σ εε ν − −≈ɺ . (4.35)

0V ist hier das sogenannte Aktivierungsvolumen und 12 13 10 10 10 sν −−∼ die charakteristische

Schwingungsfrequenz eines Versetzungssegmentes. ( )cσ ε ist die athermische Fließgrenze,

d.h. die Spannung, bei der makroskopische plastische Deformation für 0T = beginnt.

4.17.1 Logarithmisches Kriechen

Haben wir es mit einem Material mit linearer Verfestigung zu tun: ( )cσ ε ε≈ Θ , und wird die-

ses mit konstanter Spannung belastet, so nimmt die „Kriechgleichung“ die folgende Form an:

0 0/ ( )/0

U kT V kTe e σ εε ν − −Θ≈ɺ . Ihre Integration ergibt 0 0 0

00

1V U V

kT kT kTkT

e e e tV

ε σ

νΘ

− − = Θ

und daher:

0 0

00

0

ln 1U V

kT kTVkT

e e tV kT

σ

ε ν− Θ= + Θ

. (4.36)

Dies ist sogenanntes logarithmisches Kriechen.

4.18 Superversetzungen in geordneten Mischkristallen 53

4.17.2 Stationäres Kriechen

Bei endlicher Temperatur müssen in dem Gleichungssystem für die Spannung und Speiche-rung von Versetzungen auch die Vernichtungsterme berücksichtigt werden. Das Gleichungs-system nimmt dann die folgende Form

0 0/ ( ( ))/0

cU kT V kTe e

t

σ σ ρε νρ ρρ εε

− −≈∂ ∂= +∂ ∂

ɺ

ɺ ɺ

(4.37)

mit einer eigenen Gleichung für die Änderung der Versetzungsdichte an. Wenn

0t

ρ ρρ εε

∂ ∂= + =∂ ∂

ɺ ɺ ist, bleibt die Deformationsgeschwindigkeit bei gegebener Spannung kon-

stant (stationäres Kriechen).

Abb. 4.27 Stationäres Kriechen

4.18 Superversetzungen in geordneten Mischkristallen

Viele metallische Elemente können geordnete oder ungeordnete Legierungen bilden. In dieser Vorlesung werden thermodynamische Aspekte der Legierungsbildung nicht betrachtet. Abhängig von der chemischen Zusammensetzung können Metalle verschiedene Strukturen bilden. Zwei davon sind nebenstehend gezeigt.

Abb. 4.28 a) Struktur vom Typ 3

Cu Au (2

L1 ) b) Struktur vom Typ CuAu (B2)

Sind die Radien und die Elektroneneigenschaften der Atome sehr ähnlich, so geht die Struktur bei erhöhten Temperaturen in einen nichtgeordneten Zustand über (z.B. bei T=550°C für 3Fe Al, T=400°C für CuAu, T=210°C für 3Au Cu).

Bleibt die geordnete Struktur auch bei erhöhten Temperaturen stabil (z.B. aufgrund von großen Radienunterschieden oder einer wesentlichen kovalenten Komponente in der chemi-schen Bindung), nennt man diese Materialien intermetallische Legierungen (z.B. 3Ni Al ).

54 4 Verfestigungsmechanismen

Abb. 4.29 Versetzungspaar in einer geordneten Legierung. Gleichartige Atome stehen sich an einer Antipha-sengrenze gegenüber

In der geordneten Struktur wird eine volle Versetzung aus vier Teilversetzungen bestehen. Alle Teilversetzungen werden durch Stapelfehler (bzw. Antiphasengrenze, siehe Abb. 4.30) verbunden.

Abb. 4.30 Superversetzung in der Legierung 70 30Fe Al

Abb. 4.31 illustriert physikalische Gründe für die nicht monotone Temperaturabhängigkeit der Fließgrenze von geordneten Legierungen:

a)

b)

c)

d)

e)

(111) plane

(100) plane

Abb. 4.31 Gleiten der Versetzungen bei unterschiedlichen Temperaturen

Bei tiefen Temperaturen (a) gleiten die Teilversetzungen leicht in der gleichen Gleitebene. Bei erhöhten Temperaturen klettern sie, um eine Konfiguration mit der kleinsten Energie zu bilden. Beim Gleiten wird dann allerdings ein Stapelfehler mitgeschleppt, was zur Erhöhung der Fließgrenze führt (b,c). Bei noch höheren Temperaturen ist der Stapelfehler thermo-

4.19 Superlegierungen 55

dynamisch instabil, und die Struktur wird wieder hergestellt: es wird wieder ein leichtes Glei-ten möglich (d,e).

Die Abhängigkeiten der Fließgrenze von der Temperatur für 75 15 10Ni Al Ti und für 3Ni Al ist

in Abb. 4.32 gezeigt.

Abb. 4.32 Links: Temperaturabhängigkeit der Proportionalitätsgrenze für Ni3Al. Rechts: Fließspannung von Ni75Al 14.5Ti10.5 in Abhängigkeit von der Temperatur für unterschiedliche Dehnungswerte

4.19 Superlegierungen

Superlegierungen sind meist Ni-, Co- oder Fe-basierte Legierungen für Hochtemperaturan-wendungen. Im Vordergrund stehen Kriech-Widerstand und Strukturstabilität. Typische Strukturmerkmale sind:

• Intermetallische Verbindungen • Zwei-Phasen-Systeme; • In der Regel kohärente Phasen mit einer charakteristischen Größe zwischen 0,1 und 1 µm.

Diese Eigenschaften führen zu: • Grundsätzlich schlechter Beweglichkeit von Versetzungen bei hohen Temperaturen; • Die zweite Phase verhindert diese Bewegung zusätzlich; • Die Größe der zweiten Phase (obiger Bereich der „Mikroindentierung“) sorgt zum

einen für starke Verfestigung, zum anderen für eine große für das Kriechen zurückzulegende Strecke.

• Kohärenz sorgt für kleinere Oberflächenenergie und – in Verbindung mit der Verhinderung der Diffusion – für die Strukturstabilität.

56 4 Verfestigungsmechanismen

Abb. 4.33 Eine experimentelle Ni-basierte Superlegierung vierter Generation.

Abb. 4.34 Vergröberung der Struktur mit der Zeit

5 Riss, Bruch und Ermüdung

5.1 Das Griffith-Bruchkriterium.

Dem Bruch einer metallischen Probe geht in der Regel eine erhebliche plastische Deformation mit mehrmaligen Änderungen von Versetzungsstruktur und anschließender Speicherung von Mikrorissen voraus. Der Bruch selbst ist bei einem zähen Material lediglich das letzte Stadi-um, in dem einzelne Mikrorisse zu einem Riss zusammenfließen. Der Bruchprozess ist daher ein komplizierter Prozess mit mehreren Stadien.

5.1.1 Sprödbruch

Wir beginnen mit dem Bruch von spröden Materialien, was aus theoretischer Sicht einfacher ist. Der Zugang wird aber formal auch auf zähe Werkstoffe angewandt.

s0

s0

L

Abb. 5.1 Riss in einem elastischen Material

Betrachten wir einen elastischen Körper mit einem Riss mit dem Durchmesser L und be-rechnen die Spannung, die erforderlich ist, um diesen Riss im „geöffneten“ Zustand halten zu können. Wir berechnen die Energie des Systems verglichen mit dem Zustand, in dem der Riss geschlossen ist. Beim Trennen der Rissufer wird Arbeit geleistet, denn es muss eine freie Oberfläche geschaffen werden. Diese hat jedoch eine höhere Energie, da atomare Bindungen an der Oberfläche im Gegensatz zum Inneren des Körpers gestört sind. Durch die Oberflä-chenenergie (Energie pro Fläche γ ) wird somit die Energie des Systems erhöht, und zwar für

den Riss im Beispiel um ( )22 / 2Lγπ . Dabei fällt aber die Normalspannung an den Rissufern

von 0σ auf null ab, was zur Verkleinerung der elastischen Energie führt. Wenn wir anneh-

men, dass die elastische Energiedichte 20

2w

E

σ= nun in einem Volumen (Kugel) mit Radius L

fehlt, so ist die gesamte Energie:

2 32

0 42

2 2 3 2

L LW

E

σγπ π = −

(5.1)

Eine Änderung der Risslänge bewirkt nun eine Kraft ( )dW

F LdL

= − auf den Riss, die den

Riss entweder schließt (stabil) oder weiter öffnet (instabil). Die kritische Rissgröße erhalten wir, wenn die Kraft (Ableitung der Energie) zu null wird. Einem Gleichgewicht entspricht al-so ein Extremum der Energie:

60 5 Riss, Bruch und Ermüdung

2

20( ) 0 24

dW EF L L L

dL E L

σ γπγ π σ= − = − + = ⇒ = (5.2)

Daraus folgt für die Größenordnung der kritischen Spannung (bis auf einen von der jeweili-gen Geometrie abhängigen Geometriefaktor g der Größenordnung 1):

0

E Eg

L L

γ γσ = ≈ (5.3)

Das ist das berühmte Griffith-Kriterium. Durch genauere Rechnung bzw. andere Rissgeo-metrien können sich verschiedene Vorfaktoren g ergeben, das qualitative Verhalten bleibt je-doch erhalten. Für unsere Abschätzungen im weiteren Verlauf werden wir 1g ≈ approximie-ren.

5.1.2 Effektive Oberflächenenergie, Bruchzähigkeit

Die Energie-Überlegung von oben ist aber nur dann gültig, wenn die Energie nicht an anderer Stelle verschwindet. Bei einem Metall gibt es bei der Trennung von Rissufern eine große plastische Deformation, bei der viel Energie dissipiert wird. Es stellt sich heraus, dass man das Griffith-Kriterium auch in solchen Fällen anwenden kann, wobei man aber eine effektive Oberflächenenergie *γ benutzen muss:

0

* E

L

γσ ≈ (5.4)

Die sog. Bruchzähigkeit wird meist über den sog. Spannungskonzentrationsfaktor angegeben:

K g Lσ π= ɶ , mit einem Geometriefaktor gɶ der Größenordnung 1.

Der Zusammenhang zwischen *γ und K ist daher: *K Eπγ≈ . Bei ungefähr gleicher Härte

von Stahl und Glass ist die Bruchzähigkeit des Stahls ungefähr um den Faktor 50 größer (d.h. seine effektive Oberflächenenergie ist etwa 2500 mal größer als seine wirkliche Oberflächen-energie), was die Ursache für die sehr unterschiedlichen mechanischen Eigenschaften dieser Werkstoffe ist.

5.1.3 Spannungskonzentration an einer Rissspitze

Die Gleichgewichtsgleichung für ein elastisches Kontinuum kann vereinfacht als 0, ( 1..3)iu i∆ = = geschrieben werden. Für die Bruchmode III (Abb. 5.2) ist das sogar eine

exakte Gleichung, die wir hier lösen wollen.

Abb. 5.2 Bruchmoden

5.1 Das Griffith-Bruchkriterium. 61

In zylindrischen Koordinaten nimmt diese Gleichung die Form 2

2 2

1 10i i

i

u uu r

r r r r φ∂ ∂∂ ∆ = + = ∂ ∂ ∂

an. Es ist leicht zu sehen, dass jede Funktion der Form

cos( )iu rα αφ= Lösung dieser Gleichung ist. Sie muss allerdings noch die Randbedingung

( , 0) ( , 2 )i iu r u rφ φ π= = − = erfüllen. Daraus folgt 1/ 2α = , 1/2iu r∝ und 1/2u

rr

σ −∂∝ ∝∂

.

Dieser Verlauf erklärt sich physikalisch durch die Vergrößerung der Spannungskonzentration an der Rissspitze. Die Spannung im Abstand r von der Rissspitze hat die Größenordnung

0( ) /r l rσ σ≈ . Bei brüchigem Material erreicht sie ihr Maximum für r b= , wobei b ein

atomarer Abstand ist. Ist diese Spannung gleich der theoretischen Zugfestigkeitsgrenze thσ ,

so öffnet sich der Riss weiter. Daraus folgt 0 /th l bσ σ≈ und damit 0 th

b

lσ σ≈ .

Ein Vergleich mit dem Griffith-Kriterium ergibt für die theoretische Grenze:

th

E

b

γσ ≈ (5.5)

5.1.4 Anwendungen des Griffith-Kriteriums

Mit der Griffith-Gleichung 0

* E

L

γσ ≈ kann man viele Effekte verstehen, die mit Bruch zu

tun haben:

a) Der Einfluss von oberflächenaktiven Substanzen auf die Bruchfestigkeit. Oberflächenaktive Stoffe werden z.B. beim Bohren von harten Gesteinen eingesetzt und senken die Oberflächenspannung.

b) Verzögerter Bruch (auch statische Ermüdung genannt): Bruch nach langer Wirkungszeit einer Zugspannung, die zum schnellen Bruch alleine nicht ausreicht. Der Mechanismus besteht in der Absorption von Gasen oder anderen Substanzen an der Oberfläche und ihre Migration in Mikrorisse. Die Geschwindigkeit des Risswachstums ist dabei beschränkt durch die Geschwindigkeit der Diffusionsprozesse. Nachdem der Riss die kritische Länge erreicht, bricht das Stück "plötzlich".

c) Rebinder-Effekt: Zinkblech wird brüchig, wenn es durch Quecksilber benetzt wird (Änderung der Oberflächenenergie). Zum Teil hängt damit auch die Wasserstoffversprödung zusammen.

d) Der Riss öffnet sich nur unter Einwirkung einer Zugspannung. Wird in der Oberflächenschicht eine Druckvorspannung erzeugt, so verhindert dies das Öffnen von Oberflächenrissen (z.B. Beschichtung mit einem Material mit kleinerem thermischen Dehnungskoeffizienten bei erhöhter Temperatur oder Sandbestrahlung).

e) Die Festigkeit von massiven Glas-Proben wird durch Mikrorisse (an der Oberfläche) von ungefähr 1µm Tiefe bestimmt. Durch sorgfältiges Ätzen kann man die Festigkeit von massivem Glas bis zu der von Glasfasern erhöhen.

f) Ausreichend dünne Fasern (kleine L) sind fester und können die theoretische Festigkeit erreichen. Ein entlang einer Achse beanspruchtes Material ist also fester, wenn es aus dünnen Fasern besteht.

62 5 Riss, Bruch und Ermüdung

g) Ioffe-Effekt: Kochsalz wird plastisch, wenn es im warmen Wasser deformiert wird. Die Mikrorisse an der Oberfläche lösen sich auf, und die Bruchfestigkeit für Sprödbruch wird größer als die plastische Fließgrenze.

5.1.5 Griffith-Kriterium für dünne Schichten und dünne Fasern

Nehmen wir an, dass zwei Materialien durch eine Klebeschicht miteinander verbunden sind, und dass die Schicht den E-Modul ES hat. Das Griffith-Kriterium gilt für Risse L nur dann, wenn L d≪ ist. Wenn dies nicht der Fall ist, können wir das Volumen, in dem elastische Energie verloren geht, eher durch einen Zylinder der Höhe d als durch eine Kugel abschätzen.

Dann lautet die Energie: 2 22

022 2 2S

L LW d

E

σγπ π = −

, und für die Kraft ergibt sich:

20( )

4 S

dWF L L d

dL E

σπ γ

= − = −

. Diese Kraft ist nur dann negativ (und wirkt rissschließend),

wenn die Spannung den kritischen Wert 2 SE

d

γσ = nicht übersteigt. Die Festigkeit der

Schicht nimmt also zu, wenn die Schicht dünner wird. Dies ist bei vielen Klebstoffen zu be-achten.

Wenn die Klebeschicht innen reißt, spricht man von kohäsivem Versagen (dann ist γ die Oberflächenenergie des Klebstoffs). Wenn die Klebeschicht sich vom Untergrund ablöst, spricht man von adhäsivem Versagen (dann ist 2γ die gesamte spezifische Oberflächenener-gie des Materialpaars Klebstoff – Untergrund, die sog. Adhäsionsarbeit). Voraussetzung für die Abschätzung ist aber, dass die elastische Energiedichte hauptsächlich auf die Schicht konzentriert ist, d.h. der E-Modul SE sehr viel kleiner ist als der des Unter-

grundmaterials.

Die Formel SE

d

γσ ≈ gilt auch für dünne Fasern oder Platten mit dem Durchmesser d , da

hier keine Risse größer als d auftreten können (s.u. bei Verbundwerkstoffen).

5.2 Spannungskonzentration in einer Probe mit einer Kerbe

Wird ein plastisches Medium mit der Fließgrenze fσ (auf Zug) mit einem starren Indentor

belastet, so widersteht es der Indentierung bis zur Spannung 3 fσ σ≈ .

Abb. 5.3 Indentierung

Eine auf Zug beanspruchte Probe mit Kerbe stellt dasselbe Problem mit anderem Vorzeichen dar. Das Kriterium für plastisches Versagen lautet daher: 3 fσ σ≈ .

5.3 Tieftemperaturversprödung (und andere Versprödungsarten) 63

Abb. 5.4 Zugbeanspruchung

Nehmen wir an, die kritische Spannung für den spröden Bruch ist *σ . Dann gilt die Klassifi-kation nach Orowan: 1) Für * 3 fσ σ> ist das Material plastisch.

2) Für *fσ σ< ist es spröde

3) Für * 3f fσ σ σ< < ist es "kerbenspröde".

5.3 Tieftemperaturversprödung (und andere Versprödungsarten)

Wird eine Probe auf Zug belastet, so kann sie die Spannungen auf zwei Arten abbauen: ent-weder durch Gleiten oder durch Trennung (Bruch). Diese beiden Relaxationsmoden konkur-rieren in jedem Material. Die Spannung, die erforderlich ist, um in einem idealen Material beide Relaxationsprozesse zu initiieren, hat dieselbe Größenordnung. Ihr Verhältnis hängt je-doch von genauen lokalen Bedingungen ab (wie etwa der Orientierung des Kristallgitters). In kubisch-flächenzentrierten Metallen (fcc) ist die für das Gleiten erforderliche Spannung (bei T=0 K) praktisch immer kleiner als die für die Trennung erforderliche Spannung. Sie sind deshalb auch bei tiefen Temperaturen plastisch.

Abb. 5.5 Duktil-Spröde-Übergang für verschiedene Materialien als Funktion der Temperatur (1ft lb = 1,356 J)1

Im ungünstigsten Fall gibt es bei einer Korngrenze einen Winkel von max. 20° zur einer be-nachbarten Gleitebene.

Bei den raumzentrierten Metallen (bcc) dagegen gibt es ungünstige Orientierungen, bei de-nen Gleiten schwieriger zu initiieren ist als Bruch (max. 60° bis zu anderen Gleitebenen). Po-lykristalline raumzentrierte Metalle (z.B. viele Stähle, nicht jedoch austenitische Stähle) sind daher bei tiefen Temperaturen brüchig. Bei erhöhten Temperaturen kann ein Gleiten durch Diffusionsprozesse initiiert werden, und das Material wird plastisch. Den Übergang zwischen

1 Cottrell, A.H. The mechanical properties of matter, Wiley, N.Y., 1964.

64 5 Riss, Bruch und Ermüdung

beiden Zuständen kann man nach der sog. Ludwik-Davidenkow-Orowan-Hypothese qualitativ wie folgt interpretieren: Plastische Deformation und spröder Bruch werden als zwei unabhän-gige Prozesse verstanden, charakterisiert durch Spannungen fσ und *σ . Die Fließspannung

auf Zug fσ hängt von der Temperatur und der Deformationsgeschwindigkeit ab. Werden die-

se beiden Spannungen im Zugversuch – bei einer Übergangstemperatur Tf – gleich, so geht das Material aus dem plastischen in den spröden Zustand über. Dies kann z.B. durch die sog. Kerbschlagarbeit, durch Änderung der maximalen Deformation oder der Einschnürung der Probe im Zugversuch charakterisiert werden (Abb. 5.5). Einen ähnlichen Übergang gibt es auch bei Polymeren.

5.4 Kinetische Theorie des Bruchs nach Zhurkov (1957)

Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des "Griffith-Risses" hat dieselbe Größenordnung wie die Schallgeschwindigkeit. Diese Art des "schnellen Bruches" stellt eine seltene Ausnahme dar. Die gemessenen Bruchzeiten liegen zwischen 310− und 710 s. Das bedeutet, dass die Ge-schwindigkeit des Bruchprozesses um viele Größenordnungen kleiner ist als die Schallge-schwindigkeit. In diesen Fällen spricht man von einem langsamen Riss oder Ermüdungsriss. Trotz der komplizierten Natur des Bruches ist es in vielen Fällen möglich, die Lebenszeit bis zum Bruch durch eine einfache Gleichung zu beschreiben:

0

( )( , ) exp

UT

kT

στ σ τ≈ . (5.6)

Abb. 5.6 Aktivierungsenergie des Bruches als Funktion der Spannung; Slutsker A.I. Characteristics of Elemen-tary Acts in the Kinetics of Metal Fracture. – Physics of the Solid State, 2004, v. 46, No. 9, pp. 1606-1613.

Dabei ist k die Boltzmannsche Konstante und T die absolute Temperatur. 13 120 10 10 sτ − −≈ −

hat für alle Festkörper die gleiche Größenordnung (etwa die Schwingungsdauer von Atomen im Gitter). Die Richtigkeit dieser Gleichung und ihre Genauigkeit werden in Abb. 5.8 illustriert. Die Aktivierungsenergie des Bruches ist in guter Näherung eine lineare Funktion der Span-nung. Sie kann daher mit der Gleichung 0( )U Uσ γσ≈ − dargestellt werden.

Die Größe 0U hängt praktisch nur vom Material ab, nicht aber von seiner Mikrostruktur. Für

reine Metalle ist sie gleich der Sublimationsenergie sD des Metalls (s. Tabelle 5.1).

Die Größe γ , das sog. Aktivierungsvolumen2 des Bruches, hängt dagegen stark von der Mik-rostruktur ab (siehe Beispiel von Zn temperiert bei verschiedenen Temperaturen).

2 Die Größe γ ist in diesem Kapitel das Aktivierungsvolumen, nicht die Oberflächenenergie!

5.4 Kinetische Theorie des Bruchs nach Zhurkov (1957) 65

Abb. 5.7 Material: polykristallines Zn (99,94%) temperiert bei verschiedenen Temperaturen: 1 - 630 K, 2 - 530 K, 3 - 490 K, 4 -450 K, 5 – 3790; K. Slutsker A.I. Characteristics of Elementary Acts in the Kinetics of Metal Fracture. – Physics of the Solid State, 2004, v. 46, No. 9, pp. 1606-1613.

Abb. 5.8 Lebenszeit bis zum Bruch; Slutsker A.I. Characteristics of Elementary Acts in the Kinetics of Metal Fracture. – Physics of the Solid State, 2004, v. 46, No. 9, pp. 1606-1613.

Berechnungen mit dem Morse-Potential zeigen, dass das elementare Aktivierungsvolumen zur Trennung von zwei Metallteilen ca. das Dreifache des atomaren Volumens ist. Das tat-sächlich gemessene Aktivierungsvolumen für den Bruch beträgt etwa das 10 bis 100 fache dieses Elementarvolumens. Das liegt daran, dass die tatsächliche Spannung in Bereichen der Spannungskonzentration wesentlich größer als die mittlere Spannung im Material ist.

Vergleicht man die Aktivierungsvolumina für den Bruch mit dem Elementarvolumen, so erhält man Ergebnisse, die in der Tabelle 5.2 zusammengefasst sind. Das Verhältnis des Akti-vierungsvolumens zum elementaren atomaren Aktivierungsvolumen q geht auf die Span-nungskonzentration zurück und ist von der gleichen Größenordnung wie die Zahl der Verset-zungen in einer Schubzone. Die wichtigste Aufgabe der Werkstoffkunde besteht daher grob gesagt in der maximal möglichen Verminderung des Spannungskonzentrationsfaktors q.

66 5 Riss, Bruch und Ermüdung

Tabelle 5.1 Energie 0U und Sublimationsenergie sD für verschiedene Metalle.

Metall

0U ,

eV

sD ,

eV

0

s

U

D

Ag 2.7 [6] 2.8 0.97

B 5.7 [11] 5.5 1.04

Cd 1.2 [7] 1.2 1.00

Cu 3.6 [8] 3.5 1.03

Fe 4.4 [7] 4.2 1.05

Mg 1.5 [7] 1.5 1.00

Mo 7.5 [7] 6.9 1.09

Nb 6.6 [7] 7.1 0.93

Ni 3.8 [8] 3.9 0.97

Pb 1.9 [7] 2.0 0.95

Pt 5.7 [3] 5.5 1.04

Ti 5.3 [7] 4.9 1.08

V 5.7 [7] 5.3 1.08

Zn 1.3 [4] 1.2 1.08

Zr 5.3 [7] 6.1 0.87

Tabelle 5.2 Elementarvolumen und Spannungskonzentrationsfaktor q .

Metall

Tempern,

T, K 3

,

nm

γ 0

2 3

3 ,

10

FAV V

nm−

=

FA

qV

γ=

Ag 800 1.3 [6] 5.1 ~ 25

B 0.22 [11] 2.4 ~ 10

Cu 900 1.6 [8] 3.6 ~ 45

Ni 1060 0.7 [8] 3.3 ~ 20

Pt 1250 5.2 [3] 4.5 ~ 110

370 0.8 [4] ~ 18

450 1.0 [4] ~ 22

Zn 490 1.3 [4] 4.5 ~ 30

530 2.1 [4] ~ 50

630 3.2 [4] ~ 70

5.5 Ermüdung

Mikroplastische Deformationen gibt es in jedem Material, auch bei Spannungen, die wesent-lich kleiner sind als die makroskopische Fließgrenze cσ . Selbst bei / 1/ 2cσ σ ≈ schreitet die

Versetzungslinie im Durchschnitt um einen Abstand zwischen benachbarten Versetzungen. Man kann daher als Grenze für die Mikroplastische Deformation grob die Hälfte der Fließ-grenze annehmen.

5.5 Ermüdung 67

Abb. 5.9 Freie Weglänge von Versetzungen bezogen auf den mittleren Abstand zwischen Hindernissen

Wird ein Material zyklisch mit einer Spannung zwischen / 2cσ∼ und cσ∼ belastet, so

findet in jedem Zyklus eine mikroplastische Deformation statt, und zwar Gleiten in Richtung von ungefähr 45° zur Zug-Druck-Achse. Da durch das Schneiden von Versetzungen anderer Gleitsysteme die Gleitebene in Wirklichkeit keine Ebene ist, bildet sich ein Gleitband, das an der Oberfläche in Form von Ex- und Intrusionen sichtbar wird.

Abb. 5.10 Gleitbänder mit Extrusionen und Intrusionen (Stadium I des Ermüdungsbruches)

Abb. 5.11 Im Stadium I ist der Riss durch plastische Verformung bedingt und läuft in der Richtung 45° zur Zugachse. Im Stadium II verläuft er senkrecht zu ihr.

Die sich dadurch entwickelnde Rauhigkeit führt letztendlich zur Bildung von Mikrorissen, die sich zunächst in Richtung des Gleitbandes ausbreiten (Stadium I). Danach ändert der Riss seine Richtung und läuft senkrecht zur Belastungsachse (Stadium II). Erreicht der Riss die kritische Länge, so erfolgt ein schneller Bruch (Stadium III).

Das typische Erscheinungsbild eines Ermüdungsbruches enthält daher eine (relativ glatte) Zo-ne eines langsamen Ermüdungsrisses und eine raue Zone des anschließenden „gewaltsamen“ Bruches.

68 5 Riss, Bruch und Ermüdung

Abb. 5.12 Ermüdungsbruch

Die erste Zone weist sehr oft eine beinahe periodische Struktur auf, die den Fortschritt des Risses bei zyklischer Beanspruchung "dokumentiert". Wie bereits erwähnt, beträgt die kritische Spannung für eine mikroplastische Deformation un-gefähr / 2cσ∼ . Das ist gleichzeitig auch die kritische Spannung für Ermüdungsbruch.

Die ganze Problematik von Ermüdung und Dauerfestigkeit geht auf Wöhler zurück. Er hat un-ter anderem festgestellt, dass die Zahl der Zyklen, die zum Ermüdungsbruch führen, exponen-tiell von der Spannungsamplitude abhängt.

Abb. 5.13 Daten von Wöhler gemessen am Achsenstahl für die Eisenbahn.

Abb. 5.14 Stähle haben in der Regel eine kritische Ermüdungsspannung, unter der kein Ermüdungsbruch statt-findet. Diese Spannung beträgt ca. 1/2 der Fließgrenze.

Effektive Maßnahmen gegen Ermüdung sind vor allen Dingen diejenigen, welche die Keim-bildung verhindern (Stadium I):

- Harte Beschichtungen - Druckvorspannungen in der Oberflächenschicht - Überwachung des Risswachstums und rechtzeitiges Schleifen.

6 Verbundwerkstoffe

6.1 Festigkeit-Sprödigkeit-Dilemma

Wie wir schon diskutiert haben, konkurrieren in jedem Material zwei Prozesse: plastisches Gleiten und Bruch. Stoffe ohne komplizierte mehrphasige Struktur sind daher in der Regel entweder plastisch (kfz-Metalle, krz-Metalle bei erhöhten Temperaturen) oder brüchig (Ke-ramiken, krz-Metalle bei tiefen Temperaturen). Das Bestreben, sehr große Festigkeit unter Beibehaltung hoher Plastizität zu erreichen, lässt sich nur durch Verbundwerkstoffe realisie-ren. Wir widmen uns daher im Weiteren einer aufmerksameren Untersuchung von faserver-stärkten Verbundwerkstoffen.

6.2 Kraftfluss in faserverstärkten Verbundwerkstoffen

Die Wirkung eines Verbundwerkstoffes kann man qualitativ mit Abb. 6.1 verstehen. Sind sehr steife Fasern (Keramik) oder kleine Platten in eine zähe Matrix bzw. eine Matrix mit ei-nem niedrigen elastischen Koeffizienten eingebettet, so sind die Fasern zum größten Teil auf Zug belastet, während die Matrix auf Schub belastet ist. Diese Tatsache kann man benutzen, um die Vorteile von Materialien mit verschiedener Steifigkeit und Festigkeit auf Zug und Schub zu kombinieren.

Abb. 6.1 Kraftfluss in Verbundwerkstoffen

6.3 Bio- und Nanokomposite

Viele natürliche biologische Materialien, wie z.B. Zähne, Knochen, Muscheln u.a. sind Ver-bundwerkstoffe mit der oben beschriebenen Konstruktionsweise: harte, dünne Fasern oder Platten sind in eine weiche Eiweiß-Matrix eingebettet. Die Dicke der Platten bezeichnen wir mit 1d , ihre Länge mit L und Breite b, die Dicke der Eiweiß-Schicht mit 2d .

76 6 Verbundwerkstoffe

Abb. 6.2 Modell zur Berechnung von optimalen Längen- und Volumenverhältnis in Verbundwerkstoffen

Das Verhältnis

1/L dρ = (6.1)

nennt man Längenverhältnis (aspect ratio) der Teilchen. Das Verhältnis

1

1 2

d

d dΦ =

+ (6.2)

stellt (in dieser 2D-Darstellung) den Volumenanteil der Platten dar. Die Kraft in der Längs-richtung wird nahezu vollständig über die steifen Platten bis zu ihrem Ende weitergegeben und danach praktisch nur durch Scherkräfte in der Matrix. Man kann die Platten und die Mat-

rix als reihengeschaltete Federn mit den Steifigkeiten 11 1

bdc E

L= und 2 2

24

bLc G

d= (die "4"

folgt aus einer genaueren Berechnung) betrachten. 1E ist der E-Modul der Platten und 2G der

Schubmodul der Matrix. Die gesamte Steifigkeit ist:

2

1 2 1 1 2

1 1 1 1 4 dL

c c c E bd G bL= + = + . Der E-Modul des Verbundes ist somit gleich:

( ) ( ) ( )1 2 1 2 2 1 22

1 1 2

1 1 4b d d d d d d d

E cL E d G L

+ + += = + oder

2 2

1 2

1 1 4(1 )

E E G ρ− Φ= +

Φ Φ. (6.3)

Diese Gleichung wird auch durch Finite-Elemente-Rechnungen bestätigt. Sie zeigt, dass die große Steifigkeit vieler Biokomposite vor allem durch das große Längenverhältnis der harten Teilchen bedingt ist.

6.3.1 Optimales Längenverhältnis1

Wichtig ist, dass das Verhältnis der Zugspannungen in den Fasern zu den Schubspannungen in der Matrix die Größenordnung 1/L d , d.h. das Längenverhältnis der Fasern/Platten ist.

Wenn die Matrix bei Schubspannungen cτ versagt, die Faser bei Zugspannungen cσ , so er-

reichen beide ungefähr gleichzeitig den kritischen Wert, wenn:

1 Dieser gesamte Abschnitt folgt dem Paper:

Gao, H., Ji, B., Jäger, I., Arzt, E., Fratzl, P. Materials become insensitive to flaws at nanoscale: Lessons from nature.- PNAS, 2003, v. 100, no. 10, pp. 5597-5600.

6.3 Bio- und Nanokomposite 77

1c cF d b Lbσ τ= = , also: 1/ /c cL d σ τ≈ . Das bedeutet, dass eine große Steifigkeit in Kombina-

tion mit einer großen Festigkeit auch mit einer weichen Matrix erreicht werden kann. Für die Festigkeit des Verbundes ist die Festigkeit der Fasern maßgebend. Diese wird größer bei Ver-kleinerung des Durchmessers der Fasern bzw. Platten.

Für eine Platte mit der Dicke 1d und einem runden Riss der Länge d bis zur Hälfte der Plat-

tendicke lautet das Griffith-Kriterium

1,plate c

E

d

γσ π= (6.4)

s

d1

s

Abb. 6.3 Modell zur Ermittlung von charakteristische Plattendicke im Verbundwerkstoff nach Griffith

Erreicht diese kritische Spannung die theoretische Festigkeitsgrenze 1

minth

E

d

πγσ ≈ , so wächst

die Festigkeit der Platten nicht weiter. Daraus ergibt sich die charakteristische Plattendicke, ab der die Platten nicht mehr „riss-sensitiv“ sind und ihre Festigkeit gleich der theoretischen Festigkeitsgrenze ist:

1min 2

th

Ed

πγσ

≈ . (6.5)

Molekulardynamikrechnungen (M.J. Bühler u.a., Abb. 6.4) bestätigen diese Abschätzung. Die Gerade resultiert aus dem Griffith-Kriterium ( 1/2dσ −

∼ ), die waagerechte Asymptote ist die theoretische Festigkeitsgrenze.

Abb. 6.4 Molekulardynamikrechnungen: Spannung in Abhängigkeit von der optimalen Plattendicken

Einsetzen von typischen Werten ( 21 /J mγ ≈ , 111 10E Pa= , 1 / 30th Eσ = ) ergibt

min 30d nm≈ . Ist die Dicke der Hartteilchen kleiner als diese, so ist der gesamte Verbund nicht

sensitiv zu Defekten der Struktur, und seine Festigkeit fällt mit der theoretischen Festigkeits-grenze zusammen (ungeachtet einer relativ schwachen Matrix).

Das optimale Längenverhältnis *ρ wird erreicht, wenn die Platten und die Matrix gleich-

zeitig versagen. Da 1c c

d

Lτ σ= ist, geschieht das für

78 6 Verbundwerkstoffe

,* 1

1 1

1plate c

c c

EL

d d

σ πγρτ τ

= ≈ ≈ . (6.6)

Je dicker die Platten, desto kleiner das optimale Längenverhältnis. Diese Korrelation ist tat-sächlich bei Biomaterialien erfüllt, z.B. in Muscheln: 200d nm≈ und 10ρ ≈ , in Knochen:

3d nm≈ , 80ρ ≈ .

6.3.2 Optimales Volumenverhältnis

Wie dick die Matrix-Schicht zwischen den steifen Platten sein soll ist auch eine interessante Frage, die verschieden beantwortet werden kann, abhängig von der anvisierten Anwendung. Eine Einschränkung kommt von der Stabilität des Komposits bei Belastung auf Druck. Die schlanken Platten oder Fasern können bei der Druckbelastung ihre Stabilität verlieren (kni-cken). Die weiche Schicht zwischen den Platten darf daher nicht zu dick sein. Die kritische Druckspannung, bei der der Verbund auf Knickung von Platten versagt wird zu:

3

1 222

4

3(1 )(1 )cr

E Eσν

Φ≈− − Φ

(6.7)

abgeschätzt. Die Knickungsordnung (die Zahl der Bäuche der geknickten Platte) ist dabei:

24

4 22 1

48

(1 ) (1 )

Em

π νΦ≈

− − Φ (6.8)

Die Dicke der weichen Schicht darf aber auch nicht zu dünn sein, da sonst die Bruchzähig-keit des Verbundes kleiner wird. Sie bestimmt auch die Festigkeit des Verbundes gegenüber Zugspannungen in der Richtung senkrecht zum Verlauf von Fasern/Platten.

6.4 Thermozyklisches Kriechen

In heterogenen (z.B. polykristallinen oder mehrphasigen) Materialien bzw. Verbundwerkstof-fen werden innere Spannungen auch durch reine Temperaturänderungen verursacht. Sind die thermischen Spannungen ausreichend groß, um mikroplastische Deformation zu verursachen, so wird sich das Material auch unter Wirkung von einer sehr kleinen äußeren Spannung plas-tisch deformieren. Diesen Effekt nennt man thermozyklisches Kriechen. Lokale Tempera-turänderungen können auch durch Bestrahlung entstehen. Dann gibt es strahlungsinduziertes Kriechen, welches auch bei sehr kleinen äußeren Spannungen stattfindet (dies ist wichtig für Werkstoffe, die in Kernkraftwerken benutzt werden).

In Abb. 6.5 kann man das typische Verhalten beim thermozyklischen Kriechen sehen. Ist die Amplitude der Temperaturänderungen größer als ein kritischer Wert, so deformiert sich der Werkstoff auch bei sehr kleinen Spannungen. Die Deformationsrate ist dabei proportional zur angelegten Spannung. Erst bei sehr großen Spannungen geht man in den Bereich „norma-ler Plastizität“ über und die Deformationsrate steigt schneller als linear.

6.4 Thermozyklisches Kriechen 79

Abb. 6.5 Beispiele für Thermozyklisches Kriechen. a) polykristallines Zink, b) Verbundwerkstoff aus Alumini-um-Matrix mit 20vol% SiC-Whiskern

Die Grundidee des thermozyklischen Kriechens kann man mit dem folgenden einfachen Modell verstehen: Betrachten wir eine Platte, die auf einem Untergrund liegt (Reibungskoef-fizient µ , Normalkraft FN).

T0

T + T0 D

T + T0 D

F=0

F

L

Abb. 6.6 Thermischer Kriechprozess einer Platte auf einem Untergrund mit dem Reibungskoeffizienten µ .

Wird die Platte erwärmt, und ist der Wärmeausdehnungskoeffizient der Platte um α∆ grö-ßer als der des Untergrunds, so dehnt sie sich relativ zum Untergrund um den Betrag

thL L TLε α∆ = = ∆ ∆ aus, und zwar symmetrisch in beide Richtungen, so dass ihr Schwerpunkt

auf der gleichen Stelle bleibt. Wirkt auf die Platte während der Erwärmung eine Kraft F in ho-rizontaler Richtung, so wird sich die Platte asymmetrisch bewegen. Statt dem Schwerpunkt wird jetzt der Punkt ruhen, der sich im Abstand l∆ links vom Schwerpunkt befindet, denn der Anteil der Reibungskraft, der nach rechts wirkt, muss größer sein als der Anteil, der nach links wirkt, damit die Resultierende mit F gerade im Gleichgewicht ist. Da sich die Reibungs-kraft entgegengesetzt zur Richtung der Bewegung (durch die Ausdehnung) ist, muss ein grö-ßerer Anteil der Reibungskraft nach links als rechts zeigen.

F

Dl

vv

FR2FR1

{ {

Abb. 6.7 Mechanismus des Kriechprozesses.

Die Gleichgewichtbedingung während des Erwärmens lautet damit:

/ 2 / 2

0N N

L l L lF F F

L Lµ µ+ ∆ − ∆ − + =

, (6.9)

80 6 Verbundwerkstoffe

also: 2N

F Ll

Fµ∆ = . Der Schwerpunkt verschiebt sich somit während der Erwärmung um:

2S th

N

FLu l T

Fε α

µ= ∆ = ∆ ∆ (6.10)

Während der Abkühlung bewegt sich der Schwerpunkt in der gleichen Richtung um den glei-chen Betrag: Der ruhende Punkt muss nun rechts vom Schwerunkt liegen, da die Ausdeh-nungsrichtung und die Richtungen der Reibungskräfte sich gerade umkehren. Die Rechnung läuft analog ab, so dass die gesamte Verschiebung während des ganzen Zyklus‘ gleich

gesN

FLu T

µ= ∆ ∆ ist. Dividieren wir diesen Ausdruck durch die halbe Dicke von Platte und

Unterlage (d.h. 1 2( ) / 2d d+ als Beispiel für einen Verbundwerkstoff), so erhalten wir für die

Scherdeformation:

( ) ( )

( )

1 2 1 2

1 2

2

/ 2

2 /2

/

ges

N

N c

u FLT

d d F d d

FL AT T

F A d d

ε αµ

τα ρ αµ τ

= = ∆ ∆+ +

= ∆ ∆ = Φ∆ ∆+

(6.11)

Für die Fließgrenze wurde hier die maximale „Reibspannung“ /c NF Aτ µ= gesetzt. Die De-

formation ist somit proportional zur Scherspannung, umgekehrt proportional zur Fließgrenze

cτ und ansonsten proportional zum Längenverhältnis der Platten. Das bedeutet, dass gerade

für faser- oder plattenverstärkte Verbundwerkstoffe die thermische Ausdehnung zum Problem werden kann, wenn die Matrix und die Fasern unterschiedliche Ausdehnungskoeffizienten haben.

Für isotrope plastische Stoffe gilt eine ähnliche Gleichung, die wir hier ohne Herleitung angeben:

( )5

3 cf

T Tσε ασ

∆ ⋅ ∆ − ∆≃ , (6.12)

wobei α∆ die Differenz zwischen den Ausdehnungskoeffizienten beider Phasen ist und cT∆

die kritische Temperaturänderung, bei der noch kein thermozyklisches Kriechen stattfindet.

Beispiel 1: thermozyklisches Kriechen einer Al-Legierung mit 2 3Al O und 2SiO Fasern.

Abb. 6.8 Komposit aus 95-97% Al2O3, 3-4% SiO2

6.4 Thermozyklisches Kriechen 81

Abb. 6.9 Thermozyklisches Kriechen. Stadien des Experiments: 1 - thermische Behandlung, 2 - spannungsfreies thermisches Zyklieren, 3 - thermisches Zyklieren unter Spannung 32 MPa.

Beispiel 2: thermozyklisches Kriechen von Zn

Abb. 6.10 Thermozyklisches Kriechen von Zn zwischen 303 K und 453 K

Abb. 6.11 Deformation als Funktion der Temperaturänderung T∆

7 Formgedächtnislegierungen

7.1 Deformation bei Phasentransformation

Viele Stoffe können bei Änderung von thermodynamischen Parametern (Temperatur und Druck) ihren Zustand vom flüssigen zum kristallinen und im weiteren Verlauf auch zwischen verschiedenen kristallinen Zuständen ändern. Diese Phasentransformationen sind meistens auch mit einer Volumenänderung verbunden (Volumendeformation). Beim Übergang zwi-schen verschiedenen kristallinen Phasen kann der Deformationstensor auch eine allgemeinere Form haben. Solche Transformationen können zur Änderung der makroskopischen Form des Körpers führen.

Formgedächtnislegierungen sind Stoffe, die einen Phasenübergang mit einem Deformati-onstensor zeigen, der sich nicht auf eine reine Volumenänderung zurückführen lässt. Solche Phasenübergänge weisen z.B. folgende Legierungen auf:

Tabelle 7.1

Legierung Kristalline Klassen vor und nach Übergang

Zahl äquivalenter

Orientierungen

1x xTi Ni − ("Nitinol") kubisch → trigonal 4

2Ni Al kubisch → tetragonal 3

14 4Cu Al Ni− − kubisch → orthorombisch 6

40Cu Zn− kubisch → monoklin 12

2ZrO Kubisch → tetragonal → monoklin

Man erkennt, dass die Hochtemperaturphase eine hohe Symmetrie besitzt, sie heißt Auste-

nit, während die Tieftemperaturphase von geringer Symmetrie ist und als Martensit bezeich-net wird. Wie jede Phasentransformation kann auch der Übergang zwischen zwei kristallinen Phasen von 1. oder 2. Art sein. Die Transformation in der verbreitetsten Formgedächtnislegie-rung - dem Nitinol - ist von der ersten Art.

7.2 Phasenübergang 1. Art: Die Clausius-Clapeyron-Gleichung

Die Temperatur des Phasenüberganges zwischen festem und flüssigem Zustand hängt be-kanntlich vom Druck ab. Diese Abhängigkeit wird durch die Clausuius-Clapeyron-Gleichung gegeben, die wir hier kurz herleiten wollen.

Beide Phasen werden durch ihr chemisches Potential beschrieben. Die Gibbsche Form mit chemischem Potential lautet:

dU TdS pdV dNµ= − + (7.1)

Die Legendre-Transformation auf die Gibbsche Enthalpie mit G U TS pV= − + führt auf:

( , , )dG p T N SdT Vdp dNµ= − + + (7.2)

Man kann zeigen, dass nun G Nµ= gilt. Wenn wir die Entropie S und das Volumen V auf N beziehen (d.h. Übergang zu den spezifischen Größen s und v), so erhält man:

86 7 Formgedächtnislegierungen

( , )d p T sdT vdpµ = − + (7.3)

Aus dem Vergleich dieser Formel mit dem totalen Differential von ( , )p Tµ , nämlich:

( , )d p T dT dpT p

µ µµ ∂ ∂= +∂ ∂

, (7.4)

folgt:

und s vT p

µ µ∂ ∂= − =∂ ∂

(7.5)

Wir betrachten nun einen Phasenübergang erster Art, z.B. flüssig-fest. Der Phasenübergang erster Art findet bei konstanter Temperatur statt. Beide Phasen sind genau dann im Gleichge-wicht, wenn ihre chemischen Potentiale gleich sind. Dann muss aber gelten:

( , ) ( , )I IIp T p Tµ µ= . Da Temperatur und Druck in beiden Phasen gleich sein müssen, ist dies

eine implizite Gleichung für die Funktion p(T): Wenn wir am Übergang sind und die Tempe-ratur T ist, so ist der Druck festgelegt. Umgekehrt gilt aber auch: wenn wir den Druck verän-dern, muss sich auch die Temperatur T, bei der der Phasenübergang stattfindet, ändern, bis wir wieder an dem Punkt sind, wo ( , ) ( , )I IIp T p Tµ µ= ist. Den Zusammenhang bekommen

wir durch Differenzieren nach T, wobei wir p als p(T) annehmen und daher implizit differen-

zieren müssen: I I II IIp p

T p T T p T

µ µ µ µ∂ ∂ ∂ ∂∂ ∂+ = +∂ ∂ ∂ ∂ ∂ ∂

.

Mit den partiellen Ableitungen , , ,s v I IIT p

α αα α

µ µ α∂ ∂= − = =∂ ∂

für die beiden Phasen folgt:

/

/II I II I

II I II I

s s S Sp T S V

T v v V V T V V

− −∂ ∆= = =∂ − − ∆

(7.6)

Nun sei II die Hochtemperaturphase (z.B. flüssig, i.a. größeres Volumen) und I die Nied-rigtemperaturphase (z.B. fest). Da T während des Phasenübergangs konstant bleibt, ist die Entropieerhöhung S∆ für den Phasenübergang relevant, und die spezifische Wärme des Pha-senübergangs 0q pro Volumen ist daher gleich: 0 /q T S V= ∆ . Die relative Volumenänderung

nennen wir V

V

Vε ∆= . Damit erhalten wir die bekannte Clausius-Clapeyron-Beziehung:

0 0

0 0

oder: V

V

q TpT p

T T q

εε

∂ = ∆ = ∆∂

(7.7)

Diese Gleichung beschreibt die Verschiebung der Temperatur T0 des Phasenübergangs bei Druckänderung. Die Größe Vε ist positiv, wenn die Hochtemperaturphase ein größeres spezi-

fisches Volumen hat als die Tieftemperaturphase (z.B. Phasenübergang flüssig-gasförmig für Wasser, nicht aber beim Übergang fest-flüssig). Die Temperatur des Phasenübergangs T0 ver-schiebt sich also, wenn der Druck erhöht wird, zu höheren Temperaturen, wenn Vε >0.

7.3 Parameter des Phasenübergangs Austenit - Martensit

Es gibt drei wichtige Unterschiede zwischen einem Phasenübergang zur flüssigen Phase und zwischen kristallinen Phasen:

7.3 Parameter des Phasenübergangs Austenit - Martensit 87

1) Ein Unterschied besteht darin, dass der Phasenübergang in einem polykristallinen Material nicht bei einer Temperatur T0 stattfindet, sondern in einem Temperaturintervall zwischen AT und MT (siehe Abb. 7.1). Das liegt an den inneren Spannungen, die bei einem

Phasenübergang in einer kristallinen Phase entstehen und die Temperatur des Phasenüberganges quasi während des Wachstums einer Phase kontinuierlich verschieben. Die Skizze 7.1 zeigt ein „ideales Diagramm“ für eine Martensit-Austenit-Transformation mit dem Anteil ξ der Martensitphase als Funktion der Temperatur.

x

T

Ende de

r

Trans

form

atio

n

0

1

TATM

Anf

ang

der

Trans

form

atio

n

Abb. 7.1 „Ideales Diagramm“

2) Der Übergang zwischen beiden Phasen erfordert die Bewegung von Phasengrenzen. Um diese in Bewegung zu setzen, muss eine gewisse kritische Spannung überwunden werden, die man als „Reibspannung“ (i.S. einer Haftreibung) für die Bewegung von Phasengrenzen betrachten kann. Dadurch entsteht im Phasenübergangsdiagramm eine Hysterese (siehe Abb. 7.2). Die Breite der Hysterese hängt von der Mikrostruktur (z.B. der Versetzungsdichte) ab.

x

T0

0

1

Af

As

Ms

Mf

Abb. 7.2 Übergangshysterese

Bezeichnungen:

sA ist die Temperatur des Startes des Phasenüberganges Martensit→Austenit bei Erwär-

mung;

fA (finish) entspricht dem Ende des Phasenüberganges in die austenitische Phase;

sM : Starttemperatur der Austenit→Martensit-Transformation;

fM : Endtemperatur der Transformation.

Ein typisches Diagramm für Nitinol kann z.B. wie skizziert aussehen (Abb. 7.2). Die "echte thermodynamische" Temperatur des Phasenüberganges 0T berechnet sich zu:

0 2f sA M

T+

= .

3) Der Phasenübergang zwischen den kristallinen Phasen wird durch den Distorsionstensor

ikD charakterisiert, welcher die Formänderung bei der Transformation charakterisiert. Der

Distorsionstensor wird wie folgt definiert: Ist ( )u r� �

die Verschiebung eines Punktes mit

der Anfangslage r�

beim Phasenübergang, so gilt: kik

i

uD

x

∂=∂

. Der Deformationstensor ist

definitionsgemäß der symmetrische Teil des Distorsionstensors:

88 7 Formgedächtnislegierungen

( )1 12 2

k iik ik ki

i k

u uD D

x xε

∂ ∂= + = + ∂ ∂ . Außerdem können zwischen den Phasen

Schubspannungen auftreten, sodass der Druck als skalare Größe nicht ausreicht, es muss der volle Spannungstensor verwendet werden. Wir erhalten daher:

0 0

0

TT

q

ε σ∆ = − ∆ (7.8)

In diesem Fall beschreibt 0ε die Formänderung 0 II Iε ε ε= − beim Übergang von der

Hochtemperaturphase („II “, Austenit) in die Niedrigtemperaturphase („I“, Martensit). Formal kann man diese Gleichung nicht benutzen, da die Voraussetzungen der Herleitung nicht erfüllt sind. (Druck und Temperatur sollten konstant und im Gleichgewicht überall gleich sein. Während das beim reinen Druckzustand möglich ist, können wir die Schubspannungen zwischen den kristallinen Phasen nicht beeinflussen.) Dennoch funktioniert diese Gleichung: Legt man an die Formgedächtnislegierung eine Spannung an, so verschiebt sich die Übergangstemperatur um T∆ . In diesem Fall müssen wir das gesamte Phasendiagramm (die komplette Hysterese, s.u.) verschieben. Da es mehrere

Martensitphasen gibt, die verschiedene Vorzeichen von 0ε aufweisen können, verschiebt

sich das Diagramm für eine der Martensitphasen nach rechts, für eine andere nach links.

7.4 Mikrostrukturen bei verschiedenen Temperaturen

Der Übergang von der Hochtemperaturphase in die Tieftemperaturphase verläuft wie folgt: Beim Erreichen der kritischen Temperatur des Überganges Austenit→Martensit entstehen - wie bei jedem Übergang erster Art - kleine Keime der zweiten Phase (Martensit), die bei wei-terer Temperaturabnahme wachsen, so dass die Struktur eine austenitische Matrix mit Ein-schlüssen von Martensit darstellt.

Bei der Temperatur, die dem Ende des Übergangs entspricht, hat sich der ganze Austenit in Martensit verwandelt. Wird die Temperatur nun wieder erhöht, so kann es zwei verschiedene Prozesse geben: entweder entwickeln sich die Martensit-Kristalle zurück (Abb. 7.3) oder in der Martensitmatrix entstehen Keime von Austenit. Bei weiterer Temperaturzunahme wach-sen sie bis sie das ganze Volumen eingenommen haben. Im Bereich zwischen dem Anfang und dem Ende des Phasenüberganges stellt die Struktur ein Gemisch aus zwei Phasen dar. Die Martensit-Einzelkristalle sind dabei zufällig orientiert, so dass die Probe insgesamt keine De-formation aufweist (außer eventuell einer geringen Volumendeformation).

7.5 Effekte bei Formgedächtnislegierungen 89

Abb. 7.3 Martensitische Einschlüsse in CuAl14Ni4.2 (wt%) Einkristalle in einer austenitischen Matrix. (http://www.smaterial.com/SMA/crystall/crystall.html)

Abb. 7.4 Anwachsen und Zurückgehen eines martensitischen Pfeils in einer austenitischen Matrix beim Kühlen mit nachfolgendem Aufheizen.CuAl14Ni4.2 (wt%) Einkristall. (http://www.smaterial.com/SMA/crystall/crystall.html)

7.5 Effekte bei Formgedächtnislegierungen

7.5.1 Das Zwei-Phasenmodell

Wir betrachten nun ein Modell-Material mit nur zwei möglichen Martensitvarianten. Die Austenitphase soll jeweils als symmetrische Phase (Quadrat) symbolisiert werden.

-e0

e0

Martensitphase 1

Martensitphase 2

-e0

e0

Martensitphase 1

Martensitphase 2a) b)

Austenit Austenit

Abb. 7.5 Zweiphasenmodelle

90 7 Formgedächtnislegierungen

Beschränken wir die Phasen-Deformationen auf zwei komplementäre Schubdeformationen, so sehen diese wie in Abb. 7.5a aus (die Spannungen in der Clausius-Clapeyron-Formel (7.8) sind dann entsprechend Schubspannungen). Die Phasen-Deformation der Phase 1 (und die zugehörige Richtung der Schubspannung) wollen wir als positiv annehmen, die der Phase 2 entsprechend negativ.

Noch einfacher kann man sich das Modell für Zugdeformation vorstellen. Die Austenitphase ist wieder die symmetrische Hochtemperaturphase (Quadrat), die Martensitphasen (Niedrigtemperaturphasen) werden als Rechtecke dargestellt (Abb. 7.5b). Die Phase 1 betrachten wir wieder als positiv (Deformation mit vertikaler Ausdehnung wer-den wie Zugspannungen in vertikaler Richtung positiv gezählt), dementsprechend ist Martensitphase 2 negativ zu berücksichtigen.

Wenn wir nun noch die Clausius-Clapeyron-Formel vereinfachen und berücksichtigen, dass wir bei der Berechnung der Phasen-Deformation von der Austenitphase als Referenzzustand ausgehen, so ist:

0 0 0 0

0 0

für Phase 1, und für Phase 2.T T

T Tq q

ε εσ σ∆ = ∆ ∆ = − ∆ (7.9)

Was passiert nun unter dem Einfluss äußerer Spannungen? Unter Spannung wird sich das gesamte Phasendiagramm in den Bereich der höheren oder niedrigeren Temperaturen ver-schieben. Dadurch ändert sich der Anteil des Martensits. Das Vorzeichen dieser Änderung hängt aber von der relativen Deformation 0ε± jedes einzelnen Martensitkristalls ab. Das be-

deutet, dass Martensitkristalle mit einer „günstigen“ Orientierung wachsen werden, während andere mit „ungünstigen“ Orientierungen schrumpfen. Im Falle von Zugspannungen ist dies für unser Modell natürlich Phase 1, da hier 0 0ε ≥ . Dies führt dazu, dass die gesamte Distor-

sion im Material nun nicht gleich Null wird: es entsteht eine makroskopische Deformation, die durch Phasentransformation verursacht wird, weil der Anteil einer der beiden Martensitphasen überwiegt. Wird eine so große Spannung angelegt, dass das ganze Material in eine Martensitphase übergeht, so ist die makroskopische Deformation ε gleich der Phasen-Deformation, hier z.B. 0ε . Bei Nitinol kann diese „Phasendeformation“ 8 bis 10% erreichen.

Diskutieren wir nun qualitativ die wichtigsten Eigenschaften von Formgedächtnislegierun-gen. Dazu benötigen wir nur die Clausius-Clapeyron-Formel und die Phasendiagramme für die Austenit-Martensit-Umwandlung: Zunächst liegen die Diagramme für beide Martensitvarianten quasi übereinander, wenn keine Spannung angelegt ist, d.h. beide Phasen wachsen mit gleicher Wahrscheinlichkeit, die makroskopische Deformation ist 0, da sich die Phasen-Deformationen der Martensitphasen im Mittel gegenseitig kompensieren (die beiden Phasen wachsen bis zu einem Anteil von je

1/ 2ξ = ). Ist eine Spannung angelegt, verschieben sich die Phasendiagramme beider Phasen nach

Clausius-Clapeyron um T∆ , aber eines nach rechts (+) und eines nach links (-). Damit lassen sich nun die verschiedenen Effekte von Formgedächtnislegierungen verstehen.

7.5.2 Pseudoelastizität

Ist die Temperatur der Legierung höher als fA , so befindet sich ihr ganzes Volumen im

austenitischen Zustand. Wird nun eine Spannung angelegt, verschiebt sich ein Diagramm nach links (nämlich dasjenige, bei dem die Phasen-Deformation der angelegten Spannung entgegengesetzt ist, Abb. 7.6a) und das andere nach rechts (diese Verschiebung ist in Abb 7.6b skizziert).

7.5 Effekte bei Formgedächtnislegierungen 91

x

T

x

T

ohne Spannung mit Spannung

a) b)

Af

As

Ms

Mf

Af

As

Ms

Mf

Abb. 7.6 Pseudoelastizität

Ist die Spannung nun so groß, dass sich das ganze Diagramm in den Bereich oberhalb der Temperatur T verschiebt, so wird sich der gesamte Austenit-Kristall in den Martensit mit der günstigen Orientierung verwandeln. Die Abhängigkeit der Spannung von der Deformation wird daher drei Stadien aufweisen (Abb. 7.7):

Abb. 7.7 Spannungs- Dehnungsdiagramm bei Pseudoelastizität

I. Elastische Deformation bis zum Beginn der Phasentransformation. II. Phasentransformation ("Plastizität durch Phasentransformation"). III. Elastische Deformation nach der vollständigen Transformation. Bei Abnahme der Spannung wird die Deformation vollständig zurückgehen. (Das Phasen-

diagramm verschiebt sich wieder zurück auf seine ursprünglich Position, wo T>Af und damit nur Austenit vorhanden ist.) In diesem Sinne verhält sich das Material „elastisch“. Dieser Ef-fekt von großen zurückgehenden Deformationen bei relativ kleinen Spannungen nennt man „Pseudoelastizität“. Er wird z.B. in Brillengestellen benutzt. Ein typisches Spannungs-Dehnungsdiagramm mit dem pseudo-elastischen Effekt in der Legierung CuZnAl bei einer Temperatur oberhalb fA ist in Abb. 7.8 gezeigt.

Abb. 7.8 Pseusoelastisches Verhalten von CuZnAl(Prof. H.-J. Meyer, Universität Paderborn).

Die relativ flache Spannungs-Dehnungskurve während einer pseudo-elastischen Deformation wird bei Anwendungen genutzt, wo die Spannung trotz großer Dehnungen nur sehr wenig va-riieren soll.

92 7 Formgedächtnislegierungen

7.5.3 Pseudoplastizität

Liegt die Umgebungstemperatur zwischen sA und fA und befindet sich das Medium am An-

fang im nicht deformierten Zustand, so wird es sich unter ausreichend großer Spannung durch Phasentransformation deformieren. Nach Abnahme der Spannung geht diese Deformation nur teilweise zurück.

T

x

Af

As

Ms

Mf

Abb. 7.9 Pseudoplastisches Verhalten

Liegt die Umgebungstemperatur unterhalb sA , und wird das Medium durch Phasenum-

wandlung deformiert, so geht diese Deformation nach Abnahme der Spannung nicht zurück. Dieses Phänomen nennt man „pseudoplastische Deformation“.

7.5.4 Formgedächtnis

Ist die Umgebungstemperatur kleiner als fA (noch besser: kleiner sA ), und wird das Medium

durch eine äußere Spannung deformiert, so bleibt eine restliche Deformation erhalten (siehe „Pseudoplastizität“). Wird nun das Medium auf eine Temperatur größer fA erwärmt, so geht

diese Deformation vollständig zurück, und der Körper nimmt seine ursprüngliche Form an.

T

x

Af

As

Ms

Mf

Abb. 7.10 Formgedächtniseffekt

Dieser Effekt trägt den Namen Formgedächtnis, und ist Namensgeber der ganzen Werkstoff-klasse. Der Formgedächtniseffekt wurde zum Beispiel bei der Montage von Fachwerkkon-struktionen an der Raumstation "Mir" benutzt (s.Abb 7.11).

7.6 Modellierung von Formgedächtnislegierungen als Phasenübergang 2. Art 93

Abb. 7.11 Kopie des auf der sowjetischen Raumstation "Mir" aufgebauten Fachwerkes: Universität St.-Petersburg.

7.5.5 Reaktive Spannungen

Ein weiterer Effekt entsteht, wenn der Rückgang der Phasendeformation bei Erwärmung ver-hindert wird. Da das Material die Form nicht ändern kann, ergeben sich die sogenannten reak-tiven Spannungen. Diese können z.B. in Aktuatoren verwendet werden.

7.6 Modellierung von Formgedächtnislegierungen als Phasenübergang 2. Art

Wir haben gesehen, dass der Phasenübergang für bestimmte Formgedächtnislegierungen (z.B. Nitinol) von erster Art ist. Da aber innere Spannungen auftreten, die verhindern, dass der Pha-senübergang bei einer bestimmten Temperatur geschieht, können die verschiedenen Phasen über ein ganzes Temperaturintervall koexistieren. Dies kann als Phasenübergang zweiter Art modelliert werden. Dazu ist ein sog. Ordnungsparameter notwendig, der in unserem Modell z.B. der Anteil einer Martensitphase ξ oder auch die dazu gehörende Deformation sein kann.

7.6.1 Phasenübergänge zweiter Art

Die Idee zur Beschreibung von Phasenübergängen zweiter Art stammt von Landau: Ein gege-benes System wird im thermodynamischen Gleichgewicht immer zu der Konfiguration gelan-gen, die zu dem Minimum der freien Energie F gehört. Wenn diese Energie von einem Ord-nungsparameter λ abhängt, kann folgendes passieren:

Entweder, die Energie hat ihr Minimum bei 0λ = , dann wird das System auch den Zustand einnehmen, der zu 0λ = gehört. Um die Stelle 0λ = können wir die freie Energie nach einem Polynom mit nur geraden Potenzen entwickeln, da sie immer nach unten beschränkt sein muss, wie in Abb. 7.12a gezeigt.

94 7 Formgedächtnislegierungen

l l

FF

T>Tc

T<Tc

c

a) b)

Abb. 7.12 Freie Energie in Abhängigkeit von der Temperatur

Bei einer anderen Temperatur kann nun aber die freie Energie anders aussehen, z.B. so, wie in Abb. 7.12b gezeigt: Das Minimum liegt nun bei cλ = ± , wobei meist das positive Vorzeichen gewählt wird, weil nur der Betrag von λ eine Rolle spielt. Die Veränderung von Abb. 7.12a nach Abb. 7.12b geschieht durch Temperaturänderung.

Aus diesen Überlegungen kann man nun die Form der freien Energie angeben:

2 40 0( )F F b T T aλ λ= + − + (7.10)

Wie man leicht zeigt, ist für positive Parameter a und b bei Temperaturen oberhalb der Über-gangstemperatur T0 das Minimum bei 0λ = , während für Temperaturen darunter

2 0( )

2

b T T

aλ −= − gilt. Der Ordnungsparameter wächst also mit 0T Tλ −∼ , was man (z.B.

bei Supraleitern 2. Art) auch beobachtet. Für Formgedächtnislegierungen wird diese Theorie nun leicht angepasst.

7.6.2 Anteil der Martensitphase als Zustandsgröße

Die Erfahrung zeigt, dass man Formgedächtnislegierungen durch phänomenologische Model-le beschreiben kann, bei denen als „innere Variable“ der Anteil der Martensitphase ξ benutzt

wird ( )0 1ξ≤ ≤ . Da es mehrere Martensitvarianten gibt, die sich nur durch ihre Orientierung

unterscheiden, wäre der nächste Schritt, die Anteile der Martensit-Kristalle verschiedener Orientierung 1ξ , 2ξ usw. als Zustandsgrößen zu benutzen. Die mit dem Phasenübergang zu-

sammenhängende Deformation ist proportional zur Konzentration der entsprechenden Martensit-Variante; man kann daher statt dessen auch unmittelbar die der aktuellen Martensitkonzentration 1ξ entsprechende Deformation 0i iε ξ ε= benutzen, wobei 0ε die ma-

ximal erreichbare Phasendeformation (für 1iξ = ) ist. Die Zahl der Martensit-Varianten hängt

vom Werkstoff ab und liegt in realen Formgedächtnislegierungen zwischen 3 und 12. Wir werden diese Zahl als 2 annehmen (wie oben beschrieben). Dies ist die minimale Zahl der Va-rianten, bei der die für Formgedächtnislegierungen charakteristischen Effekte vorhanden sind. Dies entspricht zwar keiner realen Formgedächtnislegierung; das „minimalistische“ Modell zeigt trotzdem alle charakteristischen Effekte und ist zum allgemeinen Verständnis dieser Ma-terialien geeignet. Die beiden Varianten 1ε und 2ε entsprechen Deformationen in entgegen-

gesetzter Richtung, sodass 1 0ε ≥ , 2 0ε ≤ . Man beachte, dass die Phasen-Deformation eines

Austenit-Einkristalls in eine der beiden Martensitvarianten immer 0ε ist (mit jeweils unter-

schiedlichem Vorzeichen). Die Gesamtdeformation eines makroskopischen Materials kann kontinuierliche Werte zwischen -0ε und + 0ε annehmen. Teilt man diese Gesamtdeformation

7.6 Modellierung von Formgedächtnislegierungen als Phasenübergang 2. Art 95

nach Beiträgen der Phasen 1 und 2 auf, so sind diese Beiträge 1 0ε ≥ , 2 0ε ≤ . Ihre Beträge

können alle Werte zwischen 0 und 0ε annehmen.

7.6.3 Das Modell für Formgedächtnislegierungen

Für Formgedächtnislegierungen gibt es einige Unterschiede zu der Landau-Theorie: 1) Es gibt zwei Martensitphasen. Also müssen zwei miteinander verknüpfte

Phasenübergänge modelliert werden statt nur einem. 2) Als Ordnungsparameter können die Anteile 1ξ und 2ξ der beiden Martensitphasen

genommen werden. Als bessere Alternative bieten sich aber die Deformationen 1ε und

2ε der beiden Phasen unseres Modells an. Dabei gilt es aber zu beachten, dass die gesamte

Deformation beschränkt ist: Selbst bei kompletter Austenit→Martensit-Umwandlung in nur eine der Martensitphasen kann die maximale Deformation einen Wert von 0ε (+ oder -

) nicht überschreiten. Die Martensitanteile 1ξ und 2ξ liegen also jeweils zwischen 0 und 1.

3) Nach der Landau-Theorie gilt für den (positiven) Ordnungsparameter wie gesehen

0T Tλ −∼ , im Falle der Formgedächtnislegierungen sind die Tξ − − bzw.

Tε − − Diagramme hingegen linear. Das heißt, dass wir in der Landau-Theorie statt 2λ nun 1ε und 2ε schreiben müssen.

4) Die Phasenumwandlung ist ein dynamischer Prozess, der wie gesehen mit Reibungskräften zwischen den Phasengrenzen verbunden ist. Daher müssen diese dissipativen Kräfte (die einfach als Coulombsche Reibung modelliert werden) mit eingebaut werden.

5) Es müssen alle relevanten Energieformen in der freien Energie mit berücksichtigt werden. Dies ist hier auch die elastische Energie, die bekanntlich von der elastischen Deformation abhängt. Die Deformationen 1ε und 2ε sind aber keine elastischen Deformationen, daher

müssen diese von der gesamten Deformation abgezogen werden, um die elastische Deformation zu erhalten.

Damit können wir nun die freie Energie für Formgedächtnislegierungen in Analogie zur Landau-Theorie aufbauen:

( ) ( )( ) ( )

2

1 2 2 210 1 2 1 222

F E b T Tε ε ε

ε ε γ ε ε− −

= + − + + + (7.11)

Der erste Term ist die elastische Energiedichte, dann folgen je zwei Terme, die linear und quadratisch in den beiden Ordnungsparametern sind. Man beachte, dass hier statt 2

iλ ε→ ge-

wählt wurde, daher sind die Beträge zu schreiben, um die Positivität zu gewährleisten. Der letzte Term enthält quadratische Ausdrücke in den Phasendeformationen iε . Diese kann

man als Energie interpretieren, und zwar als die Arbeit, die nötig ist, um gegen die Eigen-spannungen bei der Transformation zu deformieren. Die elastischen Spannungen berechnen sich zu:

( )1 2Eσ ε ε ε= − − (7.12)

96 7 Formgedächtnislegierungen

7.7 Thermodynamische Eigenschaften

Betrachten wir zunächst den spannungsfreien Fall (0σ = ). Für 0T T> hat die freie Energie

ein Minimum bei 1 2 0ε ε= = , denn es gilt z.B. für 1ε :

1 1

2

21 10 0

0 und 0F F

ε εε ε= =

∂ ∂= >∂ ∂

(7.13)

Für 0T T< wird ein Minimum angenommen bei:

( )1 2 0

bT Tε ε

γ= − = − (7.14)

Allerdings müssen wir hier noch die Beschränkung der maximal möglichen Phasen-Deformation beachten. Bei der Endtemperatur der direkten martensitischen Transformation Mf gilt, wenn beide Phasen gleichzeitig wachsen:

( )01 2 2 s f

bM M

εε εγ

= − = = − (7.15)

Der Temperaturunterschied vom Beginn der Transformation bis zum Ende ist gerade (Ms - Mf). Die maximale erreichbare Phasentransformation ist somit

( )0

2s f

bM Mε

γ= − . (7.16)

Beschränkung des Martensitanteils. Nach dem Erreichen der maximalen Konzentration kann die Martensitkonzentration nicht weiter wachsen, da 1 2 0ε ε ε+ ≤ . Diese Forderung

kann im Modell formal durch Einführung einer zusätzlichen Energie 1 2

0GrenzF f

ε εε

+ =

erfüllt werden, wobei ( )f x eine "Wandfunktion" ist. Diese Funktion wird nur für die numeri-schen Berechnungen benutzt.

x

f

1 Abb. 7.13 Grenzenergie

7.7.1 Innere Reibung

Die Entwicklung der Phasenstruktur geschieht durch Bewegung von Phasengrenzen, bei de-ren Bewegung aber Kräfte auf sie einwirken, die den Charakter einer „trockenen“ (Coulombschen) Reibung haben. Für solche Kräfte ist die Leistung der Energiedissipation D

proportional zum Betrag der Deformationsgeschwindigkeit: ( )0 1 2D σ ε ε= +ɺ ɺ . 0σ ist hier die

innere „trockene“ Reibungsspannung.

7.8 Analytische Untersuchungen des Modells 97

7.7.2 Bewegungsgleichungen

Die Gleichgewichtsgleichungen für das System lauten: 0i i

F D

ε ε∂ ∂+ =∂ ∂ ɺ

. Die Form der Funktion

i

D

ε∂∂ ɺ

ist in Abb. 7.14 links skizziert.

s0

e

.

-s0

-1 -0,5 0 0,5 1x

0,5

1

1,5

2

z

Abb. 7.14 Funktionensverläufe

Die Auflösung dieser Gleichung nach iεɺ ergibt 0sgniii

F Ffε σ

εε ∂ ∂= − ∂∂

ɺ ,

wobei f die oben eingeführte "Wandfunktion" ist. Bei numerischer Realisation kann man ( )f z z.B. als eine große Potenz von z wählen:

100( )f z const z= ⋅ (Abb. 7.14 rechts). Da es zwei Phasen gibt, erhalten wir auch zwei Bewegungsgleichungen:

0 1 1 0 1

0 2 2 0 2

( )sgn sgn 0

( )sgn sgn 0

b T T

b T T

σ ε γε σ εσ ε γε σ ε

− + − + + =− + − + + =

ɺ

ɺ (7.17)

Dabei wurde die von außen angelegte Spannung bereits eingesetzt.

7.8 Analytische Untersuchungen des Modells

Die Parameter b , 0T und γ des phänomenologischen Modells können durch die vier charak-

teristische Temperaturen, die minimale Phasendeformation 0ε sowie die innere Reibungs-

spannung 0σ ausgedrückt werden. Wir nehmen an, dass immer 1 0ε ≥ und 2 0ε ≤ gilt. Damit

können wir die Beträge teilweise auflösen. Man beachte aber, dass für die Deformationsge-schwindigkeiten beide Vorzeichen auftreten können, da sowohl Wachsen als auch Schrump-fen möglich sind.

Die Bewegungsgleichungen lauten:

0 1 0 1

0 2 0 2

( ) sgn 0

( ) sgn 0

b T T

b T T

σ γε σ εσ γ ε σ ε

− + − + + =− − − − + =

ɺ

ɺ (7.18)

Als 0T kann der Mittelwert zwischen fA und sM gewählt werden:

0 2f sA M

T+

= (7.19)

Bei einer Temperaturerhöhung aus dem martensitischen Zustand mit 1 2 0 / 2ε ε ε= = (d.h.

beide Martensitphasen kommen gleich häufig vor und beanspruchen jeweils genau die Hälfte)

98 7 Formgedächtnislegierungen

wird dieser Zustand solange stabil bleiben wie die verallgemeinerten thermodynamischen Kräfte 1/U ε∂ ∂ und 2/U ε∂ ∂ betragsmäßig die Reibspannung nicht übersteigen, d.h. solange

( )0 1 0 0 0 0( ) ( ) ( ) s fb T T b T T b T T b M Mγε γε σ− + = − + = − + − < . (7.20)

Daraus folgt: ( )0 0s s fb A T M M σ− + − = oder ( ) 02 22 s f s f

bA A M M σ− + − = .

Unter Berücksichtigung der Eigenschaft, dass

f s s fA M A M− = − (7.21)

(was wir für dieses Modell immer als Vereinfachung annehmen), ergibt sich:

( )02

s f

bA M

σ=−

(7.22)

Beim Abkühlen aus dem austenitischen Zustand mit 1 2 0ε ε= = wird dieser Zustand so-

lange stabil bleiben, bis die verallgemeinerten thermodynamischen Kräfte 1/U ε∂ ∂ und

2/U ε∂ ∂ die Reibspannung nicht übersteigen, d.h. solange 0 1 0 0( )sign ( )b T T b T Tε σ− = − < .

Daraus folgt ( ) 02 f s

bA M σ− = . Es ergibt sich dieselbe Gleichung für b wie oben, vorausge-

setzt dass

f s s fA M A M− = − gilt. Aus ( )0

2s f

bM Mε

γ= − und ( )

02

s f

bA M

σ=−

folgt für γ :

( )( )

0

0

4 s f

s f

M M

A M

σγ

ε−

=−

(7.23)

Aus den Gleichgewichtsgleichungen 0 1 0 1( ) sgn 0b T Tσ γε σ ε− + − + + =ɺ folgt, dass das

Anlegen einer Spannung σ zur Temperaturverschiebung Tb

σ∆ = des Phasengleichgewich-

tes führt. Ein Vergleich mit der Clausius-Clapeyron-Gleichung 00

0

TT

qε σ∆ = liefert die Rela-

tion:

0

0 0

qb

T ε= (7.24)

7.9 Typische thermomechanische Belastungsfälle

7.9.1 Maximale Phasendeformation

Berechnen wir die maximale Phasendeformation in Abhängigkeit von der Spannung. Die Gleichgewichtsgleichungen (7.18) für die beiden Martensitvarianten während der direkten Transformation 1 0ε >ɺ , 2 0ε <ɺ sind nun:

7.9 Typische thermomechanische Belastungsfälle 99

0 1 0

0 2 0

( ) 0

( ) 0.

b T T

b T T

σ γε σσ γε σ

− + − + + =− − − + − =

(7.25)

Die Addition beider Gleichungen ergibt

( )( )1 2 1 2 0

0

2

2

s f

s f

A M

M M

σ σε ε ε ε εγ σ

−+ = − = =

−. (7.26)

7.9.2 Beginn der Phasentransformation

Gegeben sei ein Material im austenitischen Zustand. Bei welcher Spannung beginnt die Pha-sentransformation (und somit Phasendeformation)?

Lösung. Nehmen wir an, dass die angelegte Spannung positiv ist, dann wird auch die De-formation positiv sein: es wird sich bevorzugt die Martensitvariante mit 1 0ε > bilden, dabei

ist 1 0ε >ɺ . Die Gleichgewichtsgleichung 0 1 0 1( ) sgn 0b T Tσ γε σ ε− + − + + =ɺ nimmt im

austenitischen Zustand 1 0ε = + die Form 0 0( ) 0b T Tσ σ− + − + = an. Daraus folgt:

0 0( )b T Tσ σ= − + .

Unter Berücksichtigung der Relationen ( ) ( )0 02 2

s f f s

bA M A M

σ σ= =− −

und 0 2f sA M

T+

= er-

halten wir den Beginn der Phasentransformation bei der Spannung:

02 s

f s

T M

A Mσ σ −=

− (7.27)

7.9.3 Minimale Spannung, für die die maximale Deformation erreicht wird

Bei welcher minimalen Spannung wird die maximale mögliche Deformation bei direkter Transformation erreicht? Bei welcher Temperatur wird diese Deformation erreicht?

Lösung: Die maximale Deformation bei Abkühlung aus dem austenitischen Zustand ist durch

( )( )1 2 0 0

0 2

s f

s f

A M

M M

σε ε ε εσ

−+ = =

− gegeben. Daraus folgt:

02 s f

s f

M M

A Mσ σ

−=

− (7.28)

Die Gleichgewichtsgleichung 0 1 0 1( ) sgn 0b T Tσ γε σ ε− + − + + =ɺ nimmt daher die Form

0 0 0 02 ( ) 0s f

s f

M Mb T T

A Mσ γε σ

−− + − + + =

− (7.29)

100 7 Formgedächtnislegierungen

an. Mit den Ausdrücken für b, T0 und ( )( )

0

0

4 s f

s f

M M

A M

σγ

ε−

=−

sowie mit Gl.(7.21) berechnet sich

die Temperatur zu:

1 10 2 22 2 0

.

s f s f s f

f

M M T T M M A M

T M

− + + − + − + − =

⇒ = (7.30)

7.9.4 Reaktive Spannungen

Wird nun die Probe im Zustand mit maximaler Deformation gespannt und erwärmt bis zur Temperatur T, wie weit geht dann die Transformation Martensit-Austenit? Bei welcher Tem-peratur endet die Transformation?

Lösung: In diesem Fall gilt 0ε ε= , 1 0ε <ɺ .

Die Gleichgewichtsgleichung 1 0 1 0 1( ) ( ) sgn 0E b T Tε ε γε σ ε− − + − + + =ɺ nimmt nun die

Form 0 1 0 1 0( ) ( ) 0E b T Tε ε γε σ− − + − + − = an. Daraus folgt für die martensitische Deformati-

on 1ε :

000 0 0 00 0 0

1

2 21 22

.

f

f s f sf s

A TT TT T E EEA M A MA M

E E E

ε σ ε σε σ σε

γ γ γ

−−− + − ++ − − −− = = =+ + +

(7.31)

Für fT A= ergibt sich nun beispielsweise: 01

E

E

εεγ

=+

, die Spannung ist dabei gleich:

( )

( )00

0

4 s f

s f

M ME

E A M

σγ εσ γεγ

−= ≈ =

+ −. (7.32)

Für 0 90MPaσ = , 9fM C= − ° , 3sM C= ° , 17sA C= ° , 30fA C= ° , 0ε =0.06, erhalten wir

01,8σ σ≈ . Der vollständige Übergang endet bei 1 0ε = , daher bei einer Temperatur:

( )0

02f f s

ET A A M

εσ

= + − . (7.33)

Für die oben genannten Parameter erhalten wir

60 6 27

30 5702 9

T C C C⋅ ⋅= ° + ° = °

⋅. (7.34)

Frage: Wie erzeugt man bei einer Formgedächtnislegierung die Hochtemperaturform?

Lösung: Die Formgedächtnislegierung wird in den gewünschten Zustand gebracht und (gut) fixiert. Die reaktiven Spannungen müssen so groß sein, dass sie die Fließgrenze erreichen. Wir haben gesehen, dass dies für eine maximale Deformation bei fester Einspannung auf je-den Fall bei T=570°C erreicht wird, denn die theoretische Spannung wäre hier für unser Bei-spiel

0 5,4E GPaσ ε= ≈ , (7.35)

7.9 Typische thermomechanische Belastungsfälle 101

was die Fließgrenze bei weitem übersteigt.

7.9.5 Berechnung eines Aktuators

Der größte Teil der auf Formgedächtnislegierungen basierenden Aktuatoren besteht aus zwei Elementen: ein Element (Stab, Platte, Feder) aus der Formgedächtnislegierung und ein elasti-sches Element (bzw. eine konstante Gewichtskraft, Abb. 7.15).

sFGL FGL FGL FGL

Abb. 7.15 Aktuatoren mit Formgedächtnislegierungen

Aufgabe: Ein Faden aus Nitinol soll eine Kugel mit der Masse m um h∆ hochheben, wenn die Umgebungstemperatur einen kritischen Wert überschreitet. Bei Kühlung soll die Kugel wieder in ihre ursprüngliche Position zurück gehen. Welche Parameter (Länge, Durchmesser) muss der Faden haben, damit das so funktioniert?

Lösung: Bei einer Temperatur von cT T> wird die Kugel um maximal h∆ angehoben, bei der

Abkühlung unter cT geht 0h∆ → .

Die erforderliche Länge berechnet sich aus der bekannten Dehnung während der Transforma-tion ( 0 0,06ε = ):

00

16,7h h

l hl

εε

∆ ∆= ⇒ = ≈ ∆

Den erforderlichen Durchmesser, bzw. die Querschnittsfläche berechnen wir über die Span-nungen

F mg

A Aσ = =

und

02 s f

s f

M M

A Mσ σ

−=

−.

Mit den oben gegebenen Werten ergibt der Vergleich der beiden Spannungen die Fläche des Fadens:

83MPa

mgA =

Für eine Masse 10kgm= ergibt sich z.B. die Querschntttsfläche 6 21,2 10 mA −= ⋅ , bzw. der Durchmesser des Fadens 1,2mmd ≈ .

102 7 Formgedächtnislegierungen

7.10 Numerische Untersuchung des Modells

Zum Schluss untersuchen wir ein Modell mit Parametern, die dem folgenden Diagramm ent-nommen werden können.

Abb. 7.16 Modellverhalten

Beim thermischen Zyklieren sieht man den direkten Übergang Austenit-Martensit und den umgekehrten Übergang Martensit-Austenit, wobei die gesamte Deformation (rot) gleich Null bleibt. Die beiden Martensitphasen (gestrichelt grün, unten und blau, oben) wachsen ohne an-gelegte Spannung zu gleichen Anteilen.

7.10.1 Pseudoelastizität ( )58T C= °

Wird die Spannung bei einer Temperatur größer als fA angelegt, so geht die gesamte Defor-

mation nach der Abnahme der Spannung vollständig zurück (Pseudoelastizität).

Abb. 7.17 Pseudoelastizität, ( )58T C= °

7.10 Numerische Untersuchung des Modells 103

7.10.2 Pseudoplastizität

Abb. 7.18 Pseudoplastizität ( 20T C= ° , links und 13T C= − ° , rechts)

7.10.3 Deformation aus der martensitischen Phase

Abb. 7.19 (1) -20°C, (2) -10°C ; (3) 0°C, (4) 10°C, (5) 20°C, (6) 30°C, (7) 40°C, (8) 50°C

7.10.4 Transformationsplastizität

Dieser Effekt erzeugt eine beträchtliche Deformation, wenn an die Probe eine kleine Span-nung angelegt wird und sie dann über das Intervall der direkten Transformation gekühlt wird.

Abb. 7.20 Pseudoplastisches Verhalten bei direkter Transformation

104 7 Formgedächtnislegierungen

Berechnen wir die maximale Phasendeformation in Abhängigkeit von der Spannung. Die Gleichungen für die beiden Martensitvarianten während der direkten Transformation 1 0ε >ɺ ,

2 0ε <ɺ sind:

0 1 0

0 2 0

( ) 0

( ) 0

b T T

b T T

σ γε σσ γε σ

− + − + + =− − − + − =

(7.36)

Die Addition beider Gleichungen ergibt

( )( )1 2 0

0

2

2

s f

s f

A M

M M

σ σε ε εγ σ

−+ = =

− (7.37)

Einen ähnlichen Effekt gibt es auch bei der Rücktransformation aus dem martensitischen in den austenitischen Zustand. Im Unterschied zur direkten Transformation nimmt die Deforma-tion unter Spannung zunächst zu (eine Martensitphase schrumpft zuerst und geht in Austenit über, die andere Martensitphase schrumpft verzögert, sodass eine Nettodeformation übrig bleibt), und nimmt anschließend wieder ab: Bei hoher Temperatur muss die Phasen-deformation natürlich verschwinden.

Abb. 7.21 Pseudoplastisches Verhalten bei der Rücktransformationvon martensitisch nach austenitisch

7.10.5 Reaktive Spannungen

Wird die Probe bei der direkten Transformation mit einer kleinen Spannung belastet (im fol-genden Beispiel 2MPa) so entsteht eine kleine Phasendeformation. Wird nun diese konstant gehalten (eine weitere Deformation verhindert) und die Probe erwärmt, so entstehen im Me-dium große Spannungen, die die zur Erzeugung der Deformation benötigte Spannung um ein Vielfaches übersteigen.

Reaktive Spannungen können mithilfe der Gleichung (7.37) abgeschätzt werden, ange-nommen, dass bei hoher Temperatur die gesamte Phasendeformation verschwindet:

( )( )0

0 2

s f

reakt

s f

A ME

M M

σσ εσ

−≈

−.

σ ist die Spannung, die zur Anfangsdeformation führt (im Modell 2 MPa). reaktσ ist die -

nach Temperaturerhöhung bis zur kompletten Austenitumwandlung resultierende - reaktive Spannung. Sie kann jedoch nicht größer als die Phasenfließgrenze bei Betriebstemperatur werden.

7.10 Numerische Untersuchung des Modells 105

Abb. 7.22 reaktive Spannung

7.10.6 Anomaler Rückgang der Deformation

Wird während der direkten Transformation eine Spannung angelegt und dann wieder wegge-nommen, so entwickelt sich zunächst die Phasendeformation; nach der Abnahme der Span-nung geht sie jedoch zurück (falls das Temperaturintervall bis zum Ende der Transformation nicht zu kurz ist). Dieser Effekt ist als anomaler Rückgang der Phasendeformation bekannt. Die durch die Spannung unterdrückte Martensitphase wächst offenbar bevorzugt (schneller als die von der Spannung geförderte Phase), bis beide Martensitphasen wieder gleichverteilt sind (keine bleibende Gesamtdeformation (siehe Abb. 7.23), oder bis das gesamte Material in Martensit umgewandelt ist. Dann kann es eine bleibende Restdeformation geben.

Abb. 7.23 anomaler Deformationsrückgang

7.10.7 Zwei-Wege-Effekt

Wird eine Probe bei der direkten Transformation durch eine kleine Spannung deformiert und dann - festgehalten in dieser Form - über das Temperaturintervall der Transformation mehr-mals erwärmt und gekühlt ("trainiert"), so kann sie sich an beide Formen "erinnern" - sowohl an die Hochtemperaturform (normaler Formgedächtnis-Effekt) als auch an die Tieftempera-turform (Ergebnis des "Trainings"). Die Ursache für diesen Effekt liegt im thermozyklischen Kriechen ("normale Plastizität"), welches beim mehrmaligen Zyklieren zur Speicherung von

106 7 Formgedächtnislegierungen

"echter" plastischer Deformation führt. Diese kann man im Modell berücksichtigen, indem man im Term für die innere elastische Spannungen eine plastische Deformation einführt:

( ) ( )( )2 21

1 22 p pγ ε ε ε ε+ + + (7.38)

Noch einfacher lässt sich der Two Way Effect erreichen, indem man ein Komposit aus ei-ner elastischen Struktur (mit der für die tiefe Temperatur gewünschter Form) und einer Form-gedächtnislegierung macht. Bei Erwärmung des Komposits wird er die Hochtemperaturform annehmen und dabei die elastische Phase spannen. Wird nun die Probe gekühlt, so befindet sich die Legierung im Spannungsfeld, welches durch die elastische Phase erzeugt ist. Diese Spannung verursacht Transformationsplastizität.

Abb. 7.24 Der Phasenübergang führt nach Aufbringen innerer Spannungen über die oben eingeführten plastischen Deformationen zu einer Verformung der Martensitphase auch ohne angelegte Spannungen

Literatur: Popov V.L. Phenomenological model of shape memory alloys with two compo-

nent order parameter. - Tech. Phys. 41 (11), pp. 1109-1116, 1996.

7. 11 Anwendungen von Formgedächtnislegierungen

Formgedächtnislegierungen (z.B. Nitinol) werden u.a. in folgenden Bereichen angewandt:

7.11.1 Medizintechnik

Es werden folgende Eigenschaften benutzt: Formgedächtnis, Pseudoelastizität, das extrem ge-ringe Korrosionspotential und die damit verbundene Biokompatibilität.

• kieferorthopädische Produkte: Draht für fest sitzende Zahnspangen

7. 11 Anwendungen von Formgedächtnislegierungen 107

• Stents: Medizinischer Stent aus NiTi vor und nach dem Ausdehnen.

• Filter: Venenfilter zur Verhinderung des Abschwemmens von Blutgerinnseln

• Unfallchirurgie: Ausrichten von Brüchen

• Kardiologie

• Skoliose-Behandlungen

7.11.2 Verbindungselemente

Rohrverbinder im Flugzeugbau (Hydraulikleitungen), hochbelastbare Verbindungen von Pipelines, Schrumpfringe zum Dichten, Sicherungsmuttern

108 7 Formgedächtnislegierungen

• Brillenrahmen (TITANflex): Die Brillenrahmen gehen selbst bei extremer Verformung immer

wieder in ihre ursprüngliche Form zurück.

7.11.3 Sicherheitstechnik

• Sicherheitselemente bei Toastern

• Verbrühschutz im Brausekopf, Überhitzungsschutz in Durchlauferhitzern, Reiskochern u.a.

• Wassermischventil

Eine Feder aus Formgedächtnislegierung öffnet das Sicherheitsventil bei bestimmter Tempe-ratur. Als Ersatz von Bi-Metallen in Sprinkler- und Feuermeldeanlagen.

7. 11 Anwendungen von Formgedächtnislegierungen 109

7.11.4 Aktuatoren

Regelung, Steuerung und Schalter Schlauchklemmen, Klappentätigkeit bei Ventilatoren, Thermobimetallschnappelement

Steckverbindungen für Schaltkreise, Ventilsteuerung, Dampfdruckregulierer, Dübel. Aktoren und Robotik, Gelenke aus Memory-Aktuatoren, Roboterhand von Hitachi, Roboterglieder, Greifer.

• Motor, Kraftfahrzeug, Antriebe, Luft- und Raumfahrt

Wärmekraftmaschinen, Steuerung von Solaranlagen, Scheinwerferverstellung, Türschließ-

anlagen, Aktoren für die Innenraumbelüftung, verstellbare Tragflächen, Raumfahrtantennen, Rotorsteuerung am Helikopter

• Dämpfung

Ausnutzung der dissipativen Hysterese z.B. während pseudoelastischer oder pseudoplasti-

scher Deformation. Eine FGL-Feder kann gleichzeitig als Dämpfer benutzt werden.

8 Elastomere / Gummi

8.1 Einführung

Gummi und andere Elastomere spielen eine wichtige Rolle in vielen tribologischen Anwen-dungen. Sie werden dort eingesetzt, wo große Haft- oder Reibkräfte oder große Deformierbarkeit gefordert werden. Insbesondere finden sie Verwendung als Material für Rei-fen, Beförderungsrollen (z.B. in Druckern), Sportschuhe, Dichtungen, Gummibänder, in elektronischen Geräten (z.B. für Kontakte in Tastaturen) sowie in Haftvorrichtungen.

Die zwei wichtigsten Eigenschaften von Elastomeren sind: (1) ein extrem kleiner Elastizi-tätsmodul (ca. 1 bis 10 MPa, d.h. 4 bis 5 Größenordnungen kleiner als bei „normalen Festkör-pern“) und (2) eine extrem hohe Deformierbarkeit: Oft können Elastomere um ein Mehrfa-ches ihrer Anfangslänge gedehnt werden.

Die Ursache für beide Grundeigenschaften von Elastomeren liegt in ihrer Struktur. Elasto-mere bestehen aus Polymermolekülen, die relativ schwach miteinander wechselwirken. Im thermodynamischen Gleichgewichtszustand befinden sie sich in einem statistisch bevorzugten verknäulten Zustand. Wird an das Elastomer eine mechanische Spannung angelegt, so begin-nen sich die Polymermoleküle zu entflechten (Abb. 8.1). Wird das Elastomer entlastet, so relaxieren die Polymermoleküle wieder in den knäuelartigen Zustand zurück. Während bei „normalen Festkörpern“ der Gleichgewichtszustand im Wesentlichen einem Minimum der potentiellen Energie entspricht, ist es bei Elastomeren im Wesentlichen die Entropie, die im Gleichgewichtszustand ihr Maximum erreicht. Man spricht dann von Entropieelastizität1.

Um ein vollständiges Auseinanderlaufen der Ketten unter Zugbelastung zu vermeiden, werden die Ketten bei Gummi durch Schwefelbrücken untereinander verbunden – diese Be-handlung ist als Vulkanisation bekannt2. Beim Zusatz von viel Schwefel bei der Vulkanisation entsteht Hartgummi, bei der Zugabe von wenig Schwefel Weichgummi. Um ein Optimum an Elastizität, Verschleißbeständigkeit und Haftung zu erzielen, wird Gummi bei der Herstellung von Autoreifen mit Ruß vermischt. Den so hergestellten Verbundwerkstoff nennt man „ge-füllten Gummi“.

Dehnung

Relaxation

Abb. 8.1 Schematische Darstellung der Änderung der Struktur eines Elastomers bei Dehnung.

Im Hinblick auf tribologische Eigenschaften geht man davon aus, dass die Kontakt- und Reibungseigenschaften von Elastomeren im Wesentlichen auf ihre rheologischen Eigenschaf-ten zurückzuführen sind. Mit anderen Worten, die tribologischen Eigenschaften von Elasto-meren sind im Wesentlichen nicht durch ihre Oberflächeneigenschaften, sondern durch ihre Volumeneigenschaften bedingt. Das ist der Grund, warum wir uns in diesem Kapitel zunächst einer ausführlichen Analyse der rheologischen Eigenschaften von Gummi sowie Methoden zu deren Beschreibung widmen. Die in diesem Kapitel eingeführten Begriffe und Methoden werden im nächsten Kapitel zur Diskussion der Reibung von Elastomeren benutzt. Wir be-

1 In diesem Sinne ist die Gummielastizität verwandt mit der „Elastizität“ eines idealen Gases, wo die Wechselwirkungen zwischen Molekülen keine Rolle spielen und die Elastizität ebenfalls rein entropischer Natur ist. 2 Die Vulkanisation wurde 1839 von Charles Goodyear entwickelt.

112 8 Elastomere / Gummi

handeln dabei Elastomere als lineare viskoelastische Stoffe. Die Behandlung von Nichtlinea-ritäten ginge über die Grenzen dieses Buches hinaus.

8.2 Thermodynamische Effekte und Thermodynamik von Gummi

Auf dem Bild (Abb. 8.2) aus einer klassischen Arbeit von Anthony, Caston und Guth (1942) erkennt man folgenden Zusammenhang:

Bei kleinen Dehnungen ( 0/ 1.1L Lλ = < ) nimmt die Spannung bei konstanter Dehnung ab,

wenn die Probe erwärmt wird.

0.1

0

0.2

0.3

0.4

250 275 300 325 350 375

1.22

1.13

1.06

1.03

T(K)

Str

ess

(Mp

a)l

1.38

Abb. 8.2. Spannungsverlauf über die Erwärmung bei konstanter Dehnung

Bei größeren Dehnungen nimmt die Spannung bei Erwärmung jedoch zu. Diese Änderung ist als thermoelastische Inversion bekannt. Die Ursache dafür liegt in der thermischen Deh-nung: Würde man die Länge auf die wirkliche Gleichgewichtslänge bei gegebener Tempera-tur normieren, gäbe es diesen Effekt nicht, und die Spannung würde immer mit der Tempera-tur steigen. Dies ist eine für die Entropieelastizität charakteristische Eigenschaft.

Widmen wir uns zunächst der Thermodynamik: Wir betrachten ein Stück Gummi, dass in einer Richtung auf Zug belastet wird. In guter Näherung bleibt das Volumen dabei konstant, d.h. der Querschnitt wird sich ändern. Die Gibbsche Form ist für dieses Beispiel:

dU TdS PdL= + (8.1)

TdS ist die zugeführte Wärme und PdL die durch die (Zug-)Kraft P bei Längenänderung dL geleistete Arbeit. Die freie Energie über die Legrendre-Transformation definiert als

F U TS= − (8.2)

Ihr Differential ist gleich

dF PdL SdT= − (8.3)

Die partiellen Ableitungen von F nach L und T sind:

und T L

F FP S

L T

∂ ∂= = −∂ ∂

(8.4)

Da die Reihenfolge der partiellen Ableitungen nicht wichtig ist: 2 2F F

L T T L

∂ ∂=∂ ∂ ∂ ∂

, folgt daraus:

8.3 Statistische Theorie von Gummi 113

L T

P S

T L

∂ ∂= −∂ ∂

(8.5)

Für die Kraft erhält man also:

F U S U P

P T TL L L L T

∂ ∂ ∂ ∂ ∂= = − = +∂ ∂ ∂ ∂ ∂

(8.6)

In der Abb. 8.3 wird der Versuch einer Separation des energetischen ( )/U L∂ ∂ und des

entropischen Anteils ( )/ /T S L T P T− ∂ ∂ = ∂ ∂ der elastischen Kraft eines natürlichen Gummis

vorgenommen (Nach Wood und Roth (1944)). Nach diesen Erkenntnissen ist der entropische Beitrag bis 2.7λ ≈ überwiegend.

Str

ess

(Mp

a)

15

10

5

0

-5

-10

-151 2 3 4 5 6 7 8

v,T

p

(dE dL (/

V, T

T(d dL (f /l,

l = const.

f

(dE dL (/

pl

T(d dL (f /f

l

f

T

Abb. 8.3 Separation des energetischen und des entropischen Anteils der elastischen Kraft nach Wood und Roth.

8.3 Statistische Theorie von Gummi

Um mit den thermodynamischen Beziehungen etwas anfangen zu können, benötigen wir noch eine Zustandsgleichung. Um diese zu erhalten, muss man sich die mikroskopischen Ursachen der Gummielastizität genauer ansehen.

r

x

z

y0

r

Abb. 8.4 Polymerketten

Wir untersuchen zunächst die statistischen Eigenschaften eines einzigen Polymermoleküls. Wenn sich ein Ende der Kette im Koordinatenursprung befindet und das andere am Ort 0r

�, so

kann man fragen, wie groß die Wahrscheinlichkeit dieser Konfiguration ist. Wäre die Polymerkette absolut flexibel und die Länge eines einzelnen Gliedes l, so könnte man sich ei-ne einzelne Konfiguration als zufälliges Wandern eines Punktes mit der Sprunglänge l vor-

114 8 Elastomere / Gummi

stellen. Es handelt sich dann um eine Art „Diffusion“, wobei die Rolle der Zeit die Länge der Kette spielt.

8.3.1 Diffusion auf kubischem Gitter

Wir nehmen an, dass es ein Teilchen gibt, das in jedem Zeitschritt t∆ genau einen Sprung der Länge l auf einem kubischem Gitter macht, d.h. es springt entweder in x-Richtung, oder in y-Richtung, oder in z-Richtung (und davon gibt es jeweils zwei Möglichkeiten), d.h. es gibt 6 äquivalente Sprünge.

Wenn wir viele gleiche Teilchen springen lassen, wie ändert sich die Wahrscheinlichkeit, ein Teilchen am Ort ( , , )Tr x y z=� zu finden? Die Wahrscheinlichkeit, dort eines zu finden, er-

höht sich, wenn von woanders ein Teilchen an den Ort ( , , )Tr x y z=� springt. Dafür gibt es 6 Möglichkeiten mit der Sprungwahrscheinlichkeit 1/6. Die Wahrscheinlichkeit ein Teilchen zu finden wird sinken, wenn ein Teilchen vor dem Sprung bereits am Ort ( , , )Tr x y z=� ist, denn dann wird es mit 100% Sicherheit wegspringen. Mathematisch heißt das:

( )

( )

1( , , , ) ( , , , ) ( , , , ) ( , , , ) ( , , , )

61

( , , , ) ( , , , ) ( , , , )6( , , , )

p x y z t t p x y z t p x l y z t p x y l z t p x y z l t

p x l y z t p x y l z t p x y z l t

p x y z t

+ ∆ − = + + + + +

+ − + − + −

(8.7)

Entwickeln wir die Wahrscheinlichkeitsdichte p nach kleinen t∆ und l. Nach dem Ort wird bis zur zweiten Ordnung in alle Raumrichtungen entwickelt, z.B.

2

22

1( , , , ) ( , , , ) ...

2

p pp x y l z t p x y z t l l

y y

∂ ∂− ≈ − + −∂ ∂

Als Ergebnis erhält man:

2 2 2 2

2 2 2

1

6

p l p p p

t t x y z

∂ ∂ ∂ ∂= + + ∂ ∆ ∂ ∂ ∂ (8.8)

Dies ist eine Diffusionsgleichung mit dem Diffusionskoeffizienten 21

6

lD

t=

∆, d.h. wir haben

die mikroskopischen Sprünge eines Teilchens mit einer makroskopischen Gleichung ver-knüpft. Für diese isotrope Diffusionsgleichung gibt es nun folgende Lösung:

( )

2

43/2

1( , )

4

r

Dtp r t eDtπ

−=�

(8.9)

Das ist die Wahrscheinlichkeit, ein Teilchen am Ort r�

zu finden, wenn es bei t=0 am Ort 0r =� gestartet ist. Der Mittelwert der Abweichung vom Ursprung r

� ist 0, der quadratische

Mittelwert jedoch nicht. Man erhält nämlich:

2

2 2 4

0

: ( , ) 4 ( , ) 6V

lr r p r t dV r p r t dr Dt

= = = =∆∫ ∫

� � (8.10)

8.3 Statistische Theorie von Gummi 115

8.3.2 Entropie von langen Ketten

Nun kommen wir zurück auf unsere Polymerketten. Wir starten am Ort 0 und berechnen den mittleren quadratischen Abstand des Endes der Kette von diesem Punkt. Wir nehmen der Ein-fachheit halber an, dass die Kettenglieder die Länge l haben. Alle Glieder sollen mit rechten Winkeln verbunden sein, d.h. wenn wir die Glieder vom Start bis zum Ende verfolgen, erhal-ten wir ein Bild, was analog ist zum Sprung eines Teilchens auf kubischem Gitter. (Die Be-schränkung auf rechte Winkel kann fallengelassen werden, dies wird aber hier nicht gemacht. Eine Betrachtung mit Winkelabhängigkeit findet sich im Buch von I. Müller.) Der einzige Unterschied ist, dass es nun keine Zeitschritte gibt, sondern m Schritte werden ohne Zeitein-heit einfach abgezählt. Das heißt, nun ist hier t∆ durch 1 zu ersetzen und t durch m. Für den Quadratischen Mittelwert können wir jetzt also schreiben:

2 2 20 : 6r r Dm ml= = = (8.11)

Das heißt, in der Gleichung für die Wahrscheinlichkeitsverteilung p müssen wir die Erset-zung

20

1

6Dt Dm r→ = (8.12)

vornehmen und erhalten für die Wahrscheinlichkeitsverteilung des mittleren quadratischen Abstands r2 der beiden Kettenenden:

2

20

3/2 3

22

0

3( )

2

r

rp r erπ

− =

(8.13)

Diese Gleichung gilt allerdings nur im Grenzfall großer m, d.h. für m→ ∞ . Diese Wahrscheinlichkeitsverteilung sagt uns, wie häufig eine Konfiguration mit Kettenen-

den-Abstand r anzutreffen ist. Diese Antreffwahrscheinlichkeit ist über die Formel

( )ln ( )BS k Zp r= (8.14)

direkt mit der Entropie verbunden. Z ist hier die Anzahl möglicher Konformationen. Wir set-zen dies in die freie Energie ein:

( )ln ( )BF TS k T Zp r= − = − . (8.15)

Somit erhalten wir:

( )2 2 22

0 02 20 0

33

2 2B B

x y zrF F k T F k T

r r

+ += + = + , (8.16)

wobei alle Konstanten in F0 gesteckt wurden (man beachte die Logarithmusregeln). Der Wert r0

2 charakterisiert den ungespannten Zustand des Moleküls (also seine wahrscheinlichste Form). Wird jetzt eine dreiachsige Deformation eingeführt gemäß 1 0x xλ= , 2 0y yλ= ,

3 0z zλ= , so ändert sich die freie Energie wie folgt:

2 2 2 2 2 2

1 0 2 0 3 00 2

0

3( )

2B

x y zF F k T

r

λ λ λ+ += + (8.17)

Die Differenz zwischen beiden Energien ist gleich

( )2 2 21 2 3

13

2 BF k T λ λ λ∆ = + + − (8.18)

116 8 Elastomere / Gummi

Die freie Energie der gesamten Probe ist daher gleich

( )2 2 21 2 3

13

2totF NkT λ λ λ= + + − (8.19)

N ist hier die Gesamtzahl der Moleküle.

8.3.3 Ein- und zweiachsige Deformationen

Die Energie Gl.(8.19) wollen wir nun für zwei Arten von Deformationszuständen betrachten: Den einachsigen (der für alle folgenden Kapitel als Beispiel-Deformation verwendet werden wird) und den zweiachsigen, der z.B. für die Berechnung von Luftballons relevant ist.

Für die Dichte der freien Energie können wir schreiben:

( )2 2 20 1 2 3

0

1( )

2 B

Ff f T nk T

Vλ λ λ= = + + + . (8.20)

0 0 0

N Nn

A L V= = ist die Konzentration der Polymermoleküle.

8.3.4 Einachsige Deformationen

Betrachten wir jetzt als Sonderfall eine einachsige Deformation eines Quaders mit Seitenlän-gen 0 0 0

1 2 3, , L L L , wobei wir annehmen, dass sich das Volumen des Materials nicht ändert:

1 2 31 2 30 0 0

0 1 2 3

1L L LV

V L L Lλ λ λ= = = ⋅ ⋅ (8.21)

Unter Berücksichtigung der Symmetrie 2 3 tλ λ λ= = und mit der Bezeichnung 1λ λ= erhalten

wir: 1/tλ λ= und damit für die freie Energie:

20

1 2

2 BF F Nk T λλ

= + +

(8.22)

Die Kraft ergibt sich durch Ableitung der freien Energie nach der Länge 01 1 0: :L L L Lλ λ= = = :

2

0

1 23

2 B

F F LP Nk T

L L L L

λ λλ λ λ

∂ ∂ ∂ ∂ ∂ = = = + − ⋅ ∂ ∂ ∂ ∂ ∂ , (8.23)

also:

2

0

1BNk TP

λ = −

. (8.24)

Dies ist sozusagen die Zustandsgleichung für den Gummiquader – vergleichbar mit der Zu-standsgleichung für ideale Gase. Für die Spannung müssen wir beachten, dass sich der Quer-schnitt ändert, denn es gilt ja:

0 0

0

V AVA

L Lλ λ= = = (8.25)

8.3 Statistische Theorie von Gummi 117

Es ergibt sich:

2 22

0 0 0 0

1 1BB

t

Nk TP P Pnk T

A A A L Aσ λ λ λ

λ λ λ = = = = − = −

(8.26)

1 2 3 4 5 6 70l

10

-10

-15

-20

-5

0

5

s[]

Abb. 8.5 Spannung in Abhängigkeit von λ ; experimentelle Daten verglichen mit der statistischen Theorie (Daten von Higgs und Gaylord (1990).

Der Elastische Modul:

3 BE nk T= (8.27)

und damit auch der Schubmodul

2(1 ) B

EG nk T

ν= =

+ (8.28)

(die Poissonzahl ist ja fast ½) sind proportional zur absoluten Temperatur. 16

12

8

4

02 4 6 8 10

l

n 0= 5 n= 25 n = 100

Gaussians/

NK

Tn

Abb. 8.6 Spannung in Abhängigkeit von λ für unterschiedliche Anzahlen der Kettenglieder.

Bei starker Dehnung ist die Gaußsche Näherung nicht mehr gültig. Eine genauere Theorie sagt eine größere Steifigkeit bei großen Deformationen vorher. Die Gaußsche Näherung ist umso besser, je mehr Kettenglieder das Polymer im Mittel hat (Abb. 8.6: bei 100 Gliedern ist die Näherung bis etwa zur dreifachen Dehnung gut).

Aus Gl. (8.15) und (8.22) entnehmen wir die Entropie in Abhängigkeit von λ:

20

1 2

2 BS S Nk λλ

= − + (8.29)

Diese hat folgende Form (siehe (Abb. 8.7): S0 ist so gewählt, dass S(1)=0 wird.) Wir sehen, dass die Entropie ein Maximum bei 1λ = hat, also gerade im ungedehnten Referenzzustand.

118 8 Elastomere / Gummi

1 2 3l

0,5 1,5 2,5

-1

-2

-3

-4

-5

-6

-7

S [u.a.]

Abb. 8.7 Spannung in Abhängigkeit von λ .

Das System strebt also dem Zustand maximaler Entropie zu. Dies ist auch der Grund, warum Gummi sich zusammenzieht, wenn wir eine Zugkraft anlegen und es erwärmen: Wir ver-schieben das System zu größeren Deformationen, senken also seine Entropie. Wenn wir nun Entropie zuführen (durch Erwärmen), so gehen wir im Diagramm zu kleineren Deformatio-nen, d.h. das Material zieht sich zusammen.

Wenn wir Gummi schnell (d.h. näherungsweise adiabatisch) dehnen, wird die Deformati-onsentropie sinken, die überschüssige Entropie wird daher als Erwärmung des Materials spür-bar, die Temperatur wird sich erhöhen.

8.3.5 Zweiachsige Deformation

Für die zweiachsige Deformation nehmen wir an, dass die Dehnungen in zwei zueinander senkrechten Richtungen gleich sind. Dies ist z.B. beim Aufblasen eines Luftballons so. Setzen

wir also für die Deformationen 1 2 3 2

1λ λ λ λλ

= = ⇒ = , so erhalten wir für die Energie:

20 4

1 12

2 BF F Nk T λλ

= + +

(8.30)

Allerdings muss man für große Dehnungen berücksichtigen, dass die Gauß-Näherung nicht mehr gültig ist. Es zeigt sich, dass man einen Korrekturterm der Form:

2 40 4 2

1 1 22

2 BF F Nk T λ κ λλ λ

= + + + +

(8.31)

ansetzen muss, wobei 0.1κ ≈ für Gummi ist.

8.4 Viskoelastische Eigenschaften von Elastomeren 119

8.4 Viskoelastische Eigenschaften von Elastomeren

8.4.1 Spannungsrelaxation in Elastomeren

Betrachten wir einen Gummiblock, der auf Schub beansprucht wird (Abb. 8.8). Wird er schnell deformiert, so steigt die Spannung im ersten Moment auf ein hohes Niveau (0)σ und relaxiert danach langsam zu einem viel kleineren Niveau ( )σ ∞ (Abb. 8.9), wobei ( )σ ∞ bei Elastomeren um 3 bis 4 Größenordnungen kleiner sein kann als (0)σ . Die physikalische Ur-sache für dieses Verhalten ist klar: Im ersten Moment haben die Polymerketten noch keine Zeit, um sich zu entflechten, und der Gummi reagiert wie ein „normaler fester Stoff“. Der ent-sprechende Schubmodul 0(0) (0) /G σ ε= hat dieselbe Größenordnung wie der Schubmodul

von Glas und wird Glasmodul genannt. Das Verhältnis 0( ) ( ) /∞ = ∞G σ ε beschreibt das Materi-alverhalten nach einer langen Wartezeit und wird statischer Schubmodul genannt. Im Laufe der Zeit wickeln sich die Moleküle auseinander, und die innere Spannung im Material gibt nach. Das Verhältnis

0

( )( )

tG t

σε

= (8.32)

bezeichnet man als zeitabhängigen Schubmodul. Es ist leicht zu sehen, dass diese Funktion die mechanischen Eigenschaften eines Stoffes vollständig beschreibt, vorausgesetzt, dass der Stoff ein lineares Verhalten aufweist:

Nehmen wir an, dass der Block nach einem beliebigen Gesetz ( )tε deformiert wird. Eine beliebige Abhängigkeit ( )tε kann immer als eine Summe von zeitlich versetzten Stufenfunk-tionen dargestellt werden, wie dies schematisch in Abb. 8.10 gezeigt ist.

s

e0

Abb. 8.8 Schubdeformation eines Gummiblocks.

s

e0

e

t ta b

Abb. 8.9 Wird ein Gummiblock zum Zeitpunkt 0=t schnell um 0ε deformiert, so steigt die Spannung

zunächst auf ein hohes Niveau und relaxiert danach mit der Zeit zu einer viel kleineren Spannung.

Eine „elementare Stufenfunktion“ in dieser Abbildung zum Zeitpunkt t′ hat offenbar die Amplitude ( ) ( )d t t dtε ε′ ′ ′= ɺ . Der mit ihr zusammenhängende Beitrag zur Spannung ist gleich

( ) ( )d G t t t dtσ ε′ ′ ′= − ɺ , und die gesamte Spannung zu jedem Zeitpunkt berechnet sich somit zu

120 8 Elastomere / Gummi

( ) ( ) ( )t

t G t t t dtσ ε−∞

′ ′ ′= −∫ ɺ . (8.33)

e

t

e( )t

Abb. 8.10 Darstellung einer Funktion der Zeit als Superposition von mehreren versetzten Stufenfunktionen.

Gleichung (8.33) zeigt, dass der zeitlich abhängige Schubmodul im mathematischen Sinne als eine Gewichtsfunktion verstanden werden kann, mit der die in der Vergangenheit liegenden Deformationsänderungen zur Spannung zum laufenden Zeitpunkt beitragen. Aus diesem Grunde wird ( )G t manchmal auch Gedächtnisfunktion genannt.

8.4.2 Komplexer, frequenzabhängiger Schubmodul

Ändert sich ( )tε nach einem harmonischen Gesetz

( ) cos( )t tε ε ω= ɶ , (8.34)

so stellt sich nach einem Einschwingvorgang eine periodische Änderung der Spannung mit der gleichen Frequenz ω ein. Den Zusammenhang zwischen der Änderung der Deformation und der Spannung kann man besonders einfach darstellen, wenn man die reelle Funktion cos( )tω als Summe von zwei komplexen Exponenten darstellt:

( )1cos( )

2i t i tt e eω ωω −= + . (8.35)

Wegen des Superpositionsprinzips kann man zunächst die Spannungen berechnen, die sich aufgrund der komplexen Schwingungen

( ) i tt eωε ε= ɶ und ( ) i tt e ωε ε −= ɶ (8.36)

ergeben und diese Spannungen anschließend summieren. Setzen wir ( ) = ɶ i tt eωε ε in (8.33) ein, so erhalten wir für die Spannung

( ) ( )t

i tt G t t i e dtωσ ωε ′

−∞

′ ′= −∫ ɶ . (8.37)

Durch Substitution t tξ ′= − bringen wir dieses Integral zur folgenden Form

0

( ) ( ) ( )t

i t i t it G t t i e dt i e G e dω ω ωξσ ωε ωε ξ ξ∞

′ −

−∞

′ ′= − =∫ ∫ɶ ɶ (8.38)

oder:

ˆ ˆ( ) ( ) ( ) ( )i tt G e G tωσ ω ε ω ε= =ɶ . (8.39)

Für eine harmonische Anregung in Form einer komplexen Exponentalfunktion i teω ist die Spannung proportional zur Deformation. Der Proportionalitätskoeffizient

8.4 Viskoelastische Eigenschaften von Elastomeren 121

0

ˆ ( ) ( ) iG i G e dωξω ω ξ ξ∞

−= ∫ (8.40)

ist im Allgemeinen eine komplexe Größe und wird komplexer Schubmodul genannt. Sein Re-

alteil ˆ( ) Re ( )G Gω ω′ = wird Speichermodul, sein Imaginärteil ˆ( ) Im ( )G Gω ω′′ = Verlustmo-dul genannt. Die Amplitude der Schwingungen wird durch den Betrag der komplexen Spannung bzw. De-formation gegeben:

ˆ ˆ( ) ( ) ( )i t i tt G e G eω ωσ ω ε ω ε= =ɶ ɶ . (8.41)

Da der Betrag 1i teω = ist, folgt daraus:

ˆ( ) ( )t Gσ ω ε= ɶ . (8.42)

Demnach sind die Schwingungsamplituden der Spannung und der Deformation durch den Be-trag des komplexen Schubmoduls verbunden.

Um den Begriff des komplexen Moduls näher zu erläutern, betrachten wir zwei einfache Beispiele: (a) Für einen linearelastischen Körper gilt für die Scherdeformation nach dem Hookeschen Gesetz: Gσ ε= . Der komplexe Modul hat in diesem Fall nur einen Realteil, und dieser ist gleich G . (b) Für reine Scherung einer linear viskosen Flüssigkeit (Abb. 8.11) gilt

dv

dzσ η= . (8.43)

Für eine periodische Bewegung 0ˆ( , ) i tu l t u eω= gilt somit:

0ˆ( )ˆˆ ( ) ( )i t

z l

udv v tt i e i t

dz l lωσ η η η ω ωηε

=

= = = = . (8.44)

Der komplexe Modul

ˆ ( )G iω ωη= (8.45)

hat in diesem Fall nur einen imaginären Teil: ˆRe 0G = , ˆImG ωη= .

u( ,t)l

u( ,t)z

0

l

z

Abb. 8.11 Gleichmäßige Scherströmung einer linear-viskosen Flüssigkeit.

8.4.3 Eigenschaften des komplexen Moduls

Aus der Definition (8.40) folgt, dass

122 8 Elastomere / Gummi

*ˆ ˆ( ) ( ) G Gω ω− = . (8.46)

„*“ bedeutet hier konjugiert komplexe Größe. Für den Real- und Imaginärteil des Moduls be-deutet das:

( ) ( ),

( ) ( ).

G G

G G

ω ωω ω

′ ′− =′′ ′′− = −

(8.47)

Real- und Imaginärteil des komplexen Moduls sind nicht unabhängig voneinander, sondern müssen den sogenannten Kramers-Kronig-Relationen genügen:

( )

2

0 2 20

2 20

2 1 ( )( ) ,

2 ( )( ) .

G zG G dz

z z

G zG dz

z

ωωπ ω

ωωπ ω

′′′ = +−

′′′ = −−

(8.48)

Integrale in dieser Gleichung sind als Cauchy-Hauptwertintegrale zu verstehen (d.h. man nä-hert sich Polstellen symmetrisch an, damit sich Unendlichkeitsstellen gegenseitig aufheben können).

Ist der komplexe Modul im gesamten Frequenzbereich bekannt, so kann der zeitlich abhän-

gige Modul berechnet werden. Indem wir (8.40) mit 1

2i te

ω π multiplizieren und anschlie-

ßend über ω (von −∞ bis ∞ ) integrieren, erhalten wir

( ) ( )

0

1 1 1ˆ ( )2 2

i ti tG e d G e d di

ω ξωω ω ξ ω ξπ ω π

∞ ∞ ∞−

−∞ −∞

=∫ ∫ ∫ . (8.49)

Die in Abb. 7.9 a gezeigte Stufenfunktion entspricht 0( ) ( )t tε ε δ=ɺ , wobei ( )tδ die Diracsche

δ -Funktion ist. Indem wir die Identität

2 ( )i te d tω ω πδ∞

−∞

=∫ (8.50)

benutzen, vereinfacht sich die rechte Seite und es verbleibt lediglich der zeitlich abhängige Schubmodul. Unter Berücksichtigung von (8.32) gilt damit folgender Zusammenhang

( ) ( ) ( )( )0

ˆ( ) 1 ( ) 1 1' sin '' cos

2 2i tt G

G t e d G t G t di

ωσ ω ω ω ω ω ω ωε π ω π ω

∞ ∞

−∞ −∞

= = = +∫ ∫ (8.51)

8.4.4 Energiedissipation in einem viskoelastischen Material

Eine Deformation des Materials nach dem Gesetz 1 0i teωε ε= führt nach der Definition des

komplexen Schubmoduls zur Spannung 1 0ˆ ( ) i tG eωσ ε ω= . Bei der Deformation 2 0

i te ωε ε −=

müssen wir nur das Vorzeichen der Frequenz ändern: *2 0 0

ˆ ˆ( ) ( )i t i tG e G eω ωσ ε ω ε ω− −= − = . Ist

die gesamte Deformation über die Summe von 1ε und 2ε darstellbar

( )00 cos

2i t i tt e eω ωεε ε ω −= = + , (8.52)

8.4 Viskoelastische Eigenschaften von Elastomeren 123

so berechnet sich die Spannung aufgrund der Linearität des Systems über die Summe von 1σ und 2σ :

( ) ( )*0 0

1( ) ( ) ( )cos ( )sin

2i t i tG e G e G t G tω ωσ ε ω ω ε ω ω ω ω− ′ ′′= + = − . (8.53)

Wir können nun die Leistung P dieser Spannung in einem Einheitsvolumen berechnen:

2102( ) ( ) ( )P t t Gσ ε ωε ω′′= =ɺ . (8.54)

Die Energiedissipation wird unmittelbar durch den Imaginärteil des komplexen Moduls be-stimmt. Damit hängt die Bezeichnung "Verlustmodul" für den Imaginärteil des elastischen Moduls zusammen. Bei vorgegebener Spannung berücksichtigen wir die Eigenschaft (8.42) und schreiben

22 20 0

ˆ ( )Gσ ω ε= . Damit können wir (8.54) auf die Form

2 21 10 02 22

ˆIm ( ) 1Im

ˆˆ ( )( )

GP

GG

ωωσ ωσωω

= = −

(8.55)

bringen.

8.4.5 Messung komplexer Module

Wird ein lineares viskoelastisches Material periodisch mit der Kreisfrequenz ω nach dem Gesetz (8.52) deformiert und der Spannungsverlauf (8.53) im eingeschwungenen Zustand aufgezeichnet, so kann man den komplexen Modul bestimmen, indem man die Mittelwerte

( ) ( ) und ( ) ( )E t t P t tσ ε σ ε= = ɺ (8.56)

bestimmt. Die mittlere Leistung haben wir bereits oben berechnet und mit dem Verlustmodul verbunden. Der Mittelwert E kann nun mit dem Speichermodul verknüpft werden, denn es gilt:

20

1

2E Gε′= . (8.57)

Der Realteil des G -Moduls berechnet sich also aus

20

2ˆReE

G Gε

′= = , (8.58)

während man den Imaginäranteil aus (8.54) erhält:

20

2ˆImP

G Gωε

′′= = . (8.59)

124 8 Elastomere / Gummi

G e

2e0Ge/e0

s

-1 -0.5 0.5 1

1000

500

0

-500

-1000

Abb. 8.12 Spannungs-Dehnungs-Diagramm für ein viskoelastisches Material.

Die Gleichungen (8.52) und (8.53) beschreiben in parametrischer Form das dynamische Spannungs-Dehnungs-Diagramm, welches eine elliptische Form hat. Die mittlere Steigung des Diagramms ist dabei gleich G′ . Für 0ε = erhalten wir 0Gσ ε ′′= ± Der Imaginärteil kann

somit aus der Breite der Hysteresefigur bestimmt werden.

8.4.6 Rheologische Modelle

Bei räumlich homogenen Deformationen kann man oft anstatt mit Modulen mit Steifigkeiten arbeiten. Die zwei Grundelemente sind dabei eine linear elastische Feder und ein Dämpfer. Aus diesen Elementen lassen sich kompliziertere Kombinationen zusammenstellen, die prak-tisch ein beliebiges viskoelastisches Verhalten abbilden können.

Betrachten wir zunächst die Grundelemente, die periodisch angeregt werden sollen. Für ei-ne linearelastische Feder ohne innere Dissipation (Abb. 8.13 a) gilt bekanntlich das Hoo-ke’sche Gesetz:

F cx= . (8.60)

Den Proportionalitätskoeffizienten c nennen wir Federzahl oder auch Federsteifigkeit. Betrachten wir jetzt einen linearen Dämpfer (Abb. 8.13 b):

F dx= ɺ . (8.61)

Für eine harmonische Anregung in komplexer Form 0ˆ i tF F eω= suchen wir die Lösung in der

Form 0ˆ ˆ i tx x eω= . Das Ergebnis lautet: ˆ( ) ( )F t id x tω= , d.h. die Kraft ist zu jedem Zeitpunkt

proportional zur Auslenkung, wie bei einer Feder. Der Koeffizient

ˆdc idω= , (8.62)

der die Kraft mit der Auslenkung verbindet, ist jetzt aber komplex und hängt von der Fre-quenz ab. Wir nennen ihn komplexe, frequenzabhängige Federzahl oder -steifigkeit.

cF

dF

d c = dd i w

a b c

Abb. 8.13 (a) linearelastische Feder, (b) geschwindigkeitsproportionaler Dämpfer, (c) komplexe Steifigkeit eines Dämpfers.

8.4 Viskoelastische Eigenschaften von Elastomeren 125

Für ein allgemeines lineares mechanisches System (d.h. ein beliebig kompliziertes System aufgebaut aus linearen Federn und Dämpfern) gilt bei einer Erregerkraft 0

i tF eω ein linearer

Zusammenhang:

ˆ ˆ ˆ( ) ( ) ( )F t c x tω= , (8.63)

wobei ˆ( )c ω nun die komplexe Federzahl des Systems ist. Diese Gleichung gilt allerdings nur

bei einer Anregung mit der Frequenz ω . In expliziter Form lautet sie: 0 0ˆ ˆ( )i t i tF e c x eω ωω= .

Bei einer Parallelschaltung von zwei Federn mit den Federzahlen 1c und 2c ergibt sich eine

Feder mit der Federzahl 1 2c c c= + . Bei einer Reihenschaltung gilt 1 2

1 2 1 2

1 1 1 c cc

c c c c c= + ⇒ =

+.

Ähnliche Schaltungen kann man auch für Kontinua benutzen, dann müssen die Steifigkeiten durch Module ersetzt werden.

Der für uns im Weiteren wichtigste Bestandteil vieler rheologischer Modelle ist das Maxwellsche Element, bestehend aus einer Feder, die in Reihe mit einem Dämpfer geschaltet ist. Untersuchen wir die Eigenschaften dieses Elements, wobei wir gleich von der kontinuumsmechanischen Version des Modells ausgehen und nicht von Steifigkeiten, sondern von Modulen sprechen.

G

e

e1h

Abb. 8.14 Maxwellsches Element.

Die komplexen Module der Feder und des Dämpfers sind G und iηω . Aufgrund der Reihen-schaltung ergibt sich der gesamte Modul

( )

( )( )

( )( )( )

2

22ˆ

Maxwell

G i GG iG i G iG

G i G i G i G

ηω ηωηωηω ηωηω ηω ηω ηω

+−⋅ ⋅= = =+ + − +

. (8.64)

Der Speicher- und der Verlustmodul sind gleich

( )

( ) ( )

2 2

2 22 2, .Maxwell Maxwell

G GG G

G G

ηω ηωηω ηω

′ ′′= =+ +

(8.65)

Indem wir die Größe

/ Gτ η= (8.66)

einführen, können wir die Gleichungen (8.65) auch in der Form

( )

( ) ( )

2

2 2, 1 1

Maxwell MaxwellG G G Gωτ ωτ

ωτ ωτ′ ′′= =

+ + (8.67)

darstellen. Die Größe τ hat die Dimension Zeit. Untersuchen wir nun die Spannungsrelaxation in einem Medium, das durch ein Maxwell-

Element beschrieben wird. Wir benutzen dabei die in Abb. 8.14 eingeführten Bezeichnungen. Die auf den Verbindungspunkt zwischen Feder und Dämpfer wirkende Spannung ist gleich

126 8 Elastomere / Gummi

1 1( )G ε ε ηε− − + ɺ . Wegen der Masselosigkeit des Verbindungspunktes muss diese Spannung

verschwinden: 1 1( ) 0G ε ε ηε− − + =ɺ . Indem wir diese Gleichung durch G dividieren und die

Bezeichnung (8.66) einführen, können wir sie wie folgt schreiben:

1 1τε ε ε+ =ɺ . (8.68)

Wird das Material zum Zeitpunkt 0t = plötzlich um 0ε deformiert, so gilt für alle Zeitpunkte

0t >

1 1 0τε ε ε+ =ɺ (8.69)

mit der Anfangsbedingung 1(0) 0ε = . Die Lösung dieser Gleichung mit der genannten An-

fangsbedingung lautet

( )/1 0 1 te τε ε −= − . (8.70)

Für die Spannung ergibt sich

( ) /0 1 0

tG G e τσ ε ε ε −= − = . (8.71)

Die Spannung klingt exponentiell mit der charakteristischen Zeit τ ab, die man Relaxations-zeit nennt.

8.4.7 Ein einfaches rheologisches Modell für Gummi („Standardmodell“)

Wir wollen nun ein Feder-Dämpfer-Modell aufbauen, das die wichtigsten dynamischen Ei-genschaften von Gummi bei periodischer Beanspruchung enthält. Diese sind: 1. 0ω ≈ : Bei kleinen Frequenzen misst man einen kleinen elastischen Modul (quasistatische Deformation) und kaum Dissipation, d.h. der Dämpfungsanteil ist sehr klein. 2. ω → ∞ : Bei sehr hohen Frequenzen misst man einen sehr großen Modul (typischerweise 3 Größenordnungen höher als bei quasistatischer Beanspruchung), und ebenfalls keine nen-nenswerte Dissipation. 3. Bei mittleren Frequenzen misst man mittlere Module, gleichzeitig aber auch starke Dissipa-tion.

Diese Eigenschaften resultieren aus der Tatsache, dass die Molekülketten sich nur in endli-chen Zeiten ver- und entknäulen können.

G2

h

G1

Abb. 8.15 Ein einfaches rheologisches Modell für Gummi.

Diese Eigenschaften eines Gummiblocks sollen nun qualitativ durch das in Abb. 8.15 dar-gestellte rheologische Modell beschrieben werden. Da es sich dabei um eine Parallelschaltung einer linearelastischen Feder und eines Maxwellschen Elementes handelt, können wir sofort schreiben

8.4 Viskoelastische Eigenschaften von Elastomeren 127

( )

( ) ( )

2

1 2 22 2, 1 1

G G G G Gωτ ωτ

ωτ ωτ′ ′′= + =

+ + (8.72)

mit 2/ Gτ η= . Die Abhängigkeiten der Module von der Frequenz im doppelt-

logarithmischen Maßstab sind für den Fall 2 1/ 1000G G = in Abb. 8.16 dargestellt.

Für kleine Frequenzen 1 /Gω η< (quasistatische Belastung) strebt der Modul gegen 1G .

Für sehr große Frequenzen 2 /Gω η> strebt er gegen 2 1G G≫ . Das bedeutet, dass bei sehr

langsamen Belastungen Gummi weich ist, bei sehr schnellen Belastungen hingegen hart. Ty-pische Schubmodule eines gefüllten Gummis bei kleinen Frequenzen liegen bei 10 MPa, wäh-rend er bei großen Frequenzen ca. 1000 Mal größer ist. Im mittleren Bereich ist der Imaginäranteil überwiegend: ( )G ω ηω′′ ≈ , d.h. das Medium verhält sich bei periodischer Be-anspruchung wie eine viskose Flüssigkeit.

log( )hw

log

G

log

G

3

2,5

2

1,5

1

0,5

0 1 2 3 4

Abb. 8.16 Real- und Imaginärteil des frequenzabhängigen Moduls für das in Abb. 8.15 gezeigte rheologische Modell mit 2 1/ 1000G G = .

Aufgrund der Tatsache, dass es sich um eine Parallelschaltung einer Feder und eines Maxwellschen Elementes handelt, können wir wiederum sofort schreiben

( )/0 1 2( ) tt G G e τσ ε −= + . (8.73)

Dividiert durch 0ε ergibt sich die normierte Spannung, die wir als zeitlich abhängigen Modul

bezeichnet haben:

( )/0 1 2( ) / tG t G G e τσ ε −= = + . (8.74)

Er relaxiert vom Wert 0 1 2 2G G G G= + ≈ für 0t = zum Wert 1G G∞ = für t → ∞ .

8.4.8 Einfluss der Temperatur auf rheologische Eigenschaften

Die endliche Zeit der Spannungsrelaxation ist physikalisch durch kinetische Prozesse der "Auseinanderwicklung" von Polymermolekülen bedingt. Dies sind thermisch aktivierte Pro-zesse; sie hängen daher stark von der Temperatur ab. Da die Relaxationszeit im komplexen Modul (8.72) nur in der Kombination ( )Tωτ , und in dem zeitlich abhängigen Modul (8.74) nur in der Kombination / ( )t Tτ erscheint:

128 8 Elastomere / Gummi

( ) ( / ( ))G t F t Tτ= , ˆ ( ) ( ( ))G Q Tω ωτ= , (8.75)

unterscheiden sich Frequenz- bzw. Zeitverläufe von Modulen im logarithmischen Maßstab nur durch eine Verschiebung der gesamten Kurve als Ganzes parallel zur Zeit- bzw. Fre-quenz-Achse um den Betrag 2 1log( ( ) / ( ))T Tτ τ (Abb. 8.17). Aus diesen Gründen nennt man

log ( )Tτ auch Shift-Funktion. Bei der Beschreibung von rheologischen Eigenschaften von Elastomeren wird sehr oft da-

von ausgegangen, dass die oben gemachte Annahme (8.75) auch dann gilt, wenn die Rheolo-gie nicht durch das oben gezeigte einfache Modell beschrieben wird. Williams, Landel und Ferry haben 1955 für die Shift-Funktion eine analytische Approximation vorgeschlagen, die zwei Konstanten 1C und 2C enthält und als WLF-Funktion bekannt ist. Die Konstanten sind

für jede Gummisorte experimentell zu bestimmen:

( )1

1 12 2

( ) 1log ( ) 1

1g

g g

C T TT C

C T T C T Tτ

− = = − + − + −

. (8.76)

gT ist die so genannte Verglasungstemperatur. lo

g(

)

G

-2 -1 0 1 2 3 4 5

2

3

2.5

1.5

1

0.5

0-5 -4 3 2 1 0 1 2

2

3

2.5

1.5

1

0.5

0

log(G

(t))

log(t) log( )w

t1

t t2 1>

t1

t2

a b

Abb. 8.17 Relaxationsfunktion (a) und frequenzabhängiger Modul (b) bei zwei Temperaturen. Die kleinere Relaxationszeit 1τ entspricht einer höheren Temperatur als die (in diesem Beispiel ca. 100 mal größere)

Relaxationszeit 2τ .

8.4.9 Masterkurven

Die Annahme (8.75) wird zur experimentellen Wiederherstellung der gesamten Relaxations-kurve mittels Messungen in einem begrenzten Zeitintervall benutzt. Betrachten wir beispiels-weise die Spannungsrelaxation bei einem Zugversuch: Die Probe wird schnell um 1%ε = de-formiert, und anschließend die Spannung als Funktion der Zeit gemessen. Experimentell gibt es nur begrenzte Möglichkeiten, die Zeit bei solchen Experimenten aufzulösen. Wir werden als Beispiel die Spannungsrelaxation im Zeitfenster von 3 bis 600 s nach der plötzlichen De-formation untersuchen: kürzere Zeiten sind schwierig zu realisieren, während größere Zeiten zu praktisch nicht akzeptablen Laufzeiten des Experiments führen.

Experimentelle Ergebnisse bei verschiedenen Temperaturen können im doppellogarithmi-schen Maßstab wie in Abb. 8.18 aussehen. Wir gehen von der Hypothese aus, dass die bei verschiedenen Temperaturen gemessenen Kurven nur gegeneinander verschobene Teile der-selben Kurve sind. Man versucht nun, diese Teile so zu verschieben, dass sie eine ganze Kur-ve bilden (Abb. 8.19).

8.4 Viskoelastische Eigenschaften von Elastomeren 129

Dieses Verfahren zeigt sich erfolgreich und führt zu einer „experimentellen“ Relaxations-kurve in einem Zeitintervall, das einer direkten experimentellen Messung unzugänglich ist (z.B. vom Submillisekunden-Bereich bis zu Jahren). Diese Kurve nennt sich „Masterkurve“. Die Verschiebung ist dabei bei verschiedenen Temperaturen bzw. in verschiedenen Zeitberei-chen nicht die gleiche, was Unterschiede in den Aktivierungsenergien auf verschiedenen Ska-len widerspiegelt.

10000

1000

100

10

1

log Zeit t [s]

1,00E-12 1,00E-08 1,00E-04 1,00E+00 1,00E+04 1,00E+08 1,00E+12

Isothermes

T= -50°C

T= -19°C

T= -10°C

T= -5°C

T= 20°C

T= -25°C

T= -30°C

T= -40°C

log

G-M

od

ulu

s [M

Pa]

Abb. 8.18 Messungen der Spannungsrelaxation bei verschiedenen Temperaturen im gegebenen Zeitfenster.

10000

1000

100

10

1

log Zeit t [s]

1,00E-12 1,00E-08 1,00E-04 1,00E+00 1,00E+04 1,00E+08 1,00E+12

Isothermes

10000

1000

100

10

1

log Zeit t [s]

1,00E-12 1,00E-08 1,00E-04 1,00E+00 1,00E+04 1,00E+08 1,00E+12

G( )=4µ

G(Glass)=1700 M

MPa

Pa

log

G-M

od

ulu

s [M

Pa]

log

G-M

od

ulu

s [M

Pa]

Abb. 8.19 Die Abschnitte der Spannungs-Relaxations-Kurven bei verschiedenen Temperaturen (im doppellogarithmischen Maßstab) werden so verschoben, dass sie eine einzige Masterkurve bilden.

8.4.10 Prony-Reihen

Die mit den oben genannten Methoden erhaltene Masterkurve unterscheidet sich wesentlich von der Relaxationskurve in dem oben beschriebenen einfachen Modell aus einer parallelge-schalteten Feder und einem Maxwell-Element. Der Übergang vom großen „Glasmodul“ bei sehr kleinen Zeiten zum kleinen „Gummimodul“ bei sehr großen Zeiten findet in realen Elas-

130 8 Elastomere / Gummi

tomeren nicht in einem engen Zeitintervall um τ statt, sondern erstreckt sich über mehrere Größenordnungen in der Zeit. Daher muss das Modell angepasst werden.

Standardmodell

G1

G2

h

10000

1000

log

G-M

odulu

s[M

Pa

[

100

10

1

log Zeit t [s]

1,00E-12 1,00E-08 1,00E-04 1,00E+00 1,00E+04 1,00E+08 1,00E+12

Experimentelle Kurve

Abb. 8.20 Doppellogarithmische Darstellung des zeitlich abhängigen Schubmoduls für das einfache rheologische Modell (durchgezogene Kurve) und ein reales Elastomer.

Eine Anpassung kann erreicht werden, indem man statt eines Maxwell-Elements mit einer Relaxationszeit τ eine Reihe von Elementen mit verschiedenen Relaxationszeiten parallel zu-einander schaltet (Abb. 8.21). Durch eine ausreichend große Zahl von Maxwell-Elementen lässt sich jede Relaxationsfunktion ausreichend gut abbilden. Dieses Modell nennt man Prony-Reihe.

e0

h1

G0

G1

e1

t1 hk

Gk

ek

tk

a

b

s

Abb. 8.21 Prony-Reihe.

Die Relaxation des G -Moduls wird in diesem Modell gegeben durch

/0

1

( ) i

Nt

ii

G t G G e τ−

== + ⋅∑ . (8.77)

Man kann diese Gleichung auch auf eine Integralform verallgemeinern:

2

1

/0 1( ) ( ) tG t G G g e d

ττ

τ

τ τ−= + ∫ . (8.78)

Der komplexe Schubmodul ist gegeben durch

( )

( )

2 2

0 2 21

2 21

,1

,1

k

k

Nk

kk k

Nk

kk k

G G G

G G

ω τωω τ

ωτωω τ

=

=

′ = ++

′′ =+

∑ (8.79)

oder in der Integralform

8.4 Viskoelastische Eigenschaften von Elastomeren 131

( )

( )

2

1

2

1

2 2

0 1 2 2

1 2 2

( ) ,1

( ) .1

G G G g d

G G g d

τ

τ

τ

τ

ω τω τ τω τ

ωτω τ τω τ

′ = ++

′′ =+

(8.80)

Statt einer für ein Maxwellsches Element charakteristischen exponentiellen Abnahme der Spannung mit der Zeit findet man bei vielen Elastomeren eine Abnahme, die durch eine Po-tenzfunktion beschrieben werden kann. Um eine solche Relaxationsfunktion zu beschreiben, muss auch die Gewichtsfunktion ( )g τ in den Gleichungen (8.78) und (8.80) als Potenzfunk-

tion gewählt werden: ( ) sg τ τ −∝ . Die Relaxationsfunktion wird dann durch die Wahl der Pa-

rameter 0 1 1 2, , s, und G G τ τ vollständig parametrisiert.

Zur Illustration berechnen wir die Relaxation des Schubmoduls in einem Modell mit den folgenden Parametern: 0 1G = , 1 1000=G , .., 2

2 10τ = , 21( )g τ τ τ −= . Einsetzen in (8.78) liefert

2 11 10( )

t tG

G t G e et

τ ττ − − = + −

. (8.81)

3

2.5

2

1.5

1

0.5

0-3 -2 -1 0 1 2 3

log(t)

log(G

)

Abb. 8.22 Zeitlich abhängiger Schubmodul laut (8.81).

Das Ergebnis ist in der Abb. 8.22 dargestellt. Man sieht, dass im mittleren Bereich, zwischen

1 2tτ τ≪ ≪ , die Abhängigkeit im doppellogarithmischen Maßstab linear mit der Steigung -1

ist: Die Spannung nimmt in diesem Bereich nach einem Potenzgesetz 1G t−∝ ab. Für den Frequenzgang des komplexen Moduls erhalten wir

( ) ( )2

1

2

0 1 1 0 1 1 2 12 2

2 2 22 11

1 12 2 2 21 2

arctan arctan ,1

1( ) ln ,

1

G G G d G G

G G

τ

τ

ωω τ τ ωτ ωτ ωτω τ

τ ω τω τ ωτ ω τ

′ = + = + −+

+′′ = +

∫ (8.82)

(siehe Abb. 8.23). Im mittleren Frequenzbereich 2 11/ 1/τ ω τ≪ ≪ gilt:

( )

( )0 1 1

1 1 1

2( ) ln 1/ .

G G G

G G

πω τ ω

ω ωτ ωτ

′ = +

′′ = (8.83)

132 8 Elastomere / Gummi

3

2

1

0

-3

-1

-2

-4 -2 -1 0 1 2 3

log(

)

G

log(

)

G

log( )w

Abb. 8.23 Real- und Imaginärteil des frequenzabhängigen Moduls nach Gleichung (8.83)

Aufgaben

Aufgabe 1: Stoßzahl für ein viskoelastisches Material. Ein Block aus einem viskoelastischen Material stößt gegen eine starre Wand mit der Geschwindigkeit 0v und

springt wieder ab mit einer kleineren Geschwindigkeit 1v . Zu bestimmen ist die Stoßzahl

1 0/e v v= . Der Block soll vereinfachend als eine starre Masse m mit einer Feder-Dämpfer-

Kombination (Steifigkeit c , Dämpfungskonstante η ), wie in Abb. 8.24 gezeigt, modelliert werden.

m

v0

Abb. 8.24 Modell eines viskoelastischen Blocks beim Zusammenstoß mit einer Wand.

Lösung: Ab dem Zeitpunkt des ersten Kontaktes haben wir es mit einem gedämpften Oszilla-tor zu tun. Die Bewegungsgleichung lautet

0mx x cxη+ + =ɺɺ ɺ

oder 202 0x x xδ ω+ + =ɺɺ ɺ

mit 2 / mδ η= und 20 /c mω = . Die Anfangsbedingungen lauten (0) 0x = und 0(0)x v=ɺ . Die

Lösung der Bewegungsgleichung mit den gegebenen Anfangsbedingungen lautet:

0( ) sintvx t e tδ ω

ω−= ɶ

ɶ, ( )0( ) sin costv

x t e t tδ δ ω ω ωω

−= − +ɶ ɶ ɶɺɶ

mit 2 20ω ω δ= −ɶ . Der Block bleibt im Kontakt mit der Wand solange die Druckkraft auf die

Wand F x cxη= +ɺ positiv bleibt. Der letzte Kontaktzeitpunkt *t bestimmt sich aus der Glei-chung

Aufgaben 133

( )* 2 * 2 2 * *00 02 ( ) ( ) 2 sin 2 cos 0tv

x t x t e t tδδ ω δ ω ω δω ωω

− + = − + + = ɶ ɶ ɶɺ

ɶ.

Daraus folgt

*2 20

2tan

2t

δωωω δ

−=−ɶ

ɶ .

Die Geschwindigkeit zu diesem Zeitpunkt ist gleich

( )** * *0( ) sin costvx t e t tδ δ ω ω ω

ω−= − +ɶ ɶ ɶɺ

ɶ.

Die Stoßzahl berechnet sich somit zu

2 20 2 2*

0

2* H( 2 ) arctan2* *

0

( ) 1sin cost

x te e t t e

v

δ δωπ ω δω ω δδ δ ω ω ω

ω

− − − −− = = − + =

ɶ

ɶɺ

ɶ ɶ ɶɶ

mit

1, 0H( )

0, 0

ξξ

ξ>

= <.

Diese Abhängigkeit ist in Abb. 8.25 gezeigt. 1

0.8

0.6

0.4

e

0.2

00 1 2

d w/ 0

Abb. 8.25 Abhängigkeit der Stoßzahl vom Dämpfungsgrad des viskoelastischen Materials.

Aufgabe 2: Messung des komplexen G-Moduls. Eine einfache Methode zur Bestimmung des Speicher- und Verlustmoduls von Elastomeren bietet das Torsionspendel (Abb. 8.26). Hierbei wird eine zylindrische Probe mit dem Radius Rund der Länge l aus einem Elastomer an einem Ende fest eingespannt und am anderen Ende mit einem Rotationsträgheitsmoment Θ verbunden. Das Pendel wird zum Zeitpunkt 0t = aus dem Gleichgewicht ausgelenkt und losgelassen. Aus der gemessenen Schwingungsfrequenz und Dämpfung sind der Speicher- und Verlustmodul zu bestimmen.

Lösung: Für das Torsionsmoment eines elastischen Stabes gilt:

pIM G

lϕ= − ,

wobei pI das polare Flächenträgheitsmoment des Querschnitts ist:

134 8 Elastomere / Gummi

4

2p

RI

π= .

Bei einer periodischen Anregung mit der Kreisfrequenz ω gilt diese Gleichung auch für ei-nen Stab aus einem Elastomer, wenn Gϕ durch

GG Gϕ ϕ ϕ

ω′′′= + ɺ

ersetzt wird. Das sieht man daran, dass dieser Ausdruck bei einer komplexen Anregung

0( ) i tt eωϕ ϕ= genau das Produkt aus dem komplexen Modul und dem Verdrehungswinkel lie-

fert: ( ) ( )( )G G iGϕ ω ω ϕ′ ′′= + . Somit lautet der Drehimpulssatz für das Rotationsträgheits-

moment

0p pI IGG

l lϕ ϕ ϕ

ω′′ ′Θ + + =ɺɺ ɺ .

Diese Gleichung beschreibt eine gedämpfte Schwingung mit der Kreisfrequenz

pI G

′≈

Θ

und dem logarithmischen Dekrement

2pI G

ω′′

.

Für den Speicher- und Verlustmodul ergibt sich

( )2

p

lG

I

ωω Θ′ = , ( ) 2

p

lG

I

ωδω Θ′′ = .

Verschiedene Frequenzen lassen sich durch Änderung des Trägheitsmomentes Θ „abtasten“.

Abb. 8.26 Aufbau eines Torsionspendels zur Messung des komplexen G-Moduls.

8.5 Gummireibung und Kontaktmechanik von Gummi 135

8.5 Gummireibung und Kontaktmechanik von Gummi

Die Natur der Reibung zwischen Gummi und einer harten Unterlage ist von großer Bedeutung für viele technische Anwendungen. Gummireibung unterscheidet sich wesentlich von der Reibung von „harten“ Stoffen wie Metallen oder Keramiken. Vor allem durch die Arbeiten von Grosch (1962) wurde klar, dass die Gummireibung sehr eng mit der inneren Reibung im Gummi zusammenhängt. Das wird unter anderem dadurch bestätigt, dass der Reibungskoeffi-zient eine Temperaturabhängigkeit aufweist, die mit der Temperaturabhängigkeit des kom-plexen Schubmoduls korreliert. Dies ist ein Zeichen dafür, dass die Gummireibung eine Vo-lumeneigenschaft ist.

8.5.1 Reibung zwischen einem Elastomer und einer starren rauen Oberfläche

Man kann die Reibungskraft auf zweifache Weise bestimmen – entweder durch eine direkte Berechnung der tangentialen Kraftkomponenten und deren Mittelung oder durch Berechnung der Energieverluste, die durch Materialdeformation verursacht werden. Ist bei einer makro-skopisch gleichmäßigen Bewegung mit der Geschwindigkeit v die Energie Wɺ pro Sekunde dissipiert, so kann die gesamte Verlustleistung vom makroskopischen Gesichtspunkt der Rei-bungskraft zugeschrieben werden, somit gilt

RW F v=ɺ . (8.84)

Die Reibungskraft bestimmt sich daraus als Verhältnis der Verlustleistung zur Gleitgeschwin-digkeit

R

WF

v=ɺ

. (8.85)

In einem Kontakt zwischen einer starren Oberfläche und einem Elastomer kann Energie nur durch Deformation des Elastomers dissipiert werden. Aus diesem Grunde spielen die Rauig-keiten der starren Oberfläche und der Oberfläche des Elastomers völlig verschiedene Rollen. Das wird durch Abb. 8.27 illustriert. Gleitet ein Elastomer auf einer glatten starren Ebene (Abb. 8.27 a), so gibt es keine zeitliche Änderung des Deformationszustandes des Elastomers und somit keine Verlustleistung: Die Reibung ist gleich Null. Gleitet dagegen ein glatter Elastomer auf einer rauen Oberfläche (Abb. 8.27 b) so hängt der lokale Deformationszustand einzelner Bereiche des Elastomers von der Zeit ab und die Energie wird dissipiert. Daraus folgt, dass für die Elastomerreibung die Rauigkeit der Oberfläche des Elastomers nur eine ge-ringe Rolle spielt: Die Reibung wird im Wesentlichen durch die Rauigkeit der starren Ober-fläche bestimmt. Im Weiteren betrachten wir daher die Reibung zwischen einer rauen starren Oberfläche und einem Elastomer, dessen Oberfläche wir als eben annehmen.

a b

Abb. 8.27 (a) Ein rauer Gummiblock auf einer glatten starren Ebene und (b) ein glatter Gummiblock auf einer rauen starren Ebene.

Wir wollen die Deformation und Energiedissipation im Elastomer berechnen. Dabei benut-zen wir Ergebnisse aus der Kontaktmechanik rauer Oberflächen3. Wird die raue Oberfläche durch den quadratischen Mittelwert l der Höhenstreuung von “Kappen” und einem Mittel-

3 V. L. Popov, Kontaktmechanik und Reibung, 2010

136 8 Elastomere / Gummi

wert R der Krümmungsradien der Kappen charakterisiert, so gilt für die mittlere Kontaktflä-che eines Asperiten

A Rl∆ ≈ . (8.86)

Der charakteristische Durchmesser eines Mikrokontaktes ist demnach gleich

r A Rl≈ ∆ ≈ . (8.87)

Bei einer Gleitgeschwindigkeit v wird ein Bereich mit den charakteristischen Ausmaßen r in der Zeit

r Rl

tv v

≈ ≈ (8.88)

„überfahren“. Die für diesen Prozess charakteristischen Frequenzen haben die Größenordnung

1

t r

νω ≈ ≈ɶ . (8.89)

Für den mittleren Druck in Mikrokontakten gilt

1 *NFE z

Aσ κ −= = ∇ (8.90)

mit 2κ ≈ . Mit z∇ bezeichnen wir den quadratischen Mittelwert der Steigung der Oberfläche3

2z z′∇ = . (8.91)

Der effektive Elastizitätsmodul für Gummi ist gleich4

*2 2

2(1 )4

1 1

E GE G

νν ν

+= = ≈− −

. (8.92)

Da der Schubmodul frequenzabhängig ist, muss in (8.90) die charakteristische Frequenz (8.89) eingesetzt werden:

( )1 ˆ4 G zσ κ ω−= ∇ɶ . (8.93)

Dabei haben wir den Betrag des frequenzabhängigen Moduls eingesetzt, da für den Zusam-menhang zwischen den Amplituden der Spannung und der Deformation der Betrag des kom-plexen Moduls maßgeblich ist. Zur Berechnung der Energiedissipation im Einheitsvolumen eines Mikrokontaktes benutzen wir die Gleichung

21

2 2

( )

ˆ ( )

GP

G

ωω σω

′′=

ɶɶ

ɶ

(8.94)

aus dem vorigen Kapitel. Multipliziert mit der Tiefe des wesentlich deformierten Volumens r≈ ergibt sie die Verlustleistung pro Flächeneinheit und bezogen auf die Normalspannung

den Reibungskoeffizienten:

( / )

ˆ ( / )

G v rz

G v rµ ξ ′′

= ∇ . (8.95)

4 Gummi kann als praktisch nicht kompressibles Medium angenommen werden. Dementsprechend ist die Poisson-Zahl in guter Nä-herung gleich 1/ 2ν ≈ .

8.5 Gummireibung und Kontaktmechanik von Gummi 137

ξ ist hier ein dimensionsloser Koeffizient der Größenordnung 1, der durch eine genauere Be-rechnung zu ermitteln ist. Numerische Simulationen zeigen, dass 1ξ ≈ ist.

Im mittleren Frequenzbereich gilt für viele Gummisorten ′′ ′≫G G . Daraus folgt ( / )

1ˆ ( / )

G v r

G v r

′′≈ . Für den Reibungskoeffizienten gilt dann

zµ ≈ ∇ . (8.96)

Im mittleren Frequenzbereich erhalten wir somit ein sehr einfaches Ergebnis: Der Reibungs-koeffizient ist gleich dem quadratischen Mittelwert der Steigung der Oberfläche. Dieses Er-gebnis hat eine einfache physikalische Bedeutung, die durch Abb. 8.28 illustriert wird: Für ei-nen rein imaginären Schubmodul kann das Medium schnell eingedrückt werden, relaxiert aber nur langsam zurück, so dass sich die Kontaktkonfiguration ergibt, die qualitativ in Abb. 8.28 gezeigt ist. Da der Gummi aus diesem Grunde überall nur auf einer Seite der Rauheitserhö-hungen im Kontakt mit der Unterlage ist, ist es klar, dass der Reibungskoeffizient, den wir als Verhältnis der horizontalen Kraft zur Normalkraft definieren, in etwa der mittleren Steigung der Oberfläche in Kontaktgebieten gleich ist. Wie numerische Simulationen zeigen, kann die-se für zufällig raue Oberflächen in Zusammenhang mit der mittleren Steigung der Oberfläche gebracht werden, wodurch sich (8.96) ergibt.

v

Abb. 8.28 Viskoelastisches Material im Kontakt mit rauer Oberfläche.

Untersuchen wir ausführlich die Gleichung (8.95). Als erstes bemerken wir, dass ( / )

ˆ ( / )

G v r

G v r

′′

immer kleiner oder gleich 1 ist. Der Reibungskoeffizient kann daher nie größer werden als die mittlere Steigung der Oberfläche5. Für das „Standardmodell“ für Gummi, bestehend aus einer Feder und einem Maxwellschen Element, ist der frequenzabhängige Modul unter Berücksich-tigung von 1 2G G≪ gleich

12

2

ˆ ( )G i

G GG i

ηωωηω

+=+

. (8.97)

Für den Reibungskoeffizienten erhalten wir mit 2: / Gτ η=

( )( ) ( ) ( )( )

( )( ) ( ) ( )( )

2 2 2

1 2

2 2 2

1 2

1 /

/ ,

1 / / /

zG G

v vz

v v G G v v

ωτµωτ ωτ

≈ ∇+ +

= ∇+ +

ɶ

ɶ ɶ

(8.98)

wobei hier die charakteristische Geschwindigkeit

r

= (8.99)

5 Das gilt in dem hier betrachteten Kontakt ohne Adhäsion.

138 8 Elastomere / Gummi

eingeführt wurde. Die Abhängigkeit (8.98) ist in Abb. 8.29 dargestellt. Für Geschwindigkei-ten im Intervall ( )1 2/v G G v v< < bleibt der Reibungskoeffizient ungefähr konstant und

gleich z∇ . Zu bemerken ist aber, dass dabei die in Mikrokontakten herrschende Spannung sich laut (8.93) von 1

1 14 G zσ κ −= ∇ bei kleinen Geschwindigkeiten bis 12 24 G zσ κ −= ∇ bei

großen Geschwindigkeiten ändert. Bei großen Gleitgeschwindigkeiten ist daher das Material in Mikrobereichen stärker beansprucht.

-4 -2 0 2-3 -1 1-5

1.0

0.8

0.6

0.4

0.2

0

zm

/

D

log (v / v )

Abb. 8.29 Abhängigkeit des Reibungskoeffizienten von der Gleitgeschwindigkeit im „Standardmodell“ mit 4

2 1/ 10G G = .

Für das rheologische Modell mit einer kontinuierlichen Verteilung von Relaxationszeiten, welches im vorigen Kapitel untersucht wurde, erhalten wir

( )( )( )

0 1 1 2 1

2212

1 1 221 2

( ) arctan( ) arctan( )

11( ) ln .

2 1

G G G

G G

ω τ ω ωτ ωτ

ωττω τ ωτ ωτ

′ = + −

+′′ =

+

ɶ ɶ ɶ ɶ

ɶɶ ɶ

ɶ

(8.100)

Der entsprechende Reibungskoeffizient als Funktion der Gleitgeschwindigkeit ist in Abb. 8.30 dargestellt. Anders als im Standardmodell kann der Reibungskoeffizient in einem realen Gummi bei einer Geschwindigkeitsänderung um mehrere Zehnerpotenzen ungefähr konstant bleiben. Im „Plateaubereich“ ist er auch in diesem Fall ungefähr gleich der mittleren Steigung∇z der Oberfläche.

Auch die Temperaturabhängigkeit des Reibungskoeffizienten wird durch die Temperatur-abhängigkeit des komplexen Schubmoduls bestimmt: Als Funktion von log( )v verschiebt sich die Kurve (µ -..) in der gleichen Richtung und um den gleichen Betrag wie der frequenz-abhängige Schubmodul. Diese Eigenschaft wird bei der Messung des Reibungskoeffizienten zur Konstruktion von Masterkurven benutzt – auf die gleiche Weise, wie bei der „Messung“ des frequenzabhängigen Schubmoduls. Dadurch kann man Geschwindigkeitsbereiche erfas-sen, welche einer direkten Messung nicht zugänglich sind. Bei Temperaturerhöhung ver-schiebt sich die Kurve nach rechts (in den Bereich von größeren Geschwindigkeiten). Eine für eine bestimmte Temperatur erstellte Masterkurve im Zusammenhang mit der WLF-Shift-Funktion bestimmt somit den Reibungskoeffizienten bei beliebigen Temperaturen und Ge-schwindigkeiten. Experimentelle Daten (Masterkurven) für zwei Elastomere sind in Abb. 8.31 dargestellt.

8.5 Gummireibung und Kontaktmechanik von Gummi 139

D

1.0

-4 -2 0-5

0.8

0.6

0.4

0.2

0

-3 -1 1

zm

/

log (v) a.u.

Abb. 8.30 Reibungskoeffizient als Funktion der Gleitgeschwindigkeit für die Prony-Reihe nach Abb. 8.21 und den diesem Modell im Unterkapitel 8.4 zugeordneten Parametern.

-4 0 4 8

2

1

0-4 0 4 8

2

1

0

Rei

bb

eiw

ert

m

Rei

bb

eiw

ert

m

log ( (T)v)t log ( (T)v)t

Abb. 8.31 Experimentelle Daten von Grosch für die Abhängigkeit des Reibungskoeffizienten von zwei Gummisorten auf verschiedenen Unterlagen (K. A. Grosch, The relation between the friction and visco-elastic properties of rubber. Proc.Roy.Soc., A2 74, (1963) 21).

8.5.2 Rollwiderstand

Auch bei reinem Rollen ohne Schlupf gibt es im Fall von Elastomeren Energiedissipation und den damit verbundenen Widerstand. In der Regel ist es gewünscht, dass sich dieser Wider-stand minimiert, während die Gleitreibung gleichzeitig maximiert wird. Das ist möglich, da der charakteristische Frequenzbereich für das Gleiten /Gleiten vω λ≈ (wobei λ die charakteris-

tische Wellenlänge der Rauigkeit der Straße von der Größenordnung 10 100 mµ− ist) und die

charakteristische Frequenz für Rollen /Rollen v aω ≈ (a ist der Kontaktradius von der Größen-

ordnung 5 cm) sich um zwei bis drei Größenordnungen unterscheiden. Für den Normalbe-trieb eines Rades ist es erwünscht, dass in dem Frequenzbereich Gleitenω der Verlustmodul

größer als der Speichermodul ist: G G′′ ′≥ , während in dem Frequenzbereich Rollenω umge-

kehrt G G′′ ′≪ gilt (Abb. 8.32).

140 8 Elastomere / Gummi

3

2

1

0

-1

2-4 -2 0 2-3 -1 1 3

Ro

llen

Gle

iten

log ( )wlo

g(G

)

log

(G)

Abb. 8.32 Frequenzabhängige Speicher- und Verlustmodule für ein im Unterkapitel 8.4 beschriebenes rheologisches Modell eines Elastomers. Damit der Rollwiderstand klein und die Gleitreibung groß (und konstant) bleiben, müssen die Betriebsbedingungen so gewählt werden, dass die für das Rollen charakteristischen Frequenzen im linken hervorgehobenen Frequenzbereich liegen und die für das Gleiten charakteristischen Frequenzen dem rechten hervorgehobenen Frequenzbereich entsprechen.

In dem Frequenzbereich, in dem die beim Rollen gewünschte Bedingung G G′′ ′≪ erfüllt ist, hängt der Speichermodul praktisch nicht von der Frequenz ab und fällt mit dem statischen Modul G∞ zusammen. Wir können daher in erster Näherung annehmen, dass wir es mit ei-

nem rein elastischen Hertzschen Kontakt zu tun haben. Die Energieverluste beim Rollen können wir abschätzen, indem wir das Rollen als „konti-

nuierliches, wiederholtes Aufstellen“ eines Rades betrachten. Beim Rollen einer Kugel mit dem Radius R auf einer starren Ebene gelten für die Normalkraft NF und für den Kontaktra-

dius a die Hertzschen Beziehungen:

* 1/2 3/2 1/2 3/24 16

3 3NF E R d G R d∞≈ ≈ , (8.101)

2a Rd≈ , (8.102)

wobei d die Eindrucktiefe ist. Die charakteristische Frequenz schätzen wir mit

v

aω ≈ (8.103)

ab, die Amplitude der Deformation mit

0

d

aε ≈ . (8.104)

Für die Verlustleistung in einem Einheitsvolumen erhalten wir

2

20

1 1( )

2 2

v d vP G G

a a aωε ω ′′ ′′= ≈

(8.105)

und für die Verlustleistung im gesamten Kontaktvolumen ( )32a∼

24v

W vd Ga ′′≈

ɺ . (8.106)

Indem wir die Verlustleistung durch die Geschwindigkeit dividieren, erhalten wir die Wider-standskraft

8.5 Gummireibung und Kontaktmechanik von Gummi 141

24w

vF d G

a ′′≈

. (8.107)

Bei kleinen Frequenzen ist der Verlustmodul immer proportional zur Frequenz und kann da-her in der Form

( )G ω ηω′′ = (8.108)

geschrieben werden, wobei η die dynamische Viskosität bei kleinen Frequenzen ist. Für die Widerstandskraft ergibt sich

22 3

24 4w

a v aF v

R a Rη η ≈ =

. (8.109)

Mit dem Hertzschen Ergebnis3, das wir mit den hier benutzten Bezeichnungen in der Form

3 3

16NRF

aG∞

= (8.110)

umschreiben, erhalten wir für die Widerstandskraft

3 3

4 4w N N

v vF F F

G R R

η τ∞

≈ = (8.111)

und für den „Rollreibungskoeffizienten“

3

4W

RollenN

F v

F R

τµ = ≈ , (8.112)

wobei / Gτ η ∞= die Relaxationszeit des Elastomers ist. Diese Gleichung ist bis zu einem di-

mensionslosen Koeffizienten der Größenordnung 1 gültig. Die Rollreibung ist demnach pro-portional zum Produkt aus der Rollgeschwindigkeit und der (größten) Relaxationszeit von Gummi und umgekehrt proportional zum Krümmungsradius der Kugel.

8.5.3 Adhäsiver Kontakt mit Elastomeren

Bisher haben wir angenommen, dass es keine adhäsiven Kräfte zwischen Elastomer und star-rer Oberfläche gibt. Bei ausreichend glatten Oberflächen ist dies nicht der Fall. Betrachten wir nun einen adhäsiven Kontakt zwischen einer starren Kugel und einem Elastomer mit ebener Oberfläche (Abb. 8.33). Der Rand des Kontaktes kann als Rissspitze betrachtet und behandelt werden6. Im Gleichgewicht kann das Elastomer als ein elastischer Körper mit dem statischen Schubmodul G∞ und einem effektiven Elastizitätsmodul

( )( )

*2

2 1 24

11

G GE G

ννν

∞ ∞∞

+= = =

−− (8.113)

angenommen werden. Im Gleichgewicht gilt für den Zusammenhang zwischen der Normal-kraft NF und dem Kontaktradius a die JKR-Gleichung:

6 Die ursprüngliche Theorie von Johnson, Kendall und Roberts basierte genau auf dieser Analogie.

142 8 Elastomere / Gummi

1/23 * 34 8

*3 *N

a aF E

R E

γ π = −

. (8.114)

*γ ist hier die effektive Grenzflächenenergie, d.h. die zur Erzeugung einer Einheits-Grenzfläche erforderliche Energie. Die Bedingung (8.114) können wir in einer Form darstel-len, in der es bequem ist, den Kontaktrand als eine Rissspitze zu behandeln. Zu diesem Zwe-cke lösen wir zunächst die Gleichung (8.114) nach *γ auf:

2* 3

*3 *

4 1

3 8N

E aF

R a Eγ

π

= −

. (8.115)

Da die effektive Oberflächenenergie *γ gleich der Streckenlast ist, die versucht, „den Riss zu schließen“, d.h. die Grenze des Risses so zu verschieben, dass der Kontaktradius größer wird, können wir die Gleichung (8.115) als eine Gleichgewichtsbedingung für Linienkräfte an der Rissspitze interpretieren. Auf der linken Seite steht die Linienkraft, die durch van-der-Waals-Kräfte zwischen den Oberflächen bedingt ist. Auf der rechten Seite soll sinngemäß die Li-nienkraft stehen, die sich aus den elastischen Deformationen des Kontinuums ergibt und in entgegengesetzter Richtung wirkt. Indem wir die rechte Seite der Gleichung (8.115) mit D bezeichnen

2* 3

3 *

4 1

3 8N

E aD F

R a Eπ

= −

(8.116)

können wir die Gleichgewichtsbedingung in der Form

* Dγ = (8.117)

schreiben. R

aElastomer

starre Kugel

Abb. 8.33 Kontakt zwischen einer starren Kugel und einem Elastomer. Die Kontaktgrenze kann als ein Riss betrachtet werden.

Die Differenz *D γ− kann als „treibende Kraft“ für die Rissspitze betrachtet werden. Im Gleichgewicht verschwindet sie. Ändert sich die Normalkraft, so ist die Risslinie nicht mehr im Gleichgewicht. In einem rein elastischen Körper würde sich der Riss unter Einwirkung ei-ner konstanten „Kraft“ *D γ− beschleunigen bis er eine Geschwindigkeit von der Größen-ordnung der Geschwindigkeit von Oberflächenwellen im elastischen Kontinuum (Rayleigh-Wellen) erreicht hat. In einem viskoelastischen Körper wird er aufgrund der intensiven Dissi-pation eine endliche Geschwindigkeit erreichen. Bei einer langsamen Bewegung zeigt es sich, dass der größte Teil des Kontaktgebietes als rein elastisch betrachtet werden kann. Die gesam-ten Energieverluste sind dagegen nur einer relativ kleinen „Prozesszone“ an der Rissspitze zu verdanken. Maugis und Barquins haben die folgende kinetische Gleichung vorgeschlagen, die die effektive Streckenlast *D γ− mit der Fortschrittsgeschwindigkeit v des Risses verbindet:

( )* * ( )D T vγ γ τ− = Φ , (8.118)

Aufgaben 143

wobei ( )Tτ die Williams-Landel-Ferry-Funktion ist. Die dimensionslose Funktion ( )( )T vτΦ

hängt im mittleren Geschwindigkeitsbereich typischerweise nach einem Potenzgesetz von der Geschwindigkeit v ab:

( )( ) ( ) nT v T vτ αΦ = . (8.119)

Die Potenz n liegt typischerweise zwischen 0,25 und 0,7. Als Beispiel ist in Abb. 8.34 die Funktion Φ für Glaskugeln auf Polyurethan gezeigt. Die Gleichungen (8.118) und (8.119) er-lauben, die Kinetik der Adhäsionsprozesse unter verschiedenen Beanspruchungen zu untersu-chen (s. z.B. Aufgabe 3 zu diesem Kapitel).

1 1010 -1 102

10 3 104

Rissgeschwindigkeit (mm s)/

10 3

10 2

10

1

f=

D-

*g

g*

0.6

1

Abb. 8.34 “Dissipationsfunktion“ Φ als Funktion der Rissausbreitungsgeschwindigkeit für Glaskugeln auf Polyurethan für zwei Krümmungsradien und zwei Temperaturen. Die gleiche Masterkurve erhält man auch aus Peeling-Experimenten mit verschiedenen Stempeln. Aus: Barquins, M, „Adherence, Friction and Wear of Rub-

ber-Like Materials“, Wear, v. 158 (1992) 87-117. Die gezeigte Abhängigkeit kann mit ( )0.6

010 /v vΦ ≈ ⋅ und

0 1 /v m sµ= approximiert werden.

Aufgaben

Aufgabe 1: Eine starre Oberfläche sei eine Superposition von zwei Zufallsfunktionen, die ei-ne mit einem charakteristischen Wellenvektor 1k und dem quadratischen Mittelwert der Stei-

gung 1z∇ , die andere mit einem charakteristischen Wellenvektor 2 1k k≫ und dem quadrati-

schen Mittelwert der Steigung 2z∇ . Zu bestimmen ist der Reibungskoeffizient zwischen

dieser Oberfläche und einem Elastomer.

Lösung: Wir wissen, dass die Beiträge zum Reibungskoeffizient von verschiedenen Skalen additiv sind – solange die Beiträge einzelner Skalen viel kleiner als 1 sind (praktisch kleiner 0,3).

Untersuchen wir zunächst eine raue Oberfläche mit einem charakteristischen Wellenvektor

1k und der Streuung der Wellenvektoren von der gleichen Größenordnung. Die Rauigkeit und

die Höhenstreuung 1l bei einer Oberfläche mit solchen spektralen Eigenschaften haben die

gleiche Größenordnung 1 1l h≈ . Den Krümmungsradius der Maxima können wir abschätzen,

indem wir die Fläche lokal als ( )2 211 1 1 12cos 1z h k x h k x= ≈ − darstellen. Die Krümmung in ei-

nem Maximum hat die Größenordnung 21 11/ (0)R z h k′′= ≈ . Der charakteristische Durchmes-

ser eines Mikrokontaktes wird mit

144 8 Elastomere / Gummi

12

1 1 1

1hr Rl

h k k≈ ≈ =

abgeschätzt und ist demnach von derselben Größenordnung wie die charakteristische Längen-skala der Welligkeit der Oberfläche ( 1 / 2λ π≈ , wobei 1λ die charakteristische Wellenlänge

ist). Gäbe es nur eine Skala mit dem charakteristischen Wellenvektor 1k , so könnte zur Berech-

nung des Reibungskoeffizienten die Gleichung (8.95) benutzt werden, die wir in die Form

11 1

1

( )

( )

G k vz

G k vµ

′′≈ ∇ ⋅

umschreiben. Sind Unebenheiten in zwei Skalen vorhanden, so summieren sich die Beiträge zum Reibungskoeffizienten (solange diese Beiträge einzeln viel kleiner als 1 sind) zu

1 21 2 1 2

1 2

( ) ( )

( ) ( )

G k v G k vz z

G k v G k vµ µ µ

′′ ′′≈ + ≈ ∇ ⋅ + ∇ ⋅ .

Aufgabe 2: Zu bestimmen ist der Rollwiderstandskoeffizient eines starren Rades auf einer elastischen Schicht, die aus einer Reihe von gleichen Elementen besteht („Winklersche Bet-tung“, s. Abb. 8.35). Jedes Element soll aus einer Feder (Steifigkeit cdx) und einem parallel geschalteten Dämpfer (Dämpfungskonstante δ dx) bestehen.

v

der ersteKontaktpunktder letzte

Kontaktpunkt

d

z

0D z(x)

x

axx0

Abb. 8.35 Ein starres Rad wird unbeweglich gehalten. Eine starre Platte mit darauf geklebter viskoelastischer Schicht, die hier als Winklersche Bettung modelliert wird, wird nach links mit der Geschwindigkeit v bewegt. Die „Eindrucktiefe“ ist konstant und gleich d .

Lösung: Die Form des Rades in der Nähe des Kontaktpunktes approximieren wir mit

2

2

xz d

R= − + ,

wobei d die Eindrucktiefe ist. Für die Steigung im Punkt x ergibt sich tan /z x Rθ ′= = . Ei-ne Bewegung der Unterlage in der negativen Richtung mit der Geschwindigkeit v führt zu einer Federbewegung in vertikaler Richtung mit der Geschwindigkeit /z vz vx R′= − = −ɺ . Die auf die Scheibe seitens der Feder wirkende Kraft ist gleich

( ) ( )2

2z

x xdF cz z dx cz vz dx c d v dx

R Rδ δ δ

′= − − = − + = − − + + ⋅

ɺ

Die z-Komponente der Gesamtkraft berechnet sich zu

0

2

2

a

N

x

x xF c d v dx

R Rδ

= − − + + ⋅

Aufgaben 145

und die x-Komponente der Gesamtkraft zu

0

2

2

a

w

x

x x xF c d v dx

R R Rδ

= − − + + ⋅

∫ ,

wobei mit a die Koordinate des ersten Kontaktpunktes rechts und mit 0x die Koordinate des

letzten Kontaktpunktes links bezeichnet wurde. Die Koordinate a berechnet sich aus der Be-dingung 0z = , und 0x aus der Bedingung 0zdF = . Daraus folgt:

2a Rd= und 2

0 2v v

x Rdc c

δ δ = − + +

.

Durch die Substitution / 2x Rdξ = bringen wir die Ausdrücke für NF und wF in die fol-

gende Form

( )0

11/2 1/2 3/2 22 1NF R d c d

ξ

ξ κξ ξ= − +∫ ,

( )0

12 22 1wF d c d

ξ

ξ κξ ξ ξ= − +∫ ,

mit den Bezeichnungen

1/2

1/2 1/2

2 2v v

cd R ca

δ δκ ⋅ ⋅= =

und

2

0 12 2

κ κξ = − + +

.

Der Widerstandskoeffizient berechnet sich zu

( )

( )0

0

12

1/2

12

12

1

w

N

dF d

F Rd

ξ

ξ

ξ κξ ξ ξµ

ξ κξ ξ

− + = = ⋅ − +

∫.

Betrachten wir zwei Grenzfälle: (a) 1κ ≪ : sehr kleine Geschwindigkeiten. In diesem Fall gelten die Näherungen

1/2 1/2 3/242

3NF R d c= , 24

3wF d cκ= . Für den Widerstandskoeffizienten ergibt sich

1/2

1/2 1/22

d v v

R cR R

δ τµ κ= = =

mit / cτ δ= (man vergleiche dieses Ergebnis mit der Abschätzung (8.112)).

146 8 Elastomere / Gummi

(b) 1κ ≫ : sehr große Geschwindigkeiten, bzw. Fahren auf einer flüssigen Schicht ( 0c = ). In

diesem Fall gelten die Näherungen NF vdδ= , 3/2 3/2

1/2

2

3w

d vF

R

δ ⋅= . Für den Widerstandskoeffi-

zienten ergibt sich7

1/23/22

3NF

vRµ

δ =

.

Aufgabe 3: Zu bestimmen ist die Kinetik des „Abreißprozesses“ einer Kugel im Kontakt mit einem Elastomer, wenn die Kugel sich vor 0t = ohne Belastung im Gleichgewichtszustand

befand und zum Zeitpunkt 0t = eine Kraft *3

2N AF F Rγ π= − = − , 1,5N AF F= − ⋅ oder

2N AF F= − ⋅ angelegt wird. Zu benutzen sind die folgenden Daten: 2 mmR = , * 10 MPaE = , * 20,05 J/mγ = , ( )0.5

010 /v vΦ ≈ ⋅ , 0 1 /v m sµ= .

Lösung: Die Aufgabe wird mit der Gleichung (8.118) gelöst, die wir in der folgenden Form schreiben:

( )0.5* *010 /D v vγ γ− = .

Mit den Bezeichnungen

* 33 (in unserem Fall 0,47 10 N)

2AF Rπγ −= = ⋅

für die Adhäsionskraft und

1/3* 25

0 9 (in unserem Fall 6,56 10 m)2 *

Ra

E

γ π − = = ⋅

für den Gleichgewichtsradius ohne Belastung kann man die „Streckenlast“ D in der folgen-den Form darstellen:

23/23/2* 0

0

1

4N

A

F a aD

F a aγ = −

.

Vor dem Zeitpunkt 0t = herrscht Gleichgewicht ohne Belastung und der Kontaktradius ist gleich 0a . Ab dem Zeitpunkt 0t = gilt die Gleichung

23/2 0.53/2* * *0

0 0

110

4N

A

F a a v

F a a vγ γ γ − − =

.

Daraus folgt für die Geschwindigkeit

7 Beim Übergang zu einem dreidimensionalen System ist δ durch 4η zu ersetzen: 1/2

21

3NF

vRµ

η =

.

Aufgaben 147

223/23/2

0 0

0

11

100 4N

A

v F ada av

dt F a a

= − = − −

.

In den dimensionslosen Variablen 0/a a a=ɶ und 0 0/100t tv a=ɶ erhalten wir die Gleichung

22

3/2 3/211

4N

A

Fdaa a

dt F−

− = − −

ɶɶ ɶ

ɶ

mit der Anfangsbedingung 1a =ɶ für 0t =ɶ . Ergebnisse einer numerischen Integration dieser Gleichung für drei verschiedene Verhältnisse /N AF F sind in Abb. 8.36 dargestellt.

0 0,4

F /FA = -1

0,8 1,2 1,6 2

tv0

100a

a/a

0

-2

-1,5

1

0,8

0,6

0,4

0,2

0

0

N

Abb. 8.36 Abhängigkeit des Kontaktradius’ von der Zeit bei verschiedenen Normalkräften.

Für N AF F= − strebt das System für t → ∞ in einen Gleichgewichtszustand. Die Normalkraft

1,5N AF F= − ⋅ entspricht bereits einer überkritischen Abreißkraft. Die Kugel springt nach der

Zeit 30 01,4 100 / 9 10 sa v⋅ ≈ ⋅∼ ab