Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et...

46
Medikationsprobleme bei Pflegebedürftigen im Übergang vom Krankenhaus in die häusliche Pflege Schwerpunktbericht Autor: Hürrem Tezcan-Güntekin

Transcript of Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et...

Page 1: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigenim Übergang vom Krankenhaus in die häusliche Pfl ege

Schwerpunktbericht

Autor: Hürrem Tezcan-Güntekin

Page 2: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten
Page 3: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

Fam

ilial

e Pf

lege

Bielefeld, im Mai 2017

Medikationsprobleme bei Pflegebedürftigen im Übergang vom Krankenhaus in die häusliche Pflege

- Schwerpunktbericht -

Hürrem Tezcan-Güntekin

Page 4: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten
Page 5: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

Fam

ilial

e Pf

legeInhaltsverzeichnis

Vorwort 7

1. Einleitung 8

2. Literaturanalyse 10

3. Studiendesign der qualitativen Studie 14

I. Kategorie: (Fehl)Umgang mit Medikation 15

II. Kategorie: Umstellung der Medikation und Desorientierung 18

III. Kategorie: Weitere Quellen für Desorientierung 20

IV. Kategorie: Entlassung und Arztbrief als Unsicherheitsfaktoren 21

V. Kategorie: Kurzfristige Entlassungen 22

VI. Kategorie: Kontinuität der Behandlung 23

VII. Kategorie: Bedarfsmedikation 24

VIII. Kategorie: Gründe für Wiedereinweisungen ins Krankenhaus 25

IX. Kategorie: Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Verordnungen aus dem Krankenhaus in die Lebenswelt der PatientInnen 25

X. Kategorie: Medikationsprobleme bei Menschen mit Demenz 26

XI. Kategorie: Delir und Medikation 27

XII. Kategorie: Zuschreibung und/oder Übernahme von Verantwortung durch Professionelle und PatientInnen/Angehörige 28

XIII. Kategorie: Sucht und Medikation 30

XIV. Kategorie: Bereits vorhandene Modelle zum Umgang mit Medikation vor/während der Entlassung aus dem Krankenhaus 31

4. Interpretation der Ergebnisse und Diskussion 33

5. Handlungsempfehlungen 37

6. Diskussion und Ausblick 39

7. Literaturverzeichnis 41

Page 6: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten
Page 7: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

Fam

ilial

e Pf

lege

7

Vorwort

Der Umgang mit Medikation ist für PatientInnen und Angehörige häufig eine schwer zu bewältigende Herausforderung. In Transitionssituationen wie beispielsweise im Übergang vom Krankenhaus in die häusliche Pflege kann sich sowohl die Medikation als auch der Umgang mit dieser durch die Betroffenen verändern. Das Thema Medikation hat im Projekt „Familiale Pflege unter den Bedingungen der G-DRG“ in den vergangenen zehn Jahren zunehmend an Relevanz gewonnen. Dies ist zum einen auf die steigende Zahl hochaltriger Pflegebedürftiger und oft ebenfalls hochaltriger pflegender Angehöriger zurückzuführen, zum anderen auf die mit dem steigenden ökonomischen Druck einhergehenden verfrühten bzw. auch „eiligen“ Entlassungen aus dem Krankenhaus.

Das Projekt „Familiale Pflege unter den Bedingungen der G-DRG“ agiert im Rahmen eines Dreieckkontrakts zwischen der Pflegedirektion des jeweiligen Krankenhauses, der Univer-sität Bielefeld und den PflegetrainerInnen, die den Kliniken entstammen und innerhalb des Projektes wissenschaftlich weitergebildet werden und anschließend als PflegetrainerInnen tätig sind. PflegetrainerInnen lernen pflegebedürftige PatientInnen im Krankenhaus ken-nen und führen in der Regel schon dort das erste Gespräch mit den Angehörigen durch. Anschließend werden die pflegenden Angehörigen nach der Entlassung sechs Wochen von den PflegetrainerInnen in der Häuslichkeit betreut. Ziel ist, die pflegenden Angehöri-gen dabei zu unterstützen, mit der oftmals neu eingetretenen Pflegebedürftigkeit im Alltag umgehen zu lernen. In regelmäßig stattfindenden Entwicklungsgesprächsgruppen der wis-senschaftlichen MitarbeiterInnen des Projektes mit den PflegetrainerInnen wurde in den vergangenen Jahren das Thema Medikation, welches Angehörige vor teilweise unüber-windbare Hürden stellt, zunehmend als Thema aufgegriffen und kontrovers diskutiert. Dieser Untersuchungsgegenstand soll im Rahmen einer explorativen, empirischen Erhe-bung mittels qualitativer Inhaltsanalyse analysiert werden, die dem Wissenstransfer inner-halb des Modellprogramms „Familiale Pflege“ dienen soll. In dieser evaluativen Erhebung1

stehen Wahrnehmungen der PflegetrainerInnen von Problemen, mit denen Pflegebedürfti-ge und ihre Angehörigen sich bei der Entlassung aus dem Krankenhaus konfrontiert sehen, im Vordergrund.

1 Im Modellprogramm „Familiale Pflege unter den Bedingungen der G-DRG“ werden neben der jährlichen Gesamtevaluation themenbe-zogen qualitative oder quantitative Evaluationsstudien durchgeführt, die u. a. auf der Webseite des Projektes veröffentlicht werden: http://www.uni-bielefeld.de/familiale-pflege/

Page 8: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

8

1. Einleitung

Die Anzahl der eingenommenen Medikamente steigt bei älteren Menschen mit Zunahme gesundheitlicher Beschwerden. Es handelt sich hierbei zum Teil um vom Arzt verschriebene Medikamente, zum Teil jedoch auch um Selbstmedikation. Nimmt ein/e PatientIn unter-schiedliche Arten von Medikamenten ein, steigt die Zahl von Wechselwirkungen und uner-wünschten Nebenwirkungen (Braun 2012). Quantitativen Studien zufolge ist bei 36,8 % der älteren PatientInnen, die einen ungeplanten Krankenhausaufenthalt haben, eine Fehl- oder unangebrachte Mehrfachmedikation nachzuweisen (Marcum u. a. 2012) und 15,4 % der Krankenhausaufnahmen älterer PatientInnen sind auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) zurückzuführen (Beard 1992). Als wesentliche Gründe für unerwünschte Arznei-mittelwirkungen werden Multimorbidität und Polypharmazie benannt, die insbesondere bei älteren PatientInnen und Hochaltrigen zunehmen (Burkhardt u. a. 2007a; 2007b).

Besonders von Fehlmedikation sind PatientInnen betroffen, die an einer Demenzerkran-kung leiden, da sie ihre Medikation oft nicht selber (und korrekt) einnehmen können und für die Verschreibung und Einnahme auf die Hilfe von (häufig ebenfalls hochaltrigen oder erkrankten) Angehörigen angewiesen sind. Zwei aktuelle Studien zur längerfristigen Ein-nahme von Benzodiazepinen und Z-Substanzen2 bei demenzerkrankten Menschen haben unterschiedliche Ergebnisse aufgezeigt: Die Studie von Billioti de Gage (2012) zeigte auf, dass die Einnahme über die empfohlene Begrenzung von zwei Monaten hinaus zu einer Verschlechterung und einem schnelleren Voranschreiten der Erkrankung führt. Gray (2016) konnte in einer Langzeitstudie aufzeigen, dass nicht klar zu sagen ist, ob der Benzodia-zepinkonsum durch eine Demenz ansteigt oder die Erkrankung durch den Konsum dieser Mittel verstärkt wird. Von einem Zusammenhang – in eine dieser kausalen Richtungen – ist auszugehen. Aufgrund der beruhigenden Wirkung bevorzugen Angehörige aber Medi-kamente dieser Wirkstoffgruppen, da sie Symptome von Unruhe und Aggression für die Dauer der Einnahme verringern können. Die inadäquate Einnahme von Benzodiazepinen und Z-Substanzen kann für die Erkrankten jedoch langfristig sehr folgenreich sein und auch zu einem schnelleren Verlust von Kompetenzen und Lebensqualität führen. Der Übergang vom Krankenhaus in andere Versorgungsformen wie häusliche Pflege, Kurz-zeitpflege oder Rehabilitationseinrichtungen birgt die Gefahr von Missverständnissen und eines Fehlumgangs mit Medikation in sich – durch die PatientInnen selber, aber auch durch pflegende Angehörige oder professionelles Pflegepersonal.

2 Z-Substanzen werden auch Z-Hypnotika oder Z-Schlafmittel genannt.

Page 9: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

Fam

ilial

e Pf

lege

9

In der vorliegenden Studie sollen Medikationsprobleme im Übergang vom Krankenhaus in die Häuslichkeit und andere Versorgungsformen analysiert werden. Hierzu wurde ein Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent-lichungen zu den Schlagworten „Entlassung“, „Demenz“ und „Medikation“ durchgeführt (Kap. 2). In einem zweiten Schritt wurden im Rahmen eines qualitativen Forschungsdesigns vier Gruppeninterviews mit insgesamt 42 PflegetrainerInnen aus dem Projekt „Familiale Pflege unter den Bedingungen der G-DRG“ zur Frage der Medikationsproblematik nach Entlassung von Pflegebedürftigen aus dem Krankenhaus in die Häuslichkeit durchgeführt. Des Weiteren wurden Analysen der Dokumentationen von Medikation thematisierenden Pflegetrainings und Protokolle aus Entwicklungsgruppen in die Analyse einbezogen (Kap. 3).

Ausgehend von den Ergebnissen dieser Studien (Kap. 4) werden Empfehlungen zur wei-teren Untersuchung dieses Themas und zur praktischen Intervention gegeben (Kap. 5). Der Bericht schließt mit einer Diskussion und einem Ausblick ab (Kap. 6).

Page 10: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

10

2. Literaturanalyse

Für das Scoping Review (vgl. Armstrong et al. 2011) wurde eine Schlagwortsuche („Ent-lassung“, „Demenz“ und „Medikation“, bzw. „discharge“ „transition“, „dementia“, „medi-cation“, „drugs“) in Medline und anderen Suchmaschinen, (z. B. Google Scholar) durch-geführt, es wurden aber auch in relevanten Publikationen zitierte Artikel und Studien zum Entlassungsmanagement hinzugezogen, die im Rahmen der Schlagwortsuche nicht auf-tauchten. Hierbei wurden 74 nationale und internationale Veröffentlichungen für die Fra-gestellung als relevant erachtet und in die Analyse einbezogen.

Die Literaturanalyse verfolgte folgende Fragen:

a) Welche Themen stehen im Vordergrund?

b) Welche Probleme im Zusammenhang mit Medikation und Entlassung werden deutlich?

c) Welche Probleme im Zusammenhang mit Medikation werden insbesondere bei der Entlassung von Demenzpatienten deutlich?

Im Folgenden werden ausgewählte Studien knapp erläutert und deren wichtigsten Ergeb-nisse vorgestellt.

a) Zentrale Themen, die durch die Literaturanalyse deutlich wurden

Im allgemeinen Kontext der Entlassungsvorbereitung wird die Zufriedenheit pflegen-der Angehöriger mit der Entlassungsvorbereitung ihrer demenzerkrankten Angehö-rigen (Fox et al. 1996), mit dem Entlassungszeitpunkt ihrer Angehörigen3 (Leske et al. 1999) sowie die Zufriedenheit älterer PatientInnen mit der Partizipation an der Ent-lassungsvorbereitung (Roberts 2002) untersucht. Eine regionale, quantitative Studie4 untersucht die PatientInnenstruktur und Ergebnisqualität bei der Entlassung aus Kranken-häusern in NRW (Wingenfeld et al. 2007). Demzufolge verhindert die Kurzfristigkeit der Entlassung eine angemessene Planung: 3,4 % der PatientInnen erfahren davon am selben Tag; 20,1 % am Tag zuvor und 60,9 % 2 bis 4 Tage vor Entlassung. Dabei bieten nur we-nige Krankenhäuser Möglichkeiten der Schulung oder Anleitung von Angehörigen an, um die Bewältigung der häuslichen Pflegesituation zu unterstützen und damit zu verbessern.

Internationale Studien fokussieren auf den Umgang von PatientInnen und Angehörigen mit der häuslichen Pflege nach Krankenhausentlassung: Shyu (2000a) untersucht in ei-

3 Nur 20 % fühlen sich auf die Entlassung vorbereitet.4 N=294

Page 11: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

Fam

ilial

e Pf

lege

11

ner qualitativen Studie Muster des Umgangs pflegender Angehöriger mit der häuslichen Pflege nach der Entlassung, Lough et al. (1996) untersuchten mit einem qualitativen For-schungsdesign5 den Umgang von (kardiologischen) PatientInnen mit Medikamentenregi-men zwei Wochen nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus. Anderen quantitativen Studien zufolge gaben 83,4 % der Befragten an, die notwendige Unterstützung nach der Entlassung erhalten zu haben, bei 62 % der befragten älteren PatientInnen wurde nach Entlassung aus dem Krankenhaus eine medikamentöse Unterversorgung festgestellt, die v. a. mit Komorbidität einhergeht (Wright et al. 2009)6.

Studien zur Entlassungssituation von demenzerkrankten Menschen untersuchen den Zeit-punkt der Entlassung (Kitamura et al. 2013), Erfahrungen pflegender Angehöriger nach dem Krankenhausaufenthalt (Bloomer et al. 2014) und Wiedereinweisungen von De-menzpatientInnen ins Krankenhaus (Cummings et al. 1999).

Nur eine Studie fokussiert explizit den Arztbrief als Instrument der Entlassung aus dem Krankenhaus, der zufolge über ein Drittel der befragten jungen ÄrztInnen sich bezüglich des Schreibens von Arztbriefen schlecht vorbereitet fühlt (Yemm et al. 2014).

b) Probleme im Zusammenhang mit Medikation bei der Entlassung

Studien, die insbesondere die medikamentöse Versorgungssituation nach der Entlassung aus dem Krankenhaus in den Blick nehmen, gehen auf den Transfer innerhalb professio-neller Versorgungssysteme im Kontext von unangemessener Verschreibung von Medika-menten im Übergang vom Krankenhaus in die stationäre Pflege ein (Bakken et al. 2012) oder untersuchen, inwiefern die Anzahl der verordneten Medikamente durch ein geriat-risches Überleitungsteam reduziert werden kann (Chan et al. 2009; Haude et al. 2009). Das Informationsmanagement zur Medikation bei der Überleitung in die Häuslichkeit un-tersuchen u. a. Driscoll et al. (1999) und Shyu (2000b), denen zufolge zu wenig Infor-mationen über Medikamente an die pflegenden Angehörigen weitergegeben werden. Aus einer Studie von Hartwig et al. (2008) mit 63 pflegebedürftigen PatientInnen über 65 Jahren zur Entlassungsvorbereitung geht hervor, dass 76  % sich hinsichtlich neuer Medikation bei der Entlassung „gar nicht“ informiert fühlen. Einer quantitativen Studie7

von Kleinpell et al. (2004) zufolge wissen 31 % der befragten PatientInnen zwei Wochen nach Entlassung nichts über den Zweck und 46 % nichts über mögliche Nebenwirkungen oder 35 % nichts über mögliche gefährliche Symptome bei der Einnahme ihrer Medika-tion. Frühe Entlassungsvorbereitung und anschließende telefonische Beratung führen zu einer verbesserten Informiertheit der PatientInnen über die Medikation (Kleinpell et al. 2004).

5 N=256 N=3847 N=100 (Alter zwischen 65 und 90 Jahre)

Page 12: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

12

Eine Edukation zum Medikamentenmanagement wird von PatientInnen als hilfreich wahr-genommen, wenn die Informationen individuell gestaltet, mündlich mitgeteilt und schrift-lich festgehalten werden (Martens 1998).

Unterschiede in der Einschätzung der Kompetenz der PatientInnen im Umgang mit Me-dikation durch professionelle Pflegekräfte und PatientInnen stellt eine quantitative Studie8

heraus, der zufolge Pflegepersonal das Wissen ihrer PatientInnen über Nebenwirkungen der Medikamente besser einschätzt (95 % äußern: PatientInnen kennen die Nebenwir-kungen) als die PatientInnen selber, die nur zu 57 % äußern, die Nebenwirkungen zu kennen (Reiley et al. 1996).

c) Probleme bei der Entlassung von demenzkranken Menschen

Studien zur Entlassung von demenzkranken Menschen und Medikationsproble-men zeigen auf, dass inadäquate Medikation und Fehler bei der Einnahme beson-ders für Menschen mit Demenz folgenreich sein können: Einer quantitativen Studie9 zufolge, deren Befragte zu einem Viertel an Demenz erkrankt waren, war die Wie-deraufnahme ins Krankenhaus in 18,4  % der Fälle auf eine fehlende Compliance bei der Medikamenteneinnahme und in 11,5  % der Fälle auf unerwünschte Medika-mentennebenwirkungen zurückzuführen. Ebenfalls aus einer quantitativen Studie10

geht hervor, dass 54 % der befragten pflegenden Angehörigen mit dem Medikamenten-management bei der Entlassung ihrer demenzerkrankten Angehörigen unzufrieden sind (Whittamore et al. 2014). Insbesondere bei Demenzerkrankungen werden im Kranken-haus verordnete Benzodiazepine häufig langfristig weiterhin verabreicht, weil Demenzer-krankte dadurch „umgänglicher“ werden (Billioti de Gage et al. 2012). Den Autoren zu-folge könnte sich eine langfristige Einnahme von Benzodiazepinen verstärkend auf eine Demenzerkrankung auswirken, so dass ggf. Symptome, zu deren Linderung Benzodia-zepine eingesetzt wurden, langfristig (und bleibend) stärker in Erscheinung treten können.

8 N=979 N=6710 N=488

Page 13: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

Fam

ilial

e Pf

lege

13

Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse

Die Literaturanalyse macht deutlich, dass

• sich grundsätzlich wenig (qualitative und quantitative) Studien zu diesem Thema vor allem im deutschsprachigen Raum auffinden lassen und dadurch verlässliche Aussa-gen kaum möglich sind;

• auffindbare Studien teilweise veraltet sind;

• vorhandene Untersuchungen zu Entlassungsmanagement das Thema Medikation nicht ausreichend behandeln;

• die tatsächliche Wiedereinweisungsrate ins Krankenhaus durch Medikationsprobleme nur in wenigen Studien erfasst wird;

• es keine differenzierten Untersuchungen zu Gründen für die Probleme mit der Medi-kation bei der Entlassung von Menschen mit Demenz gibt;

• Wissenstransfer innerhalb des Krankenhauses, aber auch an der Schnittstelle zur am-bulanten medizinischen Versorgung und Pflege eine bedeutende Rolle für ein gelin-gendes Medikamentenmanagement darstellt;

• Probleme sich auf drei unterschiedlichen Ebenen vermuten lassen: an der Schnittstelle zwischen ärztlichen Professionellen (innerhalb des Krankenhauses und im Übergang in die ambulante Versorgung), in systemisch begründeten Organisationsabläufen und in dem Umgang mit Medikation in der Häuslichkeit durch PatientInnen und deren An-gehörige;

• es auch einzelne, sehr gute Maßnahmen gibt, die das Medikamentenmanagement im System Krankenhaus und im Übergang vom Krankenhaus in die Häuslichkeit bedürf-nisgerecht gestalten.

Page 14: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

14

3. Studiendesign der qualitativen Studie

Im Rahmen dieser Studie wurden Protokolle der PflegetrainerInnen aus den Entwicklungs-gruppen, Pflegetrainings-Dokumentationen und Gruppeninterviews mit PflegetrainerIn-nen in einer Methodentriangulation ausgewertet. Bei der Erhebung wurden Gruppen-interviews durchgeführt. Die Gruppendiskussion ist „ein Gespräch mehrerer Teilnehmer zu einem Thema, das der Diskussionsleiter benennt, und dient dazu, Informationen zu sammeln“ (Lamnek 1998: 408). Es eignet sich insbesondere für Themen, bei denen die konträre Meinung und unterschiedliche Ansichten, die in der Gruppe diskutiert werden, mehr Erkenntnis hervorbringen können als Einzelinterviews. Bei dem Thema Medikation ist das der Fall, da schon bei vorherigen Diskussionen in den Entwicklungsgruppen sehr heterogene Erfahrungen deutlich wurden.

Als Analysemethode wurde die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2006) ange-wandt. Diese Methode eignet sich besonders für die Analyse von Interviewdaten, wenn es um die inhaltliche Auswertung der Daten geht. Die Methode ist kommunikationswissen-schaftlich verankert, da das Material immer in seinem Kommunikationszusammenhang verstanden wird. Die Schlussfolgerungen der Analyse werden immer auf einen bestimm-ten Kommunikationsprozess bezogen und in genau diesem Kontext kommuniziert und in-terpretiert. Die qualitative Inhaltsanalyse geht bei der Analyse systematisch und regelge-leitet vor, so dass die Ergebnisse reproduzierbar und nachvollziehbar sind. Systematisch bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Analyse nach vorab festgelegten Regeln durchgeführt wird. Das Instrument der qualitativen Inhaltsanalyse muss an das jeweilige Material angepasst und auf die spezielle Fragestellung angepasst werden. Dieser Ab-lauf wird vorab in einem Ablaufmodell festgelegt, an dem jede getroffene Entscheidung nachvollzogen werden kann. Das Kategoriensystem stellt das Kernstück der Analyse dar. In der vorliegenden Analyse erfolgte eine Kombination aus induktiver und deduktiver Kategorienbildung. Diese Kategorienbildung erfolgt in engem Austausch zu den Analy-seschritten Zusammenfassung, Explikation und Strukturierung. Der Stand der Forschung, der vor der Analyse bearbeitet worden ist, dient als theoretisch fundierendes und lei-tendes Element, wodurch das deduktive Vorgehen in der Analyse begründet wird. Die Ausgangskategorien wurden allgemein durch das theoretische Vorwissen zum Stand der Forschung entwickelt und im Laufe der Analyse des Datenmaterials ausdifferenziert. Das theoretische Vorwissen ist teilweise auch in die Entscheidungen über Abgrenzungen und Begründungen von Kategorien eingeflossen.

Die Operationalisierung der Studie erfolgte ausgehend von dem Projekt „Familiale Pfle-ge“. Die wissenschaftlichen MitarbeiterInnen, die mit den PflegetrainerInnen regelmäßig in den Kliniken aufsuchende Entwicklungsgruppengespräche durchführen, wurden ange-fragt, ob sie eine Gruppendiskussion in ihrer Entwicklungsgruppe ermöglichen können, mit dem Ziel eine Evaluation zum Thema Medikation durchzuführen. Diese Information

Page 15: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

Fam

ilial

e Pf

lege

15

wurde innerhalb der Entwicklungsgruppen diskutiert und die Mitarbeiterin und ein Mit-arbeiter aus dem Evaluationsteam des Projektes „Familiale Pflege“ wurden zu den Ent-wicklungsgruppengesprächen eingeladen. Es wurden jeweils anderthalb Stunden für das Gespräch eingeplant. Die/Der WissenschaftlerIn wurde der Entwicklungsgruppe vorge-stellt und die TeilnehmerInnen wurden über die Freiwilligkeit der Teilnahme informiert und gefragt, ob sie mit einer anonymen Audioaufnahme mit einem Aufnahmegerät einverstan-den sind. Sie wurden darüber informiert, dass das Gruppeninterview ausschließlich zum erläuterten Zweck genutzt wird. Es wurden vier Gruppeninterviews mit PflegetrainerInnen geführt, die sowohl im somatischen als auch psychiatrischen Bereich tätig sind (an einer der Entwicklungsgruppen nahmen ausschließlich PflegetrainerInnen aus der Psychiatrie teil).

Die Auswertung erfolgte wie oben differenziert erläutert mittels induktiver und deduktiver Kategorienbildung mit einem inhaltsanalytischen Ansatz (Mayring 2006). Aus der Dar-stellung der Kategorien und der Exploration der Ausprägung innerhalb der Kategorie lässt sich nicht auf eine Gesamtheit schließen – dies beansprucht das qualitative Vor-gehen dieser Studie auch nicht. Aussagen der einzelnen Kategorien sind auf Einzelaus-sagen oder auch sich wiederholende Aussagen zurückzuführen und zeigen auf, dass die dargestellten Probleme an der Schnittstelle zwischen Krankenhaus und Häuslichkeit existieren, aber nicht in jeder Situation zwingend anzutreffen sind. Phänomene, die sys-tematisch benannt werden oder immer wieder als zentral für die Fragestellung aus der Analyse hervorgehen, werden im Folgenden als „Strukturprobleme“ benannt und als sol-che kenntlich gemacht.Dieser Bericht beansprucht also keine allgemeingültigen Ergebnisse für die Krankenhäu-ser des Projektes oder andere Krankenhäuser zu formulieren – und distanziert sich davon, in dieser Weise verstanden zu werden, sondern will auf Handlungsfelder und Schnittstel-lenprobleme unterschiedlicher Art hinweisen, die künftig ausführlicher durch qualitative und quantitative Studien untersucht werden sollten, die sich bereits in der Planungsphase befinden.

I. Kategorie: (Fehl)Umgang mit Medikation

Fehlumgang mit Medikation lässt sich anhand der Analyse in die Themenbereiche Fehlumgang durch Professionelle und Fehlumgang durch Angehörige bzw. PatientInnen differenzieren.

Fehlumgang durch Professionelle

Fehlumgang mit Medikamenten ist bei KlinikärztInnen und auch weiterbehandelnden, niedergelassenen ÄrztInnen vor allem dabei zu beobachten, dass Medikamente, die verringert oder abgesetzt werden sollten, weiter verschrieben werden. Das scheint ein

Page 16: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

16

strukturelles Problem zu sein und gilt sowohl innerhalb des Krankenhauses, wenn z. B. Morphium erst durch Aufforderung des Pflegepersonals abgesetzt wird, weil kein Be-darf mehr besteht oder der weiterbehandelnde Hausarzt nur zeitweise zu verschreibende Medikamente weiter verschreibt.

„Der Hausarzt hat aber auch schön weiter das Morphium verschrieben.“ (I2, 45:12)

„Bei einer neuen Hüfte wird von den Anästhesisten auch gerne Sigodon, Morphium gegeben für die ersten paar Tage, aber auch da ist es pfle-gerisch, weil ich noch auf der Station bin, die Erfahrung, dass viele Ärzte das auch – wie es eigentlich sein sollte nach Standard – gar nicht redu-zieren. Und dann könnte das eigentlich immer weiter durchlaufen. Also da ist dann auch schon das Pflegepersonal, die die Ärzte ansprechen: »Die haben keine Schmerzen mehr. Könnten wir mal das Morphium raus-nehmen oder reduzieren?«“ (I3, S11)

Innerhalb des Krankenhauses erfolgt keine Kontrolle durch ärztliches oder pflegerisches Personal, ob PatientInnen ihre Medikation tatsächlich oder richtig einnehmen, teilweise mit der Folge, dass PatientInnen durch inadäquate Medikation ein Delir entwickeln, so die PflegetrainerInnen. Strukturell fehlt eine individuelle Beratung zum Umgang mit der Medikation; vor allem ÄrztInnen nehmen sich nicht die Zeit, Grund und Einnahme der Medikamente zu erklären und Pflegepersonal muss bei Fragen aufklären – auch wenn sie dazu nicht berechtigt sind. Im klinischen Kontext achten ÄrztInnen beim Verschreiben der Medikamente wenig darauf, ob das Verabreichen bei PatientInnen funktioniert, was vor allem bei demenziell erkrankten Menschen ein Problem darstellen kann. Des Weiteren vergewissern sich diese häufig nicht, ob die Tabletten eingenommen wurden.

In der ambulanten, pflegerischen Versorgung durch Professionelle wird häufig das Ver-abreichen der Medikamente dadurch ersetzt, dass die Medikamente bereitgestellt, aber nicht angereicht werden; sich das Pflegepersonal also nicht vergewissert, ob eine Einnah-me tatsächlich erfolgt.

Page 17: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

Fam

ilial

e Pf

lege

17

Fehlumgang durch Angehörige/PatientInnen

Angehörige können mit dem Verstehen und Verabreichen der verschriebenen Medikation überfordert sein und falsche Medikamente verabreichen. In einem Fall werden Beruhi-gungs- und Schlafmittel verwechselt:

„Und Angehörige sind schon mal – ich hatte einen Fall, da war der Ehemann völlig damit überfordert, mit den Präparatnamen und den Inhaltsstoffen. Das ist ein Problem, also bei ihm war es jetzt, er hat ein Beruhigungsmittel mit einem Schlafmittel verwechselt, und gab der Frau zwischenzeitlich tagsüber dann statt dem Beruhigungsmittel das Schlaf-mittel.“ (I4, S2)

In einem anderen Fall führen Wissensdefizite zu den Nebenwirkungen der Medikation dazu, dass PatientInnen das Medikament absetzen, wenn ihnen diese Nebenwirkungen nicht bekannt sind. Wissensdefizite über den notwendigen Zeitpunkt, die konkrete Art der Verabreichung und den Grund der Verordnung dieses Medikaments führen zum Fehlum-gang durch PatientInnen selbst und auch pflegenden Angehörigen.

„Dann auch – das hatten wir auch schon mal erlebt –, dass Schmerz-mittel, wenn die Leute Ohrenschmerzen haben, dann wurde das jetzt ins Ohr gesteckt, solche Sachen.“ (I2, S6)

„Ich war mal bei einer alten Dame, die ein Schmerzpflaster Phentanyl kriegen sollte alle drei Tage, und da hatte der Lebensgefährte das nicht erneuert, weil er nicht wusste, wie er das Pflaster aufkleben muss und wo-hin er es kleben muss. Und hat dann gesagt: »Lass besser das alte drauf als gar keines«.“ (I2, S14).

Ein Training der richtigen Einnahme der Medikamente fehlt und wird ausschließlich in der psychiatrischen, klinischen Versorgung als Teil des Behandlungsprozesses verstanden, PatientInnen zu einem eigenverantwortlichen Leben zu verhelfen. PatientInnen und auch Angehörige können Vorurteile vor allem gegen starke Schmerzme-dikation haben und befürchten, dass die Medikation Sucht erzeugt. Auch eigenständiges Absetzen der Medikamente, wenn Angehörige den Zustand des Patienten/der Patientin als verbessert einschätzen, ist zu beobachten.Besonders prekäre Lagen entstehen durch Konstellationen, in denen mehrere Faktoren des Fehlumgangs mit Medikation zusammen auftreten. Auch PatientInnen können reali-sieren (und zurückspiegeln), dass die Medikamenteneinnahme nicht hinreichend erklärt worden ist, was an folgendem Zitat deutlich wird:

Page 18: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

18

„...also letztendlich hat der Mensch mich hops genommen, aber mir den Spiegel vorgehalten. Also er ist auch entlassen worden und sollte Zäpf-chen nehmen. Als ich dann kam, hat er auch gesagt: »Hören Sie mal, kann ich das eigentlich, hätte ich das Silberne davon abmachen müs-sen?« Ich sagte »ja«. Er sagte: »Das hat ein bisschen weh getan beim Schlucken« (Lachen). »Was haben Sie gemacht?« Ja, dann hat er, hat einfach, er hat's nicht getan, aber er wollte einfach sagen: »Hier, ihr habt mir das alles mitgegeben, ohne mir zu sagen, wie ich damit umgehen muss.« Das werde ich nicht vergessen, und seitdem achte ich auf solche Dinge dann wohl eigentlich ganz gut.“ (I2, S14)

II. Kategorie: Umstellung der Medikation und Desorientierung

Bei der Aufnahme ins Krankenhaus werden im Rahmen der Fallpauschalenregelung die ambulant verschriebenen Medikamente mit krankenhauseigenen Medikamenten ausge-tauscht, was bei PatientInnen häufig zu Irritationen führt. Ebenso werden nach der Entlas-sung von Seiten des Krankenhauses Medikamente für die nächsten zwei Tage mitgege-ben und darauf hingewiesen, dass für die Weiterverordnung der Hausarzt aufzusuchen ist. Dies scheint ein Strukturproblem zu sein, da diese beiden Schnittstellen ein hohes Potenzial für eine Desorientierung bei den PatientInnen und Angehörigen bergen. Die Medikamentenumstellung im Krankenhaus wird nicht von jeder Patientin/jedem Pa-tienten angenommen, da das bedeutet, in einem Kontext, in dem noch kein Vertrauen aufgebaut werden konnte, Medikamentengewohnheiten aus der eigenen Lebenswelt oft ohne hinreichende Erläuterung aufzugeben und andere Medikamente einzunehmen, die von der Pflege des Krankenhauses verabreicht werden. Möchten PatientInnen eigene Medikamente weiterhin einnehmen, entstehen im Krankenhaus Probleme mit dem Perso-nal, da die Einnahme selber mitgebrachter Medikamente offiziell nicht gestattet ist. Medi-kation, die im Krankenhaus verordnet wird, wird über die jeweilige Fallpauschale abge-golten, so dass die Krankenkasse für die Medikation in diesem Zeitraum nicht zusätzlich aufkommt. Vertrauen PatientInnen den neuen Medikamenten im Krankenhaus nicht oder sind irritiert von der Umstellung, nehmen sie die Medikamente weiter, die sie vor der Kran-kenhausaufnahme einnahmen.

„Eine ältere Dame, die wirklich bemüht war, ihre Sachen da, ne, geregelt zu kriegen, hat dann nochmal nachgefragt: »Was ist das jetzt und was ist das jetzt?« Nun ist es auch so gewesen, wie Du schon sagtest, dann hat-ten wir keine Fünfer, dann haben wir 2,5, ne, zweie nehmen müssen, und die sah dann irgendwann nach drei Tagen überhaupt nicht mehr durch und hat gesagt: »So, und jetzt nehme ich überhaupt gar keine Tablet-ten mehr«. Die davon zu überzeugen, welche jetzt wirklich wichtig sind,

Page 19: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

Fam

ilial

e Pf

lege

19

das war schlimm, und sie hatte dann gesagt: »Ich nehme jetzt nur noch meine eigenen Medikamente«. Und dann kam so'ne Riesendiskussion mit Krankenkasse und Hausarzt, und der hätte das verschreiben müssen oder mitbringen müssen und wir hätten noch – und das war Riesentheater. Ob-wohl es eigentlich für die Patientin sicherer war.“ [...] (Interviewerin): „Wer hat im Endeffekt in dieser Situation die Medikamente erklärt? Wer hat sich darum gekümmert, dass dieser Wust von Kommunikationsproblem, sage ich mal, aufgelöst wurde? Wer war da beteiligt?“ Pflegetrainerin: „Ja, die Schwester, die auf der Station gearbeitet hat, mit dem Stationsarzt zusammen. (2,3) Aber da ging dann Dreiviertelstunde drauf.“ (I2, S10)

Wenn PatientInnen von einer Station in eine andere Station des Krankenhauses verlegt werden, was mit einem Wechsel der ÄrztInnen einhergeht, kann es passieren, dass Me-dikamente erneut umgestellt werden. Nach der Entlassung wird die Medikation in der Regel durch die weiterbehandelnde Ärz-tin oder den Arzt erneut umgestellt, da im ambulanten Bereich die Krankenkassen andere Verträge mit den Pharmafirmen haben. Im Zuge dieser Umstellung erhalten PatientInnen häufig Medikamente, deren Verpackungen und Tabletten anders aussehen, was enorme Irritation und Verunsicherung bei den PatientInnen und Angehörigen verursacht und zu Doppeleinnahmen und Fehldosierungen führt.

„Was häufiger vorkommt, ist, dass Medikamente anders aussehen, was bei den Patienten ganz groß zu Verwirrung führt. Selbst im Rahmen des stationären Aufenthalts wechseln bei uns die Präparate, d. h. die Tablette ist einmal klein und weiß, einmal größer und weiß, einmal oval, einmal rund. Das ist für den Patienten ein Problem, egal für welchen. [...] Und wenn die dann nach Hause kommen: In der Weiterverordnung wechseln wieder die Medikamente. Also dass Präparate sich ändern, anders aus-sehen, von anderen Firmen sind, ist ein Riesenproblem.“ (I4, S2)

„Das ist ja manchmal auch so, dass man – den einen Monat kriegt man, also man kriegt das Medikament verschrieben nach Wirkstoff. Dann kriegt man den einen Monat von Ratiopharm und im nächsten Monat von was-weiß-ich wem, sodass man auch zu Hause keine Sicherheit mehr hat.“ (I2, S8)

Hierbei handelt es sich um ein Strukturproblem. PatientInnen sind oft der Überzeugung, dass anders aussehende Medikamente anders wirken. Auch unter den PflegetrainerInnen besteht teilweise die Überzeugung, dass manche PatientInnen die veränderte Zusammen-setzung bei der neuen Medikation nicht vertragen.

Page 20: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

20

Die Rolle des Hausarztes bei der Umstellung der Medikation ist zentral. Es kommt vor, dass der Hausarzt Medikamente, die im Krankenhaus verordnet wurden, aus Prinzip um-stellt, was auf in der medizinischen Praxis vorfindbare interprofessionelle Machtstrukturen zurückgeführt werden könnte. Verändert der Hausarzt die Dosierung, führt auch das häu-fig zu Irritationen bei den PatientInnen und/oder Angehörigen.Generell nimmt die Medikamentencompliance den Analysen zufolge nach Umstellung der Medikation ab; so scheint diese Schnittstelle zwischen Krankenhaus und Lebenswelt eine Quelle darzustellen, die Diskontinuitäten in der medikamentösen Versorgung verur-sachen kann. Insbesondere bei psychiatrischen PatientInnen gestaltet sich eine Umstellung der Medikation als besonders schwierig, da aufgrund psychiatrischer Krankheitsbilder die Anpassung an Neues und Veränderungen gewohnter Strukturen den Gesundheits-zustand gefährden und Krisen verursachen kann. In dem oben genannten Beispiel (I2, S10) wurde deutlich gemacht, dass diese Verunsicherung und Desorientierung nur durch ein 45-minütiges Gespräch des Krankenhausarztes und der Pflegekraft mit der Patientin verringert werden konnte.

III. Kategorie: Weitere Quellen für Desorientierung

PatientInnen und Angehörige können verordnete Grund- und Bedarfsmedikation ver-wechseln, was gesundheitsgefährdende Folgen haben kann. Vor allem wenn Hochbe-tagte ihren pflegebedürftigen, ebenfalls hochbetagten Angehörigen pflegen, kann es passieren, dass Erklärtes nicht verstanden oder richtig behalten und in der Lebenswelt umgesetzt wird. Abkürzungen von Medikamenten, die auf der Verpackung stehen, aber auch Verabreichungsformen können PatientInnen oder Angehörigen aller Altersklassen nicht klar verständlich sein, was zu Fehleinnahmen der Medikamente führen kann. Der Beipackzettel der Medikamente wird von manchen PatientInnen absichtlich gemieden, weil er nicht verständlich ist oder die möglichen Nebenwirkungen Angst erzeugen.

Sind PatientInnen aufgrund veränderter Medikation irritiert, klärt der Arzt diese Irritation nicht immer auf. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus passiert es, dass Angehörige von der neuen Medikation so überfordert sind, dass sie die Medikation aus der Zeit vor dem Krankenhausaufenthalt einfach weiter verabreichen und die neue Medikation ver-gessen oder absetzen, ohne mit dem Arzt Rücksprache gehalten zu haben. Der Grund hierfür ist, dass ihnen niemand erklärt, weshalb die alte bzw. neue Medikation notwendig oder nicht mehr notwendig ist.

Page 21: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

Fam

ilial

e Pf

lege

21

IV. Kategorie: Entlassung und Arztbrief als Unsicherheitsfaktoren

Bei der Entlassung im Krankenhaus wird der Arztbrief – sofern er bereits geschrieben ist, was bei kurzfristigen Entlassungen häufig nicht immer der Fall ist – dem/der entlassenen PatientIn mitgegeben und in manchen Krankenhäusern auch direkt an den Hausarzt oder das Heim gefaxt. Der Arztbrief als Informations- und Kommunikationsmedium begründet grundlegende strukturelle Probleme für das Medikationsmanagement im Übergang vom Krankenhaus in die Häuslichkeit. Problematisch ist, dass PatientInnen den Arztbrief nicht immer zuverlässig ihrem weiterbehandelnden Arzt überbringen. Fehlt der Arztbrief bei der Entlassung, werden Medikamente, die eigentlich abgesetzt werden sollten, weiterhin eingenommen bzw. weiter verabreicht. Dies kann vor allem bei Benzodiazepinen bei demenzerkrankten Menschen zu einem beschleunigten Voranschreiten der Demenzer-krankung führen.

Liegt der Arztbrief vor, kommt es vor, dass darin nicht alle relevanten Informationen ent-halten sind bzw. andere Informationen/Verschreibungen aufgenommen wurden, als zuvor mit der Pflege des Krankenhauses abgesprochen wurden. Auch werden bei der Erstellung häufig vorgefertigte Textbausteine genutzt, die bei der Entlassung zu einem be-stimmten Krankheitsbild üblich sind, ohne darauf zu achten, ob die einzelnen, konkreten PatientInnen diese Medikamente vertragen.

Werden Medikamente verschrieben (oder im Arztbrief aufgenommen), die unter das Betäubungsmittelgesetz (BTM) fallen, müssten die weiterbehandelnden Ärzte viel früher darüber informiert werden, weil die Verschreibung mancher BTM-Medikamente län-ger dauert. In der Praxis verschreiben niedergelassene, weiterbehandelnde ÄrztInnen BTM-Medikamente der Analyse zufolge jedoch problemlos, da sie nicht verantworten wollen, dass PatientInnen Entzugserscheinungen bekommen.

Im somatischen Bereich nehmen vor allem operative Disziplinen die Medikamente, wel-che der/die PatientIn vor dem Krankenhausaufenthalt genommen hatte, nicht mit in den Arztbrief auf, mit dem der/die PatientIn entlassen wird. Auch wird deutlich, dass es oft keinen eindeutigen, klaren Medikationsplan gibt, sondern einmal die Handelsnamen der Medikamente aufgeführt sind, ein andermal die Wirkstoffe.

Die Entlassung ist hinsichtlich der Kontinuität in der Medikamenteneinnahme auch aus anderen Gründen als der Medikamentenumstellung eine Gefahr für die PatientInnen und Angehörigen: Die Entlassungsplanung und die tatsächliche Praxis in der Klinik stimmen nicht miteinander überein und es passiert, dass vor allem bei kurzfristigen Entlassungen die PatientInnen selber die Medikation vergessen oder aber die Pflegekräfte vergessen, Bedarfsmedikation mitzugeben. Medikamentenanweisungen werden manchmal nur

Page 22: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

22

mündlich kommuniziert und die ÄrztInnen oder Pflegefachpersonen11, die an der Entlas-sung beteiligt sind, vergewissern sich nicht immer, ob und wie der/die PatientIn sich das merkt oder notiert.

V. Kategorie: Kurzfristige Entlassungen

Kurzfristige Entlassungen (oft aus Bettennot oder aufgrund des Fallpauschalen-systems) bergen auch für die kontinuierliche Weiterbetreuung durch die MitarbeiterInnen der fami-lialen Pflege Probleme. Das Arbeitsbündnis zwischen PflegetrainerIn und Pflegebedürfti-gen/Angehörigen kann in Gefahr geraten, wenn PflegetrainerInnen nicht rechtzeitig über die Entlassung informiert werden und keinen Folgetermin in der Häuslichkeit vereinbaren können. Auch ambulante Pflegedienste, die in der Zeit nach der Entlassung eingeplant werden, können auf sehr kurzfristige Entlassungen nicht immer (und vor allem nicht am Wochenende) reagieren, obwohl sie grundsätzlich die Pflege übernehmen werden, so dass die Pflege in der Häuslichkeit möglicherweise gar nicht gewährleistet ist, was sich in der Entlassungsplanung aber nicht widerspiegelt. Dem analysierten Material zufolge erfolgt bei der Entlassung nicht immer eine Pflegeplanung, was dazu führen kann, dass die Pflege nicht gewährleistet ist.Das Fallpauschalensystem wirkt sich sehr stark auf das Medikamentenmanagement aus, was an einigen Kategorien und Ausprägungen deutlich wird. Das folgende Beispiel aus der Analyse zeigt jedoch auf, dass aufgrund des DRG-Systems ÄrztInnen ihren PatientIn-nen nicht-indizierte Medikamente verordnen, um diesen durch einen längeren Kranken-hausaufenthalt die Chance für eine Genesung einzuräumen. Krankenkassen bezahlen in der Psychiatrie nach Ablauf der bereits bewilligten Mittel einer Fallpauschale nur dann die Weiterbehandlung, wenn sie über die Umstellung der Medikation begründet wird. Beispielsweise wird nach zehn Tagen Behandlung mit einem Antidepressivum die Medi-kation umgestellt, damit die PatientIn nicht entlassen werden muss.

„Krankenhäuser kriegen heute teilweise bei Depressionen nach zehn Ta-gen, manchmal nach einer Woche die erste Anfrage, wann denn die Ent-lassung fällig wäre. Da müssen die Ärzte den ersten Verlängerungsantrag schreiben. Wenn bei einem Patienten über eine längere Zeit, sagen wir mal zwei Wochen, keine Medikamente verändert wurden, wenn da wirk-lich therapeutisch gearbeitet wurde, durch Gesprächsgruppen etc., er-schwert das diese Verlängerungsanträge extrem. Wird ein Medikament, und was auch immer, ein Antidepressivum um 15 mg erhöht und dann wieder gesenkt, hat man einen Grund für diesen Verlängerungsantrag. (W: Och!) (W: Nee!) Macht teilweise nicht sehr viel Sinn, ist aber wirklich

11 Es scheint fachabhängig zu sein, ob und wie ausführlich ÄrztInnen mit PatientInnen vor der Ent-lassung sprechen oder Kontakt haben. Dies kann auf die unterschiedlichen Fallpauschalen zu-rückgeführt werden, die mehr (oder weniger) Zeit für Patientenkontakt und -be-handlung ermögli-chen. Ärzte erklären Medikamente und den Umgang mit ihnen ausführlicher, wenn PatientInnen stationär aufgenommen werden, um Medikamente einstellen zu lassen.

Page 23: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

Fam

ilial

e Pf

lege

23

so, dass Bezahlungen z. T. darauf beruhen, ob Medikamente verändert wurden oder nicht. [...] Gerade Antidepressiva, wo wir drei bis vier Wo-chen brauchen, bis die gepackt haben, dem Patienten klar gemacht, fünf Tage war Unruhe, was normal ist, weil der Antrieb kommt. (W: Na klar) Die Medikamente werden sofort umgestellt.“ (I4, S34)

Hochgradig problematisch daran ist, dass die behandelnden ÄrztInnen wissen, dass die-ses Medikament nach zehn Tagen noch gar nicht wirken kann, so dass eine Umstellung aufgrund von Unverträglichkeit oder fehlender Wirksamkeit noch gar nicht möglich ist. Die Umstellung erfolgt jedoch trotzdem, um die Patientin/den Patienten in der Klinik wei-ter behandeln zu können.

VI. Kategorie: Kontinuität der Behandlung

Die Kontinuität der Behandlung der PatientInnen ist nach der Krankenhausentlassung bei neurologisch erkrankten Pflegebedürftigen häufig unmöglich, weil niedergelassene FachärztInnen nur sehr selten Haus- oder Heimbesuche machen. Wird ein/e PatientIn in ein Heim entlassen, kann es vorkommen, dass erst Wochen später ein Hausarzt die Pati-entin/den Patienten und die Medikation erneut kontrolliert. In diesem Fall müssen sich – falls vorhanden – Angehörige darum kümmern, dass Medikamente durch den Hausarzt kontrolliert, eingestellt oder weiterverordnet werden.

Ein Strukturproblem stellt die Versorgung von PatientInnen mit einer kurzzeitigen Behinde-rung (beispielsweise ein Fußbruch mit sechs Wochen Immobilität) dar; diese werden häu-fig gar nicht weiterversorgt. Sie können nicht in die Rehabilitation, weil sie die Vorausset-zungen dafür nicht erfüllen. Sie haben aufgrund ihres Krankheitsbildes keinen Anspruch auf eine Anschlussheilbehandlung oder eine Pflegestufe, können sich aber auch selber nicht versorgen und haben möglicherweise keine Angehörigen, die die Pflege überneh-men können oder wollen. Grundsätzlich gibt es für diese Fälle keine Lösung im Gesund-heitssystem und das Versorgungsnetz fängt diese PatientInnen nicht auf. Die Pflegetraine-rInnen schildern, dass versucht werden kann, die PatientInnen länger im Krankenhaus zu behalten, was aufgrund der Fallpauschalen schwierig ist oder es wird versucht, Patien-tInnen in die Geriatrie überzuleiten. An einem Beispiel wird erläutert, dass eine türkische PatientIn direkt aus dem Krankenhaus in ihre Heimat gereist ist, weil sie aufgrund dieser Versorgungslücke auf die Versorgung durch Verwandte in der Türkei angewiesen war.

„»Wie, der kommt jetzt? Das geht nicht. Wie mache ich das denn jetzt eigentlich alles?« Also die möchten sich – manche möchten und können sich nicht damit befassen, weil sie einfach so überlastet sind. Aber auch da ist auch wirklich: »Machen wir eine Kurzzeitpflege? Machen wir das? Machen wir das?« Also für manche gibt’s – auch so Menschen, die nach

Page 24: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

24

'ner Operation, sagen wir mal: Sprunggelenksfraktur sechs Wochen nicht belasten dürfen, die aber eigentlich – also die können nicht in die Reha, die können nicht in die Akutgeriatrie. Die kriegen auch keine Pflegestufe, kommen auch zu Hause nicht zurecht. Da ist unser Netz, da gibt es 'ne Lücke.“ (I3, S32)

„Oder man versucht, eine Pflegestufe zu bekommen oder man versucht, die Geriatrie zu überlisten und sie doch in die Geriatrie geht. Oder man versucht, irgend-, man versucht, irgendwas zu machen. Oder die gehen nach Hause, kommen zwei Tage später wieder. Man muss also – ich spre-che einfach davon, weil unser System da nichts hat für diese Menschen. Wenn – ich glaube, egal in welchem Krankenhaus – die Case-manager irgendwelche Sachen versuchen, die Menschen irgendwie unterzubrin-gen, oder die bekommen von oben Druck vom Geschäftsführer, von der Wirtschaft, und die versuchen irgendwie, diese Menschen unterzubrin-gen. So, aber unser Netz fängt diese Personen nicht auf. Da gibt’s keine Lösung. Das hatten wir jetzt auch. Die Frau ist dann wieder irgendwie in die Türkei zurückgeflogen. So. Die ist in die Türkei zurückgeflogen, weil hier nichts war, was sie aufgefangen hat.“ (I3, S33)

VII. Kategorie: Bedarfsmedikation

Angehörige stehen der Bedarfsmedikation kritisch gegenüber, weil nicht klar kommuni-ziert wird, ab wann und in welcher Menge/Dauer sie verabreicht werden sollte. Aussagen wie „zwischendurch geben“ von Seiten der Pflegekräfte zeigen auf, dass sie antizipieren, dass pflegende Angehörige das richtig machen und von sich aus wissen, wann und wie oft „zwischendurch“ heißt. Angehörige sind oft sehr vorsichtig mit der Verabreichung der Bedarfsmedikation, weil die Verantwortung über die Entscheidung, ob die Bedarfsmedi-kation notwendig ist, bei ihnen selber liegt. Vor allem sind Angehörige auch von Vorurtei-len darüber geprägt, was Ruhigstellung durch Medikation in der Psychiatrie betrifft.

Ist die Basis- und Bedarfsmedikation nicht klar definiert und werden Einnahmen verwech-selt oder liegen Überdosierungen vor, kommt es auch zur Wiedereinweisung ins Kran-kenhaus.

Page 25: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

Fam

ilial

e Pf

lege

25

VIII. Kategorie: Gründe für Wiedereinweisungen ins Krankenhaus

Die Gründe für die Wiedereinweisung ins Krankenhaus im Zusammenhang mit Medika-tion sind vielfältig. Unterlassene Blutuntersuchungen, die bei bestimmten Medikamenten zwingend notwendig sind, um die Höhe der Wirkstoffkonzentration im Blut des Patienten/der Patientin zu prüfen oder das Absetzen eines starken Beruhigungsmittels oder grund-sätzliche Noncompliance bei der Medikamenteneinnahme können zur Wiedereinwei-sung der PatientInnen führen. Häufig werden Probleme im Umgang mit Medikation erst mit der Wiedereinweisung deutlich und die erneute Behandlung mit demselben (oder einem anderen) Medikament bis zur Genesung kann nach Absetzen oder Fehlumgang viel länger dauern als bei der ersten Behandlung.

IX. Kategorie: Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Verordnungen aus dem Krankenhaus in die Lebenswelt der PatientInnen

Medikamentös bedingte Pflegehandlungen, die Ärzte nach medizinischem Standard ver-ordnen, sind in der Lebenswelt der PatientInnen durch professionelle Pflegekräfte oder Angehörige nicht durchführbar, was ein strukturelles Problem darstellt. Hierzu gehören Bi-lanzkontrollen, ob der/die Pflegebedürftige genug Flüssigkeit einnimmt und ausscheidet, oder eine i.v.-Antibiose, die in der Häuslichkeit ohne professionelle Hilfe ggf. schwer oder überhaupt nicht durchführbar ist. Auch der Tagesablauf der PatientInnen ist in der eigenen Lebenswelt häufig anders strukturiert und passt nicht zu der Medikation, die im zeitlichen Rahmen des Krankenhauses verordnet und eingestellt wurde. Die Medikamentenumstel-lung und -einstellung muss zwingend in Abstimmung mit der Lebenswelt stattfinden.

„Bei Medikamenten, die zu bestimmten Tageszeiten gegeben werden müssen, wie jetzt z. B. Parkinson-Medikamente oder Anti-Diabetika, dass natürlich zu Hause der Tagesablauf zu Hause ganz anders ist als in der Klinik, und dass natürlich, wenn jemand eingestellt wird auf bestimmte Uhrzeiten, da zu Hause dann plötzlich andere Dinge – der Spaziergang mit dem Hund oder das Essen gibt es bei uns immer um sieben oder ir-gendwie so was – ganz anders sind und das da natürlich auch zu Ver-schiebungen von Blutzuckerwerten und solchen Sachen kommen kann.“ (I2, S11)

„Oder die Kapsel ist viel zu groß und es darf nicht gemörsert werden und der Patient erbricht danach immer wieder, aber es wird halt immer weiter so fortgeführt. Das dauert immer sehr lange.“ (I2, S7)

Ist keine Pflegestufe vorgesehen, die medikamentöse Versorgung aber offensichtlich nicht gewährleistet, wird in manchen Fällen im Krankenhaus bereits eine Behandlungspflege

Page 26: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

26

zum Stellen der Medikamente nach der Entlassung organisiert.

„Also was ich, was neu ist, was sich in den letzten Jahren geändert hat, ist zunehmend, es gibt jetzt die Verordnung für Pflegedienste, nur die Medi-kamente zu verabreichen. (W: Fast regelhaft) Das trifft häufig – gerade bei unseren Psychiatriepatienten ist es wirklich oft notwendig. Wenn, ich sag mal, selbst die Pflegestufe oft scheitert oder Pflegestufe Null raus-kommt, dann empfehlen wir aber in vielen Fällen in jedem die Weiterver-ordnung der verabreichten Medikation durch den Pflegedienst.“ (I4, S10)

X. Kategorie: Medikationsprobleme bei Menschen mit Demenz

Aus der Analyse geht hervor, dass im Krankenhaus und bei der Entlassung Demenzpa-tientInnen nicht mehr oft Benzodiazepine verordnet werden. Auch kommt es vor, dass Menschen mit Demenz keine Schmerzmedikation aus dem Krankenhaus mitgegeben wird mit dem Hinweis, dass der Hausarzt das verschreiben sollte. Bei nächtlicher Bedarfsmedi-kationsgabe wird die Demenz von PatientInnen oft nicht beachtet. Grundsätzlich beach-ten manche ÄrztInnen im Krankenhaus die Demenzerkrankung bei der Verschreibung von Medikation stärker als andere. Eine Bezugspflege durch eine möglichst gleichbleibende Pflegeperson verbessert die Versorgung von Demenzerkrankten und Menschen im Delir im Krankenhaus.

Nach der Entlassung ist die Verordnung und Einnahme von Medikamenten bei Demenz-patientInnen problematisch. Der/die Angehörige kann nicht zum Arzt, um die Medika-mente verschreiben zu lassen, weil die an Demenz erkrankte Person nicht allein zu Hause bleiben kann, was zu einer Überforderung der Angehörigen führt. In einem Fall interve-niert die Pflegetrainerin, die bemerkt, dass der Angehörige überfordert ist, telefoniert mit einem ambulanten Pflegedienst und vereinbart einen Termin, um das Problem zu lösen.

Schwierigkeiten bei der Lagerung, Verabreichung und Einnahme der Medikamente sind darin begründet, dass Angehörige Medikamente nicht immer sicher und außer Reich-weite der Demenzerkrankten lagern. Medikamente werden aufgrund von Schwierig-keiten bei der Gabe nicht im vorgesehenen Zeitrahmen genommen oder die Einnahme ist grundsätzlich schwierig zu gewährleisten, da keine Krankheitseinsicht vorhanden ist. Wenn Medikamente erst zerkleinert oder flüssig verabreicht werden müssen, führt das zu Ungenauigkeiten bei der Dosierung.

Die Rolle der Angehörigen im Zusammenhang mit Medikation bei Demenzerkrankten ist zum einen dadurch geprägt, dass sie ihre Angehörigen oft zwingen müssen, die Medika-mente zu nehmen, was zu Rollenkonflikten führen kann, und zum anderen dadurch, dass

Page 27: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

Fam

ilial

e Pf

lege

27

sie selber oft hochaltrig sind und Probleme im Umgang mit der Medikation haben.

Das Thema Beruhigungsmittel, die durch die Angehörigen eigenständig verabreicht wer-den, ist von den PflegetrainerInnen als Tabuthema benannt worden, über das Angehörige von Menschen mit Demenz nicht offen reden und worüber keine Transparenz vorhanden ist. Demenzerkrankte, bei denen Medikationsprobleme immer wieder vorkommen, werden häufig wieder ins Krankenhaus aufgenommen.

XI. Kategorie: Delir und Medikation

Das Thema Delir und Medikation ist im Alltag der PflegetrainerInnen deutlich vorhanden, aber auch dadurch geprägt, dass in der Klinik über Delir als Krankheitsanzeichen nicht immer offen kommuniziert wird, da die Behandlungsmethoden im Krankenhaus für das Entstehen des Delirs verantwortlich sein könnten. Dies scheint ein Strukturproblem zu sein. Delirante PatientInnen werden auf andere Stationen verlegt oder delirant entlassen. Bei einem Delir wird auch innerhalb der Station verlegt, wenn andere PatientInnen von den Ausprägungen der Krankheit gestört werden.

Vor allem bei den Pflegefachkräften ist eine Sensibilisierung bei Delir zu verzeichnen: Nach drei Tagen und einigen neuen Medikamenten werden die Pflegenden vorsichtig mit Bedarfsmedikation versorgt, um die Entstehung eines Delirs zu vermeiden. Es wird auch der Weg gewählt, bei einem Delir zu isolieren, statt noch mehr Medikamente zu verabrei-chen, oder eine 1-zu-1-Betreuung einzurichten. Medikamentöse Fixierung ist der Analyse zufolge nicht mehr erlaubt und wird auch nicht durchgeführt.

Insbesondere Chirurgen haben häufig vor dem operativen Eingriff keinen direkten Kon-takt zum Patienten/zur Patientin, so dass sie die Person sediert sehen und eine eventuell vorhandene Demenzerkrankung nicht bemerken, wenn diese bei der Anamnese nicht festgestellt und dokumentiert wurde. Auch wenn die Demenz bekannt ist, passiert es vor allem bei operativ arbeitenden medizinischen Fächern, dass eine psychiatrische Erkran-kung der Patientin/des Patienten bei der Verabreichung neuer Medikamente nicht be-achtet wird; auch ist den ÄrztInnen nicht immer bekannt, welche Medikamente der/die PatientIn bereits einnimmt. Ein bekanntes Problem im medizinischen Diskurs, das auch in der Analyse hervortritt, ist, dass ein Delir durch Medikamentenumstellungen vor oder nach einer Operation auftreten kann; dies nicht nur in der Klinik, sondern auch durch eine postoperative Umstellung der Medikation durch den Hausarzt, was zur Wiedereinwei-sung führen kann.

In einem Fall wurde der Patient in die Gerontopsychiatrie verlegt, weil er die Medikamen-teneinnahme verweigerte. In einem anderen Fall erfolgte eine interprofessionelle Bera-

Page 28: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

28

tung in der Klinik, weil weder die Ärzteschaft noch die Pflege eine Erklärung oder eine Lösung für das Delir finden konnte, mit der Folge, dass der Patient in die Akut-Geriatrie verlegt wurde. In einem weiteren Fall wurde die Patientin, die nach einer Operation ein Delir entwickelte, sehr intensiv in der Häuslichkeit durch die Partnerin betreut und erholte sich. Bei einem erneuten Eingriff wies die Partnerin die ÄrztInnen auf die Gefahr eines Delirs bei der Patientin hin, woraufhin die notwendige Operation unter Teilanästhesie erfolgte und kein Delir auftrat. Das zeigt auf, dass die Entstehung eines Delirs fallweise vermieden werden kann, was wiederum abhängig von einem guten Anamnesegespräch und einer dem Patienten/der Patientin angepassten Anästhesie(-Medikation) ist. Bei Not-fällen liegen diese Informationen meist nicht vor, weswegen die Entstehung eines Delirs wahrscheinlicher sein kann. Der Umgang mit der Gefahr eines Delirs ist unterschiedlich: In manchen Kliniken behandeln ÄrztInnen mit dem Fokus auf das erkrankte Körperteil, die Folgen des Delirs müssen die Pflegekräfte organisieren; in anderen Krankenhäusern erfolgt innerhalb des ärztlichen/pflegerischen Teams eine Kommunikation über den Um-gang mit einzelnen PatientInnen, die ein Risiko an einem Delir zu erkranken aufweisen. Häufig ist das Thema Delir im Krankenhaus tabuisiert und eine Kommunikation darüber nicht selbstverständlich, weil die MitarbeiterInnen möglicherweise als Verantwortliche für die Entstehung des Delirs identifiziert werden könnten. Begründet wird das Delir dann durch eine vorherige Demenzerkrankung oder Alkoholismus.

XII. Kategorie: Zuschreibung und/oder Übernahme von Verantwortung durch Professionelle und PatientInnen/Angehörige

Die Übernahme von Verantwortung hinsichtlich der medikamentösen Versorgung von Pflegebedürftigen und PatientInnen wurde durch die Analyse in einigen Bereichen deut-lich. Das Thema Medikation scheint bei den ersten Pflegetrainings in der Häuslichkeit grundsätzlich behandelt zu werden. PflegetrainerInnen kontrollieren die Medikation und schulen die Angehörigen, sie weisen auf eventuell falsch verabreichte Medikation hin und empfehlen das Gespräch mit einem Arzt oder sie kontaktieren bei Bedarf die Apothe-ke oder den Hausarzt. Auch begleiten sie ärztliche Termine in der Häuslichkeit, um die Besprechung von Medikamentenumstellungen zu flankieren. PflegetrainerInnen gehen dabei individualisiert auf die konkret Betroffenen/die Familie ein und beraten sie dahin-gehend, dass der Hausarzt für eine Verschreibung kontaktiert werden muss oder initiieren den Kontakt zu einer Apotheke, wenn die Medikamente durch diese gestellt werden sol-len. Stellen die Angehörigen die Medikamente selber, beobachtet das die Pflegetrainerin und lässt sich die Medikation genau erklären. PflegetrainerInnen fallen Fehleinnahmen oder -verschreibungen von Medikamenten auch auf, weil sie den Patienten/die Patientin schon im Krankenhaus kennengelernt haben, und Fehler, die bei der Entlassung entstehen, durch einen Vergleich der klinischen und häuslichen Situation erkennen können. Hiermit scheinen PflegetrainerInnen eine Schlüsselfunktion bei der Sicherstellung der Arzneimit-teltherapie an der Schnittstelle Krankenhaus/Häuslichkeit zu haben.

Page 29: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

Fam

ilial

e Pf

lege

29

Die PflegetrainerInnen schätzen die Verantwortung von Pflegekräften im Bereich der Ver-gewisserung über eine richtige Verabreichung und Einnahme der Medikation durch Pa-tientInnen und die Schulung der Einnahme insgesamt als hoch ein. Hierzu gehört auch, dass Arbeitsbündnisse mit Angehörigen geschlossen werden, wenn PatientInnen selber zu krank sind oder die Einnahme verweigern, was sich vor allem dann als schwierig ge-staltet, wenn die Angehörigen ebenfalls krank sind. Die PflegetrainerInnen sehen ihre Zu-ständigkeit ebenfalls darin, die Wichtigkeit der Einnahme psychiatrischer Medikamente PatientInnen adäquat zu vermitteln. Pflegefachpersonen in der Klinik sind nachts für das Verabreichen von Bedarfsmedikation zuständig und müssen selber Alternativen finden, wenn verordnete Bedarfsmedikation nicht vertragen wird oder nicht anschlägt, weil Ärz-tInnen nicht immer verfügbar sind. Einige PflegetrainerInnen weisen die Verantwortung für Medikation der Ärzteschaft zu und sehen die Pflege nicht in der Verantwortung. Hier zeigt die Analyse auf, dass es sehr heterogene Meinungen gibt, wie z. B. dass die Aufklärung über Medikation die Aufgabe der ÄrztInnen ist, die Schulung und Information hingegen die Aufgabe der Pflege, oder aber dass Medikation grundsätzlich Aufgabe der Ärzte-schaft ist oder dass gute Pflege auch ein gutes Medikamentenmanagement bedeutet12. Bei den PflegetrainerInnen besteht zum Teil große Angst darüber, PatientInnen könnten Tabletten sammeln und auf einmal einnehmen, um sich zu suizidieren. In solchen Fällen sind für viele Pflegekräfte die Verantwortlichkeiten nach der Entlassung nicht geklärt, was zu Unsicherheit führt.

Die Verantwortung von KrankenhausärztInnen gegenüber Medikation wird tendenziell negativ zum Ausdruck gebracht: KrankenhausärztInnen würden Entscheidungen über Medikation – und damit die Verantwortung – auf die nächste Schicht und damit eine/n andere/n Arzt/Ärztin verschieben, wenn sie keine Lösung wissen oder sich nicht mit phar-mazeutischen Richtlinien auskennen. Sie suchten über Versuch und Irrtum so lange Medi-kamente aus, bis eines wirkt, oder es würden bislang genommene Medikamente einfach weiter verschrieben, weil diese bereits lange von der Patientin/dem Patienten eingenom-men wurden. Angehörige werden dafür verantwortlich gemacht, wenn PatientInnen wegen Medikati-onsfehlern wieder ins Krankenhaus eingewiesen werden. Die Frage, was mit dem Patien-ten/der Patientin passiert, wenn es keine Angehörigen gibt, die sich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus um die Fortschreibung der Medikamente durch den Hausarzt in der Häuslichkeit kümmern können, wird in einem der Interviews damit begegnet, dass sich immer jemand finde, der das Rezept zur Apotheke bringe:

12 Als problematisch wird benannt, dass PatientInnen ohne Pflegestufe nicht von den Pflegetraine-rInnen im Rahmen des Modellpro-gramms „Familiale Pflege“ begleitet werden und diese PatientIn-nen/Angehörige dann auf das Engagement der Stationspflege angewie-sen sind.

Page 30: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

30

„Also es gab immer einen: Ob das jetzt eine Nachbarin war, die die Medikamente besorgt hat, oder sowas oder zumindestens das Rezept in der Apotheke abgegeben hat und der Apothekendienst die Medikamen-te dann geliefert hat. Aber das ist wirklich noch niemandem, also dass ein Patient wirklich ganz, ganz al[lein], diesen Fall hatte ich noch nicht. Deshalb habe ich mich damit noch nicht beschäftigt. (I3, S2)

HausärztInnen werden dafür verantwortlich gemacht, dass Bluttests, die bei der Einnah-me einiger Medikamente regelmäßig gemacht werden müssen, von ihnen vernachlässigt werden, wenn Angehörige nicht darauf hinweisen.

Die Verantwortung der niedergelassenen Apotheken liegt in der Beratung der PatientIn-nen und Angehörigen, was viele PatientInnen/Angehörige jedoch nicht wissen.

XIII. Kategorie: Sucht und Medikation

Das Thema Sucht ist in der Analyse bei bereits lange eingenommenen Beruhigungsmitteln oder starken Schmerzmitteln bei Hochaltrigen vorgekommen. Einige Krankenhaus- und Hausärzte scheinen den Analysen zufolge in diesen Fällen die Medikation weiter zu ver-schreiben, obwohl offensichtlich ist, dass eine Medikamentensucht besteht.

S: Kommt eine achtzigjährige Dame ins Krankenhaus und nimmt schon seit 20 Jahren irgendwelche Benzos, und irgend so ein junger Schnösel von der Uni meint, er muss jetzt diese Benzos wegnehmen, weil die könn-ten abhängig machen. Und natürlich, irgendwie treten dann nach zwei Tagen irgendwelche Probleme auf.

P: Und auf der Folgestation werden die Benzos dann auch einfach wie-der angeordnet.

P: Kann ja der Hausarzt klären, dass sie benzodiazepinabhängig ist.“ (I.1, 550)

Page 31: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

Fam

ilial

e Pf

lege

31

XIV. Kategorie: Bereits vorhandene Modelle zum Umgang mit Medikation vor/während der Entlassung aus dem Krankenhaus

Programme in der Klinik

In manchen psychiatrischen Kliniken gibt es Adherence-TherapeutInnen, die PatientIn-nen in der Medikamenteneinnahme schulen, wenn zu erwarten ist, dass Medikamente eigenständig abgesetzt werden; Krankheitseinsicht und eigenständiges Einnehmen sollen hiermit gefördert werden.

Eine Alternative, die PatientInnen über ihre Medikation aufzuklären und zu beraten, ist die Apothekenvisite, bei der der Apotheker/die Apothekerin an der Visite teilnimmt.

In einem anderen Krankenhaus ist einmal wöchentlich ein/e ApothekerIn in der Ambu-lanz. Die ÄrztInnen können zu ihr/ihm gehen und sich beraten lassen; es werden stich-probenartig die Daten und Medikamente von PatientInnen geprüft; dies wird vor allem gerne von NeurologInnen in Anspruch genommen.Auch führt der sogenannte elektronische „Pharmacheck“ zu mehr Kommunikation zwi-schen ÄrztInnen und Pflegefachpersonen über die Medikation von PatientInnen.

Als Vorbereitung zur Entlassung wird in einem Krankenhaus schon bei der Aufnahme An-gehörigen oder PatientInnen ein Zettel ausgehändigt zum Thema „Fragen zur Entlassung und Medikation“, damit eine bessere Vorbereitung auf kurzfristige Entlassungen erfolgen kann.

Eine weitere Möglichkeit stellt die Bereitstellung einzelner Medikamenten-Tütchen dar, die jeweils für eine Einnahme von der Pflegefachkraft im Krankenhaus fertig gestellt und bei Entlassung mitgegeben werden.

Programme nach Entlassung

In der psychiatrischen Versorgung wird die Behandlungspflege zum Stellen der Medika-mente als sinnvoll erachtet, auch kann eine schrittweise Überführung in die Verantwor-tung der PatientInnen/Angehörigen erprobt werden.

Das Medikamentenmanagement durch einen ambulanten Pflegedienst, der die PatientIn-nen einmal täglich zu Hause aufsucht oder bei dem die Medikamente beim Pflegedienst abgeholt werden, wird insbesondere in der psychiatrischen Pflege oder der Pflege bei Hochaltrigen als Möglichkeit verstanden, da gleichzeitig mit einer geregelten Medikati-onsgabe auch ein tagesstrukturierender Moment inbegriffen ist.

Page 32: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

32

Organisatorisch kann die Medikamentengabe bzw. das Stellen der Medikamente auch durch Blister erleichtert werden, die in der Apotheke angefertigt und geliefert werden.Bei gut funktionierender interprofessioneller Kooperation wendet sich die Apotheke an den Arzt/die Ärztin, wenn ein Folgerezept benötigt wird.

Dosetten, Piktogramme und Bilder oder eigenen Notizen sind weitere Möglichkeiten, die Medikamenteneinnahme zu unterstützen.

Auch wird der Arztbrief doppelt ausgedruckt, wobei eine Kopie für die weiterbehandeln-de Ärztin/den weiterbehandelnden Arzt und eine Version für den Patienten/die Patientin ist.

Page 33: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

Fam

ilial

e Pf

lege

33

4. Interpretation der Ergebnisse und Diskussion

Die Ergebnisse der empirischen Studie stimmen teilweise mit den Ergebnissen der Lite-raturstudie überein. Für die Zusammenarbeit der Professionen bei der Entlassung aus dem Krankenhaus als Weg für ein gelingendes Entlassungsmanagement argumentier-ten Bakken et al (2012); dies bestätigt sich in der vorliegenden Studie. Kommunikations-schwierigkeiten und Brüche in der Interaktion zwischen medizinischen und pflegerischen AkteurInnen im stationären und ambulanten Bereich führen zu Diskontinuitäten in der me-dikamentösen Versorgung und Versorgungsengpässen. Auf die defizitäre Information der PatientInnen und Angehörigen verweisen Hartwig et al (2008), Driscoll et al. (1999) und Shyu (2000b), was sich ausgehend von der vorliegenden Analyse bestätigen und weiter spezifizieren lässt. Die Analyse hat aufgezeigt, dass einige medizinische Disziplinen mehr Raum für Kommunikation über Medikation oder die bevorstehende Entlassung ermögli-chen und PatientInnen/Angehörige sich nach der Entlassung in der eigenen Häuslichkeit über die mitgegebene Medikation nicht gut informiert fühlen und viel Unsicherheit vor-herrscht, was auch zur doppelten Einnahme von Medikamenten und schweren gesund-heitlichen Konsequenzen führen kann. Die Exploration dieser Missverständnisse und der Desintegration, in der sich die PatientInnen und Angehörigen oft befinden, zeigt auf, wie existenziell die Ratlosigkeit empfunden wird, welche Wege bestritten werden, um die Un-sicherheit zu kompensieren und wie selten Außenstehende auf die Missstände aufmerk-sam geworden wären, wenn nicht eine ambulante Pflege in das häusliche Pflegesetting implementiert oder die PflegetrainerInnen vor Ort gewesen wären. Deutlich wurde durch die Analyse auch, dass die Probleme, die bei der Entlassung vom Krankenhaus in die Häuslichkeit auf vielen Ebenen zu verorten und hinsichtlich der Medikation sehr komplex sind, in den bisherigen Veröffentlichungen nur unzureichend abgebildet wurden.

Verfestigt haben sich die eingangs formulierten Vermutungen, dass Wiedereinweisun-gen durch fehlerhafte Medikation wahrscheinlich sein könnten. Bestätigt wurde durch die Analyse, dass interprofessioneller und intersektionaler Wissenstransfer bei der Entlassung aus dem Krankenhaus eine zentrale Rolle für ein gelingendes Medikamentenmanage-ment spielt und dass Kommunikationsprobleme innerhalb des Krankenhauses, an der Schnittstelle der stationären und ambulanten Versorgung und im fehlenden Verständnis und fehlerhaften Umgang mit der Medikation in der Häuslichkeit für die meisten Missstän-de verantwortlich sind.

Kommunikationsprobleme zwischen ärztlichen und pflegerischen Professionen, die von hierarchischen Organisationsstrukturen geprägt sind, führen zu fehlendem Austausch über PatientInnen und nicht korrekter Überleitung und Vermittlung von medikationsbezogenen und/oder pflegerelevanten Informationen in den ambulanten Bereich. Der Arztbrief hat sich als störanfälliges Instrument erwiesen, auf den zwar vertraut wird, der jedoch bei der Entlassung oft nicht vorliegt oder nicht alle benötigten Medikamente enthält und somit

Page 34: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

34

unvollständige Informationen übermittelt, ohne eine Reflexion darüber zu ermöglichen. Nicht gelingende adäquate Betreuung und Beratung werden systematisch auf Fehler im Arztbrief oder einen fehlenden Arztbrief zurückgeführt. Damit wird zwar verständlich, weshalb es zu Kommunikationsproblemen gekommen ist, doch es wird keine andere Möglichkeit der richtigen Informationsweitergabe als Alternative etabliert. Der Arztbrief fungiert weiter als wichtiges Informationsmittel, das aber offiziell nur die Kommunikation zwischen Krankenhausarzt und niedergelassenem Arzt regelt. Informationsvermittlung über Medikamente und ihre Einnahme an die PatientInnen und Angehörigen selber ist bei der Entlassung nur in Einzelfällen systematisch organisiert. In der Häuslichkeit rufen in Einzelfällen PflegetrainerInnen im Krankenhaus oder beim Hausarzt an, um Fragen be-züglich der Medikation zu klären, oft liegen den PflegetrainerInnen aber nur rudimentäre Informationen zur Entlassung oder der Medikation vor.

Ein zentrales Ergebnis ist auch die wiederholte Umstellung der Medikation bei Aufnahme ins Krankenhaus und nach der Entlassung durch den niedergelassenen Arzt, die für Irri-tationen und daraus folgend zur fehlerhaften Medikamenteneinnahme und verringerter Adherence führen kann. Medikamenteneinnahme wird als mechanischer Akt verstanden, der die Einnahme von bestimmten Wirkstoffen zu bestimmten Tageszeiten bestimmt. In der Lebenswelt der PatientInnen spielt die Medikamenteneinnahme aber eine vielschichtige Rolle: Sie strukturiert den Alltag, z. B. wenn eine hochaltrige Person schon seit Jahren eine bestimmte Tablette einnimmt und das als stabilisierenden Faktor im Alltag empfindet, oder schafft Vertrauen, wenn eine bestimmte Angehörige die Verabreichung der immer gleichen Medikation routinemäßig vollzieht. Änderungen dieser Vollzüge bergen große Unsicherheiten der ohnehin oft vulnerablen pflegebedürftigen Menschen, deren Stabili-tät des Alltags u. a. durch eingenommene Medikamente konstituiert wird. Diese relative Stabilität wird durch häufige Veränderung der Medikation durch die Rabattverträge der Krankenkassen immer wieder erschüttert und es bedarf vor allem bei demenzkranken äl-teren Menschen einer enormen Überzeugungskraft, sie von der Einnahme der ungewohnt aussehenden Medikamente zu überzeugen.

Die Studie hat auch Aufschluss darüber gegeben, dass im stationären und ambulanten medizinischen und pflegerischen Bereich Wissen über Medikation und den Umgang von PatientInnen mit Medikation nicht immer vorhanden ist und viele Missstände im Umgang mit Medikation in der Alltagspraxis der PatientInnen den Professionellen nicht bekannt sind und somit nicht präventiv vermieden werden können. KrankenhausärztInnen, nie-dergelassene ÄrztInnen, das Entlassungsmanagement und Pflegepersonal des Kranken-hauses sowie ambulante Pflegepersonen und Apotheken sollten über das Thema und Möglichkeiten der Vermeidung von Fehlern bei der Medikationsverordnung und -einnah-me informiert werden. Hierzu werden Konzepte für eine intersektionale Sensibilisierung für das Medikamentenmanagement benötigt, die durch systematische Weiterbildungen erreicht werden kann.

Page 35: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

Fam

ilial

e Pf

lege

35

Als sehr wichtiges Thema hat sich in der Studie auch die Unklarheit von Zuständigkei-ten herausgestellt. Das Pflegepersonal hat keine rechtlich gesicherte Zuständigkeit für die Kontrolle und die Beurteilung der Medikation, da das in den Handlungs- und Verant-wortungsbereich der ÄrztInnen gehört, was sich vor allem in stationären Nachtschichten zum Problem entwickelt, wenn ÄrztInnen nicht immer erreichbar sind. In der Alltagspraxis fällt es aber in der Regel Pflegepersonen auf, wenn Medikamente falsch eingenommen oder nicht vertragen werden sowie unerwünschte Nebenwirkungen zur Folge haben. Die Kommunikation der problematischen Medikamenteneinnahme muss dann mit dem statio-när tätigen oder niedergelassenen Arzt erfolgen, was aufgrund schwerer Erreichbarkeit oft nicht zeitnah möglich ist. Schon die Kommunikation zwischen stationär tätigen und niedergelassenen ÄrztInnen ist schwierig, weil KrankenhausärztInnen diese Telefonate den Analysen zufolge oft in den ruhigeren Mittagsstunden tätigen wollen, in denen Hau-särzte wiederum häufig Hausbesuche machen und nicht erreichbar sind. Hierbei handelt es sich um organisationale Schnittstellenprobleme, für die es bislang keine Lösungen gibt. Als Folge daraus werden diese schwer zu realisierenden, aber dringend notwendigen Kommunikationswege selten in Anspruch genommen und vermeidbare Missverständnisse entstehen.

Ein weiterer Themenschwerpunkt, der sich in der Analyse heraus kristallisiert hat, ist die Rolle der Apotheken. Die Krankenhausapotheke ist nur marginal vorhanden und scheint nicht in den Kommunikationsrahmen der professionellen oder familialen Pflegepersonen eingebunden zu sein. Apotheken im niedergelassenen Bereich haben einen Beratungs-auftrag, der im stationären Setting nicht zu existieren scheint. Insbesondere hinsichtlich des prekären Umgangs mit Benzodiazepinen, der in der Studie als weiterhin tabuisiert exploriert wurde, sollten Krankenhausapotheken stärker in der Verantwortung stehen, da eine Fortschreibung bereits angeordneter Benzodiazepine durch niedergelassene Ärz-tInnen evtl. niedrigschwelliger ist als die eigenständige Erstverschreibung der Medika-mente. Hierzu wären noch weitere Studien notwendig. In Österreich existiert z. B. die Initiative „Demenzfreundliche Apotheke“, bei der niederge-lassene Apotheken unterschiedliche Instrumente entwickeln, damit die demenzerkrankten Menschen und ihren Angehörigen Wege finden, besser mit den Herausforderungen und auch der Medikation umzugehen.

Der Umgang mit Medikation im Übergang vom Krankenhaus in die Häuslichkeit hat auch ethische Implikationen: Die Analyse hat aufzeigen können, dass Medikamente in der Psy-chiatrie aufgrund bevorstehender Entlassung verändert und somit ein längerer Aufent-halt der PatientInnen ermöglicht wird, sofern dies als im Sinne der PatientInnen erachtet wird. Einstellungen von Psychopharmaka dauern oft länger als die Verweildauer, die über die Fallpauschalen für die entsprechende Erkrankung vorgesehen ist. Durch die erneu-te Umstellung der Medikation oder der Dosis wird ein längerer Aufenthalt in der Klinik ermöglicht, doch wird dabei das Prinzip des Nichtschadens (vgl. Prinzipienethik nach

Page 36: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

36

Beauchamp & Childress 2009), dem auch ärztliches Handeln unterliegt, missachtet. Dem Patienten/der Patientin werden nichtindizierte Medikamente verschrieben oder Dosen zu einem Zeitpunkt der Therapie verändert, die ohne die drohende Entlassung nicht verord-net werden würden. Somit erlangen die PatientInnen nicht die eigentlich in der Situation notwendige und auch bereits eingeführte Behandlung. Dieses Handeln ist ethisch nicht vertretbar und bringt auch die ÄrztInnen in eine prekäre Lage. Auch die Pflegepersonen, die diese Maßnahmen beobachten und Teil der Verabreichung und des Behandlungs-plans sind, tragen zu diesem ethisch nicht vertretbaren Handeln bei und handeln dabei ggf. auch gegen ihre eigenen ethischen Prinzipien13. Eine andere ethisch umstrittene Situation birgt auch die Fortschreibung von suchtfördern-den Medikamenten durch ÄrztInnen, wenn es sich um Hochaltrige oder ältere Menschen handelt, die diese Medikamente schon lange einnehmen. Die Sucht, die damit weiterhin „gepflegt“ wird, ist allen Beteiligten bewusst; die Medikamente werden ohne weitere Ein-schränkung jedoch verordnet und eingenommen.

13 Auch rechtlich ist dies relevant, da Pflegefachpersonen eine Durchführungsverantwortung haben und Handlungen verweigern können oder müssen, wenn sie offensichtlich widerrechtlich bzw. patientenschädigend sind.

Page 37: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

Fam

ilial

e Pf

lege

37

5. Handlungsempfehlungen

Ausgehend von den Ergebnissen der Analyse formuliert das Modellprojekt „Familiale Pflege“ folgende Empfehlungen:

1. In der stationären Behandlung sollte die Krankenhausapotheke eine aktive Rolle einnehmen und beispielsweise im Rahmen einer „Apothekenvisite“ Medikation und Nebenwirkungen am Krankenbett mit dem/der Erkrankten, Angehörigen, Pflegeper-sonen und ÄrztInnen im Rahmen eines Entlassungsgesprächs besprechen. Für eine Medikamentenüberleitung soll, falls notwendig, die Krankenhausapotheke Kontakt zu der niedergelassenen Apotheke des Patienten/der Patientin aufnehmen.

2. Nach der Entlassung sollten insbesondere für an Demenz erkrankte Menschen und ihre Angehörigen Begleitprogramme entwickelt werden (im Sinne einer demenz-freundlichen Apotheke), damit das Medikationsmanagement durch die Apotheken aktiv unterstützt werden kann. Diese Kooperation könnte im Rahmen der familialen Pflege initiiert werden.

3. In offensichtlich riskanten häuslichen Pflegesettings, wenn also die Pflege (noch) nicht gesichert scheint, sollte Behandlungspflege schon im Krankenhaus implementiert wer-den, um eine gute medikamentöse Versorgung im Übergang in die Häuslichkeit zu gewährleisten.

4. Bei kurzfristigen Entlassung muss es ein standardisiertes Medikationsmanagement ge-ben, damit eine gute Kooperation schon vor und bei der Entlassung möglich wird und die Verantwortung für die Medikation bei der Entlassung nicht an die weiterbehan-delnden niedergelassenen ÄrztInnen oder den evtl. fehlenden/nicht weitergeleiteten Arztbrief verschoben wird. Sowohl das Krankenhaus als auch die weiterbehandeln-den ÄrztInnen müssen es als ihre Pflicht ansehen, dazu beizutragen, die Überleitung vom Krankenhaus in die Häuslichkeit bezüglich der Medikation sicher zu gestalten.

5. Es müssen flexiblere Möglichkeiten im Umgang mit den Fallpauschalen für ÄrztInnen und Pflegepersonen geschaffen werden. Eine Möglichkeit könnte sein, eine (kranken-hausinterne) Liste mit Möglichkeiten zu erstellen, wie standardisierte Maßnahmen im Rahmen der DRG-Regelung vermieden oder flexibilisiert und nach den Bedürfnissen der Erkrankten gestaltet werden können (z. B. kann das Krankenhaus die Behand-lungspflege initiieren).

Page 38: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

38

6. In allen Kliniken sollten regelmäßig interprofessionelle ethische Fallbesprechungen zu medikations- und entlassungsrelevanten Themen durchgeführt werden, damit alterna-tive Möglichkeiten zu ethisch nicht vertretbaren Behandlungen gefunden werden kön-nen und die MitarbeiterInnen über diese tabuisierten Themen ins Gespräch kommen.

7. IT-Programme, die bei falscher Medikation alarmieren oder medikamentöse Beson-derheiten bei Demenz anzeigen (entsprechend der Priscus-Liste, Heidelberger Pro-gramm etc.) können eine sichere Medikamentenverschreibung im Krankenhaus positiv beeinflussen, ohne zusätzliche zeitliche Ressourcen zu erfordern.

Page 39: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

Fam

ilial

e Pf

lege

39

6. Diskussion und Ausblick

Medikamentöse Versorgung im Übergang vom Krankenhaus in die Häuslichkeit, aber auch innerhalb der stationären Versorgung und anschließend in der ambulanten Versor-gung ist ein Thema, das in den letzten Jahren offensichtlich an Relevanz gewonnen hat. Diese Tendenz wird aufgrund der steigenden Zahl älterer Menschen und Hochaltriger und steigender Pflegequoten auch in den kommenden Jahren bestehen bleiben, die medi-kamentöse Versorgung wird also weiterhin ein zentrales Thema im Alltag vieler Menschen sein. Das Thema Medikation sollte nicht erst wahrgenommen werden, wenn es zu lebenswelt-lichen Katastrophen kommt, sondern im Kontext von Prävention in den Krankenhäusern aber auch auf gesundheitspolitischer Ebene stärkere Relevanz erhalten. Da es sich bei der Verabreichung von beruhigenden Medikamenten insbesondere bei Demenz oftmals (in den Familien aber auch bei Professionellen) um ein Tabuthema handelt, im Alltag beru-higende Medikamente jedoch häufig verabreicht werden, sollte bei der Versorgung von demenzerkrankten Menschen darauf geachtet werden, nicht zu früh zu viele Medika-mente zu verordnen/verabreichen, da das mit einer Verschlechterung des Gesundheits-zustands und gegebenenfalls mit einer Delirentwicklung einhergehen kann. Eine in dieser Studie nur wenig fokussierte, für die medikamentöse Versorgung jedoch zentrale Dimension ist das Geschlecht. Geschlechtsspezifische Aspekte sind bedeutend, weil Frauen im Hinblick auf Medikation vulnerabler zu sein scheinen als Männer. Frauen werden mehr Medikamente verordnet als Männern (Schwabe/Paffrath 2016) und vor allem ältere Frauen sind gefährdeter, eine Medikationssucht zu entwickeln (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen 2017). Aus diesem Grund sollte dem Merkmal Geschlecht bei Studien zur Medikation eine besondere Rolle zugewiesen werden.Mit dieser Studie wurden insbesondere die lebensweltlichen Auswirkungen von Fehlver-schreibungen und -einnahmen verdeutlicht. Es wurde deutlich, wie prekär die Situation pflegender Angehöriger ist, die oft fehlinformiert ihren pflegebedürftigen Angehörigen Medikamente verabreichen – teilweise mit lebensgefährlichen Folgen. Deutlich wurde auch, wie Verantwortung innerhalb des Krankenhauses von einer Schicht zur nächsten und von einer Station auf die nächste verschoben wird, was zu Diskontinuitäten bei der medikamentösen Behandlung führen kann. Eine Limitation dieser Studie setzt jedoch an genau dieser Stelle an und erfordert weitere Untersuchungen: Hier wurden ausschließlich die Perspektiven der PflegetrainerInnen erhoben, die zentral für das Verständnis der Le-benswelten der Pflegebedürftigen und pflegenden Angehörigen sind. Zu den Ergebnis-sen gehören aber auch strukturelle und organisationale Probleme, die in weiteren Studien auch aus der Perspektive anderer beteiligter Professioneller beleuchtet werden sollten, um ein vollständiges Bild zu erhalten. Interprofessionelle, multiperspektivische Untersu-chungen zum Thema Medikation im Übergang vom Krankenhaus, aber auch innerhalb des Krankenhauses und in der ambulanten Versorgung sind notwendig, um Erkenntnisse zu den hier angedeuteten strukturellen und organisationalen Probleme zu erhalten. Inter-

Page 40: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

40

professionelles Handeln ist für das Thema Medikation in jeder Versorgungsart – stationär oder ambulant – von großer Bedeutung, da die Diagnose/Verordnung/Verabreichung in jedem Fall interprofessionell erfolgt, die Schnittstellen zwischen den Professionen aber nur selten ausgeprägt sind und kaum kooperativ gelebt werden.

Page 41: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

Fam

ilial

e Pf

lege

41

7. Literaturverzeichnis

Armstrong, R./Hall, B.  J./Doyle, J./Waters, E. (2011). Cochrane Update  ‘Scoping the scope’ of a cochrane review. In: Journal of Public Health 33(1). S. 147-150.

Bakken, M. S./ Ranhoff, A. H./ Engeland, A./ Ruths, S. (2012). Inappropriate Prescribing for Older People Admitted to an Intermediate-Care Nursing Home Unit and Hospital Wards. In: Scandinavian Journal of Primary Health Care 30 (3), S. 169–175.

Beard, K. (1992). Adverse Reasctions as a Cause of Hospital Admission in the Aged. In: Drugs & Aging 2 (4), S. 356-367.

Beauchamp, T. L./Childress, J. F. (2009). Principles of Biomedical Ethics. 6th edition. Ox-ford: Oxford University Press.

Braun, B. (2012). Polypharmazie. HKK Gesundheitsreport. Unter: http://www.hkk.de/fileadmin/doc/berichte/hkk_gesundheitsreport2012.pdf. Zuletzt abgerufen am 15.03.2017.

Burkhardt, H./Wehling, M./Gladisch, R. (2007a). Pharmakotherapie älterer Patienten. In: Der Internist 11 (48), S. 1220-1231.

Burkhardt, H./Wehling, M./Gladisch, R. (2007b). Prävention unerwünschter Arzneimit-telwirkungen bei älteren Patienten. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 40 (4), S. 241-254.

Billioti de Gage, S./Bégaud, B./Bazin, F./Verdoux, H./Dartigues, J./Pérès, K. (2012). Benzodiazepine Use and Risk of Dementia: Prospective Population Based Study. In: BMJ (Clinical Research ed.) 345, S. 6231.

Billioti de Gage, S./Pariente, A./Bégaud, B. (2015). Is There Really a Link between Ben-zodiazepine Use and the Risk of Dementia? In: Expert Opinion on Drug Safety 14 (5), S. 733–747.

Bloomer, M./Digby, R./Tan, H./Crawford, K./Williams, A. (2014). The Experience of Family Carers of People with Dementia who are Hospitalised. In: Dementia (London, En-gland), S. 1234-1245.

Chan, V. T./Woo, B./Sewell, D. D./Allen, E. C./Golshan, S./Rice, V. (2009). Reduction of Suboptimal Prescribing and Clinical Outcome for Dementia Patients in a Senior Behav-

Page 42: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

42

ioral Health Inpatient Unit. In: International Psychogeriatrics / IPA 21 (1), S. 195–199.

Cummings, S. M. (1999). Adequacy of Discharge Plans and Rehospitalization Among Hospitalized Dementia Patients. In: Health & Social Work 24 (4), S. 249–259.

Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (2017): Jahrbuch Sucht 2017. Lengerich: Pabst.Driscoll, A. (2000): Managing Post-discharge Care at Home: an Analysis of Patients' and their Carers' Perceptions of Information Received During their Stay in Hospital. In: Journal of Advanced Nursing 31 (5), S. 1165–1173.

Hartwig, J./Janzen, P./Waller, H. (2008). Entlassungsvorbereitung im Krankenhaus aus der Sicht älterer, pflegebedürftiger Patienten. In: Pflege 21 (3), S. 157–162. DOI: 10.1024/1012-5302.21.3.157.

Haude, V./Lüdeke, M./Dohse, H./Reiswig, S./Liebler, A./Assion, H.(2009). Treatment Characteristics of Patients with Dementia: Comparing two Different Psychiatric Inpatient Settings. In: American Journal of Alzheimer's Disease and Other Dementias 24 (3), S. 228–233.

Fox, N. C./Warrington, E. K./Freeborough, P. A./Hartikainen P./Kennedy, A. M./Ste-vens, J. M./Rossor, M. R. (1996). Presymptomatic hippocampal atrophy in Alzheimer’s disease: a longitudinal MRI study. Brain 119, S. 6.

Gray, Shelly L. (2016): Benzodiazepine use and risk of incident dementia or cognitive decline: prospective population based study. Unter: http://www.bmj.com/content/352/bmj.i90. Zuletzt abgerufen am 14.03.2017.

Kitamura, T./Kitamura, M./Hino, S./Kurata, K. (2013). Predictors of Time to Discharge in Patients Hospitalized for Behavioral and Psychological Symptoms of Dementia. In: De-mentia and Geriatric Cognitive Disorders Extra 3 (1), S. 86–95.

Kleinpell, R.  M. (2004). Randomized Trial of an Intensive Care Unit-based Early Dis-charge Planning Intervention for Critically Ill Elderly Patients. In: American Journal of Crit-ical Care: An Official Publication, American Association of Critical-Care Nurses 13 (4), S. 335–345.

Lamnek, S. (1998). Gruppendiskussion. Theorie und Praxis. Weinheim: Beltz.

Leske, J.  S./Pelczynski, S.  A. (1999). Caregiver Satisfaction with Preparation for Dis-charge in a Decreased-Length-of-Stay Cardiac Surgery Program. In: The Journal of Car-diovascular Nursing 14 (1), S. 35–43.

Page 43: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

Fam

ilial

e Pf

lege

43

Lough, M. A. (1996). Ongoing Work of Older Adults at Home after Hospitalization. In: Journal of Advanced Nursing 23 (4), S. 804–809.

Marcum, Z. A. (2012). FDA Drug Safety Communications: A Narrative Review and Clin-ical Considerations for Older Adults. In: American journal of geriatric pharmacotherapy 10 (4), S. 264-271.

Martens, K. H. (1998). An Ethnographic Study of the Process of Medication Discharge Education (MDE). In: Journal of Advanced Nursing 27 (2), S. 341–348.

Mayring, P. (2006). Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken. Landsberg: Beltz.

Reiley, P./Iezzoni, L. I./Phillips, R./Davis, R. B./Tuchin, L. I./Calkins, D. (1996). Discharge Planning: Comparison of Patients and Nurses' Perceptions of Patients Following Hospital Discharge. In: Image--the Journal of Nursing Scholarship 28 (2), S. 143–147.

Roberts, K. (2002). Exploring Participation: Older People on Discharge from Hospital. In: Journal of Advanced Nursing 40 (4), S. 413–420.

Schwabe, U./Paffrath, D. (2016): Arzneiverordnungs-Report 2016. Berlin: Springer Ver-lag.

Shyu, Y.  I. (2000a). Patterns of Caregiving When Family Caregivers Face Competing Needs. In: Journal of Advanced Nursing 31 (1), S. 35–43.

Shyu, Y. I. (2000b). The Needs of Family Caregivers of Frail Elders During the Transition from Hospital to Home: a Taiwanese Sample. In: Journal of Advanced Nursing 32 (3), S. 619–625.Wingenfeld, K./Joosten, M./Müller, C./Ollendiek, I. (2007). Pflegeüberleitung in Nord-rhein-Westfalen: Patientenstruktur und Ergebnisqualität. Veröffentlichungsreihe des Insti-tuts für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld. http://www.uni-bielefeld.de/ge-sundhw/ag6/downloads/ipw-137.pdf. Zuletzt abgerufen am 15.03.2017.

Whittamore, Kathy H./Goldberg, S. E./Bradshaw, L. E./Harwood, R. H. (2014). Fac-tors Associated with Family Caregiver Dissatisfaction with Acute Hospital Care of Older Cognitively Impaired Relatives. In: Journal of the American Geriatrics Society 62 (12), S. 2252–2260.

Wright, R. M./Sloane, R./Pieper, C. F./Ruby-Scelsi, C./Twersky, J./Schmader, K. E./

Page 44: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

44

Hanlon, J. T. (2009). Underuse of Indicated Medications Among Physically Frail Older US Veterans at the Time of Hospital Discharge: Results of a Cross-sectional Analysis of Data from the Geriatric Evaluation and Management Drug Study. In: The American Jour-nal of Geriatric Pharmacotherapy 7 (5), S. 271–280.

Yemm, R./Bhattacharya, D./Wright, D./Poland, F. (2014). What Constitutes a High Quality Discharge Summary? A Comparison Between the Views of Secondary and Pri-mary Care Doctors. In: International Journal of Medical Education 5, S. 125–131.

Page 45: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

Fam

ilial

e Pf

lege

Page 46: Medikationsprobleme bei Pfl egebedürftigen im Übergang vom ... · Scoping Review (Armstrong et al. 2011) mit 74 nationalen und internationalen Veröffent- lichungen zu den Schlagworten

www.uni-bielefeld.de