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Donnerstag, 17. November 2011 Wem am 17. November mittags die Sonne von oben auf den Kopf scheint, der befindet sich auf der Südhälfte der Erde zwischen Äqua- tor und Wendekreis. Als ich auf dem Flughafengelände von Cuiabá, Mato Grosso, die wenigen Schritte vom Airbus A 320 zur Ankunftshalle ge- he, wird mir schnell sehr warm. Ein Sommertag in Brasilien. In der Eingangshalle hat Manfred Göbel einen Freund getroffen, den er spontan um Hilfe bittet, unter den Ankommenden den Deutschen zu finden, den er abholen will. Für mich ist Manfred Göbel bereits ein be- kannter Buchautor, dessen Bild vom Umschlag seines Buches mir vor Augen steht. Zwei gemeinsame Wo- chen liegen vor uns. Alle drei Jahre findet in Brasilien ein großer nationaler Leprologen- kongress statt. Die Veranstalter wünschten sich für 2011 einen Beitrag zur europäischen Lepra- geschichte und erbaten Unter- stützung durch die Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe (DAHW) e.V. Es ist für mich eine Ehre, als Vertreter der DAHW in Brasilien sprechen zu sollen. Rund um das Tagungsprogramm hat Manfred Göbel, Repräsentant der DAHW in Brasilien und als ge- lernter Krankenpfleger hier seit 1979 tätig, für mich Reisevorschläge zur Erkundung der Lepraprobleme des Landes entwickelt. Die Reiseroute soll mich an vier Orte führen: In Cuiabá, Mato Grosso, hat Manfred Göbel sein DAHW-Büro. In Manaus, Amazonas, besteht ein bedeutendes Leprazentrum, die Fundação Alfredo da Matta. In Maceió, Alagoas, soll Mitteilungen der Gesellschaft für Leprakunde e. V. 19, 2011 Brasilien 2011, 17.–30. November Tagebuch einer Erkundung rund um den brasilianischen Leprologenkongress 2011 Flávio Serafin Lisboa in seinem Haus in São Luis, Stadtteil Bonfim

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Donnerstag, 17. November 2011Wem am 17. November mittags dieSonne von oben auf den Kopfscheint, der befindet sich auf derSüdhälfte der Erde zwischen Äqua-tor und Wendekreis. Als ich auf demFlughafengelände von Cuiabá, MatoGrosso, die wenigen Schritte vomAirbus A 320 zur Ankunftshalle ge -he, wird mir schnell sehr warm. EinSommertag in Brasilien.In der Eingangshalle hat Manfred

Göbel einen Freund getroffen, dener spontan um Hilfe bittet, unter denAnkommenden den Deutschen zu

finden, den er abholen will. Für michist Manfred Göbel bereits ein be -kannter Buchautor, dessen Bild vomUmschlag seines Buches mir vorAugen steht. Zwei gemeinsame Wo -chen liegen vor uns.Alle drei Jahre findet in Brasilien

ein großer nationaler Leprologen -kongress statt. Die Veranstalterwünschten sich für 2011 einen Bei trag zur europäischen Lepra -geschich te und erbaten Unter -stützung durch die Deutsche Lepra-und Tuberkulosehilfe (DAHW) e.V. Es ist für mich eine Ehre, als

Vertreter der DAHW in Brasiliensprechen zu sollen.Rund um das Tagungsprogramm

hat Manfred Göbel, Repräsentantder DAHW in Brasilien und als ge -lernter Krankenpfleger hier seit 1979tätig, für mich Reisevorschläge zurErkundung der Lepraprobleme desLandes entwickelt. Die Reiseroutesoll mich an vier Orte führen: InCuiabá, Mato Grosso, hat ManfredGöbel sein DAHW-Büro. In Manaus,Amazonas, besteht ein bedeutendesLeprazentrum, die Fundação Alfredoda Matta. In Maceió, Alagoas, soll

Mitteilungen der Gesellschaft für Leprakunde e. V. 19, 2011

Brasilien 2011, 17.–30. NovemberTagebuch einer Erkundung rund um den brasilianischen

Leprologenkongress 2011

Flávio Serafin Lisboa in seinem Haus in São Luis, Stadtteil Bonfim

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die Tagung stattfinden. Und in SãoLuis, Maranhão, möchte ManfredGöbel die bestehenden Kontaktezur dortigen Lepraarbeit vertiefen.Der brasilianische Bundesstaat

Mato Grosso liegt im ZentralwestenBrasiliens. Beim ersten Mittagessenund angesichts der Fleischtellerkom men wir gleich auf die Vieh -herden zu sprechen, die in der aus-gedehnten, an Bolivien grenzendenRegion weiden. Später, am Amazo -nas und an der Küste, schmeckenuns die Fische.Ausruhen ist zunächst nicht vor-

gesehen. Am Nachmittag besuchenwir in Cuiabás Nachbarstadt VárzeaGrande, beide sind nur durch denFluss Cuiabá getrennt, der nachSüden zum Río Paraguay fließt, ein2007 von Manfred Göbel mitgegrün-detes Kinder- und Jugendprojekt,die Associação Educar. Die Doppel -stadt wuchs in den letzten 50 Jah -ren auf die zehnfache Größe. Heuteleben hier 800.000 Menschen, da -von etwa 250.000 in Várzea Grande.Wegen des Mangels an Schul -

raum gehen die Kinder und Jugend -lichen in drei Schichten zur Schule:vormittags, nachmittags undabends. Außerhalb der Schulzeitwerden 800 Kinder und Jugendlichein vier Armenvierteln am Stadtrandin den Einrichtungen der AssociaçãoEducar von 30 Lehrkräften in Klein -gruppen gefördert. Die DAHW trägt5 % zur Finanzierung bei. Der Lep -ra, den Drogen wie der Gewalt lässtsich durch Bildung und angeleiteteGemeinschaftsaktivitäten im ge -schützten Raum zuvorkommen.Zum Städtewachstum trug der

Zuzug armer Landbevölkerung we -sentlich bei. Die Wohnviertel derArmen sind von Lepra betroffen.Daneben bilden Drogen und Gewalteinen Problemkomplex, der die bra-silianische Gesellschaft schwer be -schädigt. Und wirkliche Besserungist nicht in Sicht, solange die welt-weite Politik der Illegalisierung derDrogen besteht, wodurch die Dro -genkriminalität erst möglich wurde.Auf dem Weg von Bolivien zur

Metropolregion São Paulo bleibenDrogen zu relativ günstigen Preisenin Cuiabá hängen. Durch die Ban -denkriminalität wurde Cuiabá einerder gefährlichsten Orte des Landes.Alle wissen, dass auch Spitzen poli -tiker und hohe Verwaltungsbeamtemitmischen. Von Mördern regiert zuwerden, kann für keine Gesellschaftgut sein.

In der Associação Educar, Várzea Grande

Manfred Göbel und Pater Carlo, Associação Educar

Manfred Göbel und Pater Carlo, Associação Educar

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Und auch viele Richter undStaats anwälte sind korrupt. Die Me -chanismen der Stabilisierung ver-brecherischer Verhältnisse sind bru-tal, aber zugleich einfach und wir-kungsvoll. Will ein Staatsanwalteinen Fall zur Anklage bringen, sowird er bald hören, dass er das lie-ber lassen solle. Mancher wird ge -kauft, einzelne werden umgebracht.Was man mit europäischem

Hintergrund für Korruption hält, istin Brasilien ein Wesensmerkmal derGesellschaftsverfassung. Ein Bür -ger meister, der – neben seiner Ar -beit für die Gemeinde – nicht auchverstehen würde, für sich selber zusorgen, würde nicht wieder gewählt.Man würde diesem rechtschaffenenMenschen auf Dauer nicht zutrauen,die Gemeinde zu vertreten.Nachdem ich nun zum ersten Mal

in Brasilien war, muss ich bekennen,dass mein Brasilienbild von denDeu tungen meines Begleiters Man -fred Göbel stark mitbestimmt ist.Sein veröffentlichter Lebens bericht(Manfred Göbel, Größer als Furchtist die Liebe. Mein Einsatz gegenLepra, Freiburg 2007) gibt weitereHinweise.Der italienische Priester Pater

Carlo, der vor sechs Jahren kam, isteine der treibenden Kräfte der Asso -ciação Educar. Es ist im wörtlichenSinne wunderbar zu sehen, dass ineinem problembeladenen Umfeldauch Gutes gedeiht.Am frühen Abend bin ich mit

Man fred in seinem Büro, gelegen im13. Stock eines Worktowers naheder Kathedrale von Cuiabá. Mit Se -kretärin Barbara und einer weiterenHilfskraft koordiniert Manfred Göbelvon hier aus die Leprahilfe derDAHW für Mato Grosso und vierweitere brasilianische Bundes staa -ten. Gleichrangig ist neben derDAHW in anderen brasilianischenBundesstaaten die niederländischeLeprahilfe vertreten. Die Leprahilfs -organisationen weiterer Länder wieSpanien und Belgien sind in gerin-gerem Umfang aktiv. Allerdings wird in Brasilien der

Begriff Lepra nur noch historischverwendet. Die Krankheit heißt hierseit mehr als 30 Jahren Hanseníase(gesprochen etwa Hánsénjésse),benannt nach Gerhard ArmauerHan sen, dem norwegischen Arzt,der 1873 das MycobacteriumLeprae mikroskopisch entdeckte.Der brasilianische Arzt Abrahão Rot -berg förderte seit 1967 die Um be -

nen nung, die 1979 gesetzlich veran-kert wurde. Damit wollte man dieStigmatisierungen überwinden, diesich an den Leprabegriff gebundenhatten. Entsprechend gibt es auchdas englische Hansen‘s disease.

Freitag, 18. NovemberUm acht Uhr am nächsten Morgenbesuchen wir wiederum in VárzeaGrande die Gesundheitsstation, derder 64-jährige Kinderarzt und Le -prologe José Cabral Lopes vorsteht.Im Eingangsraum, der zugleich War -te saal ist, zweireihig versehen mitHolzbänken, treffen wir etwa 20 Pa -tientinnen und Patienten an. Wirsind erwartet worden. Dr. Cabral hatalle Wände des Eingangsraums mitvielfach bebilderten Informations -tafeln über verschiedene Leprafällebehängen lassen. Aus der herzli-chen Begrüßung entwickelt sich un -mittelbar sein Vortrag. Mich irritiertzu sehen, dass die Wartendenoffen sichtlich noch länger wartensollen. Was mir in diesen beidenWochen in Brasilien entgegenge-bracht wird, erscheint mir im Laufeder folgenden Tage als eine Mi -schung aus Gastfreundschaft, Wert -schätzung und Wissen um die Hilfe,die die DAHW dem Land und seinenMenschen bereitstellt.In Brasilien spricht man sich ei -

gentlich nur mit Vornamen an. UndProfessor ist jeder, der etwas lehrt.Aber an die Anrede als ProfessorGlotze muss ich mich nicht gewöh-nen, denn sehr bald bin ich nurnoch Dr. Haufe (brasilianischeAussprache von Ralf).Geheilte, aber auch in Behand -

lung befindliche Patientinnen undPatienten werden uns, mitten imEingangsraum, umringt von vielen,von Dr. Cabral vorgestellt. DieseÖffentlichkeit mag dem weltweitgültigen ärztlichen Verhaltenskodexwidersprechen. Ich deute das Er le -bnis für mich anders: Dr. Cabralgenießt volles Vertrauen seiner Pa -tientinnen und Patienten. Sie sindihm dankbar für alle Hilfe. IhrSchick sal als Kranke hat sie vereintund sie glauben, dass die beidenBesucher den gemeinsamen Kampfgegen die Lepra fördern werden.Sehr bald an diesem Vormittag

bemerke ich, dass die Lepra keines-wegs eine leicht zu verstehende,sondern eine komplexe, sehr unter-schiedlich verlaufende Krankheit ist.Nur Antibiotika zu verteilen ist zu -wenig. Es bedarf umfangreicher

Kenntnisse, damit weiterhin dieKrank heit aufgespürt und richtig be -handelt wird. Aber weil sie seltenist, sind auch in Brasilien die Lepro -logen selten.Von weltweit 230.000 neuen

Lepra fällen im Jahr 2010 wurden inIndien über 120.000 und in Brasilien35.000 entdeckt. Damit hat Brasilienweiterhin die zweitgrößte Zahl vonLeprakranken. In vielen brasiliani-schen Bundesstaaten gibt es jähr-lich mehr als 1:10.000 Leprafälle, sodass niemand sagen kann, dieLepra sei bezwungen. In Cuiabásind es etwa 10:10.000.Dramatische Folgen hat seit 1995

das erklärte Vorhaben der Weltge -sund heitsorganisation (WHO), dieLepra binnen fünf Jahren weltweiteliminieren zu wollen. Es wurde fest-gelegt, dass die Eliminierung beiweniger als 1:10.000 Fällen erreichtsei. Bis 2000 sollte das Ziel erreichtwerden, dann bis 2005, dann bis2010. Heute will man die Lepra bis2015 eliminieren. In Brasilien erhälteine Stadt mit ihrem Stadtkreis(município), die das Eliminierungs -ziel erreicht hat, eine Prämie. Dasshierdurch ein recht freier Umgangmit Zahlen angeregt wird, liegt aufder Hand und wird von allen Fach -leuten beklagt.Dramatisch wird es, wenn die

Sen kung der Fallzahlen unter1:10.000 die weitgehende Be en di -gung der Lepraarbeit zur Folge hat.Jede Reihenuntersuchung in sol-chen Gebieten führt zur Entdeckungeiner Vielzahl neuer Leprafälle.Weil das Mycobacterium Leprae

sich nur in wenigen Infizierten ineinem Krankheitsbild zeigt, aber vonallen Infizierten weitergegeben wer-den kann, und weil es auch vonwenigen Kranken an viele Gesundeweitergegeben werden kann, wirdLepra der Welt in etlichen Ländernauf Jahrzehnte hinaus erhalten blei-ben. Dies überall zu vertreten, mussein Anliegen der weltweiten Lepra -hilfe sein. Wenn die Fähigkeit ab -nimmt, Lepra zu diagnostizieren,wird sich die Lepra wieder stärkerausbreiten.Als wir Dr. Cabral verlassen, von

einem im Flur aufgetischten Früh -stücksbuffet mit Früchten, Säftenund Kaffee gestärkt, werden auchdie bebilderten Informationstafelnwieder abgenommen. Als der Ein -gangsraum fast menschenleer istund sein karges Gesicht zeigt, binich dankbar für die nachwirkenden,

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intensiven ersten Begegnungen mitLeprakranken in Brasilien.Anschließend besuchen wir das

Landesgesundheitszentrum inCuiabá. Hier hat Marisa, die Ehefrauvon Manfred Göbel, bis 2010 alslandesweit bekannte Leprologin ge -arbeitet und vielen kranken Men -schen geholfen. Ihre Stelle wurdenicht wieder besetzt, obwohl einCentro de Referência, wo dieschwie rigsten Fälle kompetent be -handelt werden können, dringenderforderlich ist. Unter Mithilfe vonManfred Göbel hat Dr. Cabral alsNotlösung in der Universitätsklinikeinen Referenzort geschaffen. Lei -der können wir ihn dort am Nach -mittag nicht wie geplant besuchen.Er hat wegen eigener gesundheitli-cher Probleme den Termin kurzfri-stig abgesagt.Noch, und keiner weiß wie lange,

besteht in Cuiabá im Landes ge -sund heitszentrum eine DAHW-finan-zierte Schusterwerkstatt. Die Schus -terin und ihre beiden Mitarbeiterversorgen Leprapatienten mit maß-angefertigten individuellen Einlagenund Schuhen. Für zwei Männer, diemehr als 1000 Kilometer aus demNorden von Mato Grosso hierhergekommen sind, wird gerade gear-beitet. Dafür nehmen die Be trof fe -nen zweitägige Busfahrten in Kauf.Nachmittags besuchen wir also

nicht mehr Dr. Cabral, sondern einFamiliengesundheitszentrum wie-derum in Várzea Grande. Wir treffendie Sozialarbeiterin an. Keine derdrei Ärztinnen ist im Dienst, so dasskeine medizinische Sprechstunde

stattfindet. Das brasilianische Ge -sundheitssystem gewährt kostenlo-se Gesundheitsversorgung undfunk tioniert gut. Allerdings gibt esim ärztlichen Personal der Familien -gesundheitszentren viel Wechsel, dadie jungen Ärztinnen und Ärzte sichbald auf besser bezahlte Stellenbewerben.Im Familiengesundheitsprogramm

ist vorgesehen, dass ein Arzt, eineKrankenschwester und mehrereGesundheitsagenten jeweils 1000Familien des jeweiligen Stadtviertelsbetreuen, wobei die Gesundheits -agentinnen und -agenten die Fami -lien besuchen. Hier wäre der An -satz punkt, neue Leprafälle zu fin-den, doch fehlt es dem jungen me -dizinischen Personal oft an Erfah -rung, die Lepra zu diagnostizieren.Ein großes Problem sind Fehldiag -nosen, wodurch die Lepra bisweilenjahrelang völlig falsch als Allergieoder Rheuma behandelt wird. Bacilloscopien haben bei den

meisten Leprafällen keinen Befund,weil das Mycobacterium Leprae beiden häufigen paucibacillaren For -men allgemein unentdeckt bleibt.Außerdem sind sie schwierig undkönnen insofern fehlerhaft sein.Biopsien, die das Hautgewebegenauer durchforschen, finden inAnfangsuntersuchungen üblicher-weise nicht statt.

Samstag, 19. NovemberDie Hochhaustürme von Cuiabá hin-ter uns lassend, fahren wir amSams tag in eine andere Landschaft,und zwar in das etwa 60 km ent-fernte Chapada dos Guimarães.Diese von den Portugiesen zurChristianisierung der indianischenUrbevölkerung gegründete Stadt mitPfarrkirche Sta. Ana liegt auf einerhohen Sandsteinstufe. Von mehre-ren Ausflugslokalen blickt man indie Buschebene bis Cuiabá. Im Na -turschutzgebiet rund um Chapadawurde die landwirtschaftliche Nut -zung verboten. Dennoch sehen wirweite Sojafelder, nach der Maiserntevor wenigen Wochen frisch bestellt.Alles, wie Manfred weiß, in Bewirt -schaf tung eines einzigen Unter -nehmers.Im Vorraum der Pfarrkirche zeigt

Manfred mir die Haken, an denen ervor 30 Jahren seine Hängemattebefestigte, wenn er in Chapadaseine Reihenuntersuchungen durch-führte, um Leprafälle zu finden.Einmal gab der Bürgermeister, in der

anstehenden Wahl aussichtsreich-ster Bürgermeisterkandidat, denen,die zur Untersuchung kamen, einBrötchen. Abends vor dem Lepra -vortrag wollte der Bürgermeistereine Wahlrede halten, doch Manfre -do sprach ihn in seiner damals auf-brausenden Art an: „Du oder ich!“Nachdem der Bürgermeister ihn vondem weit entfernten Rondonópolis,wo Manfredo damals wohnte, hatteabholen lassen, ließ er ihn für dieRückfahrt am nächsten Tag den Busnehmen.Am Samstagabend holt Manfred

mich aus dem Hotel zu sich ab undich esse, wie schon Freitagmittag,im neunten Stock eines Hochhausesmit Manfreds Familie: den glückli-chen Großeltern Manfred und Ma -risa, der Tochter Rose sowie der indiesem Jahr geborenen Enkelin.Sohn Roberto hat sich für einWintererlebnis in Bayern, ManfredsHeimat, entschieden, um in Regens -burg einen Deutschkurs zu besu-chen. Wegen der massiven Gefahrvon Einbrüchen und Überfällen trotzElektrodraht und Alarmanlage gabdie Familie vor einigen Jahren ihrHaus auf.

Sonntag, 20. NovemberEine mehrstündige Flugreise mitZwischenlandung in Porto Velhobringt uns am Sonntag nach Ma -naus, der Millionenmetropole desBundesstaates Amazonas. Hungrignach den mageren Keksen in derBoeing 737 essen wir früh zuAbend. Wir haben einen schönenPlatz in einem Lokal in einem gro-ßen, am Sonntag lärmigen Einkaufs -zentrum gefunden. Der Churrasco –gemischter Fleischteller – erweistsich in dem weit vom Rinder zucht -gebiet in Mato Grosso entferntenManaus als die falsche Wahl. Dasdünne brasilianische Bier schmecktaber zu jedem Gericht.

Montag, 21. NovemberFrüh, vor acht Uhr, werden wir voneinem Fahrer der Fundação Alfredoda Matta (FUAM), dem dermatologi-schen Landeszentrum, das einenSchwerpunkt in der Leprabe hand -lung hat, abgeholt. Dr. Maria deFátima Marója, grippekrank, begrüßtuns mit Mundschutz. Tomázia Tava res, die Sozialarbeiterin desKran kenhauses, beschenkt uns mitExem plaren ihres jüngst vollendetenBüchleins über die Geschichte deraußerhalb von Manaus gelegenen

Azira, Leiterin einer Selbsthilfegruppe,Várzea Grande

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Leprakolonie Antônio Aleixo, die wiram nächsten Tag besuchen sollen.Im klimatisierten Pick-up ist unsere30-Kilometer-Fahrt durch Manaus,über eine neue Brücke zum Süduferdes Rio Negro, dann weiter nachWesten und schließlich über eineErdstraße mit Schlaglöchern zur frü-heren Leprakolonie Vila Paricatubadurchaus erträglich.Fast noch im dichten Wald, aber

direkt am Nordufer des Rio Negro,finden wir die vormalige Lepra -kolonie Vila Paricatuba, die sichzum Wohnort für geheilte, vielfachbehinderte frühere Leprapatienten,ihre Nachfahren und neu Zuge zo -gene weiter entwickelt hat. RuinöseGemäuer eines ehemals palastarti-gen Gebäudes vom Ende des 19.Jahrhunderts, als Manaus einenKautschukboom erlebte, der auchzum Bau der berühmten Oper derStadt von 1896 führte, regen diePhantasie stark an. In Tomázia, derHistorikerin und Buchautorin, ha -ben wir eine kundige Begleiterin.Erbaut als Ferienhotel für zugewan-derte Italiener im Amazonasgebiet,dann als Kunstakademie weiterbetrieben, war das Gebäude späterGefängnis und schließlich Lepro -sarium (aus dem lateinischen lepro-sorium wurde das portugiesischeleprosario, das wiederum als Lepro -sarium eingedeutscht worden ist).Einzelheiten erfahren wir in dem

nahe gelegenen örtlichen Gesund -heits zentrum von Vila Paricatuba,einem kleinen Zweckbau mit weni-gen Räumen. Das Gesundheitsper -so nal gibt uns, was in der feuchtenWärme stets notwendig ist, zu trin-ken, und stellt einen Kontakt zudem zufällig anwesenden ManoelMenas Vasconcelos her, einemgeheilten Leprapatienten, den wirspontan zu seinem Leben befragendürfen. Die meisten Brasilianerhaben zwei Nachnamen, den erstenvon der Mutter, den zweiten vomVater.Dieser Manoel, heute 67 Jahre alt,

kam 1958 als 14-Jähriger hierher.Damals nahm der Staat den Elterndie leprakranken Kinder weg. Ge -mäß Gesetzgebung von 1920, auf-gehoben erst 1979, wurden in Bra -silien alle Leprakranken zwangs -isoliert. Insassen durften dasumzäunte Gelände zunächst garnicht und später nur mit Sonder -genehmigung verlassen. In demParlatório, wo Besucherinnen undBesucher die Kranken sehen und

sprechen konnten, war durch eineGlasscheibe der direkte Kontaktverhindert. Inzwischen hat Brasiliendie früher Zwangsisolierten finanziellentschädigt.Als Jugendlicher wohnte Manoel

fünf Jahre lang in dem Hauptge -bäude des Leprosariums, das alsJugendheim diente. Hier gab esgroße Schlafsäle, getrennt für 66Mädchen und Jungen. Er erinnertsich an gute, menschliche Be hand -lung und geregelten Tagesablauf.Ein Leben am Fluss gab es nicht.Offenbar wurde der Fluss als Gren -ze, nicht aber als Lebensraum wahr-genommen. Schwimmen konnteniemand und Fischen war nichtnötig, weil es genug zu essen gab.Von seinen zwölf Geschwistern

hatten außer ihm drei weitere Lepra.Manoel heiratete 1972 eine Lepra -patientin, die bereits vier Kinderhatte. Mit ihr hat er drei Söhnesowie mittlerweile Schwiegertöchterund Enkelkinder. Seinen Lebens -unter halt hat er als Gelegenheits -arbeiter verdient.Ein Gang durch die Siedlung mit

ihren verstreuten, recht armseligen,unter großen Bäumen gelegenenHäuschen, um die die magerenHunde streunen, lässt uns darübernachdenken, dass voraussichtlichdemnächst auch Wohlhabenderehier Ufergrundstücke beanspruchenund bebauen werden. Und wennerst einmal ein Hotel entstehen soll-te, wird für das beschauliche Wald -leben der kleinen Leute nicht mehrviel Raum sein.Zurück in Manaus und nach

einem geselligen Fischessen mit

Direktor und einigen Mitarbeiternder FUAM, das wir in einem Lokal inderselben Straße genießen, werdenwir vom Vizedirektor durch dasKran kenhaus mit seinen beidenStockwerken geführt. 260.000Krankenakten helfen, wenn zumBeispiel ein ehemaliger Leprapatientnach Jahren erneut kommen muss,die Behandlung richtig wieder auf-zunehmen. Es gibt eben auch Fälleder Wiederkehr der Lepra sowieFälle der Neuinfektion.Großen Eindruck macht auf mich

die lebende Sammlung menschli-cher Hautpilze, die Mycothek. Hierwerden alle vorhandenen Hautpilzein Gläsern regelmäßig neu kultiviert,um sie für die praktische Ausbildungzur Verfügung zu haben.

Dienstag, 22. NovemberNach wiederum zeitigem Start besu-chen wir vormittags die zum Stadt -teil herangewachsene, 1932 gegrün-dete frühere Leprakolonie AntônioAleixo. Sie liegt 20 km unterhalbvon Manaus am Nordufer des RioNegro, der hier bereits dem Ama -zonas begegnet ist (Encontro dasÁguas), aber sich noch nicht mitihm vermischt hat. Braunes Ama -zonaswasser und schwarzes Rio-Negro-Wasser fließen eine langeStrecke nebeneinander her.Unser Fahrer wohnt in dem Stadt -

teil und kennt sich bestens aus.Viele Koloniehäuser der 1930erJahre, Doppelhäuser für jeweils zwei Familien, sind am Baustil nochgut erkennbar. Zu viert mit Man -fredo, Dr. Fátima sowie der Lepra -koordi natorin des Bundesstaates

Vizedirektor der FUAM und Dr. Fátima, Manaus

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Ama zonas, die den Kontakt vorbe-reitet hat, können wir den 82-jähri-gen Anastacio Pereira da Costabesuchen. Schon mit sechs Jahrenlepra krank, war er 1947 mit 18 Jah -ren hierher gekommen. Der sportli-che junge Mann war Fußballtorwartder Koloniemannschaft. Er heiratetemit 20 seine leprakranke Frau, derschon zwei gesunde Kinder genom-men worden waren. In Brasilien be -mühen sich heute die Leprawaisen,die zu Opfern der Politik derZwangs isolierung wurden, um Ent -schädigung.Beide haben drei Kinder, aber

seine Frau starb jung. Seit 1969 ister mit seiner jetzigen Frau verheira-tet. Anastacio war zeitlebens eineFührungspersönlichkeit, und hiervonstrahlt auch der alte, heute blindeMann immer noch viel aus. Er nahmeingewiesene Kinder in sein Hausauf, um sie dann an passende Fa -milien weiterzugeben. In seiner akti-ven Zeit war er Polizeivorsteher imRahmen der Selbstverwaltung derLeprakolonie.Wenige Schritte weiter besuchen

wir das örtliche Hospital Geral Dr.Geraldo da Rocha, das aus demKoloniekrankenhaus entstanden istund auch als Dauerwohnheim für 65durch die Folgeschäden der Lepraschwer Behinderte dient. Manfredokommt mit einem doppelt fußampu-tierten Mann ins Gespräch, der sit-zend in seinem Bett für ihn denbiblischen Hymnus des Paulus aufdie Liebe rezitiert. Manche benötigen tägliche oder

dreitägige Wundversorgungen. Wirdürfen in einen Behandlungsraumblicken, der kühl klimatisiert ist.Sehr beengt versorgen hier dreiPflegerinnen drei Patienten gleich-zeitig.Der Chirurgiesaal wartet auf eine

Neueinrichtung, für die 50.000 Real(etwa 20.000 Euro) benötigt werden.Der Staat will nur 20.000 Real ge -nehmigen, deshalb wurde bishernoch nichts daraus.Das Mittagessen auf dem Rück -

weg erleben wir mit weitem Blickauf die „Begegnung der Wasser“.Über den Fluss bei guten Speisen indie Ferne zu sehen, dabei die melo-dische, mir fast unverständlicheportugiesische Sprache der freundli-chen Tischgenossen zu hören ist fürmich erholsam in dem anstrengen-den Tagesprogramm.Nachmittags besehen wir das

Operngebäude von Manaus und

Koloniehäuser in Manaus, Stadtteil Antônio Aleixo

Vizedirektor der FUAM und Dr. Fátima, Manaus

Anastacio Pereira da Costa

Bild gekontert und 2-spaltig angelegt

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ruhen uns dann aus, denn am näch-sten Morgen, eher mitten in derNacht, wollen wir wieder aufbre-chen.

Erster KongresstagMittwoch, 23. NovemberIn tiefster Nacht, noch vor 0 Uhrund nach nur drei Stunden Schlaf,müssen wir unser Hotel verlassen.Unterwegs und im Flughafenwächst unsere Gruppe, die denLeprakrongress in Maceió besuchenwill. Wir benötigen zwei Flüge, dennwir können Maceió nur über SãoPaulo erreichen.Unsere Busfahrt vom Flughafen

zu dem unmittelbar an der Strand -straße gelegenen Tagungshotel istlang und ich habe das Glück, nebeneinem der bedeutenden Lepra for -scher Brasiliens zu sitzen. MarceloTávora Mira hat im BundesstaatPará ein Lepradorf untersucht, indem fast alle Bewohnerinnen undBewohner infiziert, aber nur 5–6 %krank waren (oder sind), was derVerteilung nach genetischer Prädis -position entspricht. 19 von 20 Men -schen weltweit sind nämlich gene-tisch immun gegen die Lepra, sodass nur eine deutliche Minderheitleprakrank werden kann. Abwei -chend hiervon kommt in der indiani-schen Urbevölkerung Brasiliens dieLepra fast nicht vor. Die Krankheitwurde von den einwanderndenEuropäern und von den über denAtlantik verschleppten Sklaven ausAfrika nach Südamerika gebracht.Gewissermaßen im Vorprogramm

des Kongresses nehmen Manfredound ich an einem Gespräch teil, zudem Dr. York Lunau, Vertreter derNovartis Stiftung für NachhaltigeEntwicklung, eingeladen hat. Aller -dings diskutiert man hier das Ange -bot von Novartis, einen Gesund -heits-LKW oder im Amazonasgebietein Gesundheitsschiff gegen dieLepra einzusetzen, recht kontrovers.Manche meinen, dass es besserwäre, die bestehenden Strukturenzu stärken. Es ist noch nicht ausge-macht, ob Novartis mit MORHAN(Movimento de Reintegração daspessoas atingidas pela Hanseníase),einer gut organisierten Gruppe vonAktivisten zur gesellschaftlichenWiedereingliederung von Lepra pa -tienten, ein derartiges Großprojekt,das viel Aufmerksamkeit auf sichziehen könnte, beginnen wird odernicht.In einer feierlichen Eröffnung am

Abend begrüßen die Veranstalterüber 300 Kongressteilnehmer. Eswerden schließlich 379 sein. Meh -rere Kurzansprachen leuchten diemöglichen Zugänge zur Lepra -thematik aus. Vernehmbares Ge -murmel entsteht, als der JapanerYohei Sasakawa, WHO-Botschafterfür die Eliminierung der Lepra, seineWahrnehmung erfolgreicher Elimi -nierungspolitik darlegt.

Zweiter KongresstagDonnerstag, 24. NovemberDem Kongressprogramm liegt einean den drei folgenden Kongress -tagen gleiche Struktur der Ver an -

staltungsfolge zugrunde. Jeweils einkonkurrenzloser Hauptvortrag ist für11.15–12.15 Uhr vorgesehen. Inten -siver wird am Nachmittag jeweilsum 14–16 Uhr in jeweils vier paralle-len thematischen Veranstaltungenmit jeweils vier Vorträgen diskutiert.Jeder Kongresstag beginnt um 9–11Uhr und endet um 16.30–18 Uhr mitstraff aufeinander folgenen Kurzvor -trägen von jeweils nur sechs (!) Mi -nu ten Länge. In diesen insgesamt29, jeweils bis zu sechs parallelenVeranstaltungen sind je zehn undmehr Kurzvorträge zu hören. Für mich sind, obwohl ich Portu -

giesisch nicht sprechen kann, dieVorträge dank der Leinwand prä sen -tationen einigermaßen verständlich.Von den anschließenden Ge -sprächs beiträgen kann ich leidernicht viel profitieren. Glücklicher -weise werden die längeren Vorträgedes Nachmittags per Kopfhörer inEnglisch angeboten. Die Haupt vor -träge am Vormittag sind ohnehin inEnglisch.Viele der Minutenvorträge des

Morgens und Spätnachmittags wur-den an den Universitäten von Stu -dierenden aus den Sozialwissen -schaften, der Biologie sowie derMedizin ausgearbeitet. Der Staatgibt viel Geld für For schungs pro -jekte, durch die junge Wissen -schaftlerinnen und Wissenschaftlersich mit Leprathemen befassen.Dass die Präsentationen im Lehr -betrieb an den Universitäten ent-standen sind, ist an ihrem fastimmer gleichen Aufbau erkennbar.

Im Hospital Geral Dr. Geraldo da Rocha, Manaus, Stadtteil Antônio Aleixo

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Die Gliederungen umfassen Ein füh -rung (Introdução), Themenstellung(Objetivo), Material und Methoden(Materias e Métodos), Ergebnisse(Resultados) und Schlussfolgerung(Conclusão).Abgesehen von einzelnen Unter -

suchungen, die vielleicht verzichtbarsein könnten, weil sie zum Beispielnur belegen, dass 20 Befragte zumTeil mit Vorurteilen und zum Teilohne Vorurteile der Lepra begegnen,wurden wichtige, weiterführendeForschungen vorgestellt – sowohlvon renommierten Leprologen alsauch von jungen Wissen schaftlerin -nen und Wissenschaftlern.35 Interessierte folgen den sozial-

wissenschaftlichen Kurzvorträgenam Donnerstagmorgen. Der fünfteVortrag stellt Ergebnisse einer Un -ter suchung dar, in der Gesund heits -agentinnen und -agenten in zweiStadtbezirken von São Paulo nachihren Kenntnissen der Han seníasebefragt wurden. Ein Drittel der Be -fragten hielt sie für eine Virus erkran -kung. Der neunte Vortrag stellt dar,dass die Hanseníase wesentlich un -problematischer empfunden wird alsdie Lepra. Wenn aber bekannt ist,dass dieselbe Krankheit gemeint ist,wird auch die Hanseníase stärkerals problematische Krankheit wahr-genommen.Im Hauptvortrag des Vormittags

erläutert der US-Amerikaner Mal -colm Duthie vom Infectious DiseaseResearch Institute (IDRI), Seattle,dass bei der Entwicklung einesImpf stoffs gegen Lepra geringeFort schritte gemacht worden konn-ten. Durch die bisher gefundenenStoffe kann eine Verminderung derBakterienzahl erreicht werden. Eswird als möglich angesehen, durchdiese Stoffe die Antibiotikatherapiezu ergänzen.Nachmittags bin ich in einem his -

torischen und gesellschaftswissen-schaftlichen Arbeitskreis mit einemVortrag über die Arbeit der Gesell -schaft für Leprakunde e.V. in Müns -ter vorgesehen („How to explainleprosy as a topic of history and oftoday“). Ich versuche zu erläutern,wie die Gesellschaft für Leprakundedie Aufgabe wahrnimmt, die Leprazugleich als historisches und gegen-wärtiges Menschheitsproblem dar-zustellen. Reinaldo Bechler erläutertin einem weiteren Vortrag den kon-troversen Diskussionsprozess der 1. Leprakonferenz 1897 in Berlin, inder das von Gerhard Armauer Han -

sen entwickelte Konzept einer allge-meinen Zwangsisolierung der Lepra -kranken gegen Widerstände durch-gesetzt wurde.In gewisser Weise verdanke ich

meine Brasilienreise ReinaldoBechler. Es war zwar der Präsidentdes brasilianischen Leprologen -verbandes (Sociedade Brasileira deHansenologia, SBH), Marcos daCunha Lopes Virmond, von demdas Interesse ausging, die histori-sche Dimension stärker in den me -dizinischen Kongress einzubezie-hen. Im gemeinsamen Gesprächentwickelten dann aber ProfessorMarcos, Manfredo und Reinaldo denVorschlag, einen Vertreter derDAHW mit einem historischen The -ma zum Kongress nach Brasilieneinzuladen.Um 16.30 Uhr bin ich Zuhörer in

der Arbeitsgruppe Molekularbio -logie–Immunologie. Gelockt hatmich der Name Jaison AntônioBarreto. Dr. Jaison ist ein junger,schon sehr bekannter Leprologe,der in einem Krankenhaus in Bauru(im Staat São Paulo) im InstitutoLauro de Souza Lima forscht. Under fährt im Land umher und findetund untersucht Leprakranke, woniemand sie vermutet hat. Im erstenseiner beiden Vorträge schildert erseine Patientenuntersuchungen (ein-schließlich Bacilloscopien) 2011 inMato Grosso do Sul nahe derGrenze zu Paraguay.

Dritter KongresstagFreitag, 25. NovemberAm Freitagmorgen höre ich dieKurzvorträge zum ThemenbereichVorbeugung von Behinderungenund Rehabilitation. Ein Vortrag stelltBeispiele der Nervenchirurgie dar.Mir wird wieder deutlich, dass dieKranken gefunden und richtig be -handelt werden müssen, bevor dieNerven zerstört sind.Es folgt um 11.15 Uhr mein

Haupt vortrag zur Geschichte derLepra in Europa 1200–1800. Statteiner allgemeinen historischen Ab -handlung entwickle ich das Themabeispielhaft an der Geschichte desLeprahospitals Münster-Kinderhausmit Ausblicken auf die ersten euro-päischen Leprahospitäler im 12. Jahr hundert sowie die neuenVer brei tungen der Lepra ab dem 19. Jahrhundert.Was ich nachmittags erlebe, hat

für mich die Qualität eines Höhe -punkts im Kongressverlauf. Inter -

nationale Beiträge zur Themen -stellung „Where are the leprologiststoday?“ sind angekündigt. Als ersterspricht Joseph Kawuma, DAHW-Arzt aus Uganda. Er legt in sachli-cher, aber doch mitreißender Artseine Überzeugung dar, dass ge -genläufig zum weltweiten Trend dieLepra mehr medizinische Beachtungfinden muss. Es genüge nicht, dieLepra durch Manager verwalten zulassen, die Medikamente geben undFallzahlen sammeln.Verhaltener, aber gleichfalls ein-

dringlich, mahnt Salvatore Noto,Genua, die Lepra weiterhin als ern-ste Krankheit zu betrachten. Er be -richtet von Leprafällen, die durchEinwanderer aus Ländern der Weltnach Italien gebracht wurden, indenen die Lepra längst als über-wunden gilt. Und er berichtet vonzwei aktuellen, 2010 und 2011 aut-hochton in Italien entstandenenLeprafällen. In der Diskussion trägter mit klaren Worten bei, dass er esals unwissenschaftlich ablehne, dasWHO-Eliminierungsziel anzuerken-nen, das willkürlich auf ein Lepra -vorkommen von 1:10.000 festgelegtworden sei.Aus Indien, das 2010 wieder die

weltweit meisten, und zwar 126.800neue Leprafälle hatte, berichtet Prof.H. K. Kahr. Er stellt keine Problemedar, was in der Diskussion MariaLeide Oliveira, bedeutende Lepro -login in Brasilien, ironisch aufspießt.Seine Tabellen hätten Stoff geboten,weiter zu diskutieren. Währendnämlich in den letzten fünf Jahren(2006–2010) die Zahlen der Lepra -fälle gesunken sind, ist gleichzeitigder Prozentsatz neuer schwerer Fäl -le mit Behinderungen von 2 auf 3 %kontinuierlich gestiegen. Das kannein Hinweis auf nachlassende Su -che nach Leprakranken sein. Aus den USA kam David Scollard.

Er forscht an der Universität in Ba -ton Rouge, Louisiana. Seit 60 Jah -ren werden in den USA jährlich kon-stant etwa 200 neue Leprafälle regi-striert, 40 davon entstehen authoch-ton im Land. Eine Verminderung derFälle wird nicht erwartet. Wenn dieLepra von Dr. Scollard als „interes-sant“ bezeichnet wird, so hält er siezugleich für eine ernste Krankheit:„Hansen’s disease is not simple, it isa complex and serious disease andwe have to take it seriously“. Wegender in den USA verstreut auftreten-den Fälle spricht Dr. Scollard sichfür die Stärkung einer spezialisierten

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Zentraleinrichtung mit allen Labor -kompetenzen aus.Zur Situation in Brasilien trägt

Maria Leide bei, dass hier geradeweniger die Spezialisten, sondernzu 80 % die Basisgesundheits diens -te die Lepra behandeln. Auf die Teil -nehmerfrage, welche Ziele formuliertwerden könnten, wenn das bisheri-ge Ziel der Prävalenz der Lepra von1:10.000 gesundheitspolitisch nichtmehr vertreten werden sollte, weistMaria Leide die mögliche neueRich tung: die Behinde rungen durchLepra deutlich reduzieren.Am Spätnachmittag besuche ich

wieder die Arbeitsgruppe Geschich -te und Sozialwissenschaften. Unterden 45 Teilnehmerinnen und Teil -nehmern ist auch Professor Marcos,der Präsident des Leprologen ver -bandes und Ausrichter der Tagung,und stellt anregende Fragen. Einigevon Professor Luciano M. Curi vor-getragene Thesen reizen zur Dis -kussion, insbesondere sein Ansatz,dass Lepra und Hanseníase ver-schiedene Krankheiten seien, dieLepra sei historisch, die Hanseníasegegenwärtig („Hanseníase não éLepra“). Diese Begriffsverengung,wenn sie sich durchsetzen ließe,würde vermutlich die Verständigungzwischen brasilianischem und welt-weitem Diskurs erschweren.Eine Teilnehmerin stellt ein ge -

sund heitspädagogisches Projektvor. Ein selbst entworfenes Flugblattist in 22.000 Exemplaren an 6- bis9-jährige Kinder an Schulen verteiltworden. Wie Tagungsteilnehmer mirberichten, wird jedoch kritisch gese-hen, dass viele von den Universi -täten vorbereitete Projekte keineBreiten- und Langzeitwirkunghaben.

Vierter KongresstagSamstag, 26. NovemberMorgens höre ich die Kurzvorträgezur Epidemiologie. Hier ist wieder-um Dr. Jaison mehrfach vertreten.Er geht noch einmal auf seine Pa -tientenuntersuchungen in MatoGrosso do Sul ein. Dort hat er imvergangenen August 147 Patientenuntersucht und 24 neue Leprafällediagnostiziert. Weiter berichtet ervon schweren Leprafällen (Hanse -níase Virchoviana = Lepra leproma-tosa) in Santa Catarina, Süd bra si -lien, die wegen Fehldiagnosenschon sehr weit fortgeschritten wa -ren. Abschließend stellt er seine Be -fragung von Ärzten zu deren Le pra -

wissen vor. Der Fragebogen um fasst27 Fragen und ist Ärzten in fünfBundesstaaten vorgelegt worden.Wo die Lepra bereits als eliminiertgilt (< 1:10.000) wurden die meistenFragen von weniger als 50 % derBefragten richtig beantwortet.Den Hauptvortrag um 11.15 Uhr

hält Erwin Schurr, ein in Kanada for-schender deutscher Genetiker.Nach dem 2002 das Genom desMen schen publiziert worden ist,können die genetischen Vorausset -zungen der Erkrankung an Lepragenauer beschrieben werden. Dem -nach wurde für 16 Gene die Lepra -beziehung nachgewiesen. Ob dieseGene zugleich oder einzeln eineRol le spielen, wird mir nicht ganzdeutlich. Jedenfalls hat eines dieserGene zugleich Bedeutung für dieParkinson-Erkrankung. Vermutlichwerden hier weitere Forschungenfolgen.Nachmittags höre ich Vorträge

zum klinischen Leprabild besondersin Verbindung mit anderen Krank -heiten. Maria Leide Oliveira stelltrezidive Leprafälle vor, bei denenwenige Jahre nach erfolgreichemAbschluss der Behandlung dieLepra wieder auftritt. Maria ÂngelaBianconcini Trindade weist auf dieFälle nicht heilender Lepra hin, diedurch parallele Neuinfektion zumBeispiel durch Personen im sozialenUmfeld immer wieder entfacht wer-den. Joseph Kawuma spricht über

Lepra und Tuberkulose. Viele HIV-und Leprakranke sterben bekannt-

lich an Tuberkulose, doch beklagtDr. Kawuma, dass durch die Zu -sammenfassung von Tuberkuloseund Lepra in einem gemeinsamenProgramm erfahrungsgemäß dieKompetenzen der Lepradiagnosevernachlässigt werden. In seinem abschließenden Beitrag

spricht sich Dr. Scollard für die Bei -behaltung und Anwendung der be -währten Ridley-Jopling-Klassifika -tion der Lepra (von 1962) aus, diebeiderseits der Borderline-Form dieweiteren vier Lepraformen tuberku-loid, borderline-tuberkuloid, border-line-lepromatös und lepromatösunterscheidet. Diese Formen wer-den in Brasilien als Tuberculóide,Dimorfa-Tuberculóide, Dimorfa-Virchoviana und Virchoviana be -zeichnet. Er vertritt, was mir auchandere Fachleute bestätigen, dassdie bei den Basisgesundheits diens -ten in Brasilien gängige Differen zie -rung zwischen paucibacillar(Indeterminada, Tuberculóide) undmultibacillar (Dimorfa, Virchoviana)die Krankheit zu stark vereinfacht. Gegen Dr. Scollards hohe Wert -

schätzung der Laboranalysen ver-treten in der Diskussion Dr. Notound Dr. Kawuma wiederum ihrenAnsatz, dass die körperliche Unter -suchung der Patienten an ersterStelle stehen muss. Oder, so Dr.Kawuma: die Laborergebnisse sindimmer so gut wie die dem Labormitgelieferten Fragen.Am Spätnachmittag bin ich wie-

der in der molekularbiologisch-im -munologischen Arbeitsgruppe. In

Dr. Erwin Schurr Dr. David Scollard

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einer Untersuchung wurde dasLepra bakterium bei gesunden Kon -taktpersonenen einer leprakrankenPerson im Labor nachgewiesen. Ineinem weiteren Beitrag wird für denZeitraum seit 1998 in Brasilien vonfünf Neugeborenen mit körperlichenMissbildungen aufgrund von Tali do -midbehandlung der Mutter berich-tet. Man benötigt weiterhin Talido -mid gegen entzündliche Reaktionenim Verlauf der Antbiotikatherapie dermultibacillaren Lepra, doch darfTalidomid nicht Frauen im gebärfä-higen Alter gegeben werden. Ineiner weiteren Untersuchung wur-den Leprabakterien in Gewässerngefunden (Teiche, Schwimm -becken). Dr. Jaison sagt mir später,dass Leprabakterien außerhalb desmenschlichen Körpers bis zu neunTage leben können.In der Schlusssitzung um 19 Uhr

werden zwei besonders verdientePersönlichkeiten geehrt, eine Wis -sen schaftlerin mit Namen Lazara fürihr Lebenswerk sowie der Organi -sationsleiter des Kongresses. Alsder Leprakongress 2008 in Cuiabástattfand, wurde Manfred Göbelgeehrt, worüber man sich auch inDeutschland sehr freute.In seinem Dank an die Mitwir -

kenden des Kongresses erwähntProfessor Marcos namentlich dieDeutsche Lepra- und Tuberkulose -hilfe (DAHW) e.V., die zwei Referen -ten aus Deutschland und Ugandageschickt habe. Als WHO-Vertreterspricht zum Schluss der Japaner YoYuasa, der bereits 1958 als jungerMann den Weltleprakongress inJapan ausrichtete. In einer bewe-genden kurzen Ansprache wandelter die Zielformulierung der WHOdeutlich ab: „Towards a world with -out leprosy problems, both medicaland social“. Nicht mehr die Weltohne Lepra, sondern die Welt ohneLepraprobleme: Wenn diese Pers -pektive sich bei der WHO durchset-zen sollte, wäre schon viel gewon-nen.

Sonntag, 27. NovemberAm frühen Morgen um halb vierwer den wir mit einigen, die nachManaus zurückreisen, zum Flug -hafen gefahren und haben einengemeinsamen Flug nach Brasilia,das im Süden liegt, obwohl wir nachNorden wollen. Wir kommen mitzweitem Flugzeug mittags in SãoLuis an, einer in Deutschland fastunbekannten Millionenstadt. Unter

den brasilianischen Küstenstädtenliegt sie dem europäischen Kon -tinent mit am nächsten.Dem Vorschlag von Manfred,

nachmittags eine Sonntagsmessezu besuchen, schließe ich mich gernan. Rechtzeitig vor 17 Uhr finden wiruns dank der Empfehlung einerfreundlichen Mitarbeiterin des Ho -tels in einer an drei Seiten offenenKirche wieder. Es ist warm, woranauch die vielen Ventilatoren wenigändern. Es ist ein katholischer Got -tesdienst und kein Platz bleibt frei.Die Gaben werden zum Altar ge -bracht, eine schöne Sitte. BeimVaterunser fassen sich die Men -schen an den Händen, eine schöneSitte. Mit Gitarrenbegleitung undbegnadetem Vorsänger kommt derGemeindegesang ohne Orgel wun-derbar zur Entfaltung. Diese Stundetut mir gut.Inzwischen ist es Viertel nach

sechs geworden und es ist schondunkel. In einem Taxi, dessenTaxometer nicht funktioniert unddessen Fahrer unser Hotel nichtkennt, wird uns etwas mulmig zu -mute, doch alles geht gut. Auf derHotelterrasse verbringen wir denAbend und leeren einige FlaschenBier, die die Bedienung uns in einemEiskübel gebracht hat.Wieder berichtet Manfred mir von

dem, was ihn in seinem Lebengeprägt hat. Die zur Lepradiagnosebenötigten Kenntnisse verdankt ervor allem dem damals in Curitiba(Bundesstaat Paraná) wirkenden,inzwischen längst verstorbenenChirurgen Dr. Germano Traple, derihm vor 30 Jahren in ungezähltenStunden der Untersuchungspraxisviel vermittelte.

Montag, 28. NovemberWir werden gegen halb neun abge-holt, von Krankenschwester Sonia,der örtlichen Lepraärztin Dr. Dilmaund ihrem Fahrer. Unterwegs lassenwir noch Sozialarbeiterin Elisazusteigen. Wir sitzen also zu vierthinten, das geht am besten imZickzack – Elisa rückt vor, Dr. Dilmalehnt sich an, Sonia rückt vor, Dr.Haufe lehnt sich an. Darüber wirdnicht gesprochen, es funktioniert.Den auf einem Felsvorsprung

erbauten historischen Gouverneurs -palast hinter uns lassend erreichenwir über einen modernen Fahrdammdie Leprainsel von São Luis, anderen seewärtigem Ende die frühereLeprakolonie Bonfim liegt, die 1932–

1937 entstand. Im Gesundheits -zentrum, dem Ambulatorio AxilesLisboa, werden wir begrüßt und vondort in die Siedlung begleitet, in derheute noch viele geheilte Lepra -patien ten wohnen. Wieder habenwir Gelegenheit, mit einigen zusprechen. Auf einem kleinen Platzsteht ein ganz weiß gestrichenesmodernes Kirchlein Nra. Senhora delas Graçias von 1960. Später sehenwir die Kapelle von 1937, die heutebewohnt ist.Manfred hat erst vor wenigen

Monaten von Hannelore Vieth dieBetreuung der Projekte übernom-men, die die DAHW im BundesstaatMaranhão und in der HauptstadtSão Luis durchführt. Sonia und Elisasind DAHW-Mitarbeiterinnen, eineStruktur, die sich im staatlichenGesundheitswesen Brasiliens kaumnoch findet. Für Manfred ist unserBesuch in São Luis die gute Gele -gen heit, die Fortführung der Projek -te zu planen.Unser Gesprächspartner Flávio

Serafin Lisboa, der eines der altenSiedlungshäuser bewohnt, hat unserwartet, denn unser Besuch istangekündigt. Seine Eltern wohntenseit 1943 in diesem Haus. Als er1946 geboren wurde, trennte manihn von seinen Eltern und er wuchsim Waisenhaus auf. Dass er lepra-krank ist, wurde 1962 festgestellt,als er 16 war. Man steckte ihn imWaisenhaus in Quarantäne. Nach 25Tagen in diesem Gefängnis kam erzu seinen Eltern hierher. Befragtnach der Selbstverwaltung in derLeprakolonie, gibt er zur Antwort, eshabe keine Wahlen gegeben, dieVerwaltung sei stets von der stärk-sten Clique gestellt worden. Er weißvon Fluchtversuchen, die im Wat -ten meer zwischen der Leprainselund São Luis tödlich endeten. Under erinnert sich an einen Verwalter,einen Staatsbediensteten, derimmer ein Streichholz entzündete,damit er sicher war, dass er denLeprakranken mit Rückenwindbegegnete. Gegenüber besuchen wir die mit

74 Jahren älteste Bewohnerin derSiedlung. Sie hatte nacheinanderzwei Männer, die bereits gestorbensind, und heute traut sie keinem Be -werber zu, sie zu überleben. Späterzeigt uns Ana Maria, die Physio -thera peutin des Gesundheits zen -trums, Fotos von Gegenständeneines im Aufbau befindlichen Muse -ums einer ehemaligen Leprakolonie

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im südbrasilianischen BundesstaatMinas Gerais. Nach diesem Vorbildwill sie gern in Bonfim ebenfalls einMuseum gründen.In dem einfachen, am Ufer gele-

genen Musiklokal Stresse Zero mitBlick auf das entfernt gelegene SãoLuis bekommen wir nach langerWar tezeit gut zu essen. Am Nach -mittag besuchen wir die 85-jährigeMutter Antonina, zugleich Geist undHerz des Jugendzentrums Asso -ciação Assistencial Espirita „Lar deMaria“. Auch dank der tatkräftigenund finanziellen Unterstützung, dieHannelore Vieth vermittelt hat, ist es

in einem guten Zustand – mit geflie-stem Hof und praktischen Möbeln.Es ist in dem armen Stadtviertel,das aus der früheren Leprakoloniehervorgegangen ist, das einzigeSozialzentrum. Von hier aus besuchen wir einen

weiteren ehemaligen Leprapatien -ten, der nur noch ein Bein hat undfast blind ist, in seinem Haus. Mit 17kam er hierher. Auch er ist 65 Jahrealt. Viele Frauen wollen ihn heiraten,denn er hat Geld. Sehr klug hat erdie 30–40.000 Real, etwa 12–17.000Euro, die die Regierung ihm vorwenigen Jahren als Entschädigung

für erlittene Zwangseinweisungzahlte, weitgehend angelegt.

Dienstag 29. NovemberVormittags besuchen wir den Mittel -punkt der Lepraarbeit in Ma ran hão,das Centro de Saúde Dr. GenésioRêgo in São Luis. Das angeschlos-sene, neu erbaute Lepra-Rehabili ta -tionszentrum wurde durch die vonder DAHW beantragte För derungdes deutschen Bundes minis teriumsfür wirtschaftliche Zusammenarbeitmit physiotherapeutischen Spe zial -geräten ausgestattet. Krankenschwester Sonia vermit-

telt uns ein Gespräch mit einemwartenden Patienten. Er heißtRibamar und ist etwa 40 Jahre alt.Vor drei Jahren entdeckte er einen

Senhora Domingas, São Luis, StadtteilBonfim

Ehemalige Kapelle von 1937, São Luis, Stadtteil Bonfim

Physiotherapie, São Luis, Centro de Saúde Dr. Genésio Rêgo Ribamar

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Hautfleck am Knie. Seit einigenMonaten erhält er Medikamente. Diehohe Dosis des ersten Monatstageshat ihn stets geschwächt. Weil ersich intensiv mit der Krankheitbeschäftigt hat, ist er zum Expertengeworden. Er hat 18 Jahre als Gold -wäscher gearbeitet. In dieser Zeitmuss er angesteckt worden sein.Jetzt ist er technischer Mitarbeitereiner Privatuniversität in São Luis.Unmittelbar anschließend kommt

ein weiterer Gesprächspartner inunseren kleinen Besprechungsraum.Ricardo, etwa 65 Jahre alt, ist inBegleitung seiner Nachbarin insGesundheitszentrum gekommen.Sie hat ihn stets motiviert, sichbehandeln zu lassen. Er nimmt seiteinem Jahr Medikamente. Vor kur-

zem sind Hautknoten entstanden,was Manfred als Hinweis auf diemultibacillare Form Dimorfa-Vircho -viana deutet. Er wird vermutlichTalidomid erhalten. Für die Vergabewerden Unterschriften von drei Ärz-ten und eine Sorgfaltserklärung desPatienten benötigt.Dass die Lepra in Brasilien ein

soziales und auch politisches Pro -blem ist, bestätigt uns in einem kur-zen Gespräch der Leiter des Ge -sund heitszentrums. Keiner bemühesich, mit Lepra die Wahlen zu ge -winnen. In dem armen BundesstaatMaranhão sind 40 % der Bevölke -rung ohne Schulabschluss, aberunter den Leprapatienten sind 70 %ohne Schulabschluss.Das Mittagessen schmeckt uns in

einem guten Restaurant mit Blickauf das Meer. In der Nähe werden,wie wir das in allen Städten gese-hen haben, neue Hochhäuser ge -baut. In den besseren sind Eigen -tumswohnungen, die das ganzeStockwerk umfassen, für 1 Mio.Euro zu haben.Nachmittags besuchen wir noch

das Centro de Saúde AMAR, einStadtteilgesundheitszentrum. Hierarbeiten drei Familiengesundheits -teams: drei Ärztinnen, drei Kran ken -schwestern und 15 Gesundheits -agentinnen. Auf uns warten vier vonLepra betroffene Gesprächspartner.José dos Santos Pereira, 61 Jahre

alt, Ölarbeiter in Mato Grosso undjetzt in Manaus, ist in Behandlung,kann aber trotz aufgetretener Ner -venschmerzen weiter arbeiten.Manfred vermutet hier die multiba-cillare Form Dimorfa-Tuberculóide.Edeilsa Silva Rodrigues, 27 Jahre

alt, ist Arzthelferin. Sie wird seitneun Monaten behandelt, hatschwe re Nervenschmerzen, gegendie vermutlich Cortison gegebenwird, und wurde deswegen krankge-schrieben.Geadson Lobato Correa, 29 Jahre

alt, ist Soldat bei der Luftwaffe.Wegen seiner Nervenschmerzenwurde die Behandlung über zwölfMonate hinaus verlängert. Hier hät-ten, wie Manfred vermutet, stärkereCortisongaben geholfen. Oft werdeCortison aus Furcht vor Nebenwir -kun gen zu niedrig dosiert, so dasses wirkungslos bleibe.Danilo da Silva Lino, 21 Jahre alt,

ist Monteur in der Klimatechnik. Erhat nach sieben Monaten der Be -

José Edeilsa Danilo

Blick aus dem Hotel, São Luis

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handlung eine Fallhand, die durchNervenreaktionen verursacht seinmuss. Auch in diesem Fall wärenvermutlich, so Manfred, stärkereCortisongaben erforderlich.

Mittwoch 30. NovemberWenige Stunden vor meinem Ab -schied von São Luis und Brasilienerleben wir den Beginn eines dreitä-gigen Leprakurses im Centro de

Saúde Dr. Genésio Rêgo. Nachdemdie 30 Teilnehmerinnen und Teilneh -mer in drei Gruppen ihre Fragen andie Fortbildung entwickelt und ein-ander mitgeteilt haben, folgen Ein -führungsvorträge, die für mich nachzwei Wochen durch die LepraweltBrasiliens eine willkommene Zu sam -menfassung darstellen. Ich durftemich als Historiker unter anderemauch medizinisch fortbilden. DerDAHW und Manfred Göbel seiDank.

Ralf Klötzer, Münster

LiteraturHannah Lesshafft, Die LeprakolonieAntônio Diogo in Brasilien, in: DieKlapper 15, 2007, S. 10-12.Hannah Lesshafft, Towards a WorldWithout Leprosy. Hin zu einer Welt ohneLepra. Die 17. Internationale Leprakon -ferenz (ILC), 30. 1. bis 4. 2. 2008 inHyderabad, Andhra Pradesh, Indien, in:Die Klapper 16, 2008, S. 1-5.Jorge Justicia Perez, Ein spanischer Arztin Manaus. Bericht meiner Reise nachManaus (Brasilien) und der Arbeit in derLepraklinik Fundação Alfredo da Matta(FUAM), in: Die Klapper 17, 2009, S. 21-24.

Grundkurs Lepra, São Luis, Centro de Saúde Dr. Genésio Rêgo

Zu diesem Heft

1:10.000

10.000 ist eine Zahl, die man sich inMünster gut vorstellen kann. Etwa soviele Menschen wohnten im Spät mit -tel alter und in der frühen Neuzeit – imZeitraum zwischen 1200 und 1800 – inMünster, in der durch die Stadt mauersowie durch Wälle und Gräben befe-stigten Stadt zwischen Kreuztor undLudgeritor, zwischen Frauentor undMauritztor. Wenn im LeprahospitalKinderhaus höchstens etwa zehnMen schen lebten und wenn die dorti-ge Lebensdauer durchschnittlich etwazehn Jahre betrug, dann dürfte durch -schnitt lich jedes Jahr eine leprakrankePerson dort aufgenommen wordensein: Ein Leprafall pro Jahr unter10.000 Menschen.

Nur wenige werden leprakrank. DieLepra war und ist eine seltene Krank -heit, die gleichwohl in allen Zeiten undweltweit Schrecken verbreitet hat. Et -was mehr als 1:10.000 neue Leprafällepro Jahr gibt es in Indien und Brasi li -en, etwas weniger in anderen Ländern.Aber das Leprafällezählen kann ge -fährlich werden. Wenn die Verantwort -lichen sich nicht mehr kümmern, weilweniger als 1:10.000 neue Leprafällegezählt wurden, dann ist bald mit wie-der steigenden Zahlen zu rechnen.Das Mycobacterium leprae zeigt sich

in den Krankheitsfällen gewissermaßenimmer nur in der Spitze des Eisbergs.Es ist in einer von Lepra betroffenenGesellschaft, von der mein Reisebe -richt aus Brasilien handelt, viel verbrei-teter.

Durch eine hohe Mauer aus- und ein-geschlossen, waren die KinderhauserLeprakranken isoliert, weil von ihnenGesundheitsgefahren ausgingen, undsie waren als geistliche Gemeinschaftvon Hilfsbedürftigen durch die Mauervor den Gefahren der Welt etwas ge -schützt. Im Herbst 2011 ließ die StadtMünster nach Anregung durch die Ge -sellschaft für Leprakunde e.V. und dieBürgervereinigung Kinderhaus e.V. denMauerabschnitt an der Ostseite desehemaligen Leprosenhofes restaurie-ren. Davon berichtet Mechthild Men -ne bröcker. Zwei zugemauerte Fenster -öffnungen wurden entdeckt, die nochnäher interpretiert werden müssen.

Drei Berichte beziehen sich auf dieheilige Getrud von Nivelles, die früherePatronin der Kinderhauser Kapelle. Vordem Lepramuseum steht aufgrund ei -ner Stiftung von Frau Ulrike Wiedmannseit dem 9. November 2011 ein Ger -tru denbild. Schon zuvor fand am 17.März 2011 inzwischen im fünften Jahrdas Gertrudenmahl der Gesellschaftfür Leprakunde statt. Und am 27. Au -gust 2011 besuchten wir die heiligeGertrude, indem wir in Belgien dieStiftskirche in Nivelles besichtigten,was Ingomar Reiff darstellt. Im Nean -

derthal-Museum erhielten die Kusto -dinnen und Kustoden bei dem Besucham 11. Juni 2011 allerhand Anregun -gen – zur Menschheitsentwicklung wiezur Museumsdidaktik. Den von BettinaKnust entworfenen Bericht haben dieKustodinnen und Kustoden mit ihrenEindrücken angereichert.

Ein großer Tag für die junge Melaten-Gesellschaft Aachen e.V. war der„Melatentag“ am 7. Mai 2011. Von denvielfältigen Informationen, Aktionen,Darbietungen und Veranstaltungen aufdem Gut Melaten, dem früheren Lepro senhof der Stadt Aachen, berichtetHelma Rombach-Geier. Das Podiums -gespräch des Nachmittags mit mehre-ren Fachleuten aus verschiedenenWissenschaften schließt sich in über-arbeiteter Form an. Von der zweitenKinderhauser Tagung zur Geschichteund Rezeption der Lepra am 23. Juli2011 berichten Mathias Schmidt undKai Singhal. Weiter stellt CarolineTronnier ihre Bremer Bachelorarbeitzur Leprageschichte vor, zu der siesich vom Lepramuseum in Münsteranregen ließ. Eine Projektwoche desAnne-Frank-Berufskollegs in Münster,die vom 17. bis 21. Oktober 2011 imLepramuseum stattfand, hier beschrie-ben und kritisch gewürdigt von AlbertHorstmann, war in mancher Hinsichtinnovativ.

Ralf Klötzer, Münster

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Unter dichtem Efeu war bis 2010 einweiterer Teil der historischen Einfrie -digungsmauer des ehemaligen Le -prosoriums Kinderhaus versteckt. Erschließt an den Zugang von derStraße bei der Kirche nach Nordenan und ist Teil der Abgrenzung desLeprosoriums nach Osten. EineMauer war aus dem Verständnis,dass Lepra eine ansteckendeKrank heit ist, bei Gründung desLepra hospitals im 14. Jahrhunderterforderlich, um die Leprakrankenvon der Außenwelt abzusondern.Da rüber hinaus diente sie demSchutz der hier lebenden Kranken.

Im Jahr 2009 regten Gesellschaftfür Leprakunde e.V. und Bürgerver -ei nigung Kinderhaus e.V. an, denEfeu bis auf das Wurzelwerk abzu-schneiden, was am 1. März 2010erfolgte. Sichtbar wurde die histori-sche Mauer des Leprosoriums aushandgestrichenen Backsteinen mitbewegter Oberfläche und einemFarbenspiel in Rot. Dieses ergibtsich aus den verwendeten Materi -alien und der Fertigung im Hand -strich verfahren. Backsteine beste-hen aus einem Gemisch aus Ton,Lehm und Sand aus den Gruben vor

Ort, die in Holzrahmenschablonengepresst und per Hand glatt gestri-chen wurden, bevor sie gebranntwurden. Durch die Verwendung derSchablonen entstanden Backsteinevon gleichmäßiger Größe, die zueinem regelmäßigen Verband ver-mauert werden konnten. Die älte-sten Hinweise auf diese Art derHerstellung von Backsteinen verwei-sen ins 12. Jahrhundert in Nord -deutsch land, in eine Zeit, in der umMünster eher noch Sandstein ver-wendet wurde.

Das Format der Backsteine miteiner Länge von 27–29 cm und einerHöhe von über 7 cm, das der Größeder Steine in der benachbartenMau er entspricht, belegt wieder eineBauzeit in den Anfängen des Lepra -hospitals Kinderhaus zu Beginn des14. Jahrhunderts. Ein solches Mau -er werk hält über Jahrhunderte, dafürist die Mauer in Kinderhaus einwunderbarer Beweis.

Gegenüber der Kapelle und Kir -che steht eine Mauer, die ihre Wir kung von der Innenseite desLepro soriums entfaltet. Stattlich,fast bedrohlich, erhebt sie sich vor

dem Betrachtenden und entsprichtden Bedingungen zur Bauzeit, dahier noch die alten Geländehöhenvorhanden sind. Für die isoliertenLeprakranken war die Mauer un -überwindbar, ein Kontakt nachaußen nicht möglich. Und trotzdemgab es eine Ausnahme, auf diegleich näher eingegangen wird.

Um diese Mauer über weitereJahrhunderte zu bewahren, musssie gepflegt werden. Im 20. Jahr -hun dert wurde häufig ein falsches„Pflegemittel“ verwendet, nämlichder Austausch der sandenden Kalk -fugen durch harte Zementfugen. DieZementfuge zersetzt und sprengtden weichen Backstein, da einewichtige Grundformel der Bauphysiknicht beachtet wird. Es müssenMaterialien gleicher Festigkeit mit-einander verwendet werden. Soführt der Zement das Wasser anden weicheren Stein ab. Tempera -tur schwankungen und insbesondereFrost bewirken dann Sprengungensowie die schnelle Verwitterung desBacksteins.

Der Efeu hat den Prozess be -schle unigt. Wenn Mauerwerk brü-

Letzter Mauerabschnitt des früherenLeprahospitals Kinderhaus restauriert

Zustand 2010 Foto: Walter Schröer

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chig wird, dann setzen sich dieTriebe des Efeus in den Fugen festund entwickeln eine zusätzlicheSprengwirkung. Vom Grün befreitwar der Schaden bei der Mauer inKinderhaus deutlich erkennbar. DieMauerabdeckung, die aus schräggestellten Backsteinen geschütztdurch Hohlziegel bestand, war größ-

tenteils brüchig. Wasser konntedirekt ins Mauerwerk eindringen.Kurzfristiges Handeln war geboten,und so wurde zunächst zur Über-winterung ein Hut aus zwei schräggestellten Mitteldichten Holzfaser -platten (MDF-Platten) aufgesetzt.Das Wasser konnte nicht in dasMauerwerk eindringen, der Frost

somit seine Sprengwirkung nichtentfalten.

Im Jahr 2011 wurde dann abMitte September innerhalb von dreiWochen die Mauer restauriert,schäd liche Zementfugen wurdendurch eine weiche, hydraulischeKalkfuge ersetzt. In einem kleinenBereich war die ältere Kalkfugeerhalten und wurde geschützt. DerNeumörtel konnte in der Zusam -mensetzung und Farbigkeit auf denAltmörtel abgestimmt werden undes entstand wieder ein harmoni-sches Gesamtbild. Nur wenigeBacksteine in der Fläche musstenersetzt werden. Dieses ist nur dannerforderlich, wenn die Verwitterungso weit fortgeschritten ist, dassWasser nicht ablaufen kann, son-dern in das Mauerwerk eindringt.Die schräge Mauerabdeckung wur -de mit alten Backsteinen er gänzt,die das Format und die Farbigkeitder originalen Steine haben. Etwaslänger dauerte die Suche nach demZiegel für die Abdeckung. NeueFirstziegel passen in Größe undFarbigkeit nicht annährend, so dassbei den Abschlussarbeiten im No -vember 2011 historische Hohlziegelverwendet wurden.

Die schon bei der Restaurierungdes ersten Mauerabschnitts festge-stellte Eigentümlichkeit wurde auchhier entdeckt. An der Außenfrontbestehen an zwei Stellen zugemau-erte Öffnungen mit je vier Back -steinen übereinander, die nicht mitder Mauer verzahnt sind. DieseSpalte öffnet sich nach Innen zueiner Fenstergröße, die zugemauertwar. Diese innere Öffnung wurdefreigelegt. Es könnte sich um Ha -gioskope handeln. Durch die Mauer -öffnungen und Sehschlitze hattendie Leprakranken die Möglichkeit,religiöses Geschehen außerhalb desLeprosoriums und insbesondere aufdem Kirchhof wahrzunehmen.

Mechthild Mennebröcker, Münster

LiteraturMechthild Mennebröcker, KinderhauserMauer sorgfältig restauriert, in: DieKlapper 16, 2008, S. 26-27.

Foto: Walter Schröer

Foto: Walter Schröer

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Im Heiligenhäuschen vor der Kin -der hauser Josefskirche steht seitfast 400 Jahren eine Sandstein -skulp tur der heiligen Gertrud mitzugehöriger Inschriftentafel „SanctaGertrudis virgo patrona huius eccle-siae Anno 1618“ (Heilige Gertrud,Jungfrau, Patronin dieser Kirche imJahr 1618), denn die heutige Jo -sefs kirche war bis 1672 der heiligenGertrud geweiht. Am 9. November2011 wurde – keine hundert Meterentfernt – vor dem Eingang desLepra museums ein modernes Ger -trudenbild aufgestellt, gestiftet vonder Kinderhauserin UlrikeWiedmann.

Sie hatte vor Jahrzehnten vonihrem Vater Josef Allhoff den Stein -rahmen eines Kreuzwegbildes über-nommen, der um 1960 am Husen -

berg in Balve wegen dortiger Auf -stellung eines neuen Kreuzwegesnicht mehr gebraucht wurde. DiesenRahmen wollte sie mit neuem Bildversehen lassen und in Kinderhausaufstellen, um ihn seiner ursprüngli-chen religiösen Bestimmung undzugleich auch der Öffentlichkeitzurückzugeben.

Der dunkle Steinrahmen der Bal -ver Kreuzwegstation aus AnröchterDolomit wurde von dem Steinmetzund Bildhauer Stefan Lutterbeck inEverswinkel durch einen modernenSockel passend ergänzt. In denSteinrahmen hat der Künstler nacheiner gezeichneten Bildvorlage der92-jährigen Mutter von UlrikeWiedmann, Frau Dr. MargaretheAllhoff-Vennbur, in BaumbergerSandstein eine Reliefdarstellung der

sitzenden Gertrud mit Stab, zweiMäusen und Buch eingefügt. DasHeiligenbild ist am 14. November2011 feierlich geweiht worden.

Zunächst hatte die Stifterin HerrnWalter Schröer um Rat gebeten,den Vorsitzenden der Bürgerver -einigung Kinderhaus e.V., die dasbe nach barte HeimatmuseumKinderhaus betreibt. Da der gemein-same Wunsch war, den Steinrahmenmit Sockel und Bild an einem ge -schützten Ort aufzustellen, der den-noch der Öffentlichkeit zugänglichist, schlug Herr Schröer vor, für denRahmen mit heiliger Gertrud einenPlatz vor dem Lepramuseum zuwählen. Der jetzige Standort rechtsdes Eingangs wurde von den Betei -ligten mit Frau Mechthild Menne -bröcker, Städtische DenkmalpflegeMünster, abgestimmt.

Die Gesellschaft für Leprakundee.V. dankt der Stifterin Frau UlrikeWiedmann sehr herzlich.

Ralf Klötzer, Münster

Neues Gertrudenbild vor dem Lepramuseum

Foto: Walter Schröer Foto: Walter Schröer

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Heiligentage bestimmten im christ li -chen Mittelalter den Jahreskalen der.Wenige sind noch im allgemeinenBewusstsein, so der Nikolaus tag,der 6. Dezember, oder der Martins -tag, der 11. November. Am 17. Märzfeiern die Iren den Saint Patrick’sday, den Tag ihres Nationalheiligen,die Mitglieder der Gesellschaft fürLeprakunde e.V. jedoch den Tag derheiligen Gertrud, was erklären könn-te, warum bisher noch kein Ire derGesellschaft für Leprakunde beitrat.

Viele Jahre lang bemühte sich dieGesellschaft für Leprakunde, mitSonderführungen am 17. März aufdiesen Tag aufmerksam zu machen.Es gelang damit jedoch kaum, denTag der heiligen Getrud im Bewusst -sein der Öffentlichkeit zu verankern.Als unser Mitglied Franjo Luigs 2006mir in seiner ihm eigenen Art mitNachdruck vorschlug, für die Mit -glie der und Gäste der Gesellschaftfür Leprakunde e.V. gelegentlichoder einmal jährlich ein geselligesAbendessen anzubieten, da verban-den sich die beiden Gedanken„Ger trudentag“ und „Abendessen“zu dem neuen Gedanken „Gertru -den mahl“.

Inzwischen haben wir in fünf auf-einander folgenden Jahren 2007–2011 das Gertrudenmahl veranstal-tet und jeweils 24 bis 40 Gästinnen(altes Wort) und Gäste bewirtet. Esgibt keinen 17. März, der nicht inder 40-tägigen vorösterlichen Buß-und Fastenzeit liegt. Aus diesemGrund aßen die Leprosen in Kinder -

haus an diesem für sie hohen Fest -tag, nämlich dem Festtag der Patro -nin ihrer Kapelle, niemals Fleischoder Erzeugnisse von warmblütigenTieren: keine Butter, keine Milch,keinen Käse, keine Eier. Selbstver -ständlich gab es außerdem diemodernen Gemüsesorten undFeldfrüchte für sie nicht: Es gab kei -ne Kartoffeln, Tomaten, Zucchini ...

Beim Gertrudenmahl der Gegen -wart wird festlich gespeist – in An -lehnung an Speisepläne der Kinder -hauser Leprosen um 1600. DieSpeise gewohnheiten in Lepro sen -hospitälern waren denen in Klösternähnlich. Zur festlichen Tafel gehörtedas Alltagsessen und zusätzlichetwas Besonderes. Die beidenHauptgänge des Gertudenmahlsumfassen deshalb sowohl Stock -fisch (getrockneter, dann einge-weichter und gegarter Kabeljau), derdamals nicht viel kostete, dann aberzusätzlich einen teuren Fisch wieSalm, Stinte, Forellen. Hilfsmittelsind nur Löffel und Messer, dennGabeln gebrauchte man um 1600nicht.

Als erster Gang wird Suppe ge -ges sen, die gehört noch zur All tags -

kost. Es ist zum Beispiel eine Bier -suppe mit Graupen und Linsen. DasBier war Grundnahrungsmittel undwird als einziges Getränk angeboten(auch alkoholfrei). Die Beilagen ge -müse zu den Fischen sind vielfältigund könnten aus dem Gemüse -garten der Leprosen stammen: Wir -sing und Zwiebeln, Erbsenpürree,Möhren, Pastinaken, Sellerie. ZumNachtisch, der zur festlichen Speisegehörte, gibt es ein mit Honig undPfeffer gewürztes Gebäck.

Beim Gertrudenmahl geht es nichtnur ums Essen. Mitglieder und Gäs -te der Gesellschaft für Leprakundetreffen sich zum zwanglosen und oftheiteren Gespräch und spüren eineVerbindung zu den Leprakrankender Geschichte wie der Gegenwart.Dass dies bereits fünfmal gelungenist, verdanken wir auch der WIVO,der Wirtschafts- und Versorgungs -dienst GmbH in Hamm und Müns -ter, die nicht nur für EvangelischeKrankenhäuser kocht, sondern dienach eingehenden Besprechungender Speisenfolgen uns bisher immerzuverlässig beliefert hat.

Ralf Klötzer, Münster

Fünf Jahre Gertrudenmahl 2007–2011

Gertrudenmahl 2011Gertrudenmahl 2007

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Die heilige Gertrude von Nivelles(626–659) war die Tochter vonPippin dem Älteren und seiner FrauIduberga, also eine Vorfahrin Karlsdes Großen. Ihre Mutter gründetedie Abtei zu Nivelles um die Mittedes 7. Jahrhunderts. Bereits mit 14Jahren trat Gertrude in die Abtei einund leitete sie als Äbtissin ab 652bis zu ihrem frühen Tod. Gertrudegründete ihrerseits die Benediktine -rinnenabtei in Karlburg in Unterfran -ken. Ihre Konvente nahmen sichbesonders der Armen, Kranken undGebrechlichen an. Gertrude sorgteauch für fahrende Schüler undWandergesellen und ließ ein Spitalfür irische Wandermönche erbauen.So wurde sie die „Schutzheilige derLandstraße“ und der Armen undKranken.

Auch in Münster-Kinderhaus warsie über Jahrhunderte (bis 1672) dieSchutzheilige der heutigen Pfarr kir -che St. Josef und wurde von denInsassen des Leprosoriums sehrverehrt. In Wiederaufnahme des mit-telalterlichen Brauchs des „Gertru -denmahls“ jeweils am 17. März, ih -rem Todestag, wird heute im Lepra -museum an sie erinnert.

Um Näheres über die heilige Ger -trud und die Stätte ihres Wirkens zuerfahren, besuchten am 27. August2011, einem Samstag, vier Mitglie -der der Gesellschaft für Leprakundee.V. die wallonische Stadt Nivelles inBelgien. Sie liegt im südlichen Um -land von Brüssel. Nach dreieinhalbStunden Fahrt erreichten wir dasZiel und gingen wenige hundertMeter zur Stiftskirche Sainte-Ger -trude, deren Türme wir schon vonWeitem gesehen hatten. Gegenüberder Kirche begrenzt das Justizge -bäude den Markt, ein rot-weißerBacksteinbau im Stil des Historis -mus aus dem 19. Jahrhundert. VomMarkt aus geht es um die östlicheApsis an der Südseite des langgestreckten Kirchenschiffs mit denbeiden Querschiffen entlang zumWestportal mit dem gedrungenenTurmbau, der über der ehemaligenwestlichen Apsis aufragt. Das südli-che der beiden seitlichen Türmchenträgt am obersten Tambour einegolden leuchtende Ritterfigur, diemit ihrem Hammer eine Stunden -glocke schlägt. Von Ferne meint

man, es sei eine Tänzerin, weil dieFigur des Ritters Jean de Nivellesüber der Rüstung ein Falten röck -chen trägt.

Rechts neben der Rundung derwestlichen Apsis liegt unter einemkleeblattförmigen Fenster dasschlichte Portal, mit einem schwe-ren Gitter verschließbar. Beim Ein -tritt gelangt man also zunächst indas südliche Seitenschiff. Die stren-ge Architektur mit den starken vier-eckig gemauerten Säulen, die dieRundbögen tragen, kombiniert mit

einem Kreuzgratgewölbe, gibt denBlick frei auf einen barocken Altarmit Gemälden aus dem 17. und 18.Jahrhundert. Tritt man ins Haupt -schiff, sieht man über das Kirchen -gestühl in die östliche Apsis mit dreiBogenfenstern über dem Altar undeiner Darstellung des jüngsten Ge -richts. Die flache Balkendecke liegtdem massiven Mauerwerk über denBögen auf. Mittig steht die Kanzelmit den Marmorskulpturen vonChristus und der Samariterin desBildhauers Laurant Delvaux ausGent, kombiniert mit Holzschnitze -

Besuch bei der heiligen Gertrude in Nivelles

Epitaph, vorn Jakobspilger und hl. Gertrud

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reien von Lièvre. Der weiße Marmorkontrastiert stark mit dem dunklen,lackierten Holz. In diesem Altar sindStilrichtungen von Barock, Rokokound Neoklassizismus verbunden.Für mich wirkte die prunkvolle Kan -zel eher wie ein Fremdkörper in demstilistisch streng gehaltenenKirchenraum.

Am Ende des südlichen Seiten -schiffs stößt man auf die Gertruden -kapelle, in der eine bunt bemalteund mit Ordenstracht und mit Her -melin besetztem Mantel bekleidete

Statue der heiligen Gertrude ausdem 17. Jahrhundert und gegen-über unter einem Glassturz eine inGold und Silber gehaltene Büste derHeiligen stehen. Beide Figuren hal-ten in der Rechten den Äbtissinnen-stab und in der Linken ein Buch.Zwischen den beiden Heiligen sta -tuen finden wir den modernen sil-bernen Reliquienschrein von 1982,der die Reliquien von St. Ger trudebirgt. An den Wänden vor der Ka -pelle sind Grabtafeln angebracht,die Schädel oder ein Skelett zeigen.Neben dem Altarraum führt eineTreppe in den Keller (zu den Ausgra -bungen) und zur Krypta. Auf dergegenüberliegenden Seite im nördli-chen Seitenschiff gelangt man ineinen Raum mit sehr schönemRenaissance-Chorgestühl, phanta-sievoll mit Gesichtern und Figurenherrlich geschnitzt. Hier saßen dievornehmen Stiftsdamen währendihres täglichen Gottesdienstes, eswar also ein „Damenchor“. DieStifts kirche der heiligen Gertrud, dieso groß ist wie der Paulusdom inMünster, war eine Doppelstifts kir -che. Neben den 40 Damenpfrün dengab es auch 32 Herrenpfrün den.

Der nördliche Seitenausgang führtin den Kreuzgang der Klosteranlageund erlaubt einen Rundgang. Zahl -reiche teils beschädigte Glockensind unter dem Dach des Kreuz -gangs und auf dem Rasen aufge-stellt. Dazwischen leuchten bunteBlumenrabatten. Auch auf den

Glocken kann man Darstellungender heiligen Gertrude neben Dar -stellungen der Jungfrau Maria undanderen entdecken. An den Wändenfinden sich wieder mittelalterlicheund jüngere Grabtafeln mit Ritter -gestalten, Totenschädeln und ma -kabren Skeletten. Während einerTrauung in der Kirche konnten wirabseits des Geschehens nochWeiteres entdecken: eine farbigbemalte Gertrudenstatue vom Endedes 17. Jahrhunderts, der eine riesi-ge Ratte am linken Bein hochklet-tert; eine halbplastische Marmor -skulptur mit Christus am Kreuz; imVordergrund rechts die Heilige wie-der mit Buch und Stab; vor demwestlichen Chor große Holzstatuender heiligen Gertrude „mit trium-phierender Geste“ sowie die ihresVaters Pippin des Älteren in römi-scher Kaiserkleidung von dembereits erwähnten Künstler LaurantDelvaux aus dem 18. Jahrhundert.Vor diesen ist ein sehr alter „Um -zugs wagen“ aus Eichenholz aufge-stellt, auf dem beim alljährlichenGertruden-Umzug der Reliquien -schrein transportiert wurde. Er istmit bemalten Holztafeln aus der Zeitum 1460 verziert, die die Wundervon St. Gertrude zeigen. In einemSeitenaltar steht unter Glas einesehr schön bemalte Statue derJung frau Maria in betender Haltungaus dem 15. Jahrhundert. Hinter ihran der Wand sind Reste einerFresko malerei zu erkennen, die dieheilige Barbara darstellen, aberstark verwittert sind. Holzstatuender vier Apostel stehen vor dieserNische, von denen besonders Pe -trus mit dem goldenen Hahn zu

Reliquienbüste

Kreuzgang

Westwerk

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seinen Füßen herausleuchtet, eben-falls von Delvaux.

BaugeschichteUm 14 Uhr begann unsere Führungmit Herrn Walter Gries. Zwei franzö-sische Gäste waren mit von derPartie. Herr Gries sprach franzö-sisch, rücksichtsvoll langsam unddeutlich, so dass wir alles recht gutmitverfolgen konnten. Wir erfuhren,dass das Gestühl, sämtliche Schnit -ze reien und Holzplastiken in derKirche ursprünglich farbig bemaltwaren, dann aber abgebeizt wurdenund unter dem aggressiven Abbeiz -mittel oft gelitten hatten. Spannend

wurde es für uns, als es in dasKeller geschoss ging, zuerst zu denalten Grundmauern aus merowingi-scher Zeit. Im Zweiten Weltkriegwurden die Kirche und die umlie-genden Wohnhäuser durch einendeutschen Bombenangriff zerstört.Bei den Aufräumarbeiten und beiAusgrabungen von 1948 bis 1984fand man unter dem Mittelschiff derKirche zahlreiche Fundamentreste,bedeutende Zeugnisse für die Ent -wicklung der Kirche von frühesterZeit an.

Um 600 lagen zunächst dreiKirchen nebeneinander, die nördli-

che Église St. Paul, in der Mitte dieÉglise Notre Dame und südlich dieÉglise St. Pierre, die kleine Grab -legungs kirche der Gemeinde, in derdie heilige Gertrude 659 beigesetztwurde. Ihre Gebeine wurden sechsJahrhunderte später in einen goti-schen Reliquienschrein (1298) um -gebettet. Die Entwicklung des Ger -trudenkultes und der Zustrom vonPilgern sorgten für eine beträchtli-che Erweiterung dieser Kirche. Fünfaufeinander folgende Bauabschnittewurden hier nachgewiesen, zweiErweiterungsbauten aus merowingi-scher Zeit (Mitte und Ende des 7.Jahrhunderts), zwei Bauphasen inkarolingischer Zeit (im 9. und 10.Jahrhundert) und eine fünfte PhaseEnde des 10. Jahrhunderts. In denfreigelegten ältesten Bereichen fan-den sich die ausgemauerten Gräberder heiligen Gertrude, von Ermen -trudis, einer Enkelin Hugo Capets,sowie von Himeltrudis, vermutlichder ersten Frau Karls des Großen,deren Gebeine man unter Glas imGrab erkennen kann.

Anfang des 11. Jahrhundertswurde der Bau der heutigen monu-mentalen Gertrudenkirche in spätka-rolingischem Stil begonnen. Nacheinem Brand und weiterem Ausbaukonnte 1046 im Beisein König Hein -richs III. die Kirche geweiht werden.Interessant ist die Anlage desHaupt schiffs mit jeweils einer Apsisan beiden Enden, ein Architek tur -merkmal der spätkarolingischenEpoche. Das Kirchenportal befand

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sich damals auf der südlichenBreitseite der Kirche. Ein spätroma-nischer Vorbau folgte Ende des 12.Jahrhunderts. Im 13. Jahrhundertwurde der Kreuzgang auf der Nord -seite des Kirchengebäudes fertiggestellt, von dem nur noch ein Teilim Original erhalten ist, der Rest istrestauriert. Im 17. Jahrhundert wur -de die westliche Apsis durch einweiteres Barockportal ersetzt. Im18. Jahrhundert brachte man modi-schen Stuck und Holzvertäfelungenein und verfremdete so die strengeromanische Architektur.

Herr Gries zeigte uns ein Foto derzerstörten Kirche, wie sie nach demdeutschen Bombardement 1940und dem folgenden Brand aussah.Die verkohlten Mauern ohne Dach -stuhl, umliegende Häuser ebenfallszertrümmert und niedergebrannt –ein ergreifendes Bild. Auch die

Kunst werke im Inneren der Kirchewaren teilweise stark zerstört wor-den. Bei der Restaurierung derKirche, die 1948 begonnen und1984 abgeschlossen wurde, achteteman auf den strengen romanischenStil mit Mauerwerk aus schlichtemStein. Hierbei stellte man nicht denZustand vor dem Krieg wieder her,sondern rekonstruierte weitgehenddas mittelalterliche Vorbild.

Andächtig marschierten wir umdie Mauerstümpfe der merowingi-schen Zeit, betrachteten an derRückwand erstaunt die Moulageeines karolingischen Reliefs ausdem romanischen Damenchor –unter Moulagen hatte ich mir bishernur Wachsmodelle von Krankheits -bildern vorgestellt. Fotos aus derAusgrabungsphase zeigen, wiemüh selig die Arbeiten gewesen seinmussten. Erstaunlich ist die guteErhaltung der Gebeine, die immer-hin etwa 1400 Jahre alt sind.Danach stiegen wir im Keller eineEtage höher und betraten die Kryptader Kirche, in der acht graniteneSäulen das Deckengewölbe tragen.Die Bestuhlung zeigt, dass dieKryp ta für Gottesdienste genutztwird. An den Wänden hängt unteranderem eine Tafel mit ovalem ge -wölbtem Schriftfeld mit lateinischemLob der heiligen Gertrude, umgebenvon neun Familienwappen, und imHintergrund eine weitere Statue derheiligen Gertrude. Manches blieb inder Dunkelheit verborgen.

Wieder oben konnten wir dieApsis mit Altar und Freskomalereinur kurz sehen, weil bereits dieGäste für eine neue Trauung eintra-fen. Deshalb entging uns die Wand -malerei aus dem 14. Jahrhundert,das Martyrium des heiligen Lorenzdarstellend. Auf dem Weg zur West -apsis mit den Modellen der Kirchevor und nach der Restaurierungkamen wir wieder zu der Madon -nen statue aus dem 15. Jahrhunderthinter Glas, die wunderbar erhaltenist. An dieser Madonnenstatuekonnten wir sehen, wie ursprünglichwohl alle Holzfiguren bemalt waren.Ungewöhnlich ist die jugendlichnaturalistische Darstellung der heili-gen Jungfrau, die ihre Hände zumGebet aneinanderlegt.

Zum letzten Teil der Führung stie-gen wir die Wendeltreppe im Kirch -turm hinauf bis in den ehemaligenKaisersaal. Drei mächtige Kuppelnbilden die Decke des Saales. Erhelltwird er durch eine durchgehendeReihe von Zwillingsfenstern. Wofürdieser riesige Raum einst gedienthat, weiß man nicht. Heute wird erals Museum genutzt. Interessantwar die Beschreibung der Konstruk -tion der mittleren, größten Kuppel:Die Wölbung scheint aus Steinengemauert zu sein. In Wirklichkeitwurde über dem Saal eine mächtigeBetonglocke errichtet, und jeder dervermeintlichen Gewölbesteine istmit einem Stift in dieser Beton -kuppel fest verankert.

Von dem alten silbernen, vergol-deten Reliquienschrein waren nachdem Bombenangriff und dem Brandnur kleine Bruchstücke übrig geblie-ben, die unter zwei großen Glas stür -zen entsprechend ihrer ursprüngli-chen Anordnung ausgestellt sind,darunter auch Kopf und Oberkörperder heiligen Gertrude. Bis insKleins te detailgetreu nachgearbeitetsteht an der Nordwand die Replikdes alten Schreins aus dem 13.Jahr hundert in silbernem und golde-nem Glanz. Weitere Glasstürzeschützen wertvolle Sakralgegen -stände und Statuen: Eine Reihe vonHeiligenfiguren, darunter eine sehrschöne weiße Marmorstatue derheiligen Gertrude mit Buch, an derwieder eine Ratte, diesmal am rech-ten Bein, hochklettert; bunt bemalteFiguren des irischen Einsiedler -mönchs Ficarius (nach dem derWiener Fiaker benannt ist), und des

Grab der hl. Gertrud, 7. Jahrhundert

Walter Gries

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Bischofs Saint Ghislain mit demMo dell einer Kirche im linken Arm,sowie eine Marmorstatue desBischofs Saint Amandus von Gent,im 7. Jahrhundert persönlicher Be -ra ter der Seligen Ida von Nivelles.

Die Statue scheint einen verkürztenrechten Arm zu haben. Sie stammtvom Anfang des 16. Jahrhunderts.

Den Abschluss unseres Rund -gangs bildete – eine Treppe tiefer –

die St. Gertruden-Kapelle, die ihrLicht durch das kleeblattförmigeFenster erhält, das wir von Westenher über dem Portal der Kirche ge sehen hatten. Von hier aus hatman einen großartigen Blick in dasHaupt schiff der Kirche. Oben amÜbergang der Säulen in die Run -dung der Kuppel sind in denZwickeln bunte Blumenrankenerhalten. Auffällig ist ein StückMauer mit einer daneben stehendenGranitsäule. Zwischen beiden ist einAbstand von etwa 40 Zentimetern.Mönche, die durch diesen Spaltpassten, kamen angeblich in denHimmel, die anderen in die Hölle.Die erheiternde Erklärung: Wer allzusehr der Völlerei gehuldigt hatte,musste dafür im Jenseits büßen.

Schließlich bedankten wir uns miteinem kleinen Obulus herzlich beiHerrn Gries und verabschiedetenuns von ihm und dem französischenEhepaar. Bei Sonnenschein sagtenwir der heiligen Gertrude und ihrerKirche Adieu. Nach wieder etwadreieinhalb Fahrstunden, die HerrJust unter den mustergültigen karto-graphischen Anweisungen HerrnKlötzers mit Bravour zurücklegte,kamen wir wohlbehalten, aber vomlangen Sitzen steif wieder amLepra museum in Kinderhaus an.Frau Rombach-Geier musste nochnach Bünde zurückfahren. Wirwaren sehr froh, dass wir die weite,aber lohnende Fahrt unternommenhatten und stellten einhellig fest,dass wir eine Menge Neues gese-hen und gehört hatten. Mit herzli-chem Dank und der Entrichtungeiner milden Beteiligung an denSpritkosten trennten wir uns, ver-säumten aber nicht, unsere „Wall -fahrt“ noch im Gästebuch desLepra museums zu verewigen.

Ingomar Reiff, Münster

Nicht jeder passt hier durch

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Der diesjährige Kustodenausflugführte die Kustodinnen und Kus to -den des Lepramuseums am 11. Juni2011 nach Mettmann bei Düssel -dorf, um das weltberühmte Nean -der thal-Museum zu besichtigen undAnregungen von dessen museums-didaktischer Konzeption mit nachMünster zu nehmen. Die Neugestal -tung des Lepramuseums wird seiteiniger Zeit vorbereitet und alle, diemit Ideen und Vorschlägen daranbeteiligt sind, nehmen mit Interessejede Anregung auf.

Östlich von Düsseldorf hat sichdas Flüsschen Düssel eine tiefe

Schlucht in die Kalkfelsen gegra-ben: das Neandertal, benannt nachdem in Bremen geborenen Düs -seldorfer Theologen JoachimNeander († 1680). In einer Felsen -höhle wurden 1856 menschlicheKnochen gefunden, die später nachdiesen Funden der vor 30.000 Jah -ren ausgestorbenen Menschen artHomo sapiens neanderthalensiszugeordnet wurden.

In der Nähe des durch Abbau derKalkfelsen im 19. Jahrhundert leidervernichteten Fundorts liegt heutehinter einem höhlenartigen moder-nen Eingang das Neanderthal-

Museum, das hier 1996 neu errichtworden ist. Die Dauerausstellungwird in einer großen Museumshallein einem gestreckten schneckenarti-gen Wendelgang präsentiert, in demsich die Besucherinnen und Besu -cher ohne bauliche Raum gliederungvon Themenfeld zu Themenfeld wei-ter und fast unmerklich aufwärts be -wegen, falls gewünscht mit Unter -stützung eines guten Audioführers.Kinder und Erwachsene können vielentdecken: in den Schubladen -schrän ken und auch im archäologi-schen Sandkasten. Im Rahmen deroffenen Gestaltung werden dieThemenfelder in großzügigen, gutausgeleuchteten Vitrinen und aufTafeln bündig, anschaulich und aufdas Wesentliche reduziert dargebo-ten, so dass man kapitelweise fort-schreitet, bis der lange Weg schließ-lich in den Ort des Glücks mündet:das Museumscafé.

Mit Interesse folgten die Kusto din -nen und Kustoden zunächst einergut ausgearbeiteten, auf Schul -klassen zugeschnittenen Füh rungzum Thema „Schöpfungs glaube undEvolutionstheorie“. Danach nutztensie die Möglichkeit, das Neanderthal-Museum genauer zu erkunden.Vieles blieb haften und konnte beimgemeinsamen Kaffee trinken auf derDachterrasse des Neanderthal-Museums noch nachwirken.

Die Neandertaler lebten in Afrika,Asien und seit etwa zwei MillionenJahren auch in Europa. Sie warendem heutigen Menschen, demHomo sapiens sapiens, der sichüber lange Zeit parallel entwickelte,viel ähnlicher als man früher meinte.Mit ihrem stämmigen Körperbauund ihrer anderen Kopfform unter-schieden sie sich zwar vom jetzigenMenschen, aber modern gekleidetwürden die Unterschiede wenigerdeutlich auffallen.

Inzwischen wurde die Anatomiedes Rachenraums näher untersuchtund man vermutet, dass die Nean -der taler sprechen konnten. Sie be -herrschten das Feuer und ernährtensich vor allem von dem Fleisch er -legter Tiere. Aus der Ernährung desHomo sapiens neanderthalensiskann man auch für heute lernen: DieNeandertaler nahmen mit ihrer Nah -

Besuch des Neanderthal-Museums

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rung wenig Kohlenhydrate zu sich.Sie hatten deswegen kaum größereProbleme mit Karies und mit Fett -leibigkeit. Die getreide- sowie diezuckerhaltige Nahrung kam erstspäter. Nachgewiesene Bestat -tungsriten lassen darauf schließen,dass, vom Totenkult ausgehend, einreligiöses Bewusstsein vorhandenwar. Durch die Sprachfähigkeit wares möglich, Gedanken und Ideen imAustausch weiter zu entwickeln.

Man kann im Shop des Nean der -thal-Museums 300 Millionen Jahrealte Versteinerungen erwerben. Ins -gesamt ist die Thematik des Mu se -ums erdgeschichtlich eingebettetund auf die Entwicklung des Lebensbezogen. Der Schwerpunkt liegt aberauf der Menschheitsentwick lung.

Als im Erdzeitalter des Tertiär voretwa 20 Millionen Jahren durch Be -

wegungen der tektonischen Plattender Erdkruste der ostafrikanischeGraben entstand, in dem sich durchVulkanismus hohe Gebirge bildeten,folgten Veränderungen des regiona-len Klimas auf diese Veränderungender Erdoberfläche. Das Gebiet öst-lich der Gebirge bekam kaum nochRegen, so dass der tropische Re -genwald sich zu trockener Savan -nenvegetation (Grasland) zurückentwickelte. Hier übten die Vorfah -ren der Menschen, die die Bäumeverließen, erstmals den aufrechtenGang. Alle Menschen haben ihrenUrsprung in Afrika. Die meisteneuropäischen Ahnenforscher kom-men allerdings nicht so weit zurück.

Warum starben die Neandertaleraus? Zur Antwort haben Erkennt nis -se des Geologen Hartmut Heinrich(* 1952) beigetragen. Er stellte mitseinen seit 1988 veröffentlichten

For schungen kurze, heftige Tem pe -ra turschwankungen der ausgehen-den Weichselkaltzeit vor etwa30.000 bis 20.000 fest. Sie werdenals Heinrich-Ereignisse bezeichnet.Erwärmung führte zum Ab schmel -zen großer Eismassen im Nord at -lantik, die nach Süden drifteten. Sie verursachten – vermutlich auchdurch Umlenkung des Golfstroms in den Südatlantik – in Mitteleuropamehrere Phasen sehr starker Ab -kühlung bei gleichzeitiger starkerTrockenheit. Diese Phänomene wurden durch Süßwasserablage -rungen im Nordatlantik (Sedimenteder ab geschmolzenen Eisberge)nachgewiesen. Die kalten, trocke-nen Jahr hunderte könnten zumVerschwin den der bereits vermin-derten und verstreut lebendenGruppen der Neandertaler beige -tragen haben, zumal der Homosapiens sapiens die günstigerenRegionen, aus denen er den Ne an -dertaler verdrängt hatte, für sichbeanspruchte.

Zwar zeigte sich, dass das Nean -derthal-Museum in vieler Hinsichtvöllig anders ist als das Lepramuse -um, aber trotzdem war der Besuchinspirierend. Den besonderen Reizdes Lepramuseums macht vor allemder historische Ort in den Gebäudendes ehemaligen Leprahospitals derStadt Münster aus. In den Präsen -tationsmöglichkeiten ist es be -schränkt, aber verbesserungsfähig,und man bestätigte sich auf dergemeinsamen Rückfahrt nachMünster, dass Anregungen aus demNeanderthal-Museum im Lepra mu -seum berücksichtigt werden sollten.

Bettina Knust und Ralf Klötzer,Münster

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Die Idee eines gemeinsamen Info r -mationstages auf Melaten entstandanlässlich des Kustodenausflugsder Gesellschaft für Leprakunde e.V.aus Münster zur Melaten-Gesell -schaft Aachen e.V. am 13. Juni2009. Begeistert nahmen die beidenbeteiligten Gesellschaften sowie dieDeutsche Lepra- und Tuberkulose -hilfe (DAHW) e.V. den Gedanken aufund brachten sich mit großem En -gagement und vielfältigen Ideen indie Planungen für die gemeinsameSache ein, so dass am 7. Mai 2011der Traum vom „Melatentag 2011“Wirklichkeit werden konnte.

„Ein Fest im Rhythmus der Holz -klappern“, „Vergessener Ort neuentdeckt“, „Historisches Erbe amKlinikum blüht auf“ und „Europaweiteinmalig“, so lauteten nach demFest die Schlagzeilen regionaler undüberregionaler Presseberichte. Undalle waren sich einig: „So schnellwerden Melaten und sein Friedhofnicht mehr in Vergessenheit gera-ten!“

Aber nicht nur Melaten, sondernauch die Themen „Geschichte undZeugnisse der Lepra“, „Lepramuse -um in Münster-Kinderhaus“ und„Lepraarbeit heute“, dargestellt vonDr. Ralf Klötzer (Gesellschaft fürLeprakunde e.V.) und Franz Tönnes(DAHW Münster) standen im Vor -dergrund der Veranstaltung.

Mit einer Prozession beginnt derTag pünktlich um 11 Uhr. PfarrerFöhr und seine vier Messdiener ver-lassen Gut Melaten durch das großeTor. Etwa 50 Besucherinnen undBesucher schließen sich ihnen anund so erreicht die kleine Gemeindeden angrenzenden Melatenfriedhof,der nach Rekultivierung und beson-ders durch das neu errichtete Holz -kreuz jetzt wieder zu erkennen ist.

Manfred Breuer, Vorsitzender derMelaten-Gesellschaft Aachen e.V.,eröffnet den Tag mit der Begrüßungder Gäste. In seiner Anspracheblickt er zurück auf Melaten als Ortchristlichen Lebens und als Ort viel-fältiger Beziehungen in den euregio-nalen Raum. Durch den Vergleichzwischen dem versorgenden Um -gang mit den Aussätzigen im Mittel -alter und einem oft ausgrenzenden

Umgang unserer heutigen Gesell -schaft mit alleinstehenden Men -schen und sozialen Randgruppenthematisiert er den Wunsch derMelaten-Gesellschaft, hier einen Ortder Besinnung und Begegnung zuschaffen: „Melaten ist nicht nur hier,Melaten ist überall, wo Menschenleben“.

Pfarrer Bernd Föhr erreicht wohljedes Herz mit seinen bewegenden

Worten. Er segnet nicht nur dasKreuz, er weiht auch den neu ge -stalteten Melatenfriedhof noch ein-mal neu als Zeichen des würdigenGedenkens an die hier Bestatteten.

Willy Emmerich und Helma Rom -bach-Geier lesen Auszüge aus dem„Klagelied“ von Peder Olsen Feidie,Patient des St. Jørgen‘s Hospitals inBergen, Norwegen, von 1835. Haut -nah ist die Not eines von der Lepra

Erster Melatentag in Aachen am 7. Mai 2011

Eingangstor zum Gut Melaten

Die Vorbereitungen sind getroffen

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gezeichneten Menschen zu spüren,zutiefst berührend seine Dankbar -keit für die ihm gewährte Zuwen -dung, Pflege und das Dach überseinem Kopf. Kaum fassbar sein un -erschütterliches Vertrauen zu Gottmit seiner Hoffnung auf Erlösung.

Auszug aus „Ein Klagelied“ (1835)von Peder Olsen Feidie, Patient desSt. Jørgen‘s Hospitals in Bergen,Norwegen. Übersetzung aus demEnglischen von Dr. Willy Emmerich.

… Aber, auch wenn unsere Ge -sundheit verloren ist, so sind wirdoch nicht vor dem Angesicht Got -tes verworfen, das können wir täg-lich sehen. Wunderbare Geschenkesendet Gott zu uns, versorgt uns mitfreundlichen, unbekannten Freun -den, die zugleich reich und armsind. O Herr vergelte es ihnen. Lasstuns nun demütig all denen danken,die uns ihre Zeit und Zuneigungzukommen lassen, um uns ein sol-ches Haus zu geben. Es war meinSchicksal und das vieler anderer,von Schwestern und Brüdern ver-bannt zu werden, aus unserenHäusern geworfen zu werden, weilwir unsere Gesundheit verloren.Jedermann erhält einen Plan, umden Weinberg zu bestellen so gut erkann. So lebe denn wohl, mein kum-mervoller Zustand. Im Himmel liegtunser wahrer Besitz, dorthin strebenwir zu gehen. … O Gott lass die Zeitnicht zu lange werden, Dein Willewird geschehen o Herr. Mein

Wunsch ist, der ich so schwach bin,nach meinem Tode Deinen Thronschauen zu dürfen, um Dich zu prei-sen und zu schauen Deine uner-messlichen Freuden.

Stellvertretend für alle anderenhier Bestatteten werden die Namenvon Adam und Maria Schlüper ausSeffent und dem leprakrankenPries ter Matthias Rappert aus Aa -chen verlesen. In diesem Augen -blick erhalten die Vergessenen et -was von ihrer Identität zurück. Wie

gut, dass es wieder einen würdigenOrt für sie gibt.

An die kirchliche Feier schließensich die Grußworte von Frau Bür -ger meisterin Hilde Scheidt, HerrnBezirksbürgermeister ChristianKrenkel und Herrn Karl Schultheiß,Mitglied des Landtags von Nord -rhein-Westfalen an. Das Grußwortder Europaparlamentarierin FrauSabine Verheyen verliest in Vertre -tung Dietmar Kottmann. Sie alleheben Melatens hohen kulturellenWert für die Stadt Aachen hervorund sagen der Melaten-GesellschaftUnterstützung bei ihrer weiterenArbeit zu.

Dann melden sich noch die 1988–1990 an den Ausgrabungen amMelatenfriedhof Beteiligten Herr Wil -fried Maria Koch und Frau Dr. HertaLepie, Tochter des bereits an denersten Grabungen beteiligten HerrnProf. Dr. Egon Schmitz-Cliever zuWort. Frau Lepie schenkt der Me -laten-Gesellschaft das Original desSonderdrucks des Medizinhistori -schen Journals von 1973 mit demTitel: „Zur Osteoarchäologie dermittelalterlichen Lepra. Ergebniseiner Probegrabung in Melaten beiAachen“, von ihrem Vater verfasst.

Vom Hof schallen fetzige Klängeherüber. Die Rolling Bones, Jugend -band des Vinzenz-Heims Aachen,leiten mit ihren Songs das weitere

Wiedereinweihung des ehemaligen Friedhofs

Besuch aus Münster

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Programm des Melatentags ein. Füralle ist etwas dabei: Kinder und Er -wachsene können eine Holzklapperzusammenbauen, so dass es wie inalten Zeiten auf Melaten wiederklappert. Im Veranstaltungsraum istdie Ausstellung „Die Heiligen alsLebenshelfer“ zu sehen. Die beein-druckenden Werke sind eine Leih ga -be des weltweit bekannten Künst -lers Pater Laurentius U. EnglischOFM aus dem Franziskanerklosterin Vossenack/Eifel.

An einem Informationstisch be -richtet Dr. Ralf Klötzer über die Ar -beit der Gesellschaft für Leprakundee.V. in Münster und präsentiertSchriften der Gesellschaft. Daslebensgroße Modell einer leprakran-ken Frau aus dem Lepramuseum inMünster sorgt für interessierteNachfragen. Franz Tönnes präsen-tiert mit einem Stand die Lepra- undTuberkulosearbeit der DAHW. SeineAusstellung ist gut besucht, vieleMenschen lassen sich gern infor-mieren.

Die Melaten-Gesellschaft veran-staltet Führungen, spricht über dieGeschichte Melatens und stellt ihreaktuelle Arbeit vor. Viel beachtetwird auch die kleine Ausstellung vonAusgrabungsfunden auf dem Mela -tenfriedhof, die Prof. Dr. med. An -dreas Prescher und sein Assistentam Vortag aus den medizinischenSammlungen der Hochschule her-über gebracht haben.

Am Nachmittag öffnet auf der hin-teren Terrasse die Caféteria. DerAndrang ist groß. Dank des wunder-schönen Wetters lassen sich nebenden Gästen auch zufällig vorbeikommende Spaziergänger auf denBänken nieder – und haben doppel-tes Glück: Neben dem reichhaltigenKuchenangebot sorgen HaraldBrammertz und Manfred Savelsbergvom Aachener Kabarett „ÖcherNölde“ mit ihrem tollen Programmfür gute Laune und strapazierteLachmuskeln.

Um 15 Uhr füllen sich die Bank -reihen im Hof. Ein kurzes „Ein sin -gen“ des Aachener Gospelchors„Mustard Seed Faith Choir“ lässtBesonderes erwarten. Kräftiger, viel-stimmiger Gesang erfüllt bald nichtnur den Hof, sondern auch die Her -zen des Publikums, und bald swingtund summt es in den Bankreihen

fast genauso wie auf der Bühne.Einige Zugaben sind nötig, bevorder Chor sich verabschieden undmit dem Fachforum der letzte Teildes Tages eröffnet werden kann.

Dr. Ralf Klötzer, Historiker undArchivar, Vorsitzender der Gesell -schaft für Leprakunde e.V. in Müns -ter, beginnt mit seinem Vortrag„Vom Leprahospital zum Lepra mu -seum Münster“. Anschließend über-nimmt er die Moderation für dasPodiumsgespräch zum Thema„Zeug nisse der Leprageschichte alsMedien der Vermittlung der Lepra -hilfe heute“. Zum Teil von weit hersind gekommen, um das Podiums -gespräch zu führen: Dr. med. Adolf

Diefenhardt, Leiter der medizini-schen Abteilung der DAHW, Würz -burg, Dr. Lutz-Henning Meyer,Denk malschutzbeauftragter derStadt Aachen, Prof. Dr. med. An dre -as Prescher, Institut für Anatomie,Medizinische Fakultät der RWTHAachen, sowie Dr. Martin Uhr ma -cher, Historiker, Universität Luxem -burg.

Die Diskussion endet mit derAnregung, eine Arbeitsgruppe zubilden, die sich für die Erstellungund Veröffentlichung eines abschlie-ßenden Grabungsberichts einsetzensoll, der leider immer noch fehlt.Alle Teilnehmer äußern den Wunsch,fachbezogene Veranstaltungen wie

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den Melatentag in regelmäßigenAbständen zu wiederholen. Mit demSchlusswort von Manfred Breuer,herzlichen Dankesworten an alleBeteiligten und der Verabschiedungder Gäste geht ein großer Tag fürMelaten zu Ende.

Die Melaten-Gesellschaft Aachene.V. hat allen Grund all denen zudanken, ohne deren Beteiligung undUnterstützung die Durchführung undder Erfolg des Melatentages nichtdenkbar gewesen wären: Den tat-kräftigen und motivierenden Mit -veranstaltern Dr. Ralf Klötzer undFranz Tönnes, den Teilnehmern desPodiumsgesprächs, denen kein Wegnach Melaten zu weit war, HerrnPfarrer Föhr und seinen Mess die -nern, den Spendern des Kreuzes,Herrn Grooten für die Erd- undEinsäharbeiten auf dem Friedhof,den Rolling-Bones, den ÖcherNölde, dem Mustard Seed Faith

Choir, Pater Laurentius U. Englisch,allen Spenderinnen und Spendernder leckeren Kuchen und demCaféteria-Team. Und nicht zuletztallen anderen, die sich Melatenzuliebe mit Freude und großemEinsatz für diesen Tag engagierthaben.

Insgesamt werden es etwa 500Gäste gewesen sein, die uns mitihrem Besuch und ihrem InteresseMut machten und gezeigt haben,dass Melaten wieder lebt undZukunft hat. Herzlichen Dank!

Am 7. Juli 2011, einen Monatnach dem Melatentag, bildete sichder „Arbeitskreis zum Grabungs -bericht“ unter Leitung von FrauPetra Tutlies vom Landschafts ver -band Rheinland und der Mitarbeitder an der Grabung 1988–1990 be -teiligten Herren Wilfried Maria Kochund Paul Wagner. Weitere Mitarbei -

tende sind Prof. Dr. med. AndreasPrescher (RWTH), Andreas Schaub(Archäologie Stadt Aachen), Prof.Dr. med. Dr. phil. Axel HinrichMurken, Dietmar Kottmann undManfred Breuer (Melaten-Gesell -schaft Aachen e.V.).

Am 25. September 2011 wurdeauf Melaten das Aachener Obst -wiesen fest gefeiert. Die Melaten-Gesellschaft Aachen e.V. beteiligtesich mit einem Informationsstandund der Aktion: „1000 Krokusse fürden Melatenfriedhof“. ZahlreichenKindern und Erwachsenen ist es zuverdanken, dass kurz vor Ende desTages die tausendste Krokuszwiebelauf dem Friedhof versenkt werdenkonnte. Sie alle haben versprochen,im Frühjahr 2012 zur Krokusblütewieder zu kommen.

Helma Rombach-Geier, Bünde

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Unter der Themenstellung „Zeug -nisse der Leprageschichte als Me -dien der Vermittlung der Leprahilfeheute“ saßen vier Fachleute an ei -nem Tisch. Moderiert von Dr. RalfKlötzer, Vorsitzender der Gesell -schaft für Leprakunde e.V. in Müns -ter, sprachen auf dem AachenerMelatentag am 7. Mai 2011 mitein-ander:Dr. med. Adolf DIEFENHARDT, Deut -sche Lepra- und Tuberkulosehilfe(DAHW) e.V., WürzburgProfessor Dr. med. AndreasPRESCHER, Institut für Molekulareund Zelluläre Anatomie, RWTHAachen, UniversitätsklinikumDr. Lutz-Henning MEYER, bis 2007Denkmalpfleger für Aachen imRheinischen Amt für DenkmalpflegeDr. Martin UHRMACHER, Historiker,Universität Luxemburg

Da leider versäumt wurde, dasGespräch aufzuzeichnen, haben dieTeilnehmer sich bereit erklärt, ihreBeiträge zu den gestellten Fragenanschließend noch einmal schriftlichzu formulieren. Daraus wurde dasGespräch wie folgt rekonstruiert.

RALF KLÖTZER: Meine Damen undHerren (es folgte die Vorstellung derTeilnehmer), wir stellen uns der Fra -ge, wie die Zeugnisse der Lepra ge -schichte als Medien der Vermittlungder Leprahilfe heute nutzbar ge -macht werden können. Herr Diefen -hardt, wie stellt sich aus Ihrer Sichtdie Notwendigkeit der Leprahilfeheute dar?

ADOLF DIEFENHARDT: Die Notwendig keit der LeprahilfeheuteMehr als 20 Millionen Leprakrankewurden in den letzten 20 Jahren be -handelt und geheilt. Die Behinder -ten rate nach Neuerkrankungen gingvon 50 % in den 1980er Jahren aufheute 10 % zurück. Aber trotz gro-ßer Fortschritte durch Aufklärungs -kampagnen und eine nebenwir-kungsarme und noch nicht durchResistenzen belastete Kombina -tionstherapie seit Anfang der 1980erJahre erkranken immer noch mehrals 250.000 Menschen pro Jahr neu

an Lepra. Jeder zehnte neue Patientist ein Kind – ein Beweis, dass dieTransmission ungebrochen weiter-geht. Wie bei der Tuberkulose besteht beider Lepra ein Problem darin, dassdie Infektion erst spät als Krankheitmanifest wird und viele latent In fi -zierte das Bakterium durch Tröpf -cheninfektion verbreiten, ohneselbst symptomatisch zu werden.Denn nur 5 % aller Menschen kön-nen überhaupt an Lepra erkranken.Eine wirkliche Ausrottung ist noch inweiter Ferne. Lepra bleibt eine po -tentielle Zeitbombe. Leider sind wirin der unbefriedigenden Situation,dass es seit Jahren keine wirklichenFortschritte in Bezug auf Früherken -nung, Impfstoff oder Therapie gibt.Im Gegenteil: Die „Times of India“berichtete am 14. Dezember 2010von allein 30 neuen Leprafällen, diewährend einer Stichprobe im August2010 in Stadtvierteln der Stadt Punein Indien gefunden wurden. Darunterwaren 60 % infektiöse multibazillärePatienten. Die Vermutung, dass dieDunkelziffer insbesondere in Indienhoch ist, hat die Regierung veran-lasst, eine nationale Prävalenzstudiedurchzuführen, deren Ergebnisse imHerbst 2011 vorliegen werden.

KLÖTZER: Den Leprakranken mussgeholfen werden und ihnen wurdebereits in früheren Jahrhundertengeholfen, auch um die Gesellschaftzu schützen. Welche Befunde, HerrPrescher, haben sich durch Aus -grabungen der Bestattungsplätzevon Leprahospitälern, besonders inAachen-Melaten, ergeben?

ANDREAS PRESCHER: Befunde der Aus grabungenFür die Aachener Ausgrabungs kam -pagnen der Jahre 1988 und 1989kann festgehalten werden, dass 138Skelette und Teilskelette ausgewer-tet worden sind. Es handelt sich ins-gesamt um 45 Männer, um 40 Frau -en und um 53 nicht zu klassifizie-rende Skelettreste. Weiterhin wurdeeine große Menge Streufunde unter-sucht. Dabei zeigte sich, dass klas-sische Veränderungen, zum BeispielMutilationen, also Verstümme lun -

gen, wie sie noch in den Aus gra -bungen der Professoren Schmitz-Cliever und Möller-Christensenreichlich vorkamen, kaum gefundenwurden. Dies ist sicherlich dadurcherklärbar, dass dermaßen auffälligeBefunde bei den Vorgrabungengezielt entnommen worden sind. Inunserem Untersuchungsgut konntenaber zahlreiche, sehr feine, an sichunspezifische Knochenveränderun -gen festgestellt werden, die in ihrerGesamtheit und dem häufigen Vor -kommen für die Erkrankung derbetreffenden Personen an Leprasprechen. Die immer wieder aufge-worfene Frage, ob im AachenerLeprosorium auch hingerichtete Per -sonen der nahegelegenen Aache nerRichtstätte ihre letzte Ruhe gefun-den haben, konnte dahingehendbeantwortet werden, dass sichkeine eindeutigen und unumstößli-chen Hinweise finden ließen. Auchdie Einbeziehung des AachenerInstitutes für Rechtsmedizin (Prof.Dr. med. W. Weber) konnte hierzukeine neuen oder weitergehendenErkenntnisse liefern.Die Altersbestimmung der Skelett -reste ergab, dass sehr viele Indi vi -duen den maturen und senilen Al -ters klassen angehören. Dies sprichtfür die gute Versorgungslage der imLeprosorium internierten Personen.Auch wurden alle Altersklassen bishin zu kleinen Kindern festgestellt.Missbildungen oder traumatischeVeränderungen gehören im unter-suchten Knochenmaterial zu densehr seltenen Erscheinungen, sodass auch die Ansicht, dass vieleKrüppel in Melaten bestattet wordenseien, nicht bestätigt werden konn-te.

KLÖTZER: Das Gut Melaten ist einDenkmal, insbesondere weil es ehe-mals ein Leprahospital war. Worinliegt, Herr Meyer, seine Bedeutungals Denkmal?

LUTZ-HENNING MEYER: Die Bedeutung des Gutes Melatenals DenkmalDas Gut Melaten ist im allgemeinenInteresse der Aachener als Hofan -lage an der alten Via regia bei dem

Durch Zeugnisse der Leprageschichte dieLeprahilfe fördern

Podiumsgespräch beim Aachener Melatentag 2011

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vielgenutzten Spazierweg nach Sef -fent. Das Gut war im Bewusstseinder Denkmalpfleger zunächst alsalte Hofanlage, die der Stadt konser -vator Hugot sogar untersucht hat.Es war Schauplatz einer archäologi-schen Untersuchung des Leprösen-Friedhofes vor seinen Mauern. DieReplik der alten Melaten-Kapellesteht heute als Denkmal auf demOstfriedhof. Ihren ehemaligenStand ort dokumentiert die Hofab -schlussmauer in Verlängerung zumEingangstor. Das Gut Melaten wardenkmalpflegerisch als ältestesDenkmal zum Krankenhausbauzunächst als Vorläufer des kurznach 1900 entstandenen und um1983 unter Schutz gestellten Pavil -lonkrankenhauses und später auchals Pendant zum jüngsten Kranken -haus-Denkmal Deutschlands, demKlinikum interessant.

KLÖTZER: Um das Aachener Lepra -hospital Melaten in seiner Bedeu -tung würdigen zu können, erscheintdie regionale Einordnung sinnvoll.Wie, Herr Uhrmacher, lassen sichdie Leprahospitäler im Rheinlandcharakterisieren?

MARTIN UHRMACHER: Leprahospitäler im RheinlandDie Rheinlande verfügten im Zeit -raum vom späten 12. bis zum 18.Jahrhundert über eine große Anzahlvon Leprosorien. Diese waren einfester Bestandteil der mittelalterli-chen und frühneuzeitlichen Lebens -welt. Spätestens zu Beginn der frü-

hen Neuzeit verfügten jede Stadtund auch die meisten städtischgeprägten Siedlungen über minde-stens ein Leprosorium vor ihrenMauern.Die ältesten und größten Einrichtun -gen finden sich bei den bedeutend-sten rheinischen Städten wie Köln,Trier, Luxemburg, Koblenz, Kaisers -lautern, Dortmund, Essen, Soestund natürlich Aachen. Das dortigedomus infirmorum sancti Lazari ist1230 erstmals urkundlich erwähnt.Eine Besiedelung des Standortes istarchäologisch jedoch schon seitdem 9. Jahrhundert nachgewiesen.Die Einrichtung repräsentiert in fastidealer Weise den Typus eines gro-ßen rheinischen Leprosoriums,gekennzeichnet durch eine eigeneKapelle mit Seelsorger und Friedhof,Provisoren als städtischen Verwal -tern, eine bruderschaftliche Organi -sation der Bewohner und eine weit-gehende wirtschaftliche Unabhän -gig keit durch großen Land-, Renten-und Immobilienbesitz sowie häufigeSpenden. Das an einer Urkunde ausdem Jahr 1422 belegte Siegel desAachener Leprosoriums dokumen-tiert zudem einen hohen Grad anSelbstverwaltung.

KLÖTZER: Im Laufe der Jahrhundertehat sich das Konzept einer Isolie -rung der Leprakranken verändert.Um 1900 setzte sich, ausgehendvon dem norwegischen Arzt Ger -hard Armauer Hansen, weltweit dieZwangsisolierung durch. Wie habenSie, Herr Diefenhardt, das Ende der

Zwangsisolierung in den vergange-nen Jahrzehnten beobachtet?

DIEFENHARDT: Das Ende der ZwangsisolierungAus Furcht vor Ansteckung hat manfrüher Leprakranke zwangsisoliertund allzu oft auch sterilisiert oderdie Familien per Gesetz getrennt,falls ein Partner Lepra hatte.Trotz Bekenntnissen zu den Men -schenrechten und Ratifizierungenvon UN-Konventionen ändern auchheute noch viele Staaten Gesetzenicht, in denen Leprakranke diskri-miniert werden. Großbritannien, dieUSA, China, Ungarn, der Irak, Nami -bia, Taiwan, Thailand, Südafrika, dieVereinigten Arabischen Emirate undandere Länder haben Gesetze, indenen Visa-, Aufenthalts- und Ar -beitsgenehmigungen für Menschen,die an Lepra erkrankt sind und wa -ren, verweigert werden können. Beiden Olympischen Spielen 2008 inPeking gab es einen Erlass der chi-nesischen Autoritäten, dass Men -schen, die mit Lepra diagnostiziertwurden, nicht einreisen können, umdie Spiele zu besuchen.Seit Januar 2010 haben die USA diestrengen Einreisebestimmungen fürHIV-positive Menschen gelockert,für Lepra sind sie nicht verändertworden. Weitere legale Diskriminie -run gen bestehen in vielen Ländernin Bezug auf die Bewegungsfreiheit(zum Beispiel in Zügen, Reisefrei -heit), Recht auf Eigentum, Wahl -recht, freie Wahl politischer Ämter,freie Wahl des Ehepartners und soweiter.Angesichts dieser Situation wirdklar, dass die Beteiligung und Inte -gration der Menschen, die durchLepra gezeichnet sind, weder imMittelalter noch im 21. Jahrhundertselbstverständlich sind. Es gab undgibt natürlich viele Fortschritte undeine eigentliche Zwangsisolationund Umsiedlung in Leprakoloniengibt es nicht mehr, aber es bleibtviel zu tun.

KLÖTZER: Vor 1700 gab es in deneuropäischen Leprahospitälernandere Formen der Absonderungder Leprakranken. Welche Vor stel -lungen, Herr Uhrmacher, bestehenheute davon?

UHRMACHER: Formen der Absonderung in ehema-ligen LeprahospitälernAuf den ersten Blick erscheint die

Wieder hergestellter früherer Melatenfriedhof

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Lage der Leprosorien außerhalb derStadtmauern abgelegen und isoliert.Bei näherem Hinsehen zeigt sichjedoch, dass die Standorte der Ein -richtungen stets sorgfältig ausge-wählt worden waren. So lagen siezwar im städtischen Umland, aberzugleich so exponiert wie möglichan Hauptausfallstraßen, wenn mög-lich an Kreuzungen, Brücken odersonstigen Engstellen. Begründenlässt sich dies mit dem hier beste-henden starken Durchgangsverkehrvon Kaufleuten, Reisenden undPilgern; denn die Leprosorien erhiel-ten einen bedeutenden Teil ihrerEinnahmen aus Almosen. Zu diesemZweck waren Almosenkästen sowieBild- und Opferstöcke an der Straßeaufgestellt. In wirtschaftlicher, sozia-ler und organisatorischer Hinsichtwaren die Leprahospitäler zudemfest mit der Stadt verbunden, zu dersie gehörten. Entgegen den überlie-ferten Normen wurde auch die Iso -lation der Leprakranken in der Pra -xis vielfach nicht so streng gehand-habt. So waren Besuche durchausmöglich und den Bewohnern derLeprosorien waren von Zeit zu ZeitBesuche in den Städten gestattet.Persönliche Kontakte und familiäreBindungen konnten so aufrechter-halten werden.

KLÖTZER: In eigenen Hospitälernabgesonderte Leprakranke musstenversorgt sein. Ein Brunnen gehörtezu jedem Leprahospital. WelcheSchlüsse können Sie, Herr Meyer,aus den Befunden des Melaten -brunnens zur Wasserversorung undzur Hygiene von Melaten ziehen?

MEYER: Der Brunnen – Wasserversorgungund HygieneDie Aktivitäten einiger Aachenersorgten für die Erinnerung an denalten Brunnen. Dieser aus Nievel -steiner (Herzogenrather) Sandsteingemauerte Brunnen macht zweierleideutlich. Zunächst, dass durch dieKarstsituation keine leicht erreichba-re Wasserquelle vorhanden war unddadurch das auf einer tiefgelegenenLehmschicht verlaufende Wasserdurch einen tiefen Brunnen gehobenwerden musste. Die Hofanlagemuss also bei ihrer Anlage mehrpolitischen als praktischen Gründengefolgt sein. Das unterstützt auchdas teuere Mauerwerk aus beson-derem Material aus einem entfernte-ren Steinbruch. Der ganz in der

Nähe gelegene Hof Banlae (Neuen -hof) hat einen vergleichbar tiefenBrunnen, hier aber aus hiesigerGrauwacke errichtet. Die Hofanlagemuss vor ihrer Nutzung als Lepro -sorium bereits bestanden habenund von ziemlich vermögendenBauherren errichtet worden sein.

KLÖTZER: In Leprahospitälern warendie Leprakranken meist relativ gutversorgt. Lassen sich, Herr Pre -scher, aus den menschlichen Kno -chenfunden irgendwelche Hinweisezur Ernährung der Bewohnerinnenund Bewohner des Leprahospitalsgewinnen?

PRESCHER: Hinweise zur Ernährung ausmenschlichen KnochenDie Frage der Ernährung einerPopu lation ist naturgemäß für denHistoriker und den Anthropologenvon großer Bedeutung. Aus Ske lett -funden lassen sich selbstverständ-lich Hinweise auf die Ernährung derbetreffenden Person (vorwiegendpflanzlich oder tierisch) gewinnen.Dies gelingt zum Beispiel durch dieAnalyse verschiedener Ionenverhält -nisse (Strontium, Zink). Solch auf-wendige Untersuchungen sind andem Aachener Skelettmaterial bis-her nicht durchgeführt worden, sodass der gesamte Fragenkomplexnoch auf eine zukünftige Bearbei -tung wartet. Auffällige Hinweise aufeine Mangelernährung der Mela te -ner Population sind bis auf gele-gentliche, geringfügig ausgeprägteBefunde (zum Beispiel Cribra orbita-lia) nicht gemacht worden.

KLÖTZER: Ernährung und Hygiene, sosehen es die Historiker, sind Schlüs -sel der erfolgreichen Leprabe kämp -fung. Können Sie, Herr Diefenhardt,dies aus aktueller medizinischerSicht bekräftigen?

DIEFENHARDT: Ernährung + Hygiene =LeprabekämpfungDie Geschichte der Lepra in Europazeigt, dass ohne wesentliche Verän -derungen von sozio-ökonomischenRahmenbedingungen keine dauer-haften Erfolge in Richtung Ausrot -tung der Lepra zu erzielen sind. DieLepra verschwand in Europa vor derEinführung der Kombinations thera -pie, das heißt bevor es lepraspezifi-sche Antibiotika gab.Da nur bei 5 % aller Menschen die

Lepra von der Infektion zur Erkran -kung fortschreiten kann, tatsächlichaber wesentlich weniger Menschenerkranken, sind Faktoren wie dieStärke des Immunsystems entschei-dend, um die Krankheit im Einzelfallzum Ausbruch kommen zu lassenoder nicht. Schlechte Hygiene,mangelnde Ernährung, Befall mitanderen (parasitären) Erkrankungenund andere armutsassoziierte Fak -toren spielen bei der weiteren Ver -breitung der Lepra eine große Rolleund erschweren die Ausrottung be -ziehungsweise machen sie nachbisherigem Wissen unmöglich.

KLÖTZER: Aus meinen eigenen For -schungen zum Leprahospital Müns -ter-Kinderhaus weiß ich, dass dieKranken teilweise sehr bald starben,aber teilweise noch Jahrzehnte langdas Leprahospital bewohnten. Ken -nen Sie, Herr Uhrmacher, histori-sche Hinweise darauf, dass beiKranken im Leprahospital mögli-cherweise dank der guten Versor -gung die Krankheit zum Stillstandkam?

UHRMACHER: Leprastillstand bei Leprahospital -insassenÜber den Krankheitsverlauf beiInsassen von Leprosorien liegen nursehr wenige Quellen vor. Aussagenhierzu sind deshalb kaum möglich.Man kann jedoch davon ausgehen,dass die Insassen der Leprosorien,vor allem in den größeren Einrich -tungen, recht gut versorgt waren,was zu einer Stärkung der Abwehr -kräfte führte. Bei einigen Leprosori -en ist auch der Betrieb eines Bade -hauses belegt.Als besonders hilfreiches Mittelgegen die Lepra galten Thermal -bäder kuren. Aus dem 16. Jahrhun -dert sind mehrfach Anweisungenvon Lepraschaukommissionen über-liefert, die den Patienten in zweifel-haften Fällen die Auflage machten,eine Thermalbäderkur in Aachendurchzuführen und sich anschlie-ßend erneut zur Untersuchung vor-zustellen. Eine Schwefelthermekann zwar keine Leprainfektion hei-len, sie bewirkt aber bei einer Reiheanderer Hautkrankheiten, von denendie Lepra im Frühstadium nurschwer zu unterscheiden ist, eineAbheilung. So ist in den Unter su -chungs protokollen der Kölner Me di -zinischen Fakultät in einem Fall voneiner Besserung der Symptome

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nach einer Thermalbäderkur inAachen die Rede. Auch in Wies -baden wurden solche Badekurenvorgenommen, weshalb die StadtMainz ihren Aussätzigen dort wie-derholt eine Bäderbehandlung ver-ordnete.

KLÖTZER: Aus meiner Sicht einesHis torikers, der die verstreutenZeug nisse der Leprageschichtedokumentieren möchte, ist eineZusammenführung des Wissenserforderlich. Teilen Sie, Herr Pre -scher, diese Ansicht in Bezug aufdie Knochenfunde Leprakranker, dieSie kennen?

PRESCHER: Knochen hier und anderswoKnochen lepröser Individuen sindnicht nur in Aachen geborgen wor-den sondern auch zum Beispiel inNaestved, Dänemark, durch denBegründer der Osteoarchäologie,Professor Vilhem Møller-Christen -sen. Die Befunde aus Dänemarksind in zwei Monographien nieder-gelegt worden und haben unserAugenmerk auch erstmals auf dieSkelettveränderungen gelenkt. Dievon Møller-Christensen beschriebe-nen und illustrierten auffallendenMutilationen (Verstümmelungen) anden Händen und Füßen sind nichtprimär durch die Lepra selbst be - dingt, sondern entstehen durch eineSuperinfektion der gefühlslosen unddaher verletzungsgefährdeten Kör -perteile. Die Skelettfunde der Gra -bungen der Professoren Schmitz-Cliever und Möller-Christensen sindin Aachen nicht mehr aufzufinden.Es wird angenommen, dass sichdieses Material in der Möller-Chris -tensenschen Sammlung in Däne -mark befindet.

KLÖTZER: Leprahospitäler gab es ingroßer Zahl. Halten Sie, Herr Meyer,aus der Perspektive der Denkmal -pflege die zusammenfassendeDokumentation der Denkmale derLeprageschichte für sinnvoll undmöglich?

MEYER: Leprahospitäler – Verbund für dieDenkmalpflegeDie wahre Bedeutung von Melatenwird ja doch erst durch diese heuti-ge Veranstaltung deutlich. Erstdurch die Beiträge der Fachleute zur

Krankheit selbst und zu den Einrich -tungen, die man für Erkrankte schuf,wird die ganze Bedeutung von Me -la ten bewusst. Dieses neue Be -wusst sein muss ein Anreiz sein, sichim Verbund mit vielen dem Bauwerkmit neuen Fragen zu nähern und sotrotz der lange zurückliegenden Nut -zung und dem Änderungsdruck derstattgefundenen Unmutzungen nochSpuren ihres Daseins als Leproso -rium aufzudecken und auch dasdamalige Netz dieser Krankenein -rich tungen hier in Aachen bewussterzu machen.Eine weiterer wichtiger Aspekt fürein Netzwerk wäre: Alles, was sichin Aachen wegen der angeführtenEinwirkungen nicht mehr zeigenlässt, bieten die anderen Leproso -rien. Denn Denkmäler lassen sichum so besser erhalten, je anschauli-cher ihre Bedeutung dem Laien ver-mittelt werden kann.

KLÖTZER: Noch ist leider die Lepraweltweit nicht museumsreif. HaltenSie, Herr Diefenhardt, örtlich undregional den Aufbau von Doku men -tationen der Leprageschichte fürmachbar?

DIEFENHARDT: Leprageschichtliche SammlungenweltweitEs gibt Hinweise in einigen LändernLateinamerikas, Afrikas und Asiens,dass man sich mit der teilweise un -angemessenen Behandlung derMenschen, die durch Lepra gekenn-zeichnet waren, auseinandersetzt.Menschenrechtsgruppen, Nicht re -gie rungs- und Patientenorganisa -tionen machen auf vergangene undbestehende Menschenrechtsverlet -zungen aufmerksam. Das ist zubegrüßen und es ist zu hoffen, dassalte Leprakolonien zu Stätten wer-den, in denen das Gedächtnis andiese Menschen aufrecht erhaltenwird und in denen die Tendenz derMenschen, kranke, nicht „normal“aussehende oder behinderte Men -schen auszugrenzen und zu diskri-minieren, entlarvt wird.Eine sich zivilisiert nennende Gesell -schaft muss sich daran messen las-sen, ob sie Rechte nur für die Star -ken einfordert oder auch für dieSchwächeren. Ob sie daran interes-siert ist, dass die Schwächerenauch eine Chance bekommen, obsie als vollwertige Mitglieder der

Gesellschaft nicht nur geduldet,sondern geachtet und gehört wer-den und ob man sie teilhaben lässt.Ob man ihnen Aufmerksamkeit,Liebe und Gerechtigkeit zukommenlässt.Die Lepra bleibt ein Symbol – eineHerausforderung an unsereMensch lichkeit und an unsereIntelligenz.

KLÖTZER: Stets ist nur in Ansätzenversucht worden, leprageschichtli-che Quellen zu veröffentlichen. Wiedenken Sie, Herr Uhrmacher, solltedie Geschichtswissenschaft künftigdie Herausforderung der vielfachnoch schwer zugänglichen leprage-schichtlichen Quellen annehmen?

UHRMACHER: Quellen zur Geschichte derLeprahospitälerMit Ausnahme der wenigen großenund gut dokumentierten Einrich -tungen, wie Münster-Kinderhausoder Köln-Melaten, ist die Quellen -lage zur Geschichte der Lepra undder Leprosorien nicht besondersgut. So sind viele Einrichtungen nurdurch Flurnamen oder beiläufigeErwähnungen in Rechnungen, Tes -ta menten und Grenz beschrei bungenbelegt. Mitunter erfährt man vonihrer Existenz sogar erst im Zu -sammenhang mit der Schließungoder dem Abriss der Gebäude. Vordiesem Hintergrund wäre es wün-schenswert, die überlieferten Quel -lenbestände und vor allem auch diehäufig verstreuten Einzelbelege ge -zielt zu sammeln und als Quellen -editionen zu veröffentlichen.

KLÖTZER: Sie haben, Herr Diefen -hardt, Herr Prescher, Herr Meyer,Herr Uhrmacher, mit mir über dieFrage nachgedacht, wie die Zeug -nisse der Leprageschichte der heu-tigen Leprahilfe nutzbar gemachtwerden können. Diesem Auftragstellt sich auch die Gesellschaft fürLeprakunde e.V. mit ihrem Lepra -museum in Münster. Der AachenerMelatentag 2011 hat insbesonderedurch dieses Podium an der Frageweiter gearbeitet, wie die Geschich -te dazu beitragen kann, die Auf -gaben der Gegenwart und Zukunftzu meistern. Dafür vielen herzlichenDank.

Redaktion: Ralf Klötzer, Münster

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Nach dem erfolgreichen Verlauf derersten Kinderhauser Tagung 2010(siehe Die Klapper 18, 2010) fandam 23. Juli 2011 im Lepramuseumin Münster-Kinderhaus die zweiteKinderhauser Tagung zur „Ge -schich te und Rezeption der Lepra“statt. Es konnten Kontakte mit Wis -senschaftlern geknüpft und bereitsbestehende gefestigt werden. Wie -der hat sich ein reger Austauschvon Wissen, Erfahrungen und Ideenergeben. Die Beteiligung war, wie imvorangegangenen Jahr, mit etwa 40Interessierten sehr erfreulich.

Ralf Klötzer (Münster) eröffneteden Tag. Er erläuterte die Ziele derGesellschaft für Leprakunde e.V.und fasste die Ereignisse des ver-gangenen Jahres zusammen. Au -ßerdem wies er auf geplante Aktio -nen und Forschungen der Gesell -schaft hin. Besonders betonte er dieEhre, die der Gesellschaft und demLepramuseum durch die Initiativeund Bereitschaft von Wissen schaft -lern zuteil werde, die zum Teil vonweit her angereist waren.

Den ersten Vortrag übernahmwieder Anton Miesen (Koblenz).Sein Thema: „Von der Nebenwir -kung zur Wirkung am Beispiel desMedikamentes Contergan“. Aus -gehend von dem Hinweis auf diebekannten fürchterlichen Neben wir -kungen des in den beginnenden1960er Jahren eingesetzten Schlaf -mittels Contergan, das bei Einnah -me während der Schwangerschaf -ten zu schweren vorgeburtlichenMissbildungen führt, stellte Miesen

die Entstehungsgeschichte desMedikamentes und den Lebenslaufseines Erforschers Heinrich Mückterheraus. Als qualifizierter Arzt tratMückter der SA (Sturmabteilung derNationalsozialistischen DeutschenArbeiterpartei NSDAP) bei und führ-te in der Zeit der nationalsozialisti-schen Herrschaft in Deutschland amInstitut für Fleckfieber und Virus -forschung in Krakau zum Teil sehrgrausame Menschenversuche anInsassen von Konzentrationslagerndurch. Dabei entdeckte er die Wir -kung des Talidomid, des Haupt be -standteils des späteren Contergans.Dieses Wissen half ihm nach 1945 –trotz der Einstufung als Kriegs ver -brecher in der Sowjetischen Besat -zungszone, der späteren DeutschenDemokratischen Republik – in West -deutschland bei der Firma Grünen -thal eine Anstellung zu erlangen undseine Forschungen fortzusetzen. Alspositive Nebenwirkungen des Con -tergans entdeckte man wenig späterin Israel die Wirkung gegen be -stimm te Symptome, die mit einerLepraerkrankung einhergehen kön-nen. Contergan ist kein Einzelfall.Zahlreiche Medikamente könnenzuvor unbekannte positive Neben -wirkungen entfalten wie Talidomid.Es wird gegen verschiedene Symp -tome einer Lepraerkrankung zumEinsatz gebracht.

Einen Einblick in die medizini-schen Vorstellungen des Mittelaltersgewährte Christian Schulze (Bo -chum) mit seinem Vortrag „DerLeprabegriff in Hildegard von Bin -gens Physica“. Hildegard verbindetSeele, Körper und Krankheit mitGott, der Natur und dem Teufelsowie magischen Vorstellungen.Dabei nutzt sie sowohl antike Über-lieferungen wie auch Elemente ausder Volkstradition. Sie unterteilt dieLepra zunächst in zwei Varianten,die Unterschiede verschwimmenjedoch im weiteren Verlauf ihresWerkes. Anscheinend geht sie da -von aus, dass der Leser mit demKrankheitsbild vertraut ist. Siespricht in ihren lateinischen Textenschlicht von lepra oder nutzt dasAdjektiv leprosus. Als möglicheUrsachen für eine Lepraerkrankungidentifiziert sie unter anderem über-mäßigen Fleischgenuss, Völlerei,

Zorn und ein zu ausgeprägtes Sex -ualleben. Zur Therapie schlägt sieein breites Spektrum an Mitteln vor,darunter tierische und pflanzlicheMittel sowie Mineralien. So emp-fiehlt sie zur Behandlung beispiels-weise Lilie, Balsamkraut oder Thy -mian, das Auflegen von Schweine -haut auf die Wunden, Substrate austierischem Fett und das Bestreichender Wunden mit einem Topas. Da -neben gibt es auch bei Hildegardnoch Elemente aus der antiken„Drecks apotheke“ wie Schwalben -kot, warmes Menstruationsblut oderdie Erde eines Ameisenhaufens, dieihre Wirkung gegen die Lepra entfal-ten sollen.

Anschließend erfolgte eine Füh -rung durch das Lepramuseum, dieBettina Knust (Münster) anbot. InAnknüpfung an den vorangegange-nen Vortrag wies sie zunächst aufdie Kräuter, Heilpflanzen und Salbendes Museums hin, die zum Teil auchin Hildegard von Bingens Werk be -schrieben sind. Das Konzept derDauerausstellung verbindet sowohlregionale und globale Aspekte alsauch historische und aktuelle Fak -toren. In einigen Ländern der Welt,zum Beispiel in Indien und in Brasili -en, stellt die Lepra heute noch eingroßes Problem dar, und in einigenWeltregionen werden die Leprakran -ken heute noch ausgestoßen oderisoliert. Beachtung fand auch dieaktuelle Sonderausstellung „Leprain der Literatur“, die zahlreiche Bei -spiele aus der Belletristik zeigt, indenen die Lepra thematisiert wird.Darunter befinden sich nicht nurLyrik, Erzählungen, Reiseberichteund historische Romane, sondernneben einigen Werken der Weltlite -ratur auch Comics und Horror -geschich ten.

Ralf Klötzer (Münster) stellte dar-aufhin einige Originale aus derSammlung des Lepramuseums vor.Neben einer Abhandlung über dasEvangelium „Von den zehn Aussät -zigen“ von Martin Luther aus demJahr 1521 befinden sich auch einigebedeutende Kupferstiche im Besitzder Gesellschaft für Leprakunde, sodas Bild eines Nürnberger Bürger -meisters von 1554, der sich mit demNürnberger Leprosorium im Hinter -

Zweite Kinderhauser Tagung 2011Geschichte und Rezeption der Lepra

Dr. Anton Miesen

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grund porträtieren ließ, um auf dasPrestige der möglicherweise durchihn geförderten Einrichtung zu ver-weisen, das französische Phantasie -bild eines mittelalterlichen Rittersdes Ordens des heiligen Lazarus ausdem 18. Jahrhundert oder das invie len wissenschaftlichen Werkenüber die Lepra wiedergegebene Bildeiner Lepraschau von 1517. Finan -ziert werden Erwerbungen der Ge -sellschaft für Leprakunde e.V. durchSpenden. Die Sammlung steht For -schung und Öffentlichkeit zurVerfügung.

Fritz Dross (Erlangen-Nürnberg)beleuchtete anhand einiger mikrohi-storischer Schlaglichter das Verhält -nis zwischen „Aussatz und Fremd -heit“. Die religiöse Vorstellung von„rein“ und „unrein“ wurde aus demAlten Testament als „gesund“ und„krank“ in das christliche Mittelalterübernommen. In der Lepraschauwur de durch Lepröse der großenHos pitäler und später auch durchÄrzte der medizinischen Fakultätenein Urteil über die Patientinnen undPatienten gefällt. Diese hatten ausAnlass des Verdachts auf eine Le -pra erkrankung zum Teil weite Reise -wege hinter sich gebracht, da nurwenige große Städte über eine allge-mein verbindliche Lepraschau ver-fügten. Als „unrein“ Geschaute wur-den die bürgerlichen Kranken ausder Stadtgemeinschaft ausgeschlos-sen und in das Leprosorium ihrerStadt eingewiesen. Das Lepro soriumals Teil der städtischen Ge sund heits -fürsorge gab es seit dem Hoch mit -

tel alter. Es war aus der christlichenCaritas des Neuen Testaments be -gründet. Man wurde nur in dem Le -pro sorium der jeweiligen Stadt auf-genommen, deren Bürgerrecht manbesaß. In einem dargestellten Fallbat ein Bürger um Entlassung ausdem Bürgerrecht, um das Bürger -recht einer anderen Stadt zu erwer-ben und dann dort in das Lepro so -rium aufgenommen zu werden. DieAufnahme in einer solchen Ein rich -tung begründete grundsätzlich le -benslanges Wohnrecht und lebens-lange Versorgung.

Auf die Leprosorien ging MartinUhrmacher (Luxemburg) noch weiterein, und zwar unter dem Thema „DieStandorte von Leprosorien im städti-schen Umland. Versuch einer Typo -lo gisierung“. Die Lage der Lepro so ri -en im Umland der Städte folgte be -stimmten Kriterien, wobei örtlicheGegebenheiten berücksichtigt wer-den mussten. Das Lepro so rium warnicht nur Teil des Gesund heitswe -sens, sondern besaß auch einen er -heblichen Repräsentations charakter,was bisher in der For schung nichtgenügend Beachtung gefunden hat.Oft war das Lepro sorium das erstestädtische Ge bäude, das Reisendeauf dem Weg in die Stadt sahen. AlsWahl für den Standort eines Lepro -soriums war zunächst entscheidend,dass es außerhalb der Stadtmauernliegen musste und trotzdem die Ver -sor gung der Leprosen durch Almo -sen und Schenkungen gesichert seinsollte. Deshalb lag es üblicherweisedirekt an der Hauptstraße, nach

Mög lichkeit in der Nähe eines Ge -wässers. Die Abgeschlossenheit desOrtes musste durch Mauern, Zäuneoder Hecken garantiert sein. BeimLeprosorium gab es einen eigenenFriedhof. Da die Galgenplätzegleich falls vor den Städten an denHauptstraßen lagen, befanden siesich oft nicht weit vom Leprosoriumentfernt. Hingerichtete konnten aufdem Leprosenfriedhof bestattet wer-den, der als „unrein“ galt. Eine eige-ne Kapelle mit umgebenden Fried hofhatten die größeren Lepro sorien. Jenach örtlichen Gegeben heiten lagendie Leprosorien auch an Wasser stra -ßen oder direkt an der Stadtmauer.Die Leprosorien waren, wie Uhr ma -cher betonte, wesentlicher Bestand -teil von Stadtkultur und Stadtbild.

Den Schlusspunkt setzte MathiasSchmidt, der Organisator der Ta -gung. Er stellte sein aktuelles For -schungsprojekt über „Die Heiligenund die Lepra im europäischen Mit -telalter“ vor. Eine Beschäftigung mitden Lebensbeschreibungen undWun derberichten der Schutzheiligengegen die Lepra könnte eventuellneue Erkenntnisse liefern, zumal ha -giographische Quellen von der For -schung lange Zeit nicht systema-tisch einbezogen worden sind. Bei -spielhaft führte Schmidt den heiligenRochus an, dessen Kult sich mit derPest in Europa verbreitete, da eskeine medizinische Möglich keit zurEindämmung der Seuche gab unddie Menschen sich hilfebedürftig anGott wandten. Als Heiliger fungierteRochus als Mittler zwischen Menschund Gott. Zwar ist Rochus als histo-rische Persönlich keit nicht gesichert,aber seine religions- und sozialge-schichtliche Be deutung ist groß.Eine ähnliche Untersuchung soll nunauch für die Schutzheiligen gegendie Lepra entstehen.

Abgeschlossen wurde die Tagungmit einem offenen Gespräch überdie vorgestellten Themen und mögli-che Zukunftsperspektiven sowohlbezüglich der historischen Lepra -forschung als auch der sich wan-delnden Rezeption der Krankheit inverschiedenen Zeiten und Gesell -schaften. Der Plan, eine dritte Kin -derhauser Tagung 2012 auszurich-ten, wurde mit viel Zustimmung auf-genommen.

Mathias Schmidt und Kai Singhal,Bochum

Bildnis des Nürnberger Patriziers Hieronymus Schurstab vor dem NürnbergerLeprahospital St. Leonhard, 1554

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Die VorgeschichteZunächst bedarf es eines kurzenRückblicks zum Februar 2010. An -läss lich einer Seminararbeit zumThema „Öffentliche Fürsorge im Mit -telalter“ wurden bestimmte Quellenbenötigt. Dabei erwies sich eineNachfrage bei der Dokumenta -tionsstelle des Lepramuseums inMüns ter als Volltreffer. Der Vereins -vorsit zende der Gesellschaft fürLepra kunde e.V. Dr. Klötzer half invorbildlicher Weise mit Rat und Tat.Dabei entstand ein Kontakt, der bisheute anhält. Im Spätsommer 2010folgte daraus ein achtwöchigesPraktikum im Lepramuseum. Dasbrachte als Resultat eine Sonder -ausstellung zum Thema „Lepra inder Literatur“, die von Ende Januarbis Anfang Sep tember 2011 gezeigtwurde. Nun war bei der Studentindas his torische Interesse am ThemaLepra nachhaltig geweckt.

Entstehung, Gestaltung und Be -wer tung der Bachelor-ArbeitWas dann folgte war die logischeKonsequenz der Vorgeschichte. DasPhänomen Aussatz oder Lepra wur -de zum Gegenstand der Abschluss -arbeit des Studiums. Die Erstgut -ach terin von dem Thema und vonder Gliederung zu überzeugen, er -wies sich als unproblematisch. Le -dig lich um die begriffliche Abgren -zung von Aussatz und Lepra gab esleichte Irritationen. Als Zweitgut -achter konnte der Dozent gewonnenwerden, der schon das Praktikumbetreut hatte. Die Auswahl der Lite -ratur gestaltete sich aufwendig,aber unproblematisch. Auch anhistorischen Quellen bestand keinMangel. Dabei erwies sich die Do -kumentationsstelle in Münster er -neut als Fundgrube. Dann gab esfür drei Monate tags und nachts,sonntags und alltags nur noch einThema, und zwar unter dem Titel„Aussatz im Spätmittelalter und in

der Frühen Neuzeit“ und mit demUntertitel „Lepra, Lepröse, Leproso -rien und Leprosenordnungen“.

Es entstand eine Ausarbeitungvon 40 Textseiten mit 11 Anhängen.Dabei wurden 17 Quellen benutztund 46 Fachbücher und Zeitschrif -ten ausgewertet. Wertvolle Informa -tionen lieferten hier „Die Leprosorienin den Rheinlanden“ von MartinUhr macher, „Mit Gott und schwar-zer Magie“ von Kay Peter Jankriftund „Zwischen Fasten und Fest -mahl“ von Barbara Krug-Richter.Der Aufwand hat sich gelohnt. Bei -de Gutachter vergaben eine erfreuli-che Benotung. Besonders hervorge-hoben wurden dabei der Vergleichvon Leprosorien aus verschiedenenRegionen, eine eigenständige Hoch -rechnung der Anzahl der Lepraopferund die Einbeziehung zahlreicherQuellen. Auch die epochenübergrei-fende Betrachtung von Spätmittel -alter und Früher Neuzeit kam gutan.

Kurze Wiedergabe des InhaltsDie Abhandlung befasst sich mitallen Teilbereichen des KomplexesLepra, beschränkt sich jedoch aufdie deutschen Städte und den Zeit -raum von etwa 1250 bis 1600. Aufdie Einleitung mit einem allgemeinenÜberblick und den zu untersuchen-den Leitfragen folgen sechs Kapitelmit diversen Unterabschnitten undeine Schlussbetrachtung mit Zu -sammenfassung. Das erste Kapitelbefasst sich mit der Krankheit Aus -satz oder Lepra. Im Abschnitt Epi -demiologie wird bezüglich des Ur -sprungs auf neueste Forschungs -ergebnisse verwiesen, nämlich aufden Fund eines 4000 Jahre altenSkeletts in Indien und auf gentech-nische Untersuchungen mit Lepra -erregern in Ostafrika. Beleuchtetwerden auch die Theorien zumPhänomen des relativ plötzlichenAussterbens der Seuche. Dabeiwerden die Schwächen dieser Er -klärungen hervorgehoben. Alle dieseTheorien erscheinen nicht ganzüber zeugend. Im nächsten Ab -schnitt werden die Symptome derKrankheit und die damaligen Vor -stellungen zur Entstehung undVerbreitung von Lepra geschildert.Einen breiten Raum nimmt in der

Mit Lepra zum Bachelor of Arts GeschichteBericht einer Bremer Geschichtsstudentin über ihre Abschlussarbeit

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Anschließend werden vier ausge-wählte Leprosorien im Vergleich dar -gestellt: „Melatenhaus Köln“,„Siech kobel St. Johannis Nürn berg“,„Siechenhaus Allerheiligen Rottweil“und „Kinderhaus Müns ter“. DieLeprosorien glichen sich im Prinzipbezüglich des Standortes an Fern -straßen außerhalb der Stadt, aberauch bezüglich der Infrastruk tur. Siehatten Wohngebäude für Aussätzigeund Bedienstete, Wirt schafts -gebäude, eine Kirche und einenFriedhof. Alle betrieben eigeneLandwirtschaft und Rottweil aucheine Forstwirtschaft. Es handeltesich um ein klösterliches Land lebenin einer Art „Mikro kos mos“. Auch dieVerwaltungsstruktur zeigte sich in

den Häusern recht einheitlich. DieOberaufsicht nahmen externe städti-sche Verwalter wahr. Für die internenBelange wa ren zunächst die Siechenselbst zuständig. In der FrühenNeuzeit wurden deren Funktionendann durch städtische „Beamte“übernommen.

Auch die Einkunftsquellen derSiechenhäuser ähnelten sich weit-gehend. Die bedeutendsten Postenwaren neben dem Gründungs kapi -tal frei verfügbare Schenkungenund zweckgebundene Stiftungen inGeld, aber auch in Sachwerten wieImmobilien. Das führte zu Ein nah -men von Mieten, Pachten und Zin -sen. Die Leprosorien in Rottweil

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Abhandlung die „Begutachtung inder Lepraschau“ ein. Dabei werdenfolgende Komplexe behandelt:Durch wen und aus welchen Grün -den wurden die Verdachtsfälle an -gezeigt? Aus welchen Personensetzten sich die Gutachterkom mis -sionen zusammen und gab es dazuregionale oder epochale Abwei -chun gen? Welche Rolle spielte dasLeprosenhaus Köln-Melaten alszentraler Schauort? Nach welchenSymptomen wurde gesucht undwel che Methoden wandte man da -bei an? Hier geht es zum einen umdie bekannten Verfahren wie Nadel -probe, Nasenspreizung, Singprobeund Aderlass, zum anderen aberauch um recht fremd wirkende Me -thoden. So empfiehlt das Feldbuchder Wundarznei von 1517 zur Blut -untersuchung „Nim ein frisch eyeunnd thun es in ein geschirr / unndaderlassz ettlichem dorüber. undnim dann darnoch das eye und briches uff. ist es als were es ge sotteüber ein feür / so ist er maltzig. istdas nit /so ist er reyn.“ Das Adjektivmaltzig steht für malatisch, alsoleprakrank. Bezüglich der Diag nosenwird belegt, dass diese in der Regel„durchaus zuverlässig“ waren. DenGutachtern gelang es zumeist, dieechten Leprösen auszusondern. DieBeurteilung in den so genanntenSchaubriefen lautete in etwa 90 Pro -zent der Fälle auf „rein“, also nichtleprös. Dazu werden drei lateinischeSchaubriefe aus Köln und Nürnberg

näher analysiert. Es folgen detaillier-te Ausführungen über die zeitgenös-sischen Behandlungsme tho den aufder Grundlage der da mals anerkann-ten Vier-Säfte-Lehre. Zu den Thera -piemitteln und -methoden gehörtenKräuter, Salben, Säfte, Schlangen -fleisch, Aderlass, Gold, Quecksilber,Schwefel, Reliquien und auch Men -schenblut. Diese Be handlungen wa -ren jedoch als Heil mittel alle wir-kungslos. Lediglich die Bäder brach-ten eine gewisse Linde rung.

Das nächste Kapitel lautet „DieBetroffenen und ihre Ausgrenzung“.Lepra konnte im Prinzip jeden treffen, aber sie betraf hauptsäch-lich die Angehörigen der Unter -schicht, die Armen. Signifikante ge -schlechts spezifische Unterschiedekonnten nicht festgestellt werden.Dann wird das Phänomen der Si -mulanten behandelt, die Lepra vor-täuschten, um dadurch soziale oderwirtschaftliche Vorteile zu erlangen.Das galt für Siechenhausbewohner

wie auch für vagierende Bettler.Weiterhin wird beschrieben, welcherKleiderordnung die Leprösen unter-lagen und welche Utensilien sie mitsich führten. Auch den rechtlichenund religiösen Aspekten von Aus -satz widmet sich die Abhandlung.Dargestellt wird der Dualismus vonder „göttlichen Strafe für ein sündi-ges Leben“ einerseits und von den„Auserwählten als Kinder Gottes“andererseits. Dieses Kapitel schließtmit den Übergangsritualen beimUmzug ins Leprosorium, also mitder Totenerklärung in einem Gottes -dienst, dem Anlegen der Leprosen -tracht, der Einlieferung des Haus -rats sowie dem Verlesen der Verhal -tensregeln für Stadtgänge und demVortrag der Hausordnungen.

Im Zentrum der Abhandlung stehenaber die Leprosenhäuser. ImAbschnitt „Entstehung, Anzahl undVerteilung“ findet sich folgende Auf -stellung zur Anzahl der Leprosen -häuser im heutigen Deutschland:

heutiges Gebiet Anzahl der LeprosenhäuserSachsen 20Schleswig-Holstein und Hamburg 24Sachsen-Anhalt 33Brandenburg und Berlin 35Thüringen 39Niedersachsen und Bremen 56Rheinland-Pfalz und Saarland 57Mecklenburg-Vorpommern 58Hessen 71Nordrhein-Westfalen 154Baden-Württemberg 191Bayern 220heutiges Bundesgebiet insgesamt 958

Lepraschau, Hans von Gersdorff,Feldbuch der Wundarznei, Straßburg1517

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und Münster besaßen so viel Ka -pital, dass sie als regionale Kredit -an stal ten auftraten und sogar derStadt kasse Geld liehen. Die land-wirtschaftlichen Betriebe decktenweitgehend den Eigenbedarf anpflanzlichen und tierischen Pro -dukten. Das Betteln durch die Aus -sätzigen und ihren Schellenknecht

war zwar spektakulär, spielte fürden Etat aber nur eine untergeord-nete Rolle.

Zeitgenössische Küchen ordnun -gen und Speisepläne zeigen einer-seits die enge Verbindung von Reli -gion und Alltag. Andererseits bewei-sen sie die gute Versorgung mit Es -

sen und Trinken, die dem Standarddes durchschnittlichen Bürgers ent-sprach und das Niveau der einfa-chen Handwerker übertraf. Dabeierstaunt der recht hohe Fleisch -konsum.

Unter dem Kapitel Hausordnun -gen werden die Verhältnisse vonMünster und Nürnberg detailliertbeleuchtet. Die strengen Ordnungenregelten alle Lebensbereiche. Hochim Kurs standen die christlichenRegeln von Gebet und Gottesdienstund ein friedliches und störungsfrei-es Gemeinschaftsleben ohne Aus -schweifungen und Lustbarkeiten.Etliche Bestimmungen befasstensich mit dem Keuschheitsgebot undmit der Isolation der Siechen gegen-über den Gesunden. Die Hausord -nungen erwiesen sich jedoch nurbedingt als tauglich und erfülltenihre Funktion nur begrenzt.

Dem weitgehend unbekanntenSchicksal der vagierenden Aussätzi -gen als Wanderbettler ist ein eige-nes Kapitel gewidmet. Das gleichegilt für die Anzahl der Lepraopferinsgesamt. Die hypothetische Hoch -rechnung kommt für den Zeitraumvon 1250 bis 1600 in den deutschenStädten auf eine geschätzte Opfer -zahl von etwa 500.000 bis zu einerMillion.

Die Abhandlung endet mit einemEpochenvergleich bezüglich Lepra.Aufgezeigt werden zunächst diegravierenden Unterschiede zwi-schen Hochmittelalter und Spät -mittelalter. Dann werden die zögerli-chen und kleinschrittigen Verände -rungen vom Spätmittelalter bis zumAussterben der Seuche Anfang des17. Jahrhunderts dargestellt. InBezug auf das Thema Aussatz kannman das 16. Jahrhundert wenigerals Frühe Neuzeit ansehen, sonderneher als Ausläufer des Spätmittel -alters einordnen.

Caroline Tronnier, Bremen

Sandsteinskulptur von 1629 an der Kölner Melatenmauer, aus: Aussatz – Lepra –Hansenkrankheit, Teil 1, Ingolstadt 1982, S. 111

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Programm 2012Veranstaltungen im Lepramuseum

Weitere Veranstaltungen werdenrechtzeitig bekanntgegeben.

Weltlepratag 29.1.2012, 12 UhrEröffnung der Sonderausstellung„Lepra in Brasilien 2011. Ein Reisebericht“

17. März 2012, 17.30 UhrGertrudenmahlAnmeldung erforderlich

27. April 2012, 17 UhrMitgliederversammlungGäste willkommen

7. Juli 2011, 10–17 Uhr3. Kinderhauser Tagung„Geschichte und Rezeption derLepra“

1. September 2012, 16–24 UhrNacht der Museen

9. September 2012, 11–18 UhrTag des offenen Denkmals

Änderungen vorbehalten.

InhaltBrasilien 2011, 17.–30. NovemberTagebuch einer Erkundung rund um den brasilianischen Leprologenkongress 2011Ralf Klötzer

Letzter Mauerabschnitt des früheren Leprahospitals Kinderhaus restauriert Mechthild Mennebröcker

Neues Gertrudenbild vor dem LepramuseumRalf Klötzer

Fünf Jahre Gertrudenmahl 2007–2011Ralf Klötzer

Besuch bei der heiligen Gertrude in NivellesIngomar Reiff

Besuch des Neanderthal-MuseumsBettina Knust und Ralf Klötzer

Erster Melatentag in Aachen am 7. Mai 2011Helma Rombach-Geier

Durch Zeugnisse der Leprageschichte die Leprahilfe fördernPodiumsgespräch beim Aachener Melatentag 2011Redaktion: Ralf Klötzer

Zweite Kinderhauser Tagung 2011: Geschichte und Rezeption der LepraMathias Schmidt und Kai Singhal

Mit Lepra zum Bachelor of Arts GeschichteBericht einer Bremer Geschichtsstudentin über ihre AbschlussarbeitCaroline Tronnier

Kinderhaus–Hawaii. Die etwas andere StudienfahrtProjektwoche des Anne-Frank-Berufskollegs Münster im LepramuseumAlbert Horstmann

Autorinnen und Autoren

1:10.000 – Zu diesem HeftRalf Klötzer

Autorinnen und Autoren 36

ImpressumHerausgeber:Gesellschaft für Leprakunde e.V.Albrecht-Thaer-Straße 1448147 MünsterTelefon 0251-525295 (Klötzer)Email: [email protected]: www.lepramuseum.de

Verantwortlich: Dr. Ralf KlötzerRedaktion: Ursula Weissler

Dr. Ralf KlötzerDruck: Burlage Münster

Die Klapper erscheint einmal jähr lich. Der Bezug ist für Mit glieder, Archive undBibliotheken kostenlos. Bei anderen Abonnenten wird um Über -weisung von 4,00 € je Ex em plar gebeten.

Spenden sind jederzeit willkommen auf dasKonto Nr. 9002635 bei der SparkasseMünsterland Ost, BLZ 400 501 50.

Albert HORSTMANN, Lehrer am Anne-Frank-Berufskolleg,Münster

Ralf KLÖTZER, Dr. phil., Historiker und Archivar, Vorsitzender derGesellschaft für Leprakunde e.V.

Bettina KNUST, Lehrerin, Vorstandsmitglied der Gesellschaft fürLeprakunde e.V.

Mechthild MENNEBRÖCKER M.A., Mitarbeiterin der StädtischenDenkmalbehörde, Münster

Ingomar REIFF, Dr. rer. nat., Mikrobiologe, Akad. Oberrat i. R.

Autorinnen und AutorenHelma ROMBACH-GEIER, Erzieherin, Vorstandsmitglied derMelaten-Gesellschaft Aachen e.V.

Mathias SCHMIDT, Masterstudent Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum

Kai SINGHAL, Masterstudent Geschichte an der Ruhr-UniversitätBochum

Caroline TRONNIER, Masterstudentin Geschichte an derUniversität Bremen