Reisebericht 2005 - Tadra

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Reisebericht 2005 Den Weg von Frankfurt nach Dawu brauche ich Ihnen sicherlich nicht weiter aus- zuführen. Dies kennen Sie bereits zur Genüge aus unseren bisherigen Reiseberichten. Es war zwar wie immer anstrengend und inzwischen auch vertraut, aber dennoch ist es immer wieder aufs neue aufregend. Solange uns keine bewaffneten Räuberbanden überfallen, wie schon oft in dieser Gegend passiert, ist alles halb so schlimm. Da unsere Mitarbeiter und Kinder von unserer Ankunft wussten, hatten sie einen herzlichen Empfang am Eingangstor vor unserem Schulgelände vorbereitet. Wie üblich haben sie sich in Reihen aufgestellt und uns "Khataks" (Glücksschals) überreicht, um somit ihre Freude über das Wiedersehen zum Ausdruck zu bringen. Die Kinder hielten sich aber nicht lange mit diesem formellen Empfang auf. Plötzlich waren wir von den Kindern umringt und von allen Seiten umklammert. Es brach ein heilloses Durcheinander aus (Tohuwabohu). Jeder wollte uns ganz persönlich begrüßen, um- armen und auch gleichzeitig alle Neuigkeiten erzählen. Es gab Gedränge, Geschrei und Ellenbogeneinsätze, bis Jampa und die anderen Erwachsenen uns nach einer Weile aus dieser Umklammerung befreit haben. Im Wohnzimmer des Jugendhauses haben wir dann auch die freiwilligen Englischlehrer/innen aus Deutschland und der Schweiz kennengelernt. Bis auf die Schweizerin, waren allesamt im Jugendhaus untergebracht, denn hier haben wir heißes, fließendes Wasser zum Duschen. Es war kein Akt der Diskriminierung gegenüber der Schweizerin, dass sie in einem Familienhaus untergebracht war. Sie wollte es unbedingt so! Zu ihrem Leidwesen, denn aus ihrem Zimmer wurden in den folgenden Wochen 2.000,-Yuan (200,- Euro) gestohlen. Unseren Ratschlag, Wertsachen und Geld beim Jampa im Safe zu deponieren, da viele unserer Kinder ehemals Straßenkinder waren und nicht alle ihre diebischen Neigungen abgelegt haben, hatte sie leider nicht ernstgenommen. Ihr Zimmer war häufig von Kindern belagert. So ein Ereignis ist für alle Beteiligten nicht schön, insbesondere nicht für die Kinder. Denn jetzt ging die Frage los, wer war der Dieb? Jeder in dem Haus fühlte sich verdächtigt, auch die Hausmutter. Ehrlich gesagt, haben mir die Kinder leid getan. Wer weiß, ob es nicht doch ein Erwachsener gewesen ist. Um es kurz zu machen, wir haben weder das Geld gefunden, noch den Dieb ausfindig machen können, aber dafür ist eine sehr unangenehme Erinnerung für alle Beteiligten zurückgeblieben. Unser erstes Augenmerk galt den neuen Kindern, die wir letztes Jahr bei uns im Kinderdorf aufgenommen haben. Ihnen allen geht es hervorragend. Sie haben sich alle relativ schnell bei uns akklimatisiert, wie Jampa etwas ausschweifend zu erzählen pflegte. Konkret heißt das, dass wir die Angriffe der Läuse, die diese Kinder mitgebracht haben, ohne große Schäden bei den anderen Kindern anzurichten, überstanden haben. Unsere beiden Gewächshäuser blühen und gedeihen! Es wachsen Blumenkohl, Rettich, Tomaten, Bohnen, Chinakohl, Weißkohl und einige andere exotische Gemüsesorten. Allerdings könnte man da noch viel mehr herausholen, als bisher geschehen. Jampa hatte eine junge Tibeterin für diese Arbeit eingestellt. Sie ist eine

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Reisebericht 2005 Den Weg von Frankfurt nach Dawu brauche ich Ihnen sicherlich nicht weiter aus- zuführen. Dies kennen Sie bereits zur Genüge aus unseren bisherigen Reiseberichten. Es war zwar wie immer anstrengend und inzwischen auch vertraut, aber dennoch ist es immer wieder aufs neue aufregend. Solange uns keine bewaffneten Räuberbanden überfallen, wie schon oft in dieser Gegend passiert, ist alles halb so schlimm. Da unsere Mitarbeiter und Kinder von unserer Ankunft wussten, hatten sie einen herzlichen Empfang am Eingangstor vor unserem Schulgelände vorbereitet. Wie üblich haben sie sich in Reihen aufgestellt und uns "Khataks" (Glücksschals) überreicht, um somit ihre Freude über das Wiedersehen zum Ausdruck zu bringen. Die Kinder hielten sich aber nicht lange mit diesem formellen Empfang auf. Plötzlich waren wir von den Kindern umringt und von allen Seiten umklammert. Es brach ein heilloses Durcheinander aus (Tohuwabohu). Jeder wollte uns ganz persönlich begrüßen, um- armen und auch gleichzeitig alle Neuigkeiten erzählen. Es gab Gedränge, Geschrei und Ellenbogeneinsätze, bis Jampa und die anderen Erwachsenen uns nach einer Weile aus dieser Umklammerung befreit haben. Im Wohnzimmer des Jugendhauses haben wir dann auch die freiwilligen Englischlehrer/innen aus Deutschland und der Schweiz kennengelernt. Bis auf die Schweizerin, waren allesamt im Jugendhaus untergebracht, denn hier haben wir heißes, fließendes Wasser zum Duschen. Es war kein Akt der Diskriminierung gegenüber der Schweizerin, dass sie in einem Familienhaus untergebracht war. Sie wollte es unbedingt so! Zu ihrem Leidwesen, denn aus ihrem Zimmer wurden in den folgenden Wochen 2.000,-Yuan (200,- Euro) gestohlen. Unseren Ratschlag, Wertsachen und Geld beim Jampa im Safe zu deponieren, da viele unserer Kinder ehemals Straßenkinder waren und nicht alle ihre diebischen Neigungen abgelegt haben, hatte sie leider nicht ernstgenommen. Ihr Zimmer war häufig von Kindern belagert. So ein Ereignis ist für alle Beteiligten nicht schön, insbesondere nicht für die Kinder. Denn jetzt ging die Frage los, wer war der Dieb? Jeder in dem Haus fühlte sich verdächtigt, auch die Hausmutter. Ehrlich gesagt, haben mir die Kinder leid getan. Wer weiß, ob es nicht doch ein Erwachsener gewesen ist. Um es kurz zu machen, wir haben weder das Geld gefunden, noch den Dieb ausfindig machen können, aber dafür ist eine sehr unangenehme Erinnerung für alle Beteiligten zurückgeblieben. Unser erstes Augenmerk galt den neuen Kindern, die wir letztes Jahr bei uns im Kinderdorf aufgenommen haben. Ihnen allen geht es hervorragend. Sie haben sich alle relativ schnell bei uns akklimatisiert, wie Jampa etwas ausschweifend zu erzählen pflegte. Konkret heißt das, dass wir die Angriffe der Läuse, die diese Kinder mitgebracht haben, ohne große Schäden bei den anderen Kindern anzurichten, überstanden haben. Unsere beiden Gewächshäuser blühen und gedeihen! Es wachsen Blumenkohl, Rettich, Tomaten, Bohnen, Chinakohl, Weißkohl und einige andere exotische Gemüsesorten. Allerdings könnte man da noch viel mehr herausholen, als bisher geschehen. Jampa hatte eine junge Tibeterin für diese Arbeit eingestellt. Sie ist eine

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junge äußerst attraktive Nomadenfrau, eine richtige Augenweide. Damit ist aber auch alles über sie gesagt. Sie war mehr mit sich selbst und mit Entspannen beschäftigt, als mit unserem Gemüse. Sie war wahrlich völlig fehl am Platz. Wir haben sie dann auch bald entlassen müssen.

Gewächshaus Der Zufall wollte es, dass in den folgenden Tagen ein alter Chinese mit einem kleinen Mädchen bei uns im Kinderdorf auftauchte. Er bat uns unter Tränen, das 6-jährige Mädchen, angeblich ein Findelkind, das er bislang gepflegt hat, bei uns

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aufzunehmen. Dem Aussehen nach muss es ein chinesisches Kind sein. Unsere Recherchen ergaben, dass das Mädchen tatsächlich keine Eltern hat und beide unter sehr ärmlichen Verhältnissen leben. Wir haben das Mädchen bei uns aufgenommen. Es war sehr rührend zu sehen, wie schmerzhaft die anschließende Trennung des alten Mannes von dem Mädchen war. Sie hat zwar beim Abschied nicht laut geweint, aber die Tränen liefen ihr unentwegt über ihre zarte Wangen. Sie verfolgte den alten Mann mit ihren Augen, bis er in der Ferne verschwand und nicht mehr zu sehen war. Erst dann begann sie bitterlich zu weinen. Ich habe versucht, sie zu trösten, indem ich ihr durch einen Dolmetscher verständlich machte, dass der alte Mann sie in den nächsten Tagen wieder besuchen wird. Mein Mann hatte nämlich den Chinesen beim Abschied gebeten, in den nächsten Tagen häufiger vorbei zu schauen, um ihr die Angst vor einer endgültigen Trennung zu nehmen. Der alte Mann kam dann auch in den folgenden Tagen, um sein Findelkind zu besuchen. Aber die Trennung zwischen den beiden schien jedes Mal noch schmerzhafter zu sein als zu vor. Wir haben schließlich den Chinesen gefragt, ob er sich mit Gemüsegärten auskennt und ob er Erfahrung damit hat. Er bejahte dies. Somit haben wir ihn kurzerhand bei uns als neuen Mitarbeiter eingestellt, um zum einen einen erfahrenen Mann für diese Arbeit zu haben und zum anderen den alten Mann in seinen alten Tagen nicht von seinem Pflegekind zu trennen. Er ist seither in unserem Kinderdorf, bezieht das übliche Gehalt wie die anderen Mitarbeiter und hat sein eigenes Zimmer und die Verpflegung umsonst. Beide sind sehr glücklich darüber!

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Der alter Chinese mit seinem Findelkind Unsere Handwerksschule haben wir mit zwei weiteren Fächern ausgebaut. Wir konnten einen sehr guten tibetischen "Thangka-Maler" als Lehrer für die Malkunst ver- pflichten und eine Nomadenfrau als Webmeisterin für tibetische Teppiche als Lehrerin einstellen. Der Thangka-Meister war in seiner ganzen Einstellung eine positive Überraschung für uns alle. Bei dem Einstellungsgespräch sagte er meinem Mann, dass sein Gehalt sekundär sei und er werde jede Summe akzeptieren, die wir ihm anbieten. Er wolle vielmehr in seinen alten Tagen etwas Sinnvolles in seinem Leben tun und es gäbe nichts Sinnvolleres, als den Waisenkindern seine Fähigkeiten weiter zu vermitteln.

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Tsultrim, unser Thangka-Lehrer

Kelsang, unsere Weblehrerin Unser Dorfleiter Jampa hatte schon in Sondierungsgesprächen mit ihm heraus gehört, dass Tsultrim, so heißt der Thangka-Lehrer, auch mit nur 300,- bis 400,- Yuan (ca. 40,- Euro) im Monat einverstanden gewesen wäre. Um seine bescheidene, humanistische Einstellung nicht auszunutzen, haben wir ihm letztlich 600,- Yuan im Monat angeboten. Er war so ehrlich, zuzugeben, dass dies weit mehr sei, als er erwartet hätte. Solche Menschen sind heutzutage rar gesät in Tibet, und man sollte alles versuchen, um sie im Kinderdorf langfristig zu verpflichten.

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Der Schreinermeister, mit dem wir bereits vor unserer Abreise nach Tibet telefonisch eine Einstellung bei uns vereinbart hatten, ist aus familiären Gründen kurzfristig ab- gesprungen. In der Kürze der Zeit konnten wir leider keinen neuen Schreinerlehrer ausfindig machen. Aber wir bleiben am Ball, zumal wir inzwischen die komplette Ausrüstung für die Schreinerei, dank der freundlichen Spende vom Lions Förder Verein Woerth e.V. angeschafft haben. Da wir im Moment keinen Goldschmied in unserer Handwerksschule haben, schickten wir Thubten Gompa, 17 Jahre alt, der den ausdrücklichen Wunsch geäußert hat, diese Kunst zu erlernen, nach Dartsedo in eine Goldschmiede-Lehre. Wir hatten dieses Jahr 17 neue Abgänge in unserer 6. Klasse. Davon erreichten 14 das Klassenziel. Je nach ihren Leistungen in den verschiedenen Fächern, haben wir einen Teil der Kinder, die z.B. besonders gut in Tibetisch waren, nach Drango und Minya, und die Kinder, die sich besonders in Chinesisch ausgezeichnet haben, nach Dawu in die Mittelschule geschickt. Die restlichen Kinder mit schlechten Noten und auch weiterhin wenig Lernmotivation, teilten wir, je nach Veranlagung und Wunsch, in den verschiedenen Handwerksfächern auf. Dafür haben wir dieses Jahr wieder 20 neue Waisenkinder bei uns aufgenommen. Obwohl wir sehr vorsichtig und gewissen-haft bei der Auswahl der neuen Kindern vorgehen, unterlaufen uns doch hier und da Fehler. So entpuppte sich nachträglich ein Junge, den wir letztes Jahr bei uns aufgenommen hatten, der angeblich ein Vollwaise war, als jemand, der beide Elternteile noch hat. Die Dokumente, die man uns vorgelegt und die Informationen, die man uns gegeben hatte, waren gefälscht. Ihn haben wir, so leid es uns auch tat, wieder nach Hause schicken müssen, um unsere Glaubwürdigkeit der Bevölkerung gegenüber zu bewahren.

Kunga 6 Jahre, 2004 aufgenommen Karkyi 6 J. & Tsepa 9 J. Dubdrel 7 J. alle drei 2005 aufgn. Abgänge hatten wir auch unter den Hausmüttern. Ama Desa hat nach 4 Jahren die Arbeit bei uns gekündigt, da sie verheiratet werden sollte, um zu Hause ihre alte Mutter zu pflegen. Auch Ama Sonam und Ama Baba haben uns aus persönlichen, familiären Gründen verlassen. Ama Serdon ist weiterhin krank und möchte eine Auszeit nehmen. Tenzin Choephel, einer unser besten Schüler in Englisch, für den wir auch einen intensiven Englischkurs für ein Jahr in Chengdu bezahlt haben, ist nach Abschluss der Ausbildung auf Wunsch nach Yünnen gegangen, um dort als Touristguide und Dolmetscher zu arbeiten. Er verdient wohl recht gut dabei. Ein Junge namens Woeser, 17 Jahre alt, der früher ein aufgeweckter, lernbegieriger Junge war, ist seit er in Dawu in die Mittelschule geht, quasi auf die schiefe Bahn geraten. Die Kinder haben in der Stadt allerlei Möglichkeiten sich auszutoben: Spielhallen,

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Videotheken, Diskotheken etc. Er hat immer wieder trotz Strafe die Schule geschwänzt, Geld aus unserem Geschäft gestohlen, und ist sogar mehrere Tage und Nächte unserem Kinderdorf fern geblieben. Auch während der Zeit, als wir im Kinderdorf waren, fehlte er immer wieder. Nicht nur die Lehrer und Hausmütter, sondern auch mein Mann haben mit ihm mehrere Male eindringlich gesprochen, um ihm ohne Sanktionen wieder eine Eingliederung in unsere Gemeinde zu ermöglichen. Trotz seines Versprechens, nie wieder so etwas zu machen, war er nach 4 Tagen wieder fort. Das Gefährliche daran ist, dass er zunehmend auch die anderen Kinder negativ beeinflußt. Nach langem Be-raten haben wir alle keine andere Lösung gesehen, als ihn seinem Onkel zu übergeben und ihn somit aus dem Kinderdorf auszuschließen. Ungelöst ist nach wie vor der schlechte Chinesisch-Unterricht bei uns in der Schule. Laut Vertrag ist der Tadraverein nicht befugt, Lehrer/innen eigenmächtig einzustellen. Wir sind auf die Lehrer angewiesen, die das Lehramt uns zuteilt. Obwohl wir ausdrücklich auf qualifiziertes Personal bestehen, werden immer wieder Personen zu uns geschickt, die entweder überhaupt keine Lust haben oder schlecht ausgebildet sind. Schon letztes Jahr haben wir die chinesischen Lehrer wegen Unzulänglichkeiten ausgetauscht. Wie wir aus der Befragung unserer Kinder wissen, sind die neuen Lehrerinen in keinster Weise besser. Daher haben wir sie im Sommer dieses Jahres abermals auswechseln lassen, in der Hoffnung, endlich ein paar gute Lehrer/innen zu bekommen. Wir werden es sehen. Was nun die beste Erziehung ist, darüber scheinen zwischen unseren Mitarbeitern und uns unüberbrückbare Vorstellungen zu herrschen. Wir hatten bereits vor acht Jahren, als wir mit unserem Projekt begannen, in unserer schriftlichen Hausordnung und unseren Leitlinien ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das Schlagen der Kinder als Erziehungsmethode in unserem Kinderdorf nicht akzeptiert wird und daher strikt verboten ist. Wir wissen aber, dass nicht jeder sich daran gehalten hat. Zwar wurden unsere Kinder wesentlich behutsamer behandelt, als manche Kinder in den anderen Schulen in der Umgebung, aber es kam eben vor, dass ein Kind in der Schule durch Schläge bestraft wurde. Es gibt auch ein entsprechendes weit verbreitetes Sprichwort in dieser Gegend, das besagt: Die Fähigkeit zum Lernen liegt nicht im Gehirn, sondern auf den Po-Backen der Kinder. Wir haben jedes Mal mit unseren Mitarbeitern darüber diskutiert, um sie nicht einfach zu bevormunden, sondern sie von der Unsinnigkeit dieser Maßnahmen zu überzeugen. Leider ist es uns nicht ganz gelungen, alle Mitarbeiter davon zu überzeugen. Einen Vorfall, bei dem ein Kind da- bei verletzt wurde, nahmen wir zum Anlass, auch in Anwesenheit der zuständigen Beamten des Lehramtes das Thema nun endgültig auszudiskutieren und zu einem Konsens zu kommen. Einige Lehrer meinten bei der anschließenden mit Emotion geführten kontroversen Diskussion tatsächlich, dass wohl europäische Kinder anders seien als tibetische Kinder. In Tibet könne man ohne Zucht und Ordnung nichts er- reichen. Das erinnerte uns ein wenig an die internationale politische Diskussion über die Universalität der Menschenrechte. Einige Diktaturen in Asien argumentieren tat- sächlich, dass Asiaten anders seien und die Menschenrechte in Asien einen anderen Stellenwert haben als z.B. im Westen. Um diese fruchtlose Diskussion letztlich zu verkürzen, sprach mein Mann ein Machtwort, in dem er sagte, dass wir auf keinen Fall in unserem Kinderdorf Gewalt als eine Erziehungsmethode dulden werden und jeder Mitarbeiter, der sich daran nicht halten kann und will, sofort das Kinderdorf verlassen soll. Wir haben auch die anwesenden Beamten an ihre Pflicht erinnert, da- für Sorge zu tragen, dass die Richtlinien des

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chinesischen Erziehungsministeriums, in der ausdrücklich Gewalt in den Schulen verboten ist, befolgt werden. Es wurde ver- einbart, dass in Zukunft jeder Mitarbeiter sofort entlassen wird, der sich nicht an unsere Hausordnung hält! Da wir diesmal wegen Amdo, wo wir unser zweites Projekt aufbauen, nicht sehr viel Zeit für Dawu hatten, fiel der Sommerausflug mit den Kindern etwas bescheidener aus. Wir sind quasi mit Kind und Kegel auf dem heiligen Berg "Näden-Schimo" ge- wesen, der etwas über 4000 m hoch sein dürfte. Wir aus Europa hatten allesamt Konditionsprobleme, während die Kinder, allen voran die Jüngsten, den Berg quasi hoch gerannt sind. Die Hausmütter hatten allerlei Sachen zum Essen dabei, sodass der Ausflug mit Speis und Trank und viel Gesang trotz der Kürze der Zeit ein erlebnis- reicher Tag für uns alle war.

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Ausflug auf den heiligen Berg Bild mit Englischlehrern am heiligen See Unser zweiter Projektstandort ,,Machen Dzong" liegt in der Region Golok, das wie- derum der ehemaligen tibetischen Provinz Amdo zugeordnet ist. Es gibt zwei Wege Machen Dzong zu erreichen. Der eine Weg verläuft über Mani Gongkhar und macht einen großen Bogen nach Westen. Der Weg ist besser und sicherer zu fahren, aber er dauert fast 3 Tage allein für die Hinfahrt. Der zweite Weg führt über Serthak, der zum Teil durch tiefe Schluchten führt, quasi eine Abkürzung darstellt, aber eben nicht immer befahrbar ist. Wenn man Pech hat, ist der Weg wegen Erdrutschen gesperrt, was wohl häufig passiert, und man muss dann den ganzen Weg wieder zurück fahren. Wir haben aber, um Zeit zu sparen, alles auf eine Karte gesetzt und die Abkürzung genommen. Morgens um 5 Uhr sind wir zu fünft aus Dawu mit einem Jeep aufgebrochen, und erst gegen 23 Uhr sind wir ohne Probleme in Golok heil, aber völlig ausgelaugt angekommen. Für diesen strapaziösen Weg wurden wir allerdings zum Teil durch grandiose Landschaften und exotische Bauten entschädigt.

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Landschaften unterwegs nach Golok Gott sei Dank hatte keiner von uns die Höhenkrankheit, obwohl Golok bei 4200 m liegt. Wegen dieser Höhe wachsen in Golok keine Bäume. Diese Gegend ist ein Hochplateau mit riesigen flachen Ebenen, umzäunt von Gebirgsketten in der Ferne. Es ist mehr eine unendliche Weite ohne Bäume und ohne Felsen bzw. Steine, sodass auf Grund dieser Naturgegebenheiten notgedrungen anders gebaut werden muss, als z.B. in Kham. Im Winter sollen hier Temperaturen weit über -30 Grad Celsius herrschen und der eisige Wind soll besonders unangenehm und stark sein. Wir haben daher auch nach Konsultation eines Architekten eine solide Ziegelsteinbauweise

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gewählt, die etwas mehr kostet, als wir ursprünglich geplant hatten. Ein Haus kostet demnach mit eingebauter Heizung 27.500,- Euro und nicht 22.000,- Euro, wie die Häuser in unserem ersten Kinderdorf. Allerdings waren in Kham wegen seiner üppigen Wälder Baumstämme für den Bau der Häuser relativ preisgünstig zu bekommen, und unsere Häuser in Dawu haben zudem keine Heizungen. Insofern war der Aufpreis von 5.500,- Euro gerechtfertigt.

Fertigstellung des ersten Familienhauses in Golok Eigentlich war ursprünglich in Golok kein großes Kinderdorf-Projekt von uns geplant. Unsere Intention war vielmehr, den Straßen- und Waisenkindern ein Heim zu bauen und sie in die dortigen Staatsschulen zu schicken. Wie Sie wissen, konnten wir die Kinder aus der Provinz Amdo aus politischen Gründen nicht bei uns in unserem ersten Kinderdorf in Kham aufnehmen. Allein die Behörden in Golok bestanden ein-dringlich darauf, gleichzeitig auch eine Schule zu bauen, ansonsten würden sie keine Genehmigung für unser Projekt dort erteilen. Es war etwas verwunderlich, denn die Behörden sind ansonsten gegenüber Schulen, die von ausländischen Organisationen finanziert werden, etwas skeptischer, aber wahrscheinlich lag der Grund darin, dass die Staatsschule baulich hinfällig, klein und überfüllt war. Da wir erfreulicherweise gleichzeitig auch hier in Europa sofort 4 Sponsoren gefunden hatten, die sich bereit erklärt haben, jeweils ein komplettes Haus zu finanzieren, haben wir unseren Plan erweitert. Die im letzten Reisebericht angegebenen Sponsoren haben dann auch das Geld jeweils für ihr Haus gespendet, bis auf einen Sponsor, der relative kurzfristig abgesprungen ist. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an unsere Sponsoren für diese großzügige Spende und für ihr Vertrauen! Das Haus besteht aus 5 Schlaf- zimmern für die Kinder, je ca. 5,24 x 3,3 m groß, zwei Zimmern für die Pflegeeltern, ca. 3,3 x 4,5 m, einem großen Wohnzimmer 6 x 5,24 m, zwei Toiletten, zwei Duschräumen und einem gemeinsamen Waschraum.

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Da wir kein Geld für den Bau der Schule hatten, haben wir zwei unserer Sponsoren gefragt, ob wir ihre Spenden zusammen legen dürfen, um damit den Bau der Schule zu finanzieren, der insgesamt 79.000,- Euro kostet. Sie haben sich einverstanden er- klärt. Einen weiteren Betrag von 32.000,-Euro hat die DEMIGH-Stiftung aus der Schweiz beigesteuert, die Restsumme wird vom Tadra-Verein finanziert. Somit sind inzwischen zwei Familienhäuser und die Grundschule bis auf paar Kleinigkeiten fertig gestellt. Es hat dieses Jahr in Golok sehr viel geregnet und geschneit, so dass wir den Bau nicht wie geplant im September/Oktober abschließen konnten. Wegen der Kälte in Golok kann lediglich 5 bis 6 Monate dort gebaut werden.

Unsere neue Grundschule in Golok Die Schule beinhaltet 6 Klassenräume, einen großen Konferenzraum für die Lehrerschaft, ein Büro, eine Bibliothek, und ist praktisch identisch mit unserer Schule in Dawu. Wir haben sie nach dem selben Bauplan bauen lassen. Unser Grundstück in Golok ist ca. 6 Hektar groß und ist somit größer als das Grundstück in Dawu. Es ist jedoch landschaftlich etwas eintönig, vor allem die Bäume fehlen dort. Um in Zukunft keine Probleme mit dem Grundstück zu bekommen, wie seiner Zeit in Dawu, haben wir unser Grundstück nach Erhalt der Eigentumsurkunde mit einer Mauer umzäunt. Strom ist bereits vorhanden. Die Wasserleitungen werden in Kürze gelegt. Als nächstes werden wir die Heizungsanlage im neuen Jahr in Angriff nehmen. Sobald die Innenarbeit in den Häusern abgeschlossen ist, werden wir die ersten Kinder dort aufnehmen. Weitere Häuser sind angedacht. Auch gehen wir davon aus, dass wir April 2006 die Schule in Betrieb nehmen können. Sie sehen, liebe Sponsoren/innen, dass die Arbeit weiter geht und dass wir uns für nächstes Jahr wieder sehr viel vorgenommen haben. Auf Grund unserer bisher erfolgreich verlaufenen Arbeit, haben wir eine gute Resonanz gefunden und hoffen daher auch im nächsten Jahr viele Unterstützer für unser Vorhaben zu gewinnen. Sicher, die Arbeit ist anstrengend, aber glauben Sie es mir, es macht auch kolossal viel Spaß.

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Ich bin nun am Ende meines diesjährigen Reiseberichtes über das Tadra-Projekt. Wir wollen zum Schluss den vielen Menschen, die uns in verschiedenster Form, sei es durch finanzielle Hilfe oder Sachspenden, oder durch Arbeit vor Ort, unterstützt haben, unser tiefstes Dankeschön aussprechen. Ohne diese Hilfe wäre ein solches Projekt gar nicht denkbar. An alle ein herzliches TUG-JE CHE !!!!! Noch eine kurze Ankündigung in eigener Sache. Mein Mann hat 1985 & 1989 jeweils ein Musikalbum herausgebracht und die Einnahmen sozialen Projekten in Indien zukommen lassen. So wurde mit dem 1. Album Trinkhor I, das Dekyling Settlement für Flüchtlinge aus Bhutan in Dehra-Dun mitfinanziert und mit dem 2. Album das Kinderdorf in Mussoorie / Nordindien unterstützt. Er produziert im Moment ein drittes Album mit seinen Musikfreunden in Deutschland mit eigenen Kompositionen, eine Synthese aus tibetischen Melodien und westlicher Popmusik mit schönen Balladen, um damit das Tadra-Projekt zu unterstützen. Wir hoffen, dass sie uns bei diesem Vorhaben unterstützen werden. Bitte bestellen Sie die CD (die ca.20,-Euro kosten wird) unter folgender

Adresse: L.Palden Tawo, Stettiner Str. 11 a, 58515 Lüdenscheid. Telefon: 02351/944753 , Fax: 944754, eMail: [email protected]

Zum Schluss möchte ich meine Ausführungen mit einem Satz von einem weisen Tibeter abschließen, der gesagt hat: „Wenn man schon ein Egoist sein muss, so sei man ein weiser Egoist. Helfe den anderen und du wirst selbst glücklich dabei “. Wir wünschen Ihnen ein FROHES WEIHNACHTSFEST und ein ERFOLGREICHES NEUES JAHR 2006 !!! (Chöni Tawo) Lüdenscheid November 2005