Ringen mit dem Unsichtbaren...Ringen mit dem Unsichtbaren Der senegalesische Ringkampf ist ein...

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Ringen mit dem Unsichtbaren Der senegalesische Ringkampf ist ein Mikrokosmos, in dem sich die Gesellschaft spiegelt. Die aufwendigen magischen Vorbereitungen zeigen die Bedeutung des Unerklärlichen im Alltag. David Signer, NZZ, Dakar 2018 Das körperliche Training ist nur ein Teil der Vorbereitung: Kherou Ngor bei der rituellen Waschung am Meer. Ngor ist ein altes Quartier in Dakar. Es liegt am Meer und wirkt mit seinen engen Gässchen wie eine arabische Altstadt. Am Samstagmorgen steht Djibril Ndir dort vor dem Haus seines Onkels und verteilt Plasticsäckchen mit Pommes-Chips an die Kinder des Viertels. Es ist der 4. November, ein wichtiger Tag für den jungen, sehnigen Mann, der etwas seltsam aussieht, wie er da in seinen weissen Socken ohne Schuhe im Sand steht.

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Ringen mit dem Unsichtbaren Der senegalesische Ringkampf ist ein Mikrokosmos, in dem sich die

Gesellschaft spiegelt. Die aufwendigen magischen Vorbereitungen

zeigen die Bedeutung des Unerklärlichen im Alltag.

David Signer, NZZ, Dakar 2018

Das körperliche Training ist nur ein Teil der Vorbereitung: Kherou Ngor bei der rituellen Waschung am Meer.

Ngor ist ein altes Quartier in Dakar. Es liegt am Meer und wirkt mit seinen engen Gässchen wie eine arabische Altstadt. Am Samstagmorgen steht Djibril Ndir dort vor dem Haus seines Onkels und verteilt Plasticsäckchen mit Pommes-Chips an die Kinder des Viertels. Es ist der 4. November, ein wichtiger Tag für den jungen, sehnigen Mann, der etwas seltsam aussieht, wie er da in seinen weissen Socken ohne Schuhe im Sand steht.

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Viel mehr als nur Sport Jeder in Ngor kennt Djibril, wenn auch vor allem unter seinem Kampfnamen Kherou Ngor, zu Deutsch Fels von Ngor. Der 28-Jährige ist Ringer. Ringkampf, in der Landessprache Wolof «Lamb» genannt, ist in Senegal ein Volkssport und noch wichtiger als Fussball. Es gibt eine Tageszeitung, die über nichts anderes berichtet. Stars wie Bombardier oder Yékini, die «Könige der Arena», verdienen Hunderttausende von Franken. In Dakar gibt es sechzig Ringkampf-Klubs oder Ställe, wie sie genannt werden. Kherou Ngor ist bei «Olympique de Ngor» dabei.

Das afrikanische Ringen ist aber viel mehr als ein Sport. Religion, Magie, auch Show und Theater spielen eine wichtige Rolle. Am späten Nachmittag wird Djibril im Stadion Ngor stehen, um gegen Guori anzutreten, gegen den er bisher immer gewonnen hat. Es ist ein kleiner Kampf, eine Verbeugung vor seinem Quartier. Er hat schon im grossen Stadion von Dakar vor 30 000 Zuschauern gekämpft, aber auch dieser Lokalanlass ist wichtig. «Jeder Kampf, den du verlierst, kann dein letzter gewesen sein», sagt Kherou. Die Promotoren können einen jederzeit fallenlassen.

Also hat er auch für dieses Treffen monatelang trainiert. Aber in den Stunden, die ihm heute bis zum grossen Moment bleiben, geht es um eine andere Vorbereitung: um Schutzvorkehrungen und Mobilisierung in der unsichtbaren Welt. Djibril wird, unter der Anleitung seiner spirituellen Helfer, den Tag mit rituellen Waschungen und Opfern verbringen, mit geheimnisvollen Zeremonien und magischen Amuletten, genannt «Gris-Gris», mit deren Hilfe er unangreifbar werden soll.

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Ohne die Hilfe der Geister geht rein gar nichts: Kherou bringt in den Klippen ein Opfer.

Djibrils Onkel ist ein respektierter Marabout, ein senegalesischer Korangelehrter und Heiler. Wenn Djibril vor dessen Haus, ganz in der Nähe der Moschee, Geschenke an die Kinder verteilt, spekuliert er auf einen doppelten Gewinn: Er holt sich damit sowohl die Unterstützung der Alten wie auch der Kleinen, die für die Zukunft stehen. Denn der afrikanische Ringkampf ist nicht nur ein Kampf zwischen Individuen, sondern zwischen Gruppen, zwischen Quartieren, zwischen ganzen Welten, zu denen auch die Ahnen und die Geister gehören. Ein blinder Bettler kommt des Weges. Djibril gibt ihm eine Tüte Pommes-Chips. Der Alte im weissen Gewand legt seine Hand auf seinen Kopf, spricht eine Segnung und ein Gebet für ihn. Djibril senkt demütig den Kopf, bedankt sich und wünscht ihm alles Gute. Als der würdige Bettler verschwunden ist, strahlt Djibril. Es ist, als ob er nach und nach von der ganzen positiven Energie des Quartiers getragen wird – zum Sieg, davon ist er überzeugt.

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Die Kraft der Ahnen Djibril begibt sich zum Haus seines verstorbenen Grossvaters. Er war ein berühmter Ringer. Sein Grab liegt im Innenhof und ist eine Art Pilgerort für die zahlreichen Nachkommen. Aber wenn man es nicht wüsste – man würde die Stätte kaum erkennen unter der Wäsche, die im warmen Seewind an der Leine trocknet. Djibril nimmt die zwei grossen Kessel mit Sauermilch, die die Frauen des Hauses zubereitet haben, und trägt sie mit seinen Begleitern zum Haus des Onkels zurück. Er wird sie später für verschiedene Rituale verwenden.

Schwingerkönige wie Bombardier wiegen gerne einmal 130 Kilo und erinnern an japanische Sumo-Ringer. Djibril misst zwar zwei Meter, aber er ist im Vergleich ein Sprenzel. Den Mangel an Masse macht er durch Wendigkeit und Tempo wett. Seine Spezialität sind Boxschläge, die im senegalesischen Ringen erlaubt sind – ohne Handschuhe notabene. «Ich muss den Gegner in den ersten paar Minuten erwischen», sagt er. «Sonst habe ich keine Chance gegen ihr Gewicht.»

Zwar sind mehr als neunzig Prozent der Senegalesen Muslime. Aber der westafrikanische Islam ist anders als der arabische. Ein grosser Teil der Senegalesen ist Mitglied einer Sufi-Bruderschaft. Dabei stehen das direkte Erleben des Heiligen und Göttlichen über dem Studium des Korans, und die Rolle des Marabout ist zentral. Der Marabout ist oft eine Mischung aus Islamgelehrtem und afrikanischem Heiler. Er arbeitet zwar oft mit Gebeten und Koransuren, benutzt sie aber in einer magischen Weise, ganz so wie der traditionelle Féticheur, der mit Orakel, Talisman, Zaubertrank und Geisterbeschwörung operiert. Djibril hat das Glück, dass sein Onkel ein bekannter Marabout ist und ihn unterstützt. Denn normalerweise ist so ein mystischer Helfer teuer.

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Als Teil seines Trainings rennt Kherou mit einem anderen Ringer auf seinen Schultern die 250 Meter lange Treppe zum «Monument der afrikanischen Wiedergeburt» in Dakar hoch.

Bevor der Ringer Kherou Ngor sich zur Arena aufmacht, bindet er sich Amulette, sogenannte Gris-Gris, um. Sie schützen ihn vor Hexerei, bösen Geistern und schwarzer Magie und spielen bei allen senegalesischen Ringern eine wichtige Rolle. Normalerweise zahlt man Fetischeuren und Marabouts viel Geld für die Herstellung. Kherou hat Glück, weil sie sein Onkel für ihn fabriziert. (Bild: Christian Bobst)

Viele Familien haben irgendwo einen Schrein, wo die Geister der Familie und der Ahnen hausen. Der Altar von Djibril befindet sich bezeichnenderweise auch in der Nähe der Moschee. Es ist eine Art ummauerter Garten. Dort wachsen zwar keine Pflanzen; aber auch die dort anwesenden Geister müssen gepflegt, gewässert und gedüngt werden – mit Opfern und mit Aufmerksamkeit. Von aussen sieht man nicht über die Mauern, und der Eingang ist durch ein Wellblech verdeckt. Djibril und sein spiritueller Coach entfernen das Blech und versperren damit die enge Gasse, so dass sie nicht von Schaulustigen gestört werden. Dann treten sie ein. Die Schuhe lassen sie draussen.

Der Boden ist übersät mit Kalebassen und Tontöpfen, die mit Wasser und magischen Gegenständen gefüllt sind. Der Coach fischt ein Holzstückchen heraus und murmelt etwas hinein. Dann steckt er

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mehrere solche Stückchen in den Sandboden, einige fallen um. Ein Orakel, das ihm sagt, wer wann und wo fallen wird und wer nicht.

Djibril erklärt, dass der älteste Tontopf seiner Grossmutter geweiht sei und die jüngeren verschiedenen anderen Verwandten. «Sie sind hier, und sie helfen mir.» Er sagt auch, es müsse immer genug Wasser in den Kalebassen sein, sonst werde es gefährlich. Er schöpft ein wenig heraus, füllt es in eine Flasche, leert sich davon über den Kopf und nimmt den Rest mit. «Hier fallen Familienmitglieder manchmal in Trance», sagt er. «Das ist ein Zeichen.» Wenn zum Beispiel ein Kind plötzlich zucke, die Augen verdrehe und mit den Fingern das Zeichen eines Horns mache, wisse man, dass man ein Schaf opfern müsse. Das sei die Art, wie die Geister mit den Menschen kommunizierten.

Einige der Tontöpfe stecken umgekehrt in der Erde. Der Coach leert von der mitgebrachten Sauermilch darüber. «Das machen wir jeden Montag und jeden Donnerstag», sagt er. Er ist ganz in Weiss gekleidet, wie die Milch.

Es ist aussergewöhnlich, dass sich ein Ringer bei diesen Ritualen ablichten lässt, und Passanten schütteln ungläubig den Kopf, wenn sie den Fotografen auf der Mauer des Schreins sehen. Normalerweise legen die Kämpfer Wert auf eine geheimnisvolle Aura rund um diese mystischen Vorbereitungen. Es herrscht auch die Vorstellung, dass ein Gegner, falls er die Bilder zu Augen bekäme, den Schlüssel zum Erfolg seines Widerparts in der Hand hätte. Aber gerade weil Kherou dank seinem Onkel so vertraut ist mit dieser Welt, hat er keine Angst vor «Spionage» und ein auffällig entspanntes Verhältnis zur Magie.

Die beiden gehen zurück zum Haus des Grossvaters, bahnen sich einen Weg durch die Leintücher und Nachthemden auf der Wäscheleine und leeren etwas von der durch die Berührung mit dem Hain geheiligten Milch auf sein Grab. Dann nimmt Djibril selber einen Schluck davon. Damit kann er teilhaben an der Kraft seines Ahnen, erklärt der Coach.

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Zurück beim Schrein, erwartet uns ein Kätzchen, das sich hineingeschlichen hat und die Milch von den Töpfen ableckt. Der Coach warnt davor, es wegzuscheuchen. Denn offenbar hat Djibrils Grossmutter Katzen geliebt. «Am Tag ihres Todes war ein grosser Kater bei ihr, der erst bei ihrem Ableben wegging.» Geduldig warten alle am Eingang, bis das Tier verschwindet. «Ein gutes Omen», sagt der Coach. Alles hat eine Bedeutung, nichts ist banal, und heute, am Tag des grossen Kampfes, ganz besonders.

Djibril steigt, nur im Slip und mit einem um die Hüfte gebundenen Talisman, auf einen Schemel. Der Coach berührt ihn mit den aus der Kalebasse gefischten Holzstücken und bläst das Wasser über seinen Körper. Dabei murmelt er vor sich hin.

Ein letztes Ritual kurz vor dem Kampf: Die Geister sind Kherou wohlgesonnen.

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Das geheimnisvolle Wasser Dann geht es ans Meer. Djibril steigt ins Wasser und leert sich eine Flasche von der Sauermilch über den Kopf. Was hat das Orakel im Schrein gesagt? «Djibril wird seinen Gegner plattmachen», sagt der Coach.

Der Strand von Ngor ist Djibrils Trainingscamp. Hier bringt er sich täglich in Form, unter Aufsicht seines zweiten Coachs, der für das Körperliche zuständig ist. Er ficht Kämpfe mit Sparringpartnern aus im Sand, er zieht mit Zement ausgegossene Pneus an einem Seil hinter sich her und stemmt selbstgebastelte Hanteln. Jeder kennt ihn hier. Abends hilft er im populären «Black & White»-Restaurant aus, das einem Cousin gehört. Dort, im Obergeschoss mit der Veranda, wohnt er auch. Darüber hinaus fungiert er als Wächter im Quartier. Polizisten gibt es hier kaum, aber Diebstähle ebenso wenig. Niemand legt sich mit Djibril an.

Dass er so beliebt ist im Quartier, garantiert ihm auch einen Verdienst. Denn der Promotor des Kampfes zahlt den Ringern einen Anteil an den Einnahmen, der sich an der Zahl der Fans bemisst, die sie ins Stadion bringen.

Nach und nach verwandelt sich Djibril in Kherou Ngor. Er begibt sich auf das Dach des mehrstöckigen Hauses seines Onkels, des Marabout, um die rituellen Waschungen über sich ergehen zu lassen. Ein weiterer Coach erwartet ihn. Er steht wie ein Apotheker oder ein Barkeeper hinter einer Art Theke, wo er die magischen Wässerchen mixt. Hinter ihm wartet bereits eine ganze Sammlung von PET-Flaschen mit grünlichen und gelblichen Flüssigkeiten.

Er hat eine Plastictüte mit Konfetti vor sich. Er nimmt eine Handvoll heraus, gibt sie dem Wasser in einer Pfanne bei und rührt das Ganze um. «In der Nacht habe ich Ziffern, die den Lauf des Schicksals ändern können, auf ein Papier geschrieben», erklärt er. «Alle arabischen Buchstaben haben einen numerischen Wert. Djibril zum Beispiel . . .», er rechnet lange, «hat den Wert 205. Ich

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nehme das Doppelte, damit es noch mehr Stärke entwickelt, und schreibe es auf. Mit Wasser, in dem ich Safran aufgelöst habe. Es ist wie Tinte, aber nicht schädlich, wenn man es trinkt. Dann zerstückle ich das Papier und gebe es dem Wasser bei. Die Tinte löst sich auf, die Kraft geht auf das Wasser über. Deshalb die grünliche Farbe.» Nach einer Weile fügt er hinzu: «Es ist ein bisschen mystisch.»

Kherou Ngor steigt wieder auf einen Holzschemel, der Zauber-Barkeeper übergiesst ihn mit dem Safranwasser, die Zettelchen bleiben auf seiner Haut kleben.

Der Fuchs und die Frauen Kherou Ngor spielt ein Filmchen auf seinem Handy vor. Es zeigt ihn bei einem Kampf mit dem Schweizer Schwinger Christian Stucki, der im Rahmen der Schweizer Sendung «Chrigu und Sepp» in Senegal war. Kherou Ngor hat ihn besiegt, obwohl Stucki etwa doppelt so schwer ist. Als Christian einen Schritt nach vorne machte, zog Kherou Ngor ihn an den Armen, und er verlor die Balance. Kherou praktiziert auch fernöstliche Kampfkunst. «Christian brachte sich letztlich selbst zu Fall», erklärt er die typisch asiatische Methode, mit der er Christian bodigte. «Ich verlängerte seine Bewegung lediglich und brachte ihn dadurch aus dem Gleichgewicht.» Er liess ihn quasi über sich selber stolpern. Seine Masse, normalerweise ein Vorteil, wurde ihm zum Verhängnis. Kherou bedeutet zwar Fels; aber eigentlich ähnelt er eher einem schlauen Fuchs oder einem flinken Wiesel. Von der Gasse dröhnen Trommelwirbel herauf. Musiker, Fans und Schaulustige haben sich vor dem Haus versammelt. Kherou geht hinunter. Er berührt die Trommel, die der Musiker in einem verrückten, schnellen, ohrenbetäubend lauten Rhythmus schlägt, während der Coach eine Kalebasse mit Milch über seinen Kopf hält. Als Kherou einen Schluck davon nimmt, verfällt er in Ekstase und tanzt kurz wie ein Berserker. Der Coach hält ihm derweil die Hand auf den Rücken. Hier geht es nicht um Unterhaltung, sondern um Energietransfer. Es heisst, dass manche Ringer ihren Gegner zu Boden werfen, indem sie ihm mit einem Griff einen elektrischen Schlag verpassen.

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Kaum begonnen, schon vorbei: Kherou gewinnt den Kampf nach weniger als einer Minute.

Inzwischen ist auch Camilla aufgetaucht, Kherous Frau. Sie stammt aus Polen. Dort hat sie eines Tages Christian Bobsts mit einem World Press Award ausgezeichnetes Bild von Kherou gesehen, das ihn im Meer zeigt, wo er sich mit Milch übergiesst. Sie verliebte sich auf der Stelle in ihn, kontaktierte ihn per Facebook und reiste nach Dakar. Nun sind sie verheiratet. Sie wohnt weiterhin in Polen, kommt ihn aber von Zeit zu Zeit besuchen, wie heute anlässlich seines grossen Kampfes. Sie spricht kein Französisch, nur Englisch, von dem er wiederum nur ein paar Brocken versteht. Die Bewohner von Ngor waren überrascht von der Heirat. Kherou ist natürlich der Liebling der Mädchen im Quartier, aber er hatte den Ruf, sich nicht viel aus Frauengeschichten zu machen. Er wollte sich ganz auf seine Ringerkarriere konzentrieren. Aber vorsichtshalber hat er auf dem Standesamt, wo man bei der Eheschliessung «monogam» oder «polygam» ankreuzen muss, Letzteres gewählt. Um sich alle Optionen offenzuhalten.

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Die weiche Rüstung Es hatte geheissen, Kherou marschiere um drei Uhr los Richtung Stade de Ngor, wo der Kampf stattfindet. Dann war von halb vier die Rede. Nun ist es eine Stunde später, und er ist immer noch auf dem Dach, wo er auf dem Rücken auf einer Matte liegt und in den Himmel blickt. Dann telefoniert er ein bisschen und schaut über die Stadt, die Coolness in Person. Er isst eine Handvoll Couscous und reibt sich dann langsam den Körper mit Karitébutter ein, entspannt-konzentriert.

Im ersten Stock des Hauses befindet sich ein mit Teppichen ausgelegter, aber sonst leerer Saal. Hier zieht Kherou nun sein «tenue de protection» an, wie er es nennt. Das Anlegen des vielfach verschlungenen Tuches zwischen seinen Beinen dauert endlos. Es erinnert an das Binden eines komplizierten Krawattenknopfs. Dann kommen all die Gris-Gris hinzu, die um die Brust, die Oberarme und die Beine gebunden werden. Eine magische Rüstung. Es gibt Gris-Gris, die einen Ringer angeblich vorübergehend unsichtbar machen. Andere lassen ihn im Moment, wo der Gegner zuschlagen will, in seinen Augen zur doppelten Grösse anwachsen, sie verwandeln ihn in einen Löwen oder eine schöne junge Frau, was den andern eine entscheidende Sekunde lang zögern lässt. Für jeden Kampf lässt sich Kherou ein neues Outfit schneidern. Dieses Mal ist es ein Blouson aus leichtem, violett-schwarzem Damast mit Kapuze. Für die imponierende Aufbrezelung braucht er zwei Assistenten. Die Einkleidung einer Geisha ist nichts dagegen.

Endlich marschiert er mit seiner Entourage los Richtung Stadion. In der Mitte befindet sich das Sandkarree. Seine Anhänger sitzen auf der einen Seite, diejenigen von Guori auf der andern, die Plasticstühle gleich neben dem Kampfplatz sind für die VIP reserviert.

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Die Wirklichkeit ausgetrickst Vor dem Hauptevent gibt es ein paar kleinere Kämpfe. Wie Hähne stolzieren die Ringer herum und versuchen, ihre Gegner schon vor dem Aufeinandertreffen einzuschüchtern. Guori ist mindestens doppelt so schwer wie Kherou und sieht in seinem dunklen, schmutzig wirkenden Überwurf, dessen Kapuze sein Gesicht gänzlich verdeckt, wie ein Monster aus. Einmal stehen sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber, ganz nahe, ihre Nasen berühren sich fast, und beleidigen sich. Es kommt vor, dass ein Coach seinem Ringer kurz vor dem Kampf sagt, sein Gegner habe auf das Grab seiner Mutter uriniert, um ihn zur Weissglut zu reizen.

Es wird getrommelt und getanzt. Griots singen Loblieder auf ihre Helden, manchmal machen dies die Ringer auch gleich selbst. Ein Mann geht mit einer furchterregenden Maske herum, Frauen rollen Banderolen aus. Die spirituellen Coachs fahren die bizarrsten Objekte und Mittelchen auf, um die Gegenseite zu beunruhigen. So heisst es von einem berühmten Ringer, er habe ein ganzes Kamel geopfert, dessen Überreste er vor dem Kampf in der Arena präsentierte. Senegalesischer Ringkampf ist nicht einfach ein Sport, sondern Theater, Mysterienspiel, Oper – ein Gesamtkunstwerk.

Die Vorkämpfe dauern nicht lange. Zwei der Verlierer brechen nach ihrer Niederlage zusammen und müssen vom Platz getragen werden. Es heisst, sie seien nicht in erster Linie physisch, sondern psychisch von ihrem Gegner zerstört worden.

Beim Auftritt von Kherou ist es schon dunkel. Die beiden Widersacher stehen sich gegenüber, aber das normalerweise endlose gegenseitige Belauern ist dieses Mal kurz. Der Kampf dauert weniger als eine Minute. Es geht so schnell, dass die Zuschauer gar nicht mitbekommen, was passiert. Kherou übertölpelt den andern, indem er ihm bei dessen erstem Angriff keinen Widerstand entgegensetzt, sondern ihn am Arm zieht. Guori verliert das Gleichgewicht und berührt einen Sekundenbruchteil mit den Händen den Sand. Kaum jemand bemerkt es. Ausser dem Schiedsrichter, der pfeift und Kherous Sieg ausruft. «Auf allen

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vieren», lautet sein Urteil. Das führt automatisch zum Aus. Es dauert einen Moment, bis der verdatterte Guori und seine Anhänger realisieren, dass es zu Ende ist. Ein Proteststurm erhebt sich, der Schiedsrichter wird von aufgebrachten Fans umringt. Eine Weile ist nicht klar, ob der Kampf weitergeführt oder annulliert wird. Aber dann wird Kherous Sieg bestätigt. Er selbst wirkt etwas überrascht. Es ist, als ob er der Wirklichkeit selbst ein Schnippchen geschlagen hätte.

Nach dem Kampf die Tumulte: Die Anhänger des Gegners wollen die Niederlage nicht wahrhaben.

Senegalesische Paranoia Sowohl die Ringer wie auch ihre Anhänger sagen gemeinhin, der Erfolg hänge zur Hälfte vom sportlichen Training und zur Hälfte von Magie ab, in die sie im Allgemeinen etwa ein Drittel ihrer Einnahmen investieren. Diese Verbindung von handfestem Pragmatismus und Übersinnlichem macht aus dem Ringkampf auch ein Spiegelbild der senegalesischen Gesellschaft.

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In «Corps en lutte», einem Standardwerk zum Thema, spricht der senegalesische Philosoph Ibrahima Sow davon, in Bezug auf magische Vorstellungen in Senegal stelle der Ringkampf die Spitze eines Eisbergs dar. An ihm könne man die imaginäre Welt des Landes exemplarisch beobachten. Die Senegalesen glaubten, dass die mystischen Praktiken die meisten ihrer Probleme lösen könnten, und entsprechend spielten Marabouts und Wahrsager eine extrem wichtige Rolle in der Gesellschaft, schreibt er. «Der tägliche Rückgriff auf diese Praktiken lässt uns die beängstigende, verfolgende, ja paranoide Dimension des Alltags der Senegalesen erkennen. Ihre Existenz scheint mehrheitlich von äusseren Faktoren abzuhängen, die Niederlagen, Erfolge, Krankheiten und selbst den Tod verursachen, denn nichts entkommt dem despotischen Verdacht des Imaginären und seiner tyrannischen Logik.» Die Betroffenen fühlten sich nur selten verantwortlich für das, was ihnen widerfahre. Stattdessen gebe man den Nächsten, unbekannten Feinden, unsichtbaren Mächten oder dem Marabout die Schuld. Der Aufwand, den Kherou Ngor in der unsichtbaren Parallelwelt betreibt, um an sein Ziel zu kommen, mag für ihn und sein Umfeld eine beruhigende, stabilisierende Wirkung haben; das ist nicht zu unterschätzen in der afrikanischen Welt, die so voll Unberechenbarem ist. Auch sind die Rituale von einer faszinierenden Schönheit und Bedeutungstiefe. Aber zugleich leisten Kherou und die andern Ringer mit ihrem Beispiel der Irrationalität weiter Vorschub und entmutigen Versuche, die senegalesische Gesellschaft etwas transparenter, berechenbarer und eigenverantwortlicher zu machen. Die Waffen, die der Ringer gegen die unheimliche Übermacht des Schicksals einsetzt, bestätigen und verstärken sie.