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ringgespräch juni 2003 über gruppenimprovisation LXIX THEMENSCHWERPUNKT Kreativität Mit Beiträgen von Ulrich Baer, Olaf-Axel Burow Joachim Funke, Albert Kaul Matthias Schwabe, Mathes Seidl Im Interview Luc Ciompi Ausbildung Fachgebiet Improvisation in Leipzig Portrait Karl ein Karl Dokumentation Manifeste zur Improvisation Berichte Informationen Nachrichten

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ringgespräch juni 2003über gruppenimprovisation LXIX

THEMENSCHWERPUNKT

Kreativität

Mit Beiträgen vonUlrich Baer, Olaf-Axel Burow

Joachim Funke, Albert KaulMatthias Schwabe, Mathes Seidl

Im InterviewLuc Ciompi

AusbildungFachgebiet Improvisation in Leipzig

PortraitKarl ein Karl

DokumentationManifeste zur Improvisation

BerichteInformationen

Nachrichten

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editorial

2 ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003

EDITORIALLiebe Leserinnen und Leser,

ist das Thema „Kreativität“ für improvisierende Musi-kerInnen überhaupt von Relevanz, wird es doch tagtäg-lich praktiziert? Und ist dieser Begriff „Kreativität“ nichteigentlich ein Unwort, unter dem jede/r etwas anderesversteht, wobei sich alle nur darin einig sind, dass sie -die Kreativität - ganz wichtig und in jedem Fall positivzu bewerten sei, allen verschiedenen Bedeutungen zumTrotz? Genau aus diesem Grunde, wegen der Ver-schwommenheit des Begriffs und wegen der allzu ste-reotypen und häufig völlig gedankenlosen positivenBewertung, sei in diesem Heft der Versuch unternom-men, einen Schritt von der eigenen musikalisch-kreativenPraxis zurückzutreten und einen Blick auf das Phänomenan sich zu werfen.

Dabei soll einerseits die Sicht von Fachleuten helfen, dieselbst keine Musiker sind. Joachim Funke, Professor fürPsychologie in Heidelberg, fasst den Stand der psycho-logischen Forschung zusammen. Olaf-Axel Burow, Pro-fessor für Pädagogik in Kassel, berichtet von seinemForschungsgebiet, dem Phänomen der kreativen Felder:„Kreativität gibt es nur im Plural“ - eine Aussage, dieuns als improvisierenden Musikern natürlich geläufig ist,deren Analyse durch einen Außenstehenden aber dieeigene aus der Praxis gewonnene Erfahrung sinnvollergänzen kann. Der Psychotherapeut Luc Ciompi stelltim Interview Erkenntnisse zur Kreativität aus demBlickwinkel der von ihm entwickelten Affektenlogik vor.Und Ulrich Baer schließlich gibt Hinweise und konkreteSpielvorschläge aus der sozialpädagogischen Praxis.

Dazu kommen Zitate, die sich diesmal auf drei Autorenbeschränken, deren Aussagen dafür aber recht ausführ-lich dargestellt werden. Es handelt sich um Ausschnitteaus Büchern, die m.E. für das Verständnis dessen, wasKreativität sein kann, von zentraler Bedeutung sind. Dasälteste von ihnen, im Original erschienen 1967, stammtvon Edward de Bono und widmet sich dem von ihm sobenannten „lateralen Denken“, das man vielleicht auchals Querdenken bezeichnen könnte und als Schlüssel füreine bestimmte Art von Kreativität angesehen werdenmuss. Von 1992 stammt das Buch „Aus dem Nichts“ desPhysik-Nobelpreisträgers 1986 Gerd Binnig, der dieKreativität der Natur als Voraussetzung für die Kreativi-tät des Menschen untersucht. 1998 schließlich erschienein Buch des bekannten Pädagogen Hartmut von Hentigüber „Kreativität - Hohe Erwartungen an einen schwa-chen Begriff“, in dem er seinem Unbehagen über diegängigen Vorstellungen zur Kreativität Ausdruck ver-leiht. Das Schlusskapitel dieses Buches ist hier in ge-kürzter Version wiedergegeben.

Schließlich gibt es noch drei Beiträge, die den musikali-schen Aspekt einbeziehen. Albert Kaul, der in seinemBeitrag auch die Entstehungsgeschichte des BegriffesKreativität zusammenfasst, formuliert Forderungen aneinen sinnvollen Schulunterricht. Mathes Seidl, Musikerund Psychotherapeut, schildert den Vorgang des Impro-visierens aus der Perspekive des Focussing, einer psy-

chotherapeutischen Methode. In meinem eigenen Beitragam Ende des Thementeils geht es um den Umgang mitkreativen Begabungen am Beispiel des Instrumentalun-terrichts mit Kindern.

Daneben hat das Ringgespräch aber wie immer nochanderes zu bieten. In der Rubrik Ausbildung berichtetPeter Jarchow über den von ihm begründeten Studien-gang an der Hochschule in Leipzig.

Im Portrait wird die Schweizer Gruppe KARL einKARL vorgestellt, die in diesem Jahr ihr zwanzigjähri-ges Bestehen feiert. Eines ihrer Mitglieder, der Kontra-bassist Peter K Frey wird übrigens im November bei derHerbsttagung des Rings als Referent zu erleben sein.Wer sich von dem Portrait angesprochen fühlt, sollte sichdiese Gelegenheit nicht entgehen lassen!

Als Besonderheit enthält das Ringgespräch diesmal eineDokumentation von zwei improvisatorischen Manifesten,die in ganz anderen Kontexten entstanden sind. Dazugesellt sich ein Beitrag über das Verhältnis von Improvi-sation und Komposition.

Zuletzt sei auf die wiederum zahlreichen Berichte - vor-wiegend von Tagungen - und die Rezensionen verwie-sen, welche hoffentlich einen angemessenen Überblicküber derzeitige improvisatorische Aktivitäten liefern.

Anregendes Lesen wünscht

IMPRESSUM:

Redaktionsteam: Reinhard Gagel (Köln), Herwigvon Kieseritzky (Berlin), Christa Kirchner (Lübeck),Gerd Lisken (Bielefeld), Matthias Schwabe (Berlin)

Redaktionsadresse (und v.i.S.d.P.)Ringgespräch, c/o Matthias SchwabeWilskistr. 56, 14163 BerlinTel. (030) 84 72 10 50, Fax: (030) 814 15 56Email: [email protected]

ISSN 1616-721X

Erscheinungsweise: einmal jährlich2. Auflage (2006): 351 - 500Verkaufspreis 3,00 €

Das Ringgespräch über Gruppenimprovisation istdas Verbandsorgan des Rings für Gruppenimprovi-sation und wird den Vereinsmitgliedern kostenloszugestellt.

Quellen:Zeichnungen: Prof. Fridhelm Klein (München)Fotos: Ulrich Baer (S.27-29), BrucknerKonservatorium(S.52), Matthias Schwabe (S.56)

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inhalt

ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003 3

Inhalt

■ Zum Thema: KreativitätAlbert Kaul:Kreativität - ein Bildungsziel? 4

Joachim Funke:Zur Psychologie der Kreativität 8

Zitatensammlung 1Laterales Denken (Edward de Bono) 12

Mathes Seidl:Freie Improvisation oderDie kreative Intelligenz des Körpers 14

Olaf-Axel Burow:Kreative Felder: Das ErfolgsgeheimnisKreativer Persönlichkeiten 18

Zitatensammlung 2Über die Kreativität von Mensch und Natur (Gerd Binnig) 22Lob des Mangels (Hartmut von Hentig) 23

Ulrich Baer:7 Fragen zu kreativem Denken undHandeln 25Methoden für die pädagogische Arbeit 27

Matthias Schwabe:Ist Kreativität ein Begabungsdefizit? 31

■ InterviewLuc Ciompi, interviewt vonReinhard Gagel und Matthias Schwabe:„Wer nicht sucht, der findet!“ 33Das Phänomen Kreativität aus Sicht der Affektlogik

■ AusbildungPeter Jarchow:Das Fachgebiet Improvisation 36an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig

■ PortraitPeter K Frey, Michel Seigner, Alfred ZimmerlinKARL ein KARL - ein Selbstbildnis 40

■ Dokumentation:Wolfgang Schliemann, Joachim Zoepf:Improvisierte Musik - ars sui generis 45Ein kleines Manifest

Reinhard Gagel:Manifest der Improvisation - eineProvokation? 46

Luis Zett:Zweieiige Zwillinge 47Komponieren und/oder Improvisieren

■ Berichte:Tagungen und Kurse:„KLANGUMWELT: SCHON GEHÖRT?“ 49Tagung am 15.3.03 in Meran (Hannes Heyne)

5. INTERNATIONALE TAGUNG für 50Improvisation in Luzern 2002 (Matthias Schwabe)

IMPROVISIAKUM 2002 (Carl Bergstrøm) 51

SPRACHKLANG / KLANGSPRACHE: 52Linzer Improvisationstage 2003 (Karen Schlimp)

Workshop in CLUJ-NAPOCA (Rumänien) 53im April 2002 (Ulla Levens)

HERBSTTAGUNG 2002 des Rings 55(Marno Schulze)

FRÜHJAHRSTAGUNG 2003 des Rings 56zum Thema Konzepte (Margret Trescher)

SYMPOSIUM IMPROVISIERTE MUSIK 57Kleinsassen/Rhön (Wolfgang Schliemann)

Konzerte:„FRÜHLINGSBEBEN“: peter hoch & friends“ 58

CDs & Bücher:IndiviDuo: EIN ANDER HÖREN 58(Matthias Schwabe)

Felix Klopotek: HOW THEY DO IT 59(Peter Niklas Wilson)

Christopher Dell: PRINZIP IMPROVISATION 59(Peter Niklas Wilson)

Gertrud Meyer-Denkmann: KÖRPER - GESTEN - 60KLÄNGE (Reinhard Gagel)

Wilfried Gruhn: DER MUSIKVERSTAND 60(Albert Kaul)

Beate Quaas: ALLES WIRD MUSIK. 61(Matthias Schwabe)

■ Ring-Internes 62

■ Ring-Informationen 63

■ Impro-Nachrichten 64

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kreativität

4 ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003

KREATIVITÄT

Albert Kaul

Kreativität - ein Bildungsziel?Ein Plädoyer für Improvisation als Perspektive

eines zeitgemäßen Musikunterrichts

Es wäre sicher falsch, die Rolle des Musikunterrichts imRahmen eines allgemeinen Bildungskonzepts zu über-schätzen. Im Bereich der Kreativität allerdings – einschwer in seiner Wirkung abschätzbarer Bereich –könnte er einen wichtigen Beitrag leisten. Dazu müssteer aber grundlegend umgestaltet werden.

Kreativität – was ist das?Kein Zweifel: „Kreativ“ ist ein Modewort. Vom „Krea-tivurlaub“ bis zur „Kartoffelsalat-Kreativität“1 begegnetuns das Wort auf Schritt und Tritt. Gerade deswegenwirkt es bisweilen ein wenig verbraucht, und die nächsteWerbeanzeige, die diesmal vielleicht einen „kreativenUmgang“ mit Aktienfonds, Gewürzmischungen oderFreizeitkleidung verspricht, erscheint sprachlich nichtmehr auf dem neuesten Stand – die zuständigen Werbe-strategen haben offenbar kein kreatives Sprachkonzept.

Dabei ist das Wort noch gar nicht so alt. Noch 1960vermerkt ein Konversationslexikon beim Stichwort krea-tiv: „selten für: schöpferisch“. – Mit gewissem Rechtlässt sich behaupten, dass die sowjetische Raumfahrt fürden Aufschwung des Begriffs „Kreativität“ verantwort-lich ist. Die Sowjets schickten im Jahre 1957 mit „Sput-nik“ den ersten von Menschenhand geschaffenen Satel-liten in eine Erdumlaufbahn. Damit lösten sie in derwestlichen Welt, besonders in den USA, den sogenann-ten Sputnik-Schock aus: Mit der technologischen Über-legenheit des Westens war es offenbar vorbei, eine hastigvon den Amerikanern gebaute Konkurrenz-Rakete en-dete im Flammenmeer auf der Startrampe.

Eines der höchsten Ziele war es nun für die Amerikaner,die technologische Überlegenheit zurückzugewinnen.Fieberhaft wurden großzügig mit Fördergeldern ausges-tattete Forschungsprogramme gestartet. Bald wurde esals eine der wichtigsten Aufgaben angesehen, einehochintelligente Elite zu mobilisieren und für diegesteckten staatlichen Ziele einzuspannen. Das Hauptau-genmerk galt dabei der Jugend. Hochbegabte Schülerund Studenten sollten erkannt, angeworben und auf ihreAufgabe im Dienste des Staates vorbereitet werden. Eineder wichtigsten Fragen war hierbei: Wie lassen sich

1 Eine Wortschöpfung der „taz“, dort gelesen am22.5.2003

hochbegabte Jugendliche zuverlässig erkennen und ausder Masse der Normalbegabten „herausfiltern“?

Vor diesem Hintergrund spielte ein Vortrag eine beson-dere Rolle, den der Psychologe J. P. Guilford 1950 vorder amerikanischen Psychologischen Gesellschaftgehalten hatte, der Titel des Vortrags: „Creativity“. Guil-ford bemängelte in diesem Vortrag das einseitig aufkonvergentes (= auf ein bestimmtes Ziel gerichtetes)Denken gerichtete Intelligenzkonzept und versuchte,dieses Modell zu erweitern, indem er auf die besonderenQualitäten des divergenten (= originellen, mehrgleisigen,flexiblen) Denkens hinwies.

Damit war das psychologische Forschungsfeld Kreativi-tät ins Leben gerufen. Im Prinzip gelten noch immer dievon Guilford beschriebenen als die Hauptmerkmale derKreativität: Flexibilität im Denken, Originalität, Prob-lemsensitivität und Praktikabilität (Es ging ja zunächstvordringlich um das Finden von technologischen Lösun-gen bei der frühen Kreativitätsforschung.). Relativ balderwies sich, dass das Phänomen Kreativität eigentlichunabhängig von der Intelligenz bestehen kann – es gibtHochbegabte ohne einen Funken Kreativität, umgekehrtaber auch weniger intelligente Personen, die über einbeträchtliches Kreativitätspotential verfügen. Nur beisehr hohem Kreativitätsanteil ist wohl eine ebenfalls weitüberdurchschnittliche Intelligenz die Regel.

Damit sind wir bei einem zentralen Problem der Kreati-vitätsforschung angelangt: Wie lässt sich Kreativitätmessen? Seit Guilfords Zeiten ist eine Unzahl von Krea-tivitätstests entwickelt worden, aber alle Tests bleibenmehr oder weniger unbefriedigend, und das liegt in derNatur der Sache: Tests müssen, um als wissenschaftli-ches Instrument tauglich zu sein, das jeweils Gemessenekategorisieren, katalogisieren und standardisieren; Krea-tivität hingegen ist eine Fähigkeit, die genau dies über-windet: Kreatives Denken bedeutet, über kategoriale undstandardisierte Schranken hinweg zu neuen, über dasÜbliche hinausgehenden Lösungen zu kommen. Dafürlässt sich nun mal keine Norm setzen, aber genau dies tutzwangsläufig, mehr oder weniger direkt, jeder Test.

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albert kaul: kreativität - ein bildungsziel?

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Kreativität als pädagogischeKategorieDem Phänomen Kreativität haftet also etwas gewisser-maßen Uferloses an, etwas nicht Eingrenzbares, und soist es durchaus verständlich, dass viele Psychologen undPädagogen dem Begriff äußerst misstrauisch gegenüber-stehen oder ihn wissenschaftlich für unbrauchbar halten.Aber etwas Wahres scheint doch am GrundgedankenGuilfords zu sein, sonst würden nicht so viele Fachleutedie Förderung der Kreativität für eines der Hauptzielezeitgemäßen pädagogischen Arbeitens halten.

Mit gewissem Recht lässt sich sagen, dass die heutigeglobale Situation noch weit mehr als die der USA in den60ern eine Krisensituation ist. Was an ökologischen,ökonomischen und gesellschaftlichen Problemen auf dienächsten Generationen zukommt, bedarf nicht nur schonheute des Nachdenkens darüber, wie diese angegangenwerden können. Es muss auch um die Frage gehen, inwelcher Weise folgende Generationen ausgebildet wer-den müssen, um mit diesen Problemen fertig werden zukönnen.

An den Grenzen des Wachstums angekommentragen wir eine erhebliche Verantwortung für ei-ne nachhaltige Entwicklung. Die Grenzen derBelastbarkeit von Boden, Luft und Wasser sindbereits überschritten, der Ausstoß an flüssigen,gasförmigen und festen Abfällen sowie Schad-stoffen muss drastisch verringert werden, ebensoder Verbrauch an Ressourcen und Landschaften.Wege in einen neuen Wohlstand – mit der Mengeund Vielfalt von Produkten, wie wir sie habenwollen aber doch unter Wahrung der Grenzen desökologisch Verantwortbaren – werden erprobtund müssen umgesetzt werden. Dieses Umdenkenerfordert eine enorme kulturelle Leistung. (MaxFuchs: Kulturelle Bildung im Medienzeitalter, in:Pazzini 1999 S.90)

Umdenken ist also angesagt, und zwar in vielen Berei-chen – ein Fall für Kreative. Kein Wunder, dass Kreati-vität ganz oben auf der Liste der zu fördernden Fähig-keiten steht. Der Kunstpädagoge Karl-Josef Pazzinischreibt darüber:

In der Diskussion über die Kernkompetenzen, dieBildung und Ausbildung angesichts bislang unge-ahnt komplexer und schneller Veränderungenvermitteln müssen, taucht die Forderung nachBildung von Kreativität als Schlüsselkompetenzvermehrt auf. Man muß sich aber darauf einstel-len, daß Kreativität nicht wie ein beliebiges Pro-dukt hergestellt werden kann, sondern in der Er-höhung von Wahrscheinlichkeiten für kreativesVerhalten liegt. Dies herzustellen gelingt nur übereine Breitenförderung und die Förderung spe-zieller, fast elitär (natürlich im ursprünglichen,nicht elitären Sinn) zu nennender Projekte.

Dabei ist es Aufgabe kultureller Bildung, verste-hen zu helfen, daß man eine solche Bildung nichtdurch bestimmte Prozeduren willentlich herbei-

führen kann. Kulturelle Bildung muß Wert darauflegen, daß sich diese durch günstige Konstellati-onen in einer oft langwierig erscheinenden Übungergeben kann. Kulturelle Bildung hätte ein Ge-gengewicht gegen eine Vorstellung von Machbar-keit zu bilden. (Pazzini 1999, S. 18f.)

Pazzini spielt hier auf Ergebnisse der Kreativitätsfor-schung an, die Voraussetzungen zur Entstehung vonKreativität betreffend. Kreatives Handeln wird nämlichdurch bestimmte Grundbedingungen gefördert, durchandere gehemmt. Zu den positiven Grundbedingungengehören insbesondere hohe Motivation und Freiheit desArbeitens (keine vorschnelle Bewertung der Arbeitser-gebnisse durch Außenstehende). Selbstinitiiert sollten dieProzesse möglichst sein, das heißt, gerade die Freude amSelbstentdecken und Selbstorganisieren sollte Motoreines Arbeits- und Lernprozesses sein. Hemmend dage-

gen wirken autoritäre Strukturen sowie Aufgaben undArbeitsaufträge mit bestimmten, vorher festgelegtenLösungen.

Es ist offensichtlich, dass die herkömmliche Form derallgemeinbildenden Schule nicht gerade als ideales Ter-rain für die Förderung kreativen Verhaltens bezeichnetwerden kann. Die traditionelle Trennung der Schulfä-cher, strenge Lehrpläne und das Notensystem stehen demeher im Wege. Das besonders nach der Pisa-Studie in dieKritik geratene deutsche Bildungssystem müsste refor-miert werden. Die meisten von der Politik vorgeschlage-nen Reformideen weisen allerdings genau in die falscheRichtung: Von Standardisierung ist dort die Rede, stren-gerer Prüfung und Reglementierung.

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kreativität

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Und der Musikunterricht?Mit dem Musikunterricht als Teil unserer Bildungsland-schaft ist es nicht gerade zum Besten bestellt. An allge-meinbildenden Schulen jammern Lehrer über immerweiter zurückgehende Stundenzahlen des Unterrichts-fachs, was allerdings schon allein deshalb unvermeidlichist, weil deutschlandweit akuter Lehrermangel herrscht.Alarmierend ist die Tatsache, dass Musik in der Beliebt-heitsskala der Schulfächer das Schlusslicht bildet: Etwa74% der deutschen Schüler lehnen Musikunterricht ab.2

Dies steht in krassem Gegensatz zu der Tatsache, dassdie meisten Jugendlichen sich in ihrer Freizeit nach eige-nen Angaben sehr intensiv mit Musik beschäftigen.

Irgendetwas scheint mit dem Musikunterricht alsogründlich schief zu laufen. Eigentlich wäre gerade dieMusik ein Gebiet, wo sich kreatives Lernen ereignenkönnte. Kaum ein anderes Fach lässt sich so wenig instrenge Regeln, formale Richtlinien und objektive Be-wertungskriterien fassen. Diese Charakterisierung derMusik als „weiches“ Unterrichtsfach (gegenüber den„harten“ Fächern wie z.B. Mathematik) müsste aller-dings als Chance begriffen werden und nicht als Argu-ment dafür, Musik als Schulfach weiter abzubauen.

In den letzten Jahren erbrachte die neurobiologischeErforschung des musikalischen Lernens interessanteErgebnisse. Eines der wichtigsten ist die Erkenntnis, dassdas informelle Lernen (ohne feste Zielvorgaben) für das„Begreifen“ musikalischer Vorgänge am besten geeignetist. Gruhn formuliert Forschungsergebnisse, die vonallgemeinem pädagogischem Interesse sein dürften und

2 Hans Bäßler schreibt dies im Vorwort von Musik &Bildung 2/2003, S.1

eine grundlegende Umgestaltung schulischer Lernkulturevozieren:

Das lernende Individuum bedarf der informellenAnleitung mit einem reichhaltigen Lernangebot,aus dem es das aufgreift und verarbeitet, was esseinem Entwicklungsstand nach braucht undkann. Eine der Sachlogik gehorchende Systematikstellt sich immer erst nach einem Lern- und Er-kenntnisprozeß ein und schließt diesen ab. Erstdas, was wir bereits verstanden haben, können(und wollen) wir in eine systematische, allgemei-ne Ordnung bringen, die die unübersichtlicheVielfalt der Einzelfälle strukturiert. Gruhn 1998S. 240)

Mit Recht warnt Gruhn davor, allzu schnell dem Musik-unterricht sogenannte Transferleistungen zu bescheini-gen. Anhand zahlreicher Studien wurde versucht nach-zuweisen, dass Musikunterricht sich positiv auf die all-gemeine Intelligenz, das soziale Verhalten, das räumli-che Vorstellungsvermögen u.a. auswirke. Solche „bil-dungspolitischen Kurzschlüsse“ (Gruhn) sind jedochäußerst bedenklich.

So wenig unmittelbare Transferleistungen vom Musik-unterricht erwartet werden können, könnte er aber inbestimmter Hinsicht eine Lernerfahrung bedeuten, die inkaum einem anderen Lernbereich in dieser Weise ge-macht werden könnte: Musiklernen bedeutet die Arbeitin einem „offenen“ System, d.h. in einem Bereich, dernicht durch allgemeingültige Regeln beschrieben werdenkann; jedes einzelne menschliche Subjekt muss sichseinen persönlichen Bezugsrahmen und sein eigenes„Regelsystem“ erstellen.

Dieser besondere Aspekt musikalischen Lernens wurdebislang in der Unterrichtspraxis entschieden vernachläs-sigt und hat in einer Schule, die durch Noten, Lehrpläneund Lernzielkontrollen geprägt ist, keinen Platz. Dies giltim Übrigen nicht nur für allgemeinbildende Schule,sondern insbesondere auch für den Instrumentalunter-richt, der sich in der Praxis leider immer noch allzu oftan einem längst überlebten Kunstideal orientiert (zuwei-len bösartig als „Jugend-musiziert-Pädagogik“ bezeich-net). Gruhn schreibt zu diesem Thema:

Musikalisches Lernen [...] ist verschieden von derUnterweisung in technischen Spielfertigkeiten.Wünschenswert wäre aber, daß auch die instru-mentaltechnische Unterweisung die neurobiologi-schen Erkenntnisse aufgreift und in den Unter-richt integriert. Das Instrument ist dann – imWortsinn von instrumentum – ein Werkzeug zurDarstellung der musikalischen Sprechfähigkeit.Jeder Instrumentalunterricht ist in diesem SinneMusikunterricht, in dem es neben den und überdie technischen Fertigkeiten hinaus immer auchum musikalisches Verstehen und Mitteilen geht.Improvisation ist das zentrale Feld, auf dem dieseFähigkeit geübt und erweitert werden kann. NichtFingerfertigkeit und ergonomisch richtige Bewe-gungsabläufe sind – so wichtig sie sind – das Zielmusikalischen Unterrichts, sondern der Erwerb

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albert kaul: kreativität - ein bildungsziel?

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musikalischer Repräsentationen, die die Voraus-setzung für musikalisches Verstehen bilden. Inso-fern kann man Musik immer nur musikalisch ler-nen. Die Professionalität der Musiklehrer beruhteinerseits auf ihrer Meisterschaft auf dem Instru-ment, aber ebenso wichtig ist ihre Kennerschaftim Bereich musikalischen Lernens auf derGrundlage von Audiation, Improvisation undKomposition. (Gruhn 1998 S. 9f.)

Musikunterricht – ganz anders!Wenn die Ergebnisse von Gruhns Erforschung des Mu-siklernens ernst genommen würden, ergäben sich weit-reichende Konsequenzen für den Musikunterricht. DiePraxis des Musiklernens müsste grundlegend umgestaltetwerden: kein Musikunterricht als Pflichtveranstaltung,sondern in Form von AGs, Projekten und Arbeitsgrup-pen, die flexibel zusammengestellt werden und frei ar-beiten können. Kein Notendruck und Überprüfung „ob-jektiver musikalischer Sachverhalte“, sondern prozess-und produktionsorientierter Unterricht, in dem das Lehr-personal die Aufgabe hat, als Geburtshelfer für musikali-sche Ideen zu wirken. Dies wäre ebenso in der Musik-schularbeit und dem Instrumentalunterricht umzusetzen,der vom Primat der instrumentaltechnischen Unterwei-sung und der Perfektion von Reproduktion befreit wer-den müsste – was keineswegs bedeutet, dass die ganzeTradition über Bord geworfen zu werden droht. Einwesentlich freierer Umgang mit dem ThemenbereichInterpretation täte aber sicher manchem Instrumentalun-terricht gut. Als Perspektive ist ein Selbstverständnisdenkbar, das nicht die Entdeckung und Förderung deszukünftigen Berufsmusikers (oder gar des Genies) aufdem Konzertpodium im Blick hat, sondern eine musik-pädagogische Breitenwirkung, die es möglichst vielenMenschen gestattet, in verschiedenster Form musikalischaktiv zu sein und dies als Bereicherung des eigenen Da-seins zu verstehen.

Dass die Lehrerausbildung in dieser Hinsicht einer Um-gestaltung bedarf, liegt auf der Hand. Neben pädagogi-schem „Know how“ müsste vor allem die künstlerischeKompetenz der zukünftigen Lehrerinnen und Lehrerwährend des Studiums gestärkt werden. Dies bedeutetnatürlich nicht einseitige Förderung instrumentaltechni-scher Virtuosität, sondern breite musikalische Erfahrungin möglichst vielen Bereichen. Improvisation als einegrundlegende Praxisform, musikalische Arbeitstechnikund Lernmethode müsste dabei eine zentrale Rolle spie-len (neben anderen Bereichen wie Komposition oderdem Umgang mit neuen Medien/Computertechnik).

Der Musiklehrermangel in Deutschland ist eigentlichkein Problem mangelnden Nachwuchses. Es gibt durch-aus nicht wenige Schulmusikstudierende, die offenbaraber nicht in der Praxis des Musikunterrichts ankommen– warum? Ein Grund dafür ist, dass eine nicht unerhebli-che Anzahl der Schulmusikstudierenden gar nicht in die

Schule will, sondern das Schulmusikstudium mehr oderweniger als Sprungbrett für die eigentlich angestrebtekünstlerische Laufbahn nutzen will – wer erst mal in derMusikhochschule „drin“ ist, schafft dann auch den Über-gang zum Konzertexamen. Der Musiklehrerberuf dage-gen ist vergleichsweise unbeliebt, zu gering sind dort dieMöglichkeiten der künstlerisch selbstbestimmten Arbeit.

Ein Ziel der Musiklehrerausbildung müsste es sein, denBeruf insbesondere auch als künstlerisches Arbeitsfeldzu begreifen. Es dürfte nicht darum gehen, Schülernetwas beizubringen, was man selbst längst kann, sondernmit Schülerinnen und Schülern zusammen künstlerischzu arbeiten und ihnen einen Bereich zugänglich zu ma-chen, in dem sie selbst gestalten können. Die Lehrpersonhätte sich dabei auch und vor allem als künstlerisch mit-arbeitend zu verstehen. Der Idealfall wäre hierbei eineAufhebung der Hierarchie von Lehrenden und Lernen-den, oder, wie Cage es einmal formuliert hat: „DerSchüler sollte seinen Lehrer zur Universität zurückschi-cken.“

Ein zu hoch gestecktes Ziel? Wer schon einmal mit Im-provisationsgruppen gearbeitet hat, weiß, dass gerade indiesem musikpädagogischen Betätigungsfeld solch einIdeal in der Praxis durchaus realistisch ist. Der Improvi-sationsunterricht ist sicher ein Gebiet, das einen erhebli-chen Beitrag in vielen Praxisbereichen zu einem lebhaf-ten, facettenreichen und nicht zuletzt auch künstlerischinteressanten musikpädagogischen Arbeiten leisten kann.

Literatur:

Bäßler, Hans, Die Irrtümer der PISA-Rückschlüsse,Musik & Bildung 2/2003, S.70f

Brodbeck, Karl-Heinz, Ist Kreativität erlernbar?, Vor-tragsmanuskript zu verschiedenen Vorträgen, gehalten1997, abrufbar im Internet (neben verschiedenen anderenTexten des Autors, der Kreativität v.a. unter wirtschafts-wissenschaftlichen Gesichtspunkten untersucht)

Gruhn, Wilfried, Der Musikverstand – neurobiologischeGrundlagen des musikalischen Denkens, Hörens undLernens, Georg Olms Verlag Hildesheim 1998

De la Motte-Haber, Helga, Handbuch der Musikpsycho-logie, Laaber-Verlag Laaber 2002

Pazzini, Karl-Josef, Kulturelle Bildung im Medienzeit-alter (Expertise im Auftrag des Bundesministeriums fürBildung und Forschung), Hamburg 1999

Radermacher, F.J., Kreativität – das immer neue Wunder(1995), www.faw.uni-ulm.de/deutsch/publikationen/radermacher/kreativitaet.html

Albert Kaul arbeitet als Klavierlehrer an der Musik-schule in Marburg/Lahn. Zur Zeit promoviert er an derMusikhochschule Köln über Improvisationsdidaktik

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Joachim Funke

Zur Psychologie der Kreativität

Kreativität ist eine allgegenwärtige Erscheinung mensch-licher Natur: Das Gebäude, in dem Sie sich möglicher-weise befinden, ist von einem Architekten gestaltet; dieKleidung, die Sie tragen, wurde von einem Designerentworfen; der Sessel, auf dem Sie sitzen, wurde – hof-fentlich ergonomisch korrekt – gestaltet; das Buch, dasSie lesen, wurde entworfen und gestaltet; usw. Hinter allden Dingen um Sie herum, die wir gemeinhin Artefaktenennen, steht eine Person, die diese Dinge kreiert unddamit eine ganz bestimmte Absicht verfolgt hat. DieseAllgegenwart kreativer Akte steht in krassem Missver-hältnis zu ihrer Erforschung. Über lange Zeit hinweg hieltman nämlich kreative Akte für etwas, das wie ein Blitzüber die Person kommt und keine weitere Erklärungerlaubte. Erst mit dem Beginn der naturwissenschaftli-chen Psychologie Ende des 19. Jahrhunderts sollten sichdiese Ansichten langsam ändern.

Wie sieht kreatives Denken aus?Im Unterschied zur populären Vorstellung, wonach kre-ative Denkakte Ergebnisse eines Geistesblitzes seien,also unmittelbar als Lösung eines Problems vor demgeistigen Auge erschienen, geht die psychologischeForschung bereits seit den frühen Arbeiten von Wallas1926 davon aus, dass die kreative Lösung Ergebnis eineslangdauernden, oft sogar mehrjährigen Prozesses ist.Mindestens fünf Stufen des kreativen Prozesses werdentraditionell unterschieden, die hier kurz genannt seinsollen.

Stufe 1: Vorbereitung

Es ist schwierig eine gute Idee zu bekommen, ohne sichnicht vorher intensiv mit dem fraglichen Gebiet beschäf-tigt zu haben. Kreative Erfinder kennen die wichtigstenPrinzipien in ihrer Disziplin, kreative Künstler habensich intensiv mit den Werken von Vorgängern und Zeit-genossen auseinandergesetzt, kreative Wissenschaftlerhaben nicht nur ein langes Studium hinter sich, sondernauch zugleich einen hohen Grad an Expertise in ihremFach erreicht („exceptional talents are less born thanmade“). Intensive Vorbereitung ist also nötig. UnterExpertise-Forschenden wird normalerweise von Experti-se gesprochen ab einer Beschäftigungszeit von 10.000Stunden mit einem bestimmten Thema.

Stufe 2: Inkubation

Interessanterweise kann es sinnvoll sein, ein Problem, fürdas man eine kreative Lösung sucht, einfach liegen zu

lassen. In den Phasen der Nichtbeschäftigung arbeitetunser Gehirn offensichtlich weiter – die Inkubationspha-se tritt in Kraft, nachdem die vorangegangene Phase dieGrundlagen dafür gelegt hat durch eine Art „gedankli-cher Infektion“. Was in dieser Inkubationsphase genaupassiert, war lange Zeit unklar. Am Werk ist hier dieDynamik unseres Gedächtnisses, in dem assoziativeVerbindungen zwischen Ideen und Vorstellungen sich imLaufe der Zeit abschwächen und durch neu hinzukom-mende Informationen überlagert und verändert werden.Die in der Inkubationsphase ablaufenden Prozesse blei-ben der kreativen Person unbewusst und können nichtaktiv beeinflusst werden. Allerdings hat gerade die neue-re Forschung zum Kognitiven Unbewussten eindrucks-volle experimentelle Belege intuitiver Informationsver-arbeitung vorgelegt, die diese Phase entmystifizieren.

Stufe 3: Einsicht

Zu einem ungewissen Zeitpunkt durchdringt eine rekom-binierte Assoziation die Schwelle zum Bewusstsein undliefert den Moment der Erleuchtung – die Illumination.Gestaltpsychologen haben vom „Aha“-Effekt gespro-chen. Dies ist der Moment der Bewusstwerdung desschöpferischen Augenblicks, der nach entsprechenderVorbereitung und daran anschließender Inkubation er-folgt.

Stufe 4: Bewertung

Die in der Erleuchtungsphase gewonnene kreative Ein-sicht muss natürlich bewertet werden – nicht alle kreati-ven Einsichten sind wirklich brauchbar. Hier kommenNormen und Werte ins Spiel, die darüber entscheiden, obeine neue Idee der kritischen Zensur zum Opfer fällt oderes schafft, diese Hürde zu überwinden. Dabei ist dienächste Stufe nicht unbeteiligt.

Stufe 5: Ausarbeitung

Von der ersten Idee einer elektrischen Glühbirne bis zumersten Prototypen war ein weiter Weg zu überwinden.Thomas Edison hat einmal rückblickend gesagt: „Geniebedeutet 1% Inspiration und 99% Transpiration“, womiter auf die Kräfte hinweist, die zur Durchsetzung einerkreativen Idee nötig sind. Außerdem können sich aufdem Weg von der ersten Idee hin zum fertigen Ender-gebnis – einem Bild, einem technischen Produkt, einemRoman – noch zahlreiche Überraschungen und Änderun-gen ergeben.

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joachim funke: zur psychologie der kreativität

ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003 9

Wassind

Determinanten kreativen Denkens?Klassischerweise werden verschiedene Perspektiven derKreativitätsforschung unterschieden: die kreative Person,der kreative Prozess und das kreative Produkt. Nachdemim vorangehenden Teil bereits einige Aussagen zumkreativen Prozess gemacht wurden, soll hier derSchwerpunkt auf die kreative Person und ihr Umfeldgelegt werden. Auch ein paar Bemerkungen zumkreativen Produkt sollen hier erfolgen.

Merkmale der Person

Muss eigentlich eine überdurchschnittliche Intelligenzgegeben sein, um kreative Leistungen zu erbringen? DieseFrage haben bereits Galton 1869 aus der Perspektive derVererbungsforschung und Terman 1925 aus der Perspek-tive der Hochbegabtenforschung gestellt und durch empi-rische Studien zu beantworten versucht. Sternberg 1995bejaht diese Frage, schränkt aber zu-gleich ein: „brightbut not brilliant“, womit zum Ausdruck gebracht wird,dass oberhalb einer gewissen Intelligenzschwelle (abeinem IQ von etwa 120) eine Erhöhung der Intelligenzkeine Auswirkungen mehr bezüglich kreativer Leistungenbewirkt. Dabei sollte man sich allerdings eine Intelligenz-konzeption vor Augen halten, die nicht von der Annahmeeiner einzelnen „generellen“ Intelligenz ausgeht, sonderndie – wie dies etwa in den Vorstellungen von HowardGardner 1983 zum Ausdruck kommt – die Existenz„multipler Intelligenzen“ annimmt (sprachliche, logisch-

mathematische, räumliche, musikalische, motorischesowie personale Intelligenz).

Aber nicht nur Intelligenz interessiert an dieser Stelle –vielmehr wird die Frage allgemeiner gestellt: gibt esspezifische Ausprägungen von Persönlichkeitseigen-schaften kreativer Personen? Die heutigen Ergebnissezeichnen ein Profil, in dem Unabhängigkeit, Nonkonfor-mismus, unkonventionelles Verhalten, weitgespannteInteressen, Offenheit für neue Erfahrungen, Risikobereit-schaft sowie kognitive und verhaltensmäßige Flexibilitätals Kennzeichen dienen. Auch die alte Debatte um Genieund Wahnsinn findet insofern Unterstützung, als Kreati-vität tatsächlich oftmals mit einem gewissen Grad psy-chopathologischen Verhaltens einhergeht. Allerdings sindpathologische Verhaltensweisen keine notwendige Vor-aussetzung für Kreativität – im Gegenteil: oftmals beweistgerade die kreative Persönlichkeit, wie bestimmte psy-chologische Schwachpunkte in einem adaptiven Sinnnützlich gemacht werden können.

In Hinblick auf das Lebensalter wird oft argumentiert,dass die Kreativität nach einem Höhepunkt zwischen 20und 30 mit zunehmendem Alter nachlasse. Tatsächlich isteine derart pessimistische Aussage wohl nicht gerechtfer-tigt, da zahlreiche Faktoren für eine qualitative wie quan-titative Wiederbelebung kreativer Produktivität im späte-ren Lebensalter sorgen können.

Das kreative Umfeld

Forschung, die die gesamte Lebensspanne übergreift,zeigt interessanterweise, dass Kreativität nicht immerdortentsteht, wo die besten Bedingungen vorliegen – eherim Gegenteil scheinen herausfordernde Erfahrungen dieFähigkeiten einer Person zu stärken, Widerständen zubegegnen. Dies macht deutlich, dass nicht die kreativePerson allein maßgeblich ist, sondern dem kreativenUmfeld eine große Bedeutung zukommt. Dieses „Feld“besteht aus anderen Personen, die kreativ auf dem glei-chen Gebiet tätig sind. Martindale 1990 etwa machtdeutlich, dass für einen Schriftsteller hauptsächlich andereSchriftsteller (sowie einige ausgewählte Kritiker) alsReferenz gelten – diese Strukturen findet Martindale auchin der Kunst und in der Musik. Diese Überlegungenmachen deutlich, dass nicht die alleinige Konzentrationauf eine einzelne kreative Person ausreicht, um das Zu-standekommen eines kreativen Produkts zu verstehen.

Neben dem eben beschriebenen Einfluss des „Feldes“gehören natürlich auch soziokulturelle Einflüsse („Zeit-geist“) zum kreativen Umfeld. So haben im geschichtli-chen Verlauf viele Länder nach der Gewinnung ihrerUnabhängigkeit kreative Blütezeiten durchlebt, angefan-gen mit dem antiken Griechenland. Wie Simonton 1994ausführt, mag dies mit Tendenzen zusammenhängen, diezu mehr Heterogenität anstatt Homogenität ermutigen.Kulturelle Diversität wird dort sogar als kreativitätsför-derlicher Faktor gesehen. Historiometrische Analysenkreativer Produkte scheinen diese Sicht zu bestätigen.

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kreativität

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Was kann man zur Förderungkreativen Denkens tun?

Der amerikanische Kreativitätsforscher RobertSternberg empfiehlt, zur Erhöhung des kreativenOutputs auf die folgenden Punkte zu achten:

1. Entwickeln Sie eine hohe Motivation dafür,auf einem speziellen Gebiet kreativ zu sein.Lassen Sie sich um keinen Preis durch extrin-sische Motivation (z.B. in Form von Geld) alsEntschädigung für kreative Leistungen beste-chen – Geld korrumpiert. Generell sollte dasStreben zu kreativen Handlungen aus Ihnenselbst kommen (intrinsische Motivation).

2. Zeigen Sie ein gewisses Maß an Nonkonfor-mismus – Regeln, die Ihre kreativen Hand-lungen beschränken, können gegebenenfallsmissachtet werden. Allerdings: nicht alle Re-geln und Gewohnheiten sind schädlich. Wasdie eigene Leistung angeht: höchste Ansprü-che und Selbstdisziplin beim Schaffen sindnötig.

3. Sie müssen vom Wert und der Bedeutung Ih-rer kreativen Tätigkeit völlig überzeugt sein,Kritik und Abwertung durch andere Personendarf Sie nicht stören. Die Selbstkritik solltejedoch den eigenen Prozess überwachen undverbessern.

4. Suchen Sie sich Gegenstände und Personen,auf die sich Ihre kreative Aufmerksamkeitkonzentriert, sorgfältig aus – dabei kann essich auch (und gerade) um solche handeln,die von anderen Personen nicht geschätztwerden.

5. Benutzen Sie Analogien und divergentesDenken, wo immer möglich. Aber: kreativesDenken berücksichtigt auch die alten Traditi-onen – und sei es nur, um ihnen zu wider-sprechen.

6. Suchen Sie sich Mitstreiter, die gegen dieKonvention angehen und neue Ideen auspro-bieren, Mitstreiter, die zum Risiko ermutigen.

7. Sammeln Sie soviel Wissen über Ihren Be-reich wie möglich. Damit kann verhindertwerden, dass das Rad zum 100. Mal erfundenwird. Vermeiden Sie gleichzeitig, von diesenDaten gefesselt zu werden.

8. Verpflichten Sie sich auf das strengste zu Ih-ren kreativen Unternehmungen.

Wie man an diesen Empfehlungen sehen kann,wird nicht ein einzelner Faktor verantwortlichgemacht, sondern ein breites Bündel förderlicherMaßnahmen geschnürt. Neben einer kreativitäts-förderlichen Umwelt müssen nötiges Wissen,entsprechende Persönlichkeitsmerkmale, intel-lektuelle Prozesse und auch genug intrinsischeMotivation vorhanden sein.

Das kreative ProduktIn Hinblick auf das kreative Produkt, das Ergebnis krea-tiven Denkens, werden zwei Kriterien als zentral erach-tet, nämlich (a) Neuigkeit und (b) Angemessenheit undNützlichkeit im Sinne einer Problemlösung. Natürlichhängt die wahrgenommene Neuigkeit vom Hintergrundder beurteilenden Person wie auch vom sozialen Konsensab, und selbstverständlich kann eine von mir vorgenom-mene Entdeckung durchaus Neuigkeitswert beanspru-chen, auch wenn ich später erfahre, dass es sich um einelängst gemachte Entdeckung handelte.

Das an zweiter Stelle genannte Kriterium der Angemes-senheit und Nützlichkeit soll sicherstellen, dass nichtalles, was neu ist, auch automatisch als kreativ angese-hen wird. Vielmehr sollen bestimmte Einschränkungen,die das Problem vorgibt (z.B. bei der Beleuchtungdunkler Innenräume), möglichst optimal getroffen wer-den. Großflächige Spiegelsysteme wären im Regelfalldafür ungeeignet.

Neben den beiden Hauptkriterien werden von Lubart1994, noch drei Nebenkriterien angeführt: (c) Qualität,(d) Bedeutung und (e) Entstehungsgeschichte. Mit diesenZusatzkriterien kann die Bewertung eines Produkts alskreativ verändert werden. In Hinblick auf Qualität dürftenachvollziehbar sein, dass ein qualitativ hoch stehendesneues Produkt einem noch unausgereiften Produkt über-legen ist. Die Bedeutung eines Produkts ergibt sich ausdessen Reichweite: eine neuartige Alarmanlage für Au-tos, bei der Tierberührungen keinen Fehlalarm auslösen,hat eine geringere Reichweite als eine neuartige Metho-de, Sonnenenergie zum Kochen zu verwenden. Die Ent-stehungsgeschichte kann die Bewertung insofern verän-dern, als wir bei Kenntnis einer rein zufälligen Entde-ckung weniger Respekt vor der kreativen Leistung

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joachim funke: zur psychologie der kreativität

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haben, als wenn wir von der mühevollen, langjährigenEntwicklungsarbeit an einem Produkt hören.

Dass Urteile bezüglich des kreativen Werts eines Pro-dukts nicht nur vom historischen Kontext, sondern auchvon der sozialen Bezugsgruppe abhängig sind, merktman an der großen Spannbreite von Beurteilungen beiein und demselben Produkt. Dies liegt zum einen ambereits erwähnten unterschiedlichen Hintergrund derBeurteiler. Kunstlehrer, die viele Zeichnungen gesehenhaben, beurteilen das Bild eines Kindes kritischer als dieEltern, die von seinen ersten Produkten ganz begeistertsind, aber kaum Vergleichsmöglichkeiten haben. Zumanderen liegt es auch an der unterschiedlichen Gewich-tung der hier aufgeführten Kriterien. Je nach deren antei-liger Bedeutung für das Gesamturteil lassen sich unter-schiedliche Bewertungen dadurch gut erklären

Warum brauchen wir kreatives Den-ken?Die Notwendigkeit kreativen Denkens für den Fortbe-stand unserer Welt dürfte außer Zweifel stehen, auchwenn es gerade kreative Erfindungen waren, die dieMenschheit mit der Möglichkeit ihrer Selbstzerstörungkonfrontiert haben. Brauchen ausgewiesene Expertenund Expertinnen in einem Fach überhaupt Nachhilfe inSachen Kreativität? Interessanterweise ja, denn geradeFachwissen kann gegenüber neuen Ideen blind machen(„deformation professionelle“).

Die Notwendigkeit kreativen Denkens ergibt sich abernicht nur wegen der möglichen Betriebsblindheit vonExperten bei der Lösung komplexer Probleme. Vielmehrerweist sich in einer Welt, in der sich bestimmte Proble-me wie z.B. die Versorgung einer exponentiell wachsen-den Menschheit mit Nahrung und Wasser immer drän-gender stellen, in der das kriegerische Zerstörungspoten-tial nach wie vor zur mehrfachen Vernichtung des Glo-bus ausreicht, und in der anthropogene Emissionen in-zwischen einen erheblichen Anteil an empfindlichennatürlichen Stoffkreisläufen nehmen, das kreative Poten-tial der Menschheit als ein möglicher Hoffnungsschim-mer. Die gesamte (Kultur-)Geschichte der Menschheitwäre ohne kreative Prozesse nicht in der Weise verlau-fen, die wir heute rekonstruieren.

Aus diesem Grund ist es wichtig, nicht nur die Bedin-gungen kreativer Tätigkeit zu studieren, sondern aktiveMaßnahmen zur Förderung des kreativen Denkens zuergreifen. Elternhaus, Schule und Universität stellen ja ingewissem Sinne Sozialisationsinstanzen dar, die zurFörderung kreativen Verhaltens anhalten sollten.

Abschließende BemerkungenDie hier vorgetragenen Überlegungen verdeutlichennochmals die Notwendigkeit zu einer Perspektive, in derkreatives Denken als Interaktionsprozess konzipiert wirdzwischen einer kreativen Persönlichkeit und einer kreati-vitätsförderlichen Umwelt. Sie verdeutlichen ebenfalls,

dass kreative Leistungen nicht „verordnet“ werden kön-nen, son-dern einen Schatz darstellen, zu dessen Pflegedie institutionellen Bedingungen in Schulen und Univer-sitäten sorgsam überdacht werden müssen. Gemessen ander erdrückenden Menge an Problemen, mit denen sichdie Menschheit auf globaler Ebene konfrontiert sieht, isteine große Anstrengung erforderlich, diese Kräfte aufpositive Ziele zu bündeln. Gerade die Psychologie derKreativität zeigt, dass dies nicht dem Einzelnen alleinüberlassen werden kann.

LiteraturempfehlungFunke, J., & Vaterrodt-Plünnecke, B. (1998). Was istIntelligenz? München: Beck. (ISBN 3406418880)

Holm-Hadulla, R. M. (Ed.). (2000). Kreativität. Heidel-berg: Springer. (ISBN 3540422749)

Prof. Dr. Joachim Funke ist Ordinarius für Psychologiean der Universität Heidelberg

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kreativität

12 ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003

Zitatensammlung 1

Edward de Bono: Laterales Denken

Auszüge aus: Das spielerische Denken, Reinbek beiHamburg 1972 (Original: „The Use of Lateral Thin-king“, 1967)

Vor langer Zeit, da jemand, der Geld schuldig war, nochins Gefängnis geworfen werden konnte, hatte ein Londo-ner Kaufmann das Unglück, bei einem Wucherer miteiner hohen Summe in der Kreide zu stehen. Der Geld-verleiher, der alt und häßlich war, hatte es auf die jungeschöne Tochter des Kaufmanns abgesehen. Also schluger einen Handel vor: Er sagte, er würde dem Kaufmanndie Schuld erlassen, wenn er statt dessen das Mädchenbekäme.Vater und Tochter waren entsetzt über diesen Antrag.Daraufhin riet der schlaue Wucherer, das Schicksal ent-scheiden zu lassen. Er erklärte den beiden, er würdeeinen schwarzen und einen weißen Kiesel in eine leere

Geldkatze stecken, unddann müsse dasMädchen einen derSteine herausholen.Erwische sie denschwarzen Kiesel,würde sie seine Frau,und ihrem Vater sei dieSchuld erlassen. Gerateihr der weiße Kiesel indie Finger, bliebe siebei ihrem Vater, unddieser brauche trotz-dem nichtszurückzubezahlen.Weigere sie sich aber,einen Stein aus demBeutel zu nehmen, sowandere ihr Vater insGefängnis, und siewürde verhungern.

Widerstrebend gab der Kaufmann seine Einwilligung.Sie standen, während sie dies besprachen, in seinemGarten auf einem kiesbestreuten Weg. Der Geldverleiherbückte sich, um die zwei Steine aufzuheben. Das Mäd-chen, das die Angst scharfsichtig gemacht hatte, be-merkte jedoch, daß er zwei schwarze Kiesel nahm und indie Geldkatze steckte. Und nun forderte der Wucherer sieauf, jenen Stein herauszuholen, der über ihr Los und dasihres Vaters bestimmen sollte.Stellen Sie sich vor, Sie ständen auf dem Weg im Gartendes Kaufmanns. Was hätten Sie an der Stelle des bedau-ernswerten Mädchens getan? Wozu hätten Sie ihr gera-ten?Welche Art zu denken hätten Sie verwandt, um derSchwierigkeit Herr zu werden? Vielleicht sind Sie derAnsicht, daß, falls es überhaupt eine Lösung gibt, eine

sorgfältige logische Analyse des Problems den rechtenWeg weisen müsse. Eine solche Einstellung verrät ge-radliniges, vertikales Denken. Die andere Art ist lateralesDenken.Vertikale Denker sind gewöhnlich keine große Hilfe fürein Mädchen in dieser Lage. So wie sie die Situationsehen, gibt es drei Möglichkeiten:1. Das Mädchen weigert sich, einen Stein zu nehmen.2. Das Mädchen tut kund, daß zwei schwarze Kiesel indem Beutel stecken, und stellt den Wucherer als Betrügerbloß.3. Das Mädchen nimmt einen schwarzen Kiesel undopfert sich, um ihren Vater vorm Schuldturm zu erretten.Keiner dieser drei Vorschläge ist sonderlich hilfreich,denn wenn das Mädchen keinen Stein zieht, wandert ihrVater ins Gefängnis; im anderen Fall aber muß sie denwiderwärtigen Geldverleiher heiraten.Diese Geschichte zeigt den Unterschied zwischen verti-kalem und lateralem Denken auf. Vertikale Denker be-schäftigen sich mit der Tatsache, daß das Mädchen einenKiesel ziehen muß; laterale Denker befassen sich mitdem Kiesel, der zurückbleibt. Vertikale Denker nehmenzu einer Situation den vernünftigsten Standpunkt ein undbauen ihn dann achtsam und logisch weiter aus; lateraleDenker neigen dazu, sämtliche Betrachtungsweisen, soverschiedenartig sie auch sein mögen, zu erkunden, ehesie sich die vielversprechendste aussuchen und von ihrausgehend handeln.Das Mädchen aus der Kieselgeschichte steckte die Handin die Geldkatze und zog einen Stein heraus. Ohne ihnanzusehen, stellte sie sich ungeschickt und ließ ihn zuBoden fallen, wo er sich sofort unter all den anderenverlor.«Oh, ich Tolpatsch», sagte sie. «Aber es macht ja nichts.Wenn Ihr in den Beutel seht, könnt Ihr an der Farbe desanderen Steins feststellen, welchen ich genommen ha-be.»Da der verbliebene Stein schwarz ist, müssen die Betei-ligten annehmen, daß sie den weißen Kiesel gezogen hat;denn natürlich wagt es der Geldverleiher nicht, seineUnredlichkeit einzugestehen. Auf diese Weise verwan-delt das Mädchen, indem es lateral denkt, eine scheinbarausweglose Situation in eine höchst vorteilhafte. (S.9f.)

Nimmt man ein Problem in Angriff, so ist es allgemeinüblich, den Bereich abzuschätzen, innerhalb dessen dieLösung liegen muß. Die Grenzen der Aufgabe werdenalso als gegeben vorausgesetzt, und nun geht das verti-kale Denken daran, innerhalb dieser Umgrenzung eineLösung zu finden. Häufig werden solche "Zäune" abernicht von den Tatsachen, sondern von der Phantasieerrichtet, weshalb die Lösung durchaus auch außerhalbliegen kann. Man nehme nur die apokryphe Geschichte

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zitatensammlung 1: laterales denken

ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003 13

von Kolumbus und dem Ei. Als Kolumbus' Freunde denSeefahrer damit neckten, daß es wahrhaftig kein Kunst-stück gewesen sei, Amerika zu entdecken, da man jabloß den Bug nach Westen habe richten und drauflosse-geln müssen, forderte er sie auf, ein Ei auf die Spitze zustellen. Sie versuchten es, brachten es jedoch nicht zu-stande. Daraufhin nahm Kolumbus das Ei, schlug einesseiner Enden platt und stellte es auf. Natürlich erhobenseine Freunde den Einwand, sie hätten gedacht, das Eidürfe nicht beschädigt werden. Sie hatten also für dieLösung des Problems Grenzen angenommen, die inWirklichkeit gar nicht existierten. Aber sie hatten ebensosicher damit gerechnet, daß es nicht möglich sei, denBug nach Westen zu richten und drauflos zu segeln.Dieses navigatorische Kunststück erschien erst danneinfach, als Kolumbus den imaginären Charakter ihrerSchlüsse aufgezeigt hatte. (S.59f.)

Die Hauptverkehrsstraße des vertikalen Denkens führtgeradewegs auf die vermeintliche Lösung des Problemszu, während es im Interesse des optimalen Resultatserforderlich sein kann, daß man die genau entgegenge-setzte Richtung einschlägt. Veranschaulichen wir unsdies an Hand eines einfachen Experiments. Ein Tier wirdvon einem Eßnapf mit Hilfe eines Gitters getrennt, durchdas es das Futter sehen kann. Tiere bestimmter Arten(Hühner zum Beispiel) richten den Blick starr auf dieNahrung und versuchen mit allen Mitteln, sich durch denMaschendraht zu zwängen. Tiere von höherem Intelli-genzgrad dagegen (zum Beispiel Hunde) begreifen rasch,daß sie, um ans Futter zu kommen, erst von diesem weg-gehen und das Gitter umrunden müssen. Nun fällt einderartiger Umweg nicht eben schwer wenn ein erkennba-res Hindernis den augenfälligsten Weg zur Lösung einesProblems versperrt. Ist aber keine sichtbare Schrankevorhanden, so gehört Überwindung dazu, freiwillig denentgegengesetzten Kurs zu steuern. Als die zwei Frauen,von denen jede behauptete, die Mutter desselben Kindeszu sein, vor König Salomon gebracht wurden, ordnetedieser an, den Säugling zu teilen und jeder Frau eineHälfte zu geben. Vermutlich lag ihm vor allem daran,Gerechtigkeit zu üben und das Kind zu retten; nichts-destoweniger wies sein Befehl genau in die entgegenge-setzte Richtung. Er hatte das Endresultat im Auge, näm-lich die Ermittlung der rechtmäßigen Mutter, die natür-lich lieber der Rivalin das Kind überlassen als zugebenwürde, daß man es tötete.Da das laterale Denken keine festgelegte Richtung kennt,hindert einen nichts daran, daß man sich von einemProblem entfernt, um es lösen zu können. Muß man aneiner Steigung anhalten und das Auto vor einem beginntzurückzurutschen, so ist es das natürlichste, daß manselbst nach rückwärts ausweicht (vorausgesetzt, auf derNebenfahrbahn herrscht starker Verkehr). Es kann je-doch vernünftiger sein, das Gegenteil zu tun und an denvorderen Wagen heranzufahren. Auf diese Weise wird

die Wucht des Aufpralls vermindert, und womöglichreicht die zusätzliche Bremswirkung des eigenen Wa-gens aus, um das ins Rollen geratene Fahrzeug anzuhal-ten. (S.66f.)

Das schöpferische Denken in der Kunst hat einen Haken:Es ist so leicht, auf halbem Wege stehenzubleiben.Schließlich haben die wenigen Talentierten auch garkeine Wahl. Sich von überkommenen Vorstellungenfreizumachen, wird zur Tugend an sich. Originalität istalles. Mit Begeisterung springt man über die Zäune derbestehenden Ordnung und steigt hinunter in das Chaosmit seinen unbegrenzten Möglichkeiten. Aber allzu oftwird dieser Sprung bereits als die eigentliche Großtatbetrachtet, statt dass man ihn nur als ersten Schritt aufdem Weg zur Vollendung sieht. Es ist nicht der Zweckdes lateralen Denkens, sich im Ungestalteten zu suhlen,man muß mit einer wirksamen neuen Idee aus ihm em-portauchen. Diese neue Ordnung besitzt wahrscheinlicheine klassisch einfache Form, eine Ordnung, die mit derRegellosigkeit des Chaos, aus der sie hervorgeht, nichtsmehr gemein hat.Das Ideal, auf das das laterale Denken hinzielt, ist dieEinfachheit extremer Differenzierung, die Einfachheiteiner Vorstellung, die in Aktion äußerst wirksam unddoch in ihrer Form elementar ist. Es ist die Bescheiden-heit des Reichtums, nicht die der Armut. Es ist dieSchlichtheit der Fülle, nicht die der Leere (S.106f.)

Man kann mit einer bestimmten Betrachtungsweise voll-ständig zufrieden sein und trotzdem Spaß daran finden,die Dinge gelegentlich unter einem anderen Blickwinkelzu sehen. Humor hat viel mit lateralem Denken zu tun:Er kommt dadurch zustande, daß in eine naheliegendeAuffassung die plötzliche Erkenntnis einbricht, mankönnte auch einen ganz anderen Standpunkt einnehmen.Noch behauptet ja der Weg hoher Wahrscheinlichkeitseinen Rang als Straße erster Ordnung, und auf ihr gibtes kein plötzliches Umschalten wie beim «Heure-ka-Moment». Beim Humor dagegen springt der Geistzwischen einer naheliegenden und einer unerwarteten,.aber plausiblen Betrachtungsweise hin und her. DiesesPendeln ist dem lateralen Geist des Humors eigentüm-lich; sein Effekt hängt weitgehend von der jeweiligenMotivierung ab - daher auch der Erfolg zweideutigerWitze.Ein Spaßmacher wird zu immer größeren Leistungenangespornt, je stärker er sein Publikum mitreißt. DasPublikum wiederum wird immer gewitzter im Entdeckenvon neuen Betrachtungsmöglichkeiten, außerdem ak-zeptiert es laufend bereitwilliger die Nebenwege, für dieder Spaßmacher ihm die Augen öffnet.Wer Sinn für Humor hat, sollte leichter hinter das Wesendes lateralen Denkens kommen als ein humorloserMensch. (S.129)

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kreativität

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Mathes Seidl

Freie Improvisation oderDie kreative Intelligenz des Körpers

„Die Ereignisse sind im Innern“ (Julien Green)

Mit dem folgenden Aufsatz will ich versuchen aus erle-bensorientierter Sicht auf das Phänomen der frei impro-visierten Musik einzugehen.

Ich bin Musiker (Bratschist), Musikwissenschaftler undPsychologe beziehungsweise Psychotherapeut. Als Mu-siker habe ich reichliche Erfahrung sowohl auf demGebiet der improvisierten als auch der komponiertenMusik. Als Psychologe und Psychotherapeut beschäftigeich mich theoretisch und praktisch mit kreativen Prozes-sen. Um über Improvisation beziehungsweise über Krea-tivität überhaupt etwas sagen zu können, werde ich dortanfangen, wo sie stattfinden, nämlich im menschlichenErleben – genau gesagt: in meinem persönlichen Erfah-rungsraum. Nur so kann ich sicher sein, dass die Kon-zepte, die sich schließlich aus dem Ganzen ergeben et-was von dem Phänomen aussagen und nicht nur über es.

Die Frage nach dem Ursprung des musikalischen Materi-als bringt mich in Kontakt mit nahezu immaterielleninneren Bewegungen, die ich noch als Vorläufer kon-kreter Empfindungen betrachte. Hierbei handelt es sichum subtilste, noch untönbare klangliche Regungen, die

ich als unmittelbarsten Ausdruck lebendiger Kreativitätansehe. Sie sind im Ursprung nicht von dem zu unter-scheiden, was ich als spürbare Lebendigkeit bezeichne.Erst in ihrer Bewegungsrichtung gewinnen sie „prätona-le“ Qualität.

Wenn ich im Folgenden versuche, jene energetischenVorgänge zu beschreiben, bedeutet das auch, dass ich zueiner Sprache komme, die die Erlebensvorgänge zumAusdruck bringt und nicht bereits die Reflexionen dar-über.

Insofern unterscheidet sich mein Vorgehen nicht we-sentlich von der Freien Improvisation selbst. Wie es dortum klangliche Vergegenwärtigung der gelebten momen-tanen Erfahrung geht, geht es hier um sprachliche. Dasentspricht, so sehe ich es im Einklang mit neueren erleb-nis-orientierten psychologischen und philosophischenErkenntnissen, einer neuen Art Wissenschaft. Einer Wis-senschaft, die sich aus dem Erleben herausentwickelt undentfaltet; die bei den subtilen inneren Bahnungen desErlebensstromes beginnt und die sprachliche Darstel-lung wie die Symbolisierungsprozesse generell (alsoauch die musikalischen) als prozesshafte organismischeEntfaltungsschritte begreift. Bedeutungs- bzw. Symboli-sierungsprozesse sind so gesehen lebendige Fortsetzun-gen des inneren Erlebens. Die französische Schriftstelle-rin Nathalie Sarraute spielt auf diese Vorgänge an, wennsie sagt: ich will den Wörtern Zeit lassen, den rechtenMoment auszusuchen, ich weiß, dass ich mich auf sieverlassen kann. So kann ich es aus meiner Erfahrungauch für die frei improvisierte Musik sagen.

Wenn Sie den folgenden Bericht lesen, tun Sie es, wennmöglich, langsam und versuchen Sie in Kontakt zu kom-men mit den durch den Text vermittelten Erlebenswei-sen: das können Sie am besten, wenn Sie ihrem KörperZeit geben die spürbaren Resonanzen auf das Gelesenezu entwickeln. Die Zeit, die ich beim Schreiben aufge-bracht habe, um die Wörter kommen zu lassen, brauchenwir auch fürs Umgekehrte, nämlich zurückzukommenzur lebendigen Substanz jenseits der Wörter.

Die Situation ist da: ich bin allein oder im Kreis meinerimprovisierenden Mitspieler. Vielleicht beginnt jemandzu spielen, vielleicht nicht. Was zählt ist, dass ich da bin.Ich richte meine Aufmerksamkeit nicht auf die äußereUmgebung und nicht auf irgendwelche inneren Vor-stellungen. Wohin gehe ich mit der Aufmerksamkeit?Der nächste wichtige, vielleicht wichtigste „Schritt“ ist,diese Frage, die als verführender innerer Impuls auf-taucht, an mir vorbeiziehen zu lassen. Ich halte mich ausjeder auflauernden Ab-Sicht, jedem verführerischenKalkül heraus, lasse mich ganz auf dieses merkwürdigeNicht-Geschehen ein, warte einen entscheidenden dunk-

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mathes seidl: freie improvisation oder die kreative intelligenz des körpers

ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003 15

len Moment lang... lasse mich dann irgendwie durch eineEnge hindurch pressen, komme heraus und gleichzeitigmit einem Gefühl unmittelbarer Körperlichkeit zusam-men... von einer anderen, neuen Seite umfasst mich et-was Neues, beginnt mich aufzuladen, zu weiten undeinzuholen...- ich bin in einem zeitlich nicht messbarenaugenblicklichen Qualitätssprung frei geworden zu einerganz neuartigen Präsenz: dieses Gefühl, das nun da ist,nenne ich (alle folgenden durch „...“ verbundenen

sprachlichen Symbolisierungen beziehen sich auf diesel-be Eindrucksqualität): ich bin präsent...ich bin da...ichbin anwesend...ich bin im Kontakt mit mir selbst - ichbin nun auch ganz Finger, Arm, Instrument, Ohr... – ichbin ungetrennt mit den anderen...mit dem Raum, in demwir sind...den Leuten...dem Licht... Ich bin selbst diegesamte Situation ...diese eine bestimmte, gegenwärti-ge...ich bin in einer Art „fortlaufender" Gegenwärtigkeiteingewoben. In dieser Situation pulsiert die Gegenwär-tigkeit der Situation, das „Situation-Sein“ beziehungs-weise ein Fluidum, das Lebendige der Situation, das siewie eine absolut immaterielle Substanz zusammenhält.Gleichzeitig bewegt sich das Lebendige mit mir fort, willaus dieser Art von Gegenwärtigkeit heraus...will weiter...die Situation weiterquellen lassen... weitertragen... wei-terleben... Es ist wie eine unhörbar strömende Melodie,die von dem, was mich selbst ausmacht, nicht zu unter-scheiden ist.

Es ist für mich nun von entscheidender Bedeutung, die-sen Moment wirklich zu spüren, einen Moment, einelebendige Zeitspanne lang dieses Gefühl auf mich wirkenzu lassen (die Wichtigkeit des Spürens, die Lust daran,liegt im Spüren selbst, sie erzeugt sich aus sich herausimmer weiter: Es ist, als wolle das Erspüren des Leben-digen mehr von dieser inneren Aktivität, um zu seinemeigenen Grund zu kommen). Das erfordert soviel Zeit,wie ich etwa brauche, um die Qualität eines Geruchs,einer Speise, einer Berührung zu spüren...mit ihr einen

Moment zusammen zu sein, körperlich anwesend...- auchhier kommt die Gewichtigkeit des Vorgangs, sein ei-gentlicher Sinn aus dem erlebten Geschehen selbst her-aus - aus keiner Vorschrift und aus keinem Konzept. Nurdann kann ich spüren, wie mein Körper sich auf-lädt...„schwanger“ wird mit etwas, das mich zu einemlebendigen... lebenden Körper werden lässt...

Dieses subtile innere Leben löst sich nun auf in die voninnen kommenden ursprünglichen Bewegungen, löst dieKörpergrenzen in einen lustvollen Bewegungsreichtumauf, der in das Innere einwilligt...es abholt und weiterauffaltet, sich auflöst in die gegenwärtigen Ereignisse, indenen die eigenen musikalischen Aktivitäten und diemeiner Mitspieler „enthalten“ sind, - sie sind nichts Son-derliches...ich hänge mich spielend ein...bewege michmit...atme...spiele... Eine Art Ausdruckswille regt sich,hält mich einerseits in einem Fluss, der weiterfließt, auchin äußeren Pausen nicht still steht, gleichzeitig aber ausdem Strömen Aktionen freigibt, Bewegungen, musikali-sche Gestalten...es ist dieser Strom, der mein Tun aus-trägt.. Etwas in mir entlässt mich in die eigenen Aktionenhinein. Die erklingende Musik, die Töne, die ich produ-ziere, erlebe ich als eine Art Tonkette, Tonspur tönender"Absonderung", sinnhaft allein durch ihr Herauskom-men aus einer Verbundenheit mit etwas mich Umfassen-den...Übergreifenden. Den erklingenden Tönen gegen-über breitet sich in mir ein gewisses entspanntes anteil-nehmendes „Des-Interesse“ aus, ein Sein-Lassen deräußeren Vorgänge. Im Inneren bin ich mit mir und mei-ner Umgebung verbunden. Das Äußere sind Resultate,mit denen ich im weiteren Verlauf bin.

Die Wahrnehmung des musikalischen Materials verän-dert sich sehr subtil. Die Eindrucksmerkmale von Höhe,Stärke, Dauer treten zurück gegenüber qualitativenMerkmalen wie offen, brüchig, schleichend, fordernd,durchdringend, bröckelig... - diese Erfahrung hängt zu-sammen mit meinem Körpergefühl. Es ist mit der inne-ren Dynamik der Klänge spürend verbunden, erlebt undhört (das ist dasselbe) das innere Weitergehen der Klän-ge, ihre Art und Weise der „Tonströmung“, das in ihrForttönende und nicht ihre statischen strukturellenMerkmale. Durch dieses Erspüren der Töne sensibilisiertsich in mir eine Spielart, die mehr ein Hervorbringenund Produzieren ist, ein Äußerungsvorgang, der mitallen Möglichkeiten des Klanglichen in Berührungkommt. Die Spuren des Auf- und Austretens des Klang-lichen, dort, wo Klänge in Geräusche übergehen, sind es,die wichtig werden. Es ist, als ob das Ohr die definierteMaterialität der Klänge auflöst bis in die feinsten Spurenhinein, um von dort in das Spiel einzuhaken, einzufädelnund es fortzuziehen...

Natürlich ist das kein schrankenloser und gefahrenfreierRaum, in dem es einfach so dahingeht. Aber es hat sichein innerer Ohren-Körper-Ort gebildet, eine Art Ganz-Ohr-Sein, mit dem ich immer in Kontakt kommen kann,wenn äußere strukturelle Abläufe überraschende Bewe-gungen erzeugen, die sich einen Moment in den Wegstellen.

Eine solche besondere Herausforderung bildet beispiels-weise der Schluss einer Improvisation: er ist durch die

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kreativität

16 ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003

äußere Zeitstruktur vorgegeben, das heißt, er muss kom-men. Wie also schließen, ohne in die unzähligen schlüs-sigen Angebote zu verfallen, die sich wie Fallen anbie-ten? Hier entsteht ein oft dramatisch dichter innerer Di-alog zwischen einem routinierten Konzept, das soforteinspringen will, und - wenn wir einen "gnädigen Mo-ment" haben - einem totalen Loslassen dieser Situation.Wenn das geschehen kann, wird sich in der Regel etwasergeben, das als ganz neu und authentisch erlebt wirdund das sinnvoll ist - obwohl es von außen betrachtet(ästhetisch) oftmals ein gewisses Scheitern darstellt. Ineinem solchen Moment wird offenkundig, dass die Le-bendigkeit des Inneren Vorrang hat vor der Formlogikdes Äußeren.

Das scheint mir wichtig: ich habe oft erlebt, dass Zuhö-rer, die durch und durch traditionell orientiert sind undmit einem Stück Neuer Musik nichts anfangen können,begeistert reagieren auf geradezu avantgardistisch tönen-de aber in diesem inneren Sinne gelungene improvisierteMusik. Warum? Meine Antwort lautet: weil sie etwaserleben. Sie erleben, dass die Musiker beim Spielenetwas erleben.

Spielen aus dem Erleben? Praktische Musiker werdenmit der Bejahung dieser Frage wenig Schwierigkeitenhaben. Sie sind mit der Erfahrung vertraut, dass lebendi-ges und überspringendes Musizieren ohne inneres Erle-ben nicht möglich ist. Die Musik-Wissenschaft tut sichmit dem Erleben hingegen schwer. Für sie gilt im All-gemeinen, dass die Musik in den Noten steht. Was dar-über hinausgeht, ist für sie in der Regel unordentliches,ungeordnetes Gelände - gefühlig, emotional, roman-tisch...

Was im Bereich der Literatur längst bewusst ist, dassnämlich die Innendynamik oder der Bewusstseinsstromden primären schöpferischen Grund der „richtigen“Wörter bildet - siehe Nathalie Sarraute - diese substan-tielle Einsicht hat die Musikwissenschaft zum Großteilverdrängt. Wie sonst konnte man die Erkenntnisse eines

Ernst Kurth3 übersehen, der für die Musik einen innerenschöpferischen Raum des Menschen ausgeleuchtet hatund konsequent das innere Erleben als Grundlage derMusik angesehen hat: Musik ist Ausbruch aus dem Inne-ren. Ernst Kurths Lehre von der Energetik, beschreibt dieMusik als Resultat eines inneren Kräftespiels.

Von moderner psychologischer Seite erhält diese Sichtseine Bestätigung. Psychologie und Philosophie habenentdeckt, dass das Erleben einhergeht mit einer bestimm-ten körperlichen Befindlichkeit beziehungsweise einemspezifischen Körperbewusstsein – im Rahmen der Focu-sing-Philosophie von Eugene T. Gendlin heißt diesesGefühl felt sense (gespürte Bedeutung). Kommen wir mitdieser Bewusstseinslage (zwischen unbewusst und vor-bewusst) in spürenden Kontakt, eröffnet sich ein innererProzess, der nach dem Prinzip der Selbstorganisationfunktioniert: Das Leben organisiert sich selbst durch einden Menschen übergreifendes Kräftespiel, das für die Er-haltung und Fortführung der lebendigen Kräfte verant-wortlich ist. Dieser uralte kreative „Natur-Prozess“, des-sen sich alle schöpferischen Menschen bedienen, ist imMenschen angelegt. Er bildet die kreative Intelligenzunseres Körpers. Allerdings bekommen wir Zutritt zuihm nur durch den Sprung aus den Konzepten, denn ererwartet uns hinter den Türen des Intellekts. Tief in unse-rem realen körperlichen Dasein, das mehr als ein bloßesFunktionieren ist - es ist Interaktion zwischen lebendi-gem Leib und Kosmos - ist das umfassende „Wissen“ derEvolution eingefaltet. Unser Intellekt funktioniert dannorganisch (prozesshaft wachsend), wenn er in Kontaktmit diesem Inneren ist. (So verstehe ich Hellmut La-chenmanns Satz: Komponieren heißt, sich ein Instrumentzum Komponieren schaffen! Komponieren ist eine inneregeistige Angelegenheit, die sich der Materie bedient.)

Obwohl der Prozess uralt ist, gelang es erst der moder-nen Psychologie ihn zu beschreiben (Focusing) undsomit auch zu vermitteln – nochmals: es kommt daraufan, die Bewusstseins-Schicht der analytischen Außenori-entiertheit zu verlassen und unsere Aufmerksamkeit nachinnen auf das spürbare körperliche Erleben (felt sense) zurichten. Dann können wir gewahr werden, wie etwasOrganisches in Gang kommt, das uns in einer innerenVerbundenheit mit einem Etwas hält und uns gleichzeitigweiter zu tragen vermag.

Ich bin der Auffassung, dass sowohl Ernst Kurths Ener-getik als auch das Paradigma der Selbstorganisation oderder kreativen Intelligenz („Weisheit“) des Körpers einegemeinsame Wurzel haben im mystischen Prozess: Diemenschliche Fähigkeit, die Ich-Grenzen zu überschrei-ten, bewirkt, dass wir mit den äußeren Dingen durchInnenschau und Einsfühlung in einen tiefen inneren,wesenhaften Kontakt kommen können. Wenn wir indiesem Sinne das erfahrende Selbst vor das Verstehen 3 Ernst Kurth (1886-1946), in Wien geborener und in Bernlehrender Musikwissenschaftler zählt zu den bedeutendstenMusiktheoretikern des 20. Jahrhunderts. Seine Lehre von derEnergetik als Substanz des Musikalischen ist leider nicht ent-sprechend ausgeschöpft worden, obwohl sie meines Erachtensdie modernste und umfassendste musikpsychologische Theoriebietet (s. dazu u.a. Musikpsychologie 1931).

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mathes seidl: freie improvisation oder die kreative intelligenz des körpers

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der objektiven Welt setzen, erhalten wir Zugang zu eineruns übersteigenden Kraft, die sich in unsere Aktivitäteinmischt und uns jenes wunderbare Wie-von-selbstGefühl gibt.

In den geglückten und beglückenden Momenten erlebeich in der Tat eine hingebungsvolle Öffnung zu einemwesentlich reicheren Spielen als ich es von der Wieder-gabe des kalkuliert-eingeübten Repertoires her gewohntbin.

Es wäre jedoch ganz falsch von einem Gegensatz hierkreatives Freies Improvisieren und dort kalkulierte Wie-dergabe zu sprechen. Meine Erfahrung sagt, dass dieeingeübte, konventionelle Haltung der Wiedergabe sichdurch die lebendige Erfahrung des Improvisierens völligverändern kann. Das Gewohnte wird von innen herplötzlich belebt, ja durchlebt und wie neu geschaffen.Diese Erfahrung macht die Auffassung von der „nach-schöpferischen Interpretation“ zu einer Mär. Mit derErlebnisfähigkeit, die durch die Belebung des kreativenInnenraums ins Spiel kommt, ist Musizieren immer Neu-schöpfung. Andrerseits eröffnet das Spielen aus dieseminneren Fundus beim Hörer den entsprechenden Ohren-beziehungsweise Körperresonanzraum: aus dem Zuhörerwird ein erlebender Horcher.

Die Freie Improvisation ist eine risikoreiche Form. Sieverhilft uns zwar einerseits zu der zutiefst beglückendenErfahrung, dass wir durch unmittelbares Erleben in einenInnenraum gelangen können, aus dem wir in Kontaktkommen mit schöpferischen und die Situation übergrei-fenden Kräften. Andrerseits lässt sie uns erfahren, wieschnell die Einmischung des Kalküls und Absichtsvollenzum Scheitern und zum untrüglichen Gefühl des Unech-ten und Schalen führt. Insofern erscheint sie mir wie einaktuelles Lebenszeichen: sie bringt den existentiellenGrundkonflikt zwischen Falschem und Wahrem Selbst,äußerer und innerer Orientierung, Betrieb und Besin-nung, inhaltlicher Vielfalt und Substanz in die musikali-sche Erfahrung.

Ich will die Freie Improvisation nicht voreilig mit Fragennach ihrem symbolischen musikgeschichtlichen Gehaltüberfrachten. Es scheint mir für ihr tieferes Verständnisaber wichtig, dass sie einzig und alleine an die praktischeinnere Erfahrung gebunden ist. Daher ist die Rede wedervom Schöpfer, noch vom Werk, Interpreten oder vomKritiker. Das wirklich Neue, das mit ihr ins Spielkommt, scheint mir eine Ästhetik der PROZESSHAFTIG-KEIT DER HERVORBRINGUNG zu sein: Musik als energeti-sches Spiel aus innerer Dynamik gegenüber der altenWerk-Ästhetik, mit der zentralen Vorstellung des Ferti-gen und Geschaffenen, an das es gilt, sich interpretierendanzunähern. Dieser "neue" Prozess ist ein sich selbstorganisierendes Spiel des Lebens mit sich selbst.

Ich persönlich glaube auch, dass der tiefere Sinn derForm der Freien Improvisation in ihrer zeitgemäßenNotwendigkeit liegt, die Aufmerksamkeit auf die subti-

len inneren Vorgänge und die damit verknüpften Erfah-rungen unseres Selbst beim Musizieren zu richten.

Ich habe mein „Erstes Mal" nicht vergessen: als erfahre-ner Orchestermusiker stand ich wie auf einem Sprung-brett - ohne das vertraute Notenpult vor der Nase, nie-mand war da, der den Einsatz gibt... - nur Nacktheit habeich gespürt. Doch keine Angst - das ist schon die Wende:manchmal kommt zunächst das überlebenswillige wildeTier zum Vorschein, manchmal aber auch die beruhigen-de Wirkung der Zeit. Die improvisierenden Mitspielersind in aller Regel freundliche und für Erfahrungen offe-ne Gefährten. Mehr und mehr öffnet sich eine kleine Tür,die Zugang zu einer ganz anderen Seite gibt...

Ich empfehle es allen: wer auch immer die Erfahrungmachen will, dass es in unserem aufgeheizten äußerenMusikbetrieb lebendige Innenräume zu entdecken gibt,wer immer das geforderte Repertoire von innen herdurchlüften und in Bewegung bringen will, wer immerals Anfänger, Schüler, Student, Profi sich nicht zu sehrvereinnahmen lassen will von den Vorstellungen undAnforderungen des Immer-Schon-Fertigen, - der wagees! Es lohnt sich über alle Maßen.

Mathes Seidl ist klassisch ausgebildeter Bratschist, pro-movierter Musikwissenschaftler und Psychotherapeutsowie Mitglied verschiedener improvisierender Gruppenin seiner Heimatstadt Zürich. Dort führt er eine eigenePraxis und bietet daneben Focusing-Workshops an.

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kreativität

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Olaf-Axel Burow

Kreative Felder:Das Erfolgsgeheimnis kreativer Persönlichkeiten

(Erstabdruck in managerSeminare Oktober 2000)

„Ein unzuträgliches Arbeitsumfeld kann selbst Menschen mit den besten Fähigkeiten lähmen.

Das passende Umfeld aber stimuliert zu Höchstleistung."Cummings & Oldham

Beim Übergang von der Industriegesellschaft alten Typszur Wissensgesellschaft stehen Firmen und Institutionenvor der Schlüsselfrage, wie sie das ungenutzte Wissenihrer Mitarbeiter freisetzen und vernetzen können. Dabeiwissen wir, daß vielversprechende Innovationen vorallen an den Grenzen zwischen den Fachdisziplinenentstehen. Aufgrund der Ausdifferenzierung und Spezia-lisierung ist die Verständigung zwischen den Fachex-perten oft schwierig und es findet zu wenig Austauschstatt. Deshalb benötigen wir neue Formen der fächer-bzw. abteilungsübergreifendem Zusammenarbeit. Esreicht also nicht, Maßnahmen zu ergreifen, um das krea-tive Potential von einzelnen Mitarbeitern freizusetzen. Eskommt vielmehr darauf an, "Kreative Felder" zu initiie-ren, in denen transdiziplinäres Denken entsteht. Wiesolche Felder funktionieren, können wir aus der Be-trachtung erfolgreicher Teams lernen. In meinen Büchern"Die Individualisierungsfalle - Kreativität gibt es nur imPlural" (1999) und "Ich bin gut - wir sind besser. Er-folgsmodelle kreativer Gruppen" (2000) habe ich erfolg-reiche Teams aus unterschiedlichen Bereichen untersuchtund daraus nicht nur eine Theorie des Kreativen Feldesentwickelt, sondern Erfolgsmodelle für die eigene Ent-wicklung zur kreativen Persönlichkeit dargestellt. Waswissen wir über kreative Persönlichkeiten?

Was wissen wir über kreative Persönlichkei-ten?Die klassische Kreativitätsforschung hat sich auf derSuche nach den Quellen von Kreativität vor allem mitder Analyse der Lebensläufe herausragender Persönlich-keiten beschäftigt. So hat der amerikanische Sozialpsy-chologe Howard Gardner in seinem Buch "So genial wieEinstein" die Lebenswege der "Schöpfer der Moderne",Freud, Einstein, Picasso, Strawinsky, Graham und Ghan-di untersucht. Jede dieser Personen steht für eine Neu-schöpfung in ihrem Bereich. Was ist diesen Kreativengemeinsam? Sie verfÜgten über eine frühe Begabung,die sich in einer frühreifen Meisterschaft in einem Gebietäußerte; in ihrer Umgebung befand sich eine Person, diediese Begabung erkannte und sie förderte; sie verfügtenüber die Fähigkeit, Asynchronien auszuhalten, d.h. sichin einen Gegensatz zu den beherrschenden Auffassungen

ihrer Zeit zu setzen; weiterhin benötigten sie mindestenszehn Jahre harter Arbeit, um einen Durchbruch zu errei-chen. Entscheidend für ihre Kreativität ist allerdings"eine Denkweise, eine Intuition, wie man sie gewöhnlichdem menschlichen Bewußtsein früher Altersstufen zu-ordnet." (Gardner 1996, S.473). Die erfolgreiche "Fusi-on" von frühreifer Meisterschaft und dem lebenslangenBewahren der Fähigkeit zum kindlichen, intuitiven Den-ken bildet den entscheidenden Faktor für ihre außerge-wöhnlichen Leistungen. Individuelles Talent reicht aller-dings nicht aus. Man muß zur geeigneten Zeit, die richti-ge Domäne (Fachgebiet) wählen und über eine sozialeIntelligenz verfügen, die es einem ermöglicht, vom Feld(Fachautoritäten) anerkannt zu werden. Dieses Bild desgenialen Einzelnen wird von dem St. Gallener Manage-mentforscher Fred Malik unterstützt, der behauptet, daß"alle wirklich großen Leistungen der Menschheit dieLeistungen von einzelnen sind." Diese These ist zwarpopulär, in ihrer Absolutheit aber falsch.

Kreativität gibt es nur im PluralMalik sitzt dem Geniemythos auf, der seinen Ursprungim Heldenmythos und der Künstlerlegende hat. Demnachverfügten die Helden der Vorzeit, seit der Renaissancedann auch die Künstler, über Zugänge zu höherenMächten. Der göttliche Funke springt auf den besondersBegabten Einzelnen über und erklärt seine erstaunlichenLeistungen. Doch sind besondere Begabung und göttli-cher Funke noch angemessene Erklärungsmodelle? Wieich in der Individualisierungsfalle zeige, ist das Gegen-teil der Fall: Kreativität gibt es nur im Plural! Von derEntwicklung der Heisenbergschen Unschärferelation bishin zum Personalcomputer - geniale Durchbrüche sindimmer Ausdruck spezifischer Milieus, wie der MünchnerSozialpsychologe Heinz Mandl ausführt. Ich nenne sol-che Milieus "Kreative Felder". Fred Malik strickt an derschon von Kriz & Kriz 1934 widerlegten Künstlerlegen-de weiter, wenn er behauptet, daß es in der Kunst "keineinziges Beispiel einer Gemeinschafts- oder Teampro-duktion" gäbe. Berthold Brecht schuf um sich herum einKreatives Feld phantasievoller Frauen, die einen ent-scheidenden Anteil an seinen Texten hatten. Die Come-dian Harrnonists waren ebenso wie die Beatles ein Er-folgsteam. Aber auch Mozart ist ohne die Berücksichti-gung seines besonderen Umfeldes nicht denkbar.

Die These, daß es Kreativität nur im Plural gibt, bestätigtsich noch eindrucksvoller, wenn wir die Entwicklungtechnischer Innovationen betrachten. Der Nobelpreisträ-ger Gerd Binnig (1992) zeigt in seinem Buch "Aus demNichts. Über die Kreativität von Mensch und Natur", daßdie Entwicklung des Elektronentunnelrastermikoskops

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olaf-axel burow: kreative felder- das erfolgsgeheimnis kreativer persönlichkeiten

ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003 19

Ergebnis einer spezifischen Mischung unterschiedlicherFähigkeiten im Team war. Die Erfindung des objekt-gesteuerten Personalcomputers durch Steve Jobs undStephen Woszniak war Ergebnis eines Synergieteams,das um sich herum ein Kreatives Feld schuf

Wer geniale Einzelne und Erfolgsteams untersucht, derstellt fest: Es gibt keine Spitzenleistungen ohne ein Syn-ergiefeld. Fred Malik behauptet, die "einzelne kompe-tente Person, wenn man sie mit einem klaren Auftragungestört arbeiten läßt", sei dem Team überlegen. Diesmag in extrem hierarchisch strukturierten Firmenumfel-dern gelten, in denen man Zwangsteams zusammenstellt,die in der Tat schlecht funktionieren. Der Mythos derüberlegenen Einzelperson lenkt aber von der Tatsacheab, daß hinter jeder Spitzenleistung ein Unterstützerfeldsteht; daß es Kreativität nur im Plural gibt.

Kristallisationskerne ziehen Synergie-partner anDiese Einsicht hatte auch schon der amerikanische Ma-nagementforscher Warren Bennis belegt. In seiner Unter-suchung "Genialer Teams" stellt er fest, daß die besonde-re Mischung von Teams entscheidend für ihren Erfolgist. Allerdings spielen besonders befähigte Führer einewichtige Rolle. Seine Analyse hochleistungsfähigerGruppen gipfelt in der Aussage:

"Und in diesen Gruppen gab es jedesmal, wenn wirkli-che Durchbrüche erzielt wurden, einen >Anführer<, deres verstand andere auf eine faszinierende, außergewöhn-liche signifikante Vision einzuschwören. Da war alsojemand, der in der Lage war, Anhänger und >Fans< zurZusammenarbeit zu begeistern. Alle waren davon über-zeugt, sie könnten Berge versetzen."

Ich nenne einen solchen Anführer einen Kristallisations-kern im Feld. Was verstehe ich darunter?

Harry Frommermann, der spätere Gründer der ComedianHarmonists, besaß 1927 nichts anderes als eine Vision.Er wollte ein neuartiges Gesangsensemble nach Art der

amerikanischen Erfolgsgruppe "The Revellers" gründen.Weder verfügte er über eine musikalische Ausbildung,noch besaß er Mittel. Er schaltete eine Anzeige undsuchte mit erstaunlichem Erfolg Mitglieder für sein En-semble. Innerhalb eines Jahres erreichten die ComedianHarmonists sensationelle Erfolge. Was war ihr Geheim-nis? Es war die Mischung. Frommermann, der tolle Ideenhatte und unablässig Songs schrieb, fand in Erwin Bootzeinen Pianisten, der über das nötige fachliche Rüstzeugverfügte, um aus Frommermanns Ideen singbare Arran-gements zu schreiben. Die übrigen Mitglieder der Grup-pe ergänzten sich mit ihren unterschiedlichen Fähigkei-ten optimal. Hier zeigt sich: Der Kristallisationskern, dervon einer Idee besessen ist, übt wie in einem physikali-schen Feld, Anziehungskräfte aus. Er wirkt wie einMagnet und zieht Synergiepartner mit unterschiedlichenFähigkeiten an, die gemeinsam ein Kreatives Feld bilden.Erst das Zusammentreffen der unterschiedlichen Fähig-keiten läßt etwas Neues entstehen. Es kommt auf dieMischung an!

1978 verkaufte Steve Jobs seinen verrosteten VW-Busfür 1800 Dollar und gründete die Firma Apple. Der lang-haarige, ungepflegt aussehende Hippi hatte bei RankXerox zufällig ein Computerprogramm gesehen, das überObjekte gesteuert wurde. Die Idee, einen objektgesteu-erten Personalcomputer zu entwickeln, elektrisierte ihn.Da er jedoch über keinerlei Mittel verfügte und ihmüberdies die technische Ausbildung fehlte, hätte er keineChance gehabt, diese Idee zu realisieren. Doch er suchteund fand in Stephen Woszniak einen technisch versiertenSynergiepartner. Der Rest der Geschichte ist bekannt.Doch was zeigen diese Beispiele, die ich hier nur ver-kürzt darstellen konnte?

Wie Kreative Felder entstehenWenn Firmen/ Institutionen etc. das unerschlossenekreative Potential ihrer Mitarbeiter freisetzen und Inno-vationen anstoßen wollen, dann brauchen sie drei Dinge:

• Kristallisationskerne

• Die richtige Mischung

• Das Jazzbandmodell der Führung

Schauen wir uns die einzelnen Elemente der Reihe nachan.

"Kristallisationskerne " sind Menschen, die ein Themaentdeckt haben, das eng mit ihrer Identität, ihrem per-sönlichen Wollen im Einklang steht. Man könnte sagen,sie haben ein so hohes Maß an innerer Kohärenz erreicht,daß ihre Art sich zu geben, wie eine anziehende Bot-schaft, als ein starker Attraktor, auf ihre soziale Umge-bung wirkt. Spektakuläre Beispiele für solche Kristalli-sationskerne sind zum Beispiel Nelson Mandela, derobwohl er 27 Jahre im Gefängnis saß, mit seiner Visionder Abschaffung von Apartheid eine Massenbewegunginitiierte, die so erfolgreich war, daß der verfolgte Häft-ling am Ende seines Lebens als erster Schwarzer Präsi-dent Südafrikas wurde. Ein anderes Beispiel ist MartinLuther King, der mit seiner berühmten Rede unter dem

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Motto "I have a dream" Millionen Menschen mobilisier-te.

Der tschechische Präsident Vaclav Havel war lange Jahreein verfolgter Regimegegner ohne jede Macht. Und dochsetzte sich letztlich seine Botschaft durch. Kristallisati-onskerne sind aufgrund ihrer überzeugenden Botschaft inder Lage, enorme Energien freizusetzen. Es ließen sichzahlreiche weitere Beispiele für dieses Phänomen finden.

Solche spektakulären Beispiele machen zwar das Prinzipdeutlich, verdecken aber die ermutigende Einsicht, daßfast jeder von uns zu einem Kristallisationskern werdenkann. Hierzu benötigen wir weder überragende Bega-bungen noch den göttlichen Funken. Entscheidend ist,daß wir das Thema entdecken, das zu unserer Persongehört, das uns begeistert und das wir hartnäckig verfol-gen.

In jedem kreativen Paar, jedem kreativen Team, jedererfolgreichen Firma gibt es eine Person, die das gemein-sam angestrebte Ziel bzw. die Vision in besonderer Wei-se verkörpert. Ja, jeder erfolgreiche Unternehmer warursprünglich ein Kristallisationskern. Kristallisations-kern wird man, wenn es einem gelingt, in überzeugenderWeise der eigenen Berufung zu folgen und diese in einerattraktiven Geschichte oder einem begeisternden Zielanderen mitzuteilen. Kristallisationskerne sind Personen,die mit sich in Übereinstimmung stehen und von einerMission beseelt sind. Aufgrund der Selbstübereinstim-mung und der klaren Zielorientierung ziehen sie anderePersonen an, die nach Ergänzung und Orientierungsuchen. Sie wirken wie Magnete im Feld.

In der schnell sich wandelnden New Economy wird dieseFähigkeit des Magnetisierens zu einer Schlüsselqualifi-kation, denn nur Kristallisationskerne ziehen die geeig-nete Mischung für die zu lösenden Aufgaben an.

Das Jazzband-Modell der FührungDabei gilt: Der Kristallisationskern ist nur phasenweiseFührer. Er verkörpert die Vision, bündelt die Kräfte;doch im Sinne aufgabenbezogener Führungsrotation,können -je nach den geforderten Fähigkeiten - einzelneMitglieder zeitweise die Führung übernehmen. Wie ichin der "lndividualisierungsfalle" ausgeführt habe, fördertdas Jazzbandmodell der Führung das Entstehen KreativerFelder:

"In einer Jazzband spielen unterschiedliche Personenmiteinander, die alle ihr Instrument beherrschen und überein gemeinsam vereinbartes Thema - ohne Führung vonoben - improvisieren. Wenn es ihnen gelingt, gut aufein-ander zu hören, sich synergetisch zu ergänzen, dann kannetwas Neues entstehen, das so faszinierend ist, daß esauch die Zuhörer ergreift. Diese lösen sich aus ihrerpassiven Rolle, klatschen den Rhythmus, feuern dieMusiker durch Zurufe an. Musiker und Zuhörer verbin-den sich zu einem Kreativen Feld, das bei allen Betei-ligten eine signifikante Energiekonzentrierung bewirkt.Das Erlebnis gemeinsamen Mit-Schwingens löst oft einemachtvolle Resonanz aus, die dazu führt, daß Musikerund Zuhörer beflügelt werden und mit neuen Ideen undeinem erhöhten Energiezustand aus der Begegnung he-rausgehen." (Burow 1999, S.20)

Die SynergieanalyseResonanz, Energiekonzentrierung, die Schaffung vonNeuem, die Einbeziehung der Zuschauer bzw. Kunden -dies alles sind Ziele, die Unternehmen erreichen wollen.

Doch wie findet man zu seinem Thema und zur richtigenMischung? Nachfolgendes Schaubild illustriert meinVerfahren der Synergieanalyse.

IndividuellesTalent

Wo liegen meine Wo liegen meine Talente? Defizite?

Synergie-Partner?

Wer oder was Welche Dom./Disz. unterstützt mich? liegt mir?

Feld (Kritiker/ Domäne/Institutionen) Disziplin

Wer oder was Welche Dom./Disz. behindert mich? liegt mir gar nicht?

Abb.: Wo sind meine Synergie-Partner? c Burow 1999

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olaf-axel burow: kreative felder- das erfolgsgeheimnis kreativer persönlichkeiten

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Während man sich in der neueren Kreativitätsforschung(Gardner 1998, Csikzentmilhalyi 1997) auf die Betrach-tung des Individuums beschränkt, lege ich den Fokus aufdas Finden des bzw. der signifikanten Anderen. Dem-nach geht es bei der Synergieanalyse zunächst darum,daß Mitarbeiter herausfinden, welches ihre besonderenTalente und welches ihre Defizite sind. Die neue Sicht-weise besteht nun darin, daß die Defizite gerade die An-dockpunkte für passende Synergiepartner sind. SteveJobs hat nicht versucht, Programmierer zu werden, son-dern hat sich passende Partner gesucht, die über die Fä-higkeiten verfügten, die er zum Realisieren seiner Visionbenötigte. Gerade weil er kein Fachmann im engerenSinne war, konnte er eine bahnbrechende Entwicklunganstoßen.

Demnach sollten Personalentwickler nicht nur Stärkenihrer Mitarbeiter untersuchen, sondern sich auch dieDefizite genauer anschauen An diesen Defiziten mußallerdings nicht zwangsläufig gearbeitet werden, dennsie sind die optimalen Andockpunkte für mögliche Syn-ergiepartner. Gerade hier können interessante Mischun-gen entstehen. In unserer ausdifferenzierten, hochkom-plexen, spezialisierten Wissensgesellschaft kann es nichtlänger darum gehen, daß jeder alles kann. Vielmehrbrauchen wir profilierte Egos, die fähig sind, sich imTeam synergetisch zu ergänzen. Personalentwicklerbrauchen also einen sensiblen Blick, um festzustellen,welche besonderen Talente in der Firma vorhanden sind,welche Synergiepartner förderlich sein könnten und wiesie eine vielversprechende Mischung zusammenstellenkönnen, die zu einem Kreativen Feld wird. Doch wiekann man ein Kreatives Feld definieren?

Eine Definition des Kreativen Feldes"Das Kreative Feld zeichnet sich durch den Zusam-menschluß von Persönlichkeiten mit stark unterschiedli-che ausgeprägten Fähigkeiten aus, die eine gemeinsamgeteilte Vision verbindet: Zwei (oder mehr) unverwech-selbare Egos, die sich trotz ihrer Verschiedenheit ihresgemeinsamen Grundes bewußt sind, versuchen in einemwechselseitigen Lernprozeß ihr kreatives Potential ge-genseitig hervorzulocken, zu erweitern und zu entfalten."(Burow 1999, S. 123)

Wie Cummings & Oldham herausgefunden haben, kön-nen kreative Persönlichkeiten nur dann ihr Potentialentfalten, wenn sie in einem geeigneten Umfeld arbeiten,das folgende Faktoren berücksichtigt:

• Komplexität der Tätigkeit

• nicht-autoritativer Führungsstil

• Unterstützende Vorgesetzte

• Anregende Arbeitskollegen

• Kreative Konkurrenz (motivierende Herausfor-derungen)

Verfahren zur Schaffung von KreativenFeldernIn "Erfolgsmodelle kreativer Gruppen" beschreibe ichnicht nur weitere Führungsprinzipien, die zum EntstehenKreativer Felder beitragen, sondern stelle auch mit derZukunftswerkstatt, der Zukunftskonferenz, der OpenSpace Technology, dem Erfolgsteam-Konzept und Dia-loggruppen eine Reihe von bewährten Verfahren vor, diedazu beitragen können, daß in Firmen und InstitutionenKreative Felder entstehen. Entscheidend für den Erfolgsind jedoch nicht die spezifischen Verfahren. Worauf esvielmehr ankommt, ist der Abschied von der Mystifika-tion der Einzelleistung, die Befreiung aus der Individua-lisierungsfalle und die Entwicklung eines Synergiebe-wusstseins. Erst wenn wir lernen, die Entfaltungsmög-lichkeiten des Einzelnen vor dem Hintergrund förderli-cher Umfelder zu sehen, werden wir dringend benötigtekreative Potentiale erschließen können. Gemäß der Er-folgsformel "Ich bin gut - wir sind besser" kann in einemKreativen Feld - wenn die Mischung stimmt - fast jederzu überragenden Neuschöpfungen beitragen.

LiteraturBinnig G. (1992). Aus dem Nichts. Kreativität von

Mensch und Natur. München: Piper.

Burow 0.A. (2000). Ich bin gut - wir sind besser. Er-folgsmodelle kreativer Gruppen. Stuttgart:Klett-Cotta.

Burow 0.A. (1999). Die Individualisierungsfalle. Kreati-vität gibt es nur im Plural. Stuttgart: Klett-Cotta.

Cummings A. & Oldham G.R. (1998). Wo Kreativitätam besten gedeiht. In: Havard Business manager 4,S.32-43

Gardner H. (1996). So genial wie Einstein. Schlüsselzum kreativen Denken. Stuttgart: Klett-Cotta.

Malik F. (1999). Der Mythos vorn Team. In: Psycholo-gie Heute. 26.Jg.,Heft 8,S.32-35.

Mandl H. (1999). Die Blütezeit für Teamarbeit wird erstnoch kommen. In: Psychologie Heute. 26.Jg.,Heft 8,S.36-39.

Links: www.uni-kassel.de/fbl/burow

www.euro-moderator.de

Olaf-Axel Burow, geboren 1951, lehrt Allgemeine Päda-gogik an der Gesamthochschule Kassel. Er ist Mitbe-gründer des Instituts für Synergie und soziale Innovation(ISI) und hat zahlreiche Bücher und Beiträge zur Ges-taltpädagogik, Kreativitätsförderung und Zukunftsges-taltung veröffentlicht. Er unterstützt Gruppen und Orga-nisationen dabei, ungenutzte kreative Potentiale freizu-setzen.

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Zitatensammlung 2:

Gerd Binnig: Über die Kreativität von Mensch und Natur

Auszüge aus: Aus dem Nichts. Über die Kreativität vonMensch und Natur, München 1992Copyright: Piper Verlag GmbH, München 1989

Meine ursprüngliche Motivation, mich mit Kreativitätauseinanderzusetzen, war meine Enttäuschung im Studi-um der Physik. Ich empfand sehr stark, daß üblicherwei-se bei der Lehre an der Universität die Kreativität zukurz kam. Das Hauptgewicht lag darauf, Stoff - alsoWissen - zu vermitteln, während das spielerische Umge-hen mit diesem Stoff kaum eine Rolle spielte oder voll-kommen übergangen wurde. Betrachtet man ein Kind,am besten ein Kleinkind oder einen Säugling, wie es/erlernt, dann stellt man fest, dieses Lernen ist eine Kombi-nation von Spielen und Stoff, oder anders ausgedrückt,von Spiel und Spielzeug. Beides ist notwendig. DasSpielzeug ist Voraussetzung für das Spiel, und das Spielist Voraussetzung, um das Spielzeug zu begreifen; »be-greifen« in diesem Fall sogar im wahrsten Sinne desWortes, denn das Spielzeug wird spielerisch abgetastet.Es ist bekannt, daß Kinder, die mit Spielzeug im Über-maß ausgestattet sind, aufhören zu spielen. Die Fülle desMaterials, des Stoffes, erdrückt die Kreativität. Einwichtiger Faktor ist auch, wie der Stoff dargeboten wird.Nehmen wir ein Kind, das zum ersten Mal einen Würfelin der Hand hat und dieses geometrische Gebilde zuverstehen versucht. Dabei kann es stundenlang den Wür-fel rechtsherum, linksherum, vorwärts und zurück drehenund diese Tätigkeiten immer wiederholen, wobei es mitVergnügen und großer Gebanntheit auf den Würfelstarrt. Das geschieht »spielerisch«. Wenn ich dieses Bildheranziehe, um meine Erfahrungen beim Studium zubeschreiben, dann will ich damit ausdrücken, daß ich dasGefühl hatte, den Würfel nie in die Hand zu bekommen.Der Würfel wurde vor meinen Augen gedreht, malrechts- und mal linksherum, und dann sollte ich auchgefälligst alles verstanden haben, und ein neues Spiel-zeug wurde an die Stelle des Würfels gesetzt. Es kommtmir sogar so vor, als ob viele Professoren ein spieleri-sches Umgehen mit dem Stoff geradezu als kindisch oderals Zeitverschwendung betrachteten. In ihren Augenbeginnt Kreativität erst dann, wenn der Stoff »be-herrscht« wird.Dabei werden aber zwei Dinge, zwei wesentliche Dinge,außer acht gelassen. Einmal, daß das spielerische Erfas-sen des Stoffes die bessere Lernmethode ist, weil sie»Spaß macht«, lustbetont ist, und zum anderen, daß der»Kreativitätsmuskel« trainiert werden muß. KreativesDenken will gelernt und geübt sein. Ich selbst habe die-ses Mangelproblem für mich gelöst, indem ich währendmeines Studiums andere Dinge getan habe, die meinemSpieltrieb Nahrung gaben. Ich habe komponiert, Ge-dichte geschrieben und Bilder gemalt. Heute weiß ich,wie wertvoll das für mich war - selbst für meine wissen-schaftliche Ausbildung -, denn die Mechanismen, die zu

Kreativität in der Kunst führen, sind exakt die gleichen,die Kreativität in der Wissenschaft bewirken. Der Stoffist ein anderer, doch das »Spiel« damit ist das gleiche.Ein interessantes Experiment dazu hat Prof. DudleyHerrschbach von der Berkeley Universität gemacht,indem er seinen Studenten (womit er manche schockier-te) als Übungsaufgabe im Fach Quantenmechanik vor-schlug, Gedichte zur Quantenmechanik zu schreiben.Seine Absicht war, eine andere Art des Denkens zuschulen, die sonst im Studium zu kurz kommt, da übli-cherweise das streng logische, das begriffliche Denkenbetont wird. Er wollte damit wohl den »Kreativitätsmus-kel« der Studenten trainieren, denke ich. (S.13ff.)

Sieht man sich die herkömmlichen Definitionen derKreativität in den Lexika an, dann beziehen sie sich alleausschließlich auf den Menschen - auf das Denken, aufdie Phantasie und auf den Verstand, auf Gedankenblitzeund Ideen. Von der Natur oder vom Universum ist nichtdie Rede. (...) Diese Auffassung schien mir zu eng be-grenzt. Denn ist der Mensch wirklich das einzige Wesenoder die einzige »Institution«, die kreativ sein kann? Sowar es wohl ein kreativer Akt des Menschen, die Zangezu erfinden. Sie wurde jedoch schon etliche Zeit davorvon Mutter Natur erfunden - z.B. als Krebsschere. Odernehmen wir die Injektionsnadel. Auch sie wurde schonvor langer, langer Zeit von der Natur erfunden in Gestaltder Giftzähne von Schlangen. Die Ähnlichkeiten beiderErfindungen, der des Menschen mit der der Natur, sprin-gen ins Auge, und man fragt sich: »Ist die eine Entwick-lung, die des Menschen, kreativ und die der Naturnicht?« Die Ergebnisse ähneln sich so, daß man nicht anZufall glauben kann. Denkbar ist auch, daß der Menschsich von der Natur hat inspirieren lassen. Es gibt denWissenschaftszweig der Bionik, in dem versucht wird,von der Natur zu lernen und »natürliche Technik« auf»menschliche Technik« zu übertragen. Der Mensch hatsicherlich bisher vieles von der Natur gelernt, und erwird weiterhin lernen. Darüber hinaus geht er aufbauendauf der übrigen Natur aber auch einen eigenen kreativenWeg. Ich glaube, daß er dabei nicht nur zu ähnlichenEndergebnissen wie die übrige Natur kommen kann,sondern daß sogar die Wege zu ihnen hin mehr Gemein-samkeiten als Unterschiede aufweisen. (S.15f.)

Für das Entstehen von menschlicher Kreativität nimmtman oft an, daß die daran beteiligten Menschen beson-ders ausgeprägte Eigenschaften haben müßten. Betrach-tet man aber die Evolution des Universums, erkennt manetwas anderes ganz deutlich: Man braucht für Kreativitätin der Natur statt extremer Eigenschaften oder Situatio-nen oft subtil ausbalancierte Bedingungen. So müssenz.B. für das Entstehen von Aminosäuren ebenso wie fürdas Herstellen von Atomen genau definierte Bedingun-

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zitatensammlung 2: über die kreativität von mensch und natur / lob des mangels

ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003 23

gen vorliegen: Die Temperatur muß stimmen, die Dichteder Gase muß stimmen usw., damit die Moleküle entste-hen können. Wenn z.B. bei zu hoher Temperatur zweiAtome zu schnell aufeinanderprallen, dann werden sievielleicht sogar zertrümmert, zumindest jedoch wirdkeine Bindung zustande kommen; sie werden einfachwieder auseinanderbrechen. Wenn die Atome zu starkabkühlen, dann sind sie zu langsam, so daß sie kaumeine Chance haben zusammenzukommen, bzw. es ein-fach zu lange dauert, bis die zwei Atome ein Molekülbilden können. Derartige Bedingungen fördern einekreative Entwicklung also nicht.Damit ist auch klar geworden, daß der Zeitfaktor für dieKreativität eine große Rolle spielt. Wir werden in einemspäteren Kapitel besonders darauf eingehen. Dieses Phä-nomen der subtil ausbalancierten Bedingungen würde ichnach zweitem Hinsehen ohne weiteres auf die menschli-che Kreativität übertragen. (S.32f.)

Ein Punkt, der mir bei der menschlichen Kreativitätbesonders am Herzen liegt, ist der Wille zur Kreativität,daß ich oder eine Gruppe überhaupt kreativ sein will.Wenn ich es nicht will, passiert auch nichts. Ich muß jaimmer auf der Suche sein. Und es gibt hundert guteGründe, dies nicht zu tun. (...) Einige davon sind wirk-lich gute Gründe. Andererseits gibt es auch schlechteGründe. So habe ich in Deutschland z.B. immer wiedereinen sehr verkrampften Umgang mit Fehlern beobach-ten können. (...) Man sollte zu Fehlern ein natürlicheresVerhältnis bekommen und einfach wissen, wie notwen-dig sie sind. Für mich ist das nur eine Aufklärungsfrage.Wir sollten erkennen, daß ein Fehler weder gut nochschlecht ist. Er ist einfach notwendig, wenn ich kreativsein will. (S.62f.)

Hartmut von Hentig: Lob des Mangels

Auszüge aus: Hartmut von Hentig, KreativitätHohe Erwartungen an einen schwachen BegriffCopyright 1998 Carl Hanser Verlag München - Wien

(...) »Wo bleibt das Positive?« Es liegt wesentlich in derBescheidung. Man kann Kreativität nicht so sehr »för-dern« oder gar »herstellen«, man muß sich die Verhinde-rungen klarmachen und diese vermeiden oder ausräu-men. Die machtvollsten Verhinderer sind die unbewuß-ten: Sättigung, Gewißheit, die Folgen des Reichtums undder guten pädagogischen Absicht. Wir machen es denjungen Leuten an den falschen Stellen zu einfach (und ananderen zu schwer!). Wir liefern zuviel Ordnung, zuvielfertige Lösung, zuviel Perfektion und System; auch zu-viel Wissenspräparate (prae parata = Vor-Bereitetes),zuviel Gerät, zuviel Spielzeug.Ein EDV-Zubehör-Vertreiber bietet für die Herstellung»raffinierter Arbeitsblätter« einschlägige »erprobte Lern-software« an, die den Lehrern beispielsweise im

Schreibunterricht das ersparen, was sie den Schülernzumuten: die Schriftzeichen ordentlich auf die Linie oderzwischen die Hilfslinien zu setzen. Der Computer simu-liert die Handschrift für jede gewünschte Schriftart (dielateinische Ausgangsschrift, die Schulausgangsschrift,die vereinfachte Ausgangsschrift etc.), »für jeden An-laß«, »zeitsparend« und - Gipfel der Anpreisungen! -gänzlich »problemlos«. Wäre es nicht hilfreich für denSchüler zu erleben, daß dieser Buchstabe oder dieseReihung von Buchstaben auch dem Lehrer Sorgfalt undAnstrengung abfordert? Was hier geschieht, geschiehtüberall: nachschreiben, nachzeichnen, nacherzähleneines immer perfekten und scheinbar mühelosen Mus-ters. Wer wird da noch das unvollkommene Eigene wa-gen?Man kann das auch positiv wenden: Wichtige Vorausset-zungen für Kreativität sind

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kreativität

24 ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003

• die Erfahrung eines Problems, das einem selberzu schaffen macht - noch ohne Lösung, aber mitder berechtigten Erwartung, daß es eine gibt,

• ein ermutigendes Vorbild also,• der Widerstand der Realität gegen beliebige

Einfälle (weshalb Kunst nicht der einzige Anlaßfür Kreativität sein sollte) und

• ein ermutigendes Echo, eine sachliche, nichtpädagogische Anerkennung.

In der Eisenbahn hatte ich neulich folgendes Erlebnis.Am Tisch im ICE-Großraum saß neben mir ein kleinesvier- oder fünfjähriges Mädchen. Es hatte für die langeReise einen Zeichenblock und eine Traumkollektion von24 Buntstiften geschenkt bekommen. Die Mutter er-munterte es mit den Worten: »Nun fang mal an, kleineKünstlerin.« »Was soll ich denn malen?« »Vielleicht einHaus?« »Welches?« »Irgendeines - guck doch mal ausdem Fenster!« Während die Mutter sich wieder ihrerIllustrierten zuwandte, schaute das Kind in die vorbeira-sende Landschaft. Ratlos fing es an zu »malen«: Kreise,Krakel, Kreuze; es war offensichtlich, daß es dies noch

nie recht versucht hatte; es konnte den Buntstift nichthalten; es mochte schon die ersten Linien nicht; es hattekeine Vorstellung von dem Bild, das hier entstehenkönnte - und zerstörte das Angefangene sofort wieder.Ich war mit Schreibarbeit beschäftigt. Das Kind sah mirzu. Nach einer Welle fragte es: »Was machst du?« »Ichschreibe einen Brief an einen Freund«, schwindelte ich,denn die Wahrheit war zu kompliziert. Das Kind dachtenach: »Und was schreibst du?« »Was ich bei ihm ver-gessen habe und wie ich mich auf zu Hause freue undneugierig bin, ob meine Blumen noch am Leben sindund ob der Hund von meinem Nachbarn Junge bekom-men hat ... « »Ich habe auch etwas bei meiner Oma ver-gessen - meine Hausschuhe.« »Dann schreib ihr dochdas und bitte sie, daß sie sie dir nachschickt!« sagte ich -

und sofort fing die kleine Person an: Auf einem neuenBlatt ihres Blocks imitierte sie einen Brief; immer wie-der innehaltend, erzählte sie mir, was sie jetzt schreibe:Weil ihr Nachbar keinen Hund habe, sondern nur einenKater, der keine Kleinen kriege, könne sie »so was«nicht schreiben, aber wie er sie füttere und wo der Katerschlafe und daß er einen Luftballon kaputtgemacht habe,das habe sie der Oma zu erzählen vergessen. Katzenmüsse man die Nägel schneiden. Ein anderer Luftballonsei fortgeflogen. Vielleicht nach Afrika. Da sei es heiß,und da platzten deshalb die Ballons. Wegen der Sonneseien die Leute dort auch schwarz. »Und wenn Oma zuuns kommt, soll sie mir Schokoküsse mitbringen, schrei-be ich ihr ...« So ging das eine gute Stunde lang, einkleiner Dialog mit der eigenen Vorstellung, begleitet voneinem immer regelmäßiger werdenden Auf und Ab desSchreibstiftes, das nun wirklich wie Schrift aussah. Ichhabe dem Kind einen neuen weißen Umschlag geschenkt- das war gleichsam mein Applaus. Es hat ihn adressiertund zugeklebt und die Mutter um eine Briefmarke ge-beten.Da waren sie - die förderlichen Momente: Eine kleine,selbstempfundene Not, ein bißchen Anregung, ein Stückzustimmende Begleitung. (...)

»Lügen in Zeiten des Krieges« von Louis Begley heißtdas wichtigste Buch, das ich im vergangenen Jahr gele-sen habe. Der kleine Judenjunge Maciek überlebt mitseiner Tante Tanja im von den Deutschen besetzten Po-len durch Tarnung und Lüge. Lügen - das sind nichtirgendwelche Phantasiegeschichten, sondern präzise,sich dauernd anpassende, dauernd der Wirklichkeit vor-denkende Täuschungen:»Meine Existenz war ein ständiges Problem, für das sichkeine befriedigende Lösung finden ließ. Kinder waren indiesen Etablissements eine Seltenheit; sie erregten Auf-merksamkeit und beschworen damit Gefahr herauf. Fra-gen der Art, die Tanja und ich geprobt hatten, mußtenbeantwortet werden, bevor sie aufkamen, damit neugie-rige Wirtinnen und Mituntermieter gar nicht erst dieSpur aufnahmen, die zur Wahrheit führen mochte: Wa-rum hat die Familie die junge Frau nicht aufgenommen,warum muß sie statt dessen mit ihrem kleinen Jungen andiesem Ort ein einsames, fragwürdiges Leben fristen?Arm sind sie offenbar nicht, sonst könnte sie doch dieMiete nicht bezahlen, die wir kaum aufbringen, die wirarbeiten, oder wir, die immerhin eine kleine Rente ha-ben. Arbeitet sie denn? Nein. Und welche Rente habeneigentlich junge Leute wie sie? Ob die beiden am EndeJuden sind? Das müßte sich doch feststellen lassen. Malsehen. -ja, Fallenstellen macht Spaß.«(S. 110)

Ich kenne keine wirksamere »Schule« der Kreativität -und keine, an der klarer abzulesen wäre, daß diese nichtsfür sich allein taugt, daß Erkennen, Prüfen, Verstehen,Durchhalten hinzukommen müssen, ja, daß Erfindung ansich keinen Wert darstellt, sondern eines Zweckes be-darf. Der kann dann sogar die Lüge adeln.

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ulrich baer: 7 fragen zu kreativem denken und handeln

ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003 25

Ulrich Baer:

7 Fragen zu kreativem Denken und Handeln

1. Wie schaffe ich eine besonders günstige Aus-gangslage für kreatives Handeln?

Ich sammle einen riesigen Materialfundus an: Ges-taltungsmaterial, Urlaubsmitbringseln, Kleinspiel-zeug, Folien/Stoffen, Verkleidungssachen/Acce-ssoires, Masken, Steinen, Plastikteilchen, etc.

Ich sammle einen riesigen Informationsfundus an:Büchern, Zeitschriften, Zeitungsartikeln, Katalogen,Software, Internetrecherche-Ergebnissen, CDs,CD-ROMs, Videos, Dias, Postkarten, Plakaten.

2. Wie verschaffe ich mir Anlässe, bei denen ichkreativ sein muss?

Ich nutze alle Gelegenheiten in meinem privatenAlltag, um immer mal wieder kreativ tätig zu sein,z. B. Essen zubereiten, Geburtstagsgeschenke verpa-cken, Raum umgestalten, Getränke mixen, originellesReiseziel suchen.

Ich nutze alle Gelegenheiten in meinem beruflichenAlltag, um immer mal wieder kreativ tätig zu sein, z.B. Büro neu dekorieren, Tag der offenen Tür gestal-ten, Betriebsfeiern ausrichten, Wochenmotto für dieArbeit einführen.

3. Was unterstützt mein kreatives Handeln wir-kungsvoll?

Ich versuche möglichst oft, meine kreativen Ideen zuverwirklichen und für andere gut sichtbar darzustel-len, auch zu veröffentlichen: "Sei kreativ und zeigees!" Beifall und Anerkennung unterstützen stark.

Ich zwinge mich manchmal richtig zu kreativemHandeln: Abgabetermine, vereinbarte Teamsitzun-gen, Erwartungen von Kollegen oder Bekannten.

Kreativ-Rituale einführen, z. B.: Auf jeder ReiseMuseumsshops besuchen!

4. Was ist dein ganz persönlicher Ratschlag fürLeute, die dich fragen, wie sie etwas kreativerwerden können?

Interessiere dich. Interessiere dich. Interessiere dich.Interessiere dich für alles mögliche, was dir angetra-gen wird, was dir in den Sinn kommt und was du imFernsehen siehst!

Und mein zweiter ganz persönlicher Ratschlag: Seioptimistisch und positiv, es gibt eine Lösung. Und esmacht Freude, sich für sie einzusetzen. Vertrauedeinem Gefühl, sei offen für Menschen und vor allem-glaube an dich! Das hört sich sehr "New Age-ig" an

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kreativität

26 ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003

und dennoch bin ich überzeugt davon, dass es richtigist. Eine sozial und demokratisch organisierte Gesell-schaft braucht Bürger und Bürgerinnen, die selbstbe-wusst von ihrer Kompetenz überzeugt sind.

Außerdem ist der erste Schritt immer der Beginneines langen, aufregenden Weges. Und ich weiß, duhast den Mut ihn zu gehen, sonst hättest du mir nichtdiese Frage gestellt.

5. Wie erfindet man eine neue kreati-ve Methode?

Man muss es vor allem wollen und sichauch die Zeit nehmen, eine neue Metho-de für die eigene pädagogische Arbeitzu entwickeln. Das braucht Einsatz,Engagement und eben jene Motivation,die einen vorantreibt, bisherige Routi-ne-Methoden variieren oder verändernzu wollen. Woher kommt diese Motiva-tion? Für den einen ist die professionelleLangeweile, die sich einstellt, wennman immer dieselbe (gut bewährte)Methode anwendet, der Hauptantrieb fürdas Erfinden. Für jemand anderen istdas Risiko beim ersten Ausprobiereneiner neuen Idee die entscheidendeMotivation. Was immer einen treibt,hilfreich sind drei Dinge: Erstens dieklare Diagnose, weshalb bewährte Sa-chen nicht immer ausreichend gut sind.Zweitens eine neue Herausforderung inGestalt einer besonderen Zielgruppe(Senioren, Behinderte, Hochbegabte,...). Drittens der Spaß an gestalterischenMöglichkeiten wie z. B. das Erprobeneines neues Materials, einer neuenSoftware oder der Idee eines Freundes.

So, und der Rest ist reines Anwenden oder Nutzender verschiedenen Denkimpulse und Kreativitäts-techniken, wie sie in meinen 111 Methoden aufge-führt werden. (Anm. d. Red.: daraus nachfolgend 7Beispiele)

6. Welche Kreativitätstechnik ist wann cm bestengeeignet?

Schwierige Frage. Generelle Antworten sind nichtleicht zu geben. Als allgemeine Kriterien für die

Auswahl haben sich in meiner Praxis (in meiner Pra-xis!) folgende Gesichtspunkte bewährt:

• Wenn Menschen wenig Zutrauen zu den eigenenEinfällen haben, dann würde ich alle Methodenbevorzugen, die ihren Entscheidungs-, Assoziati-ons- und Denkrahmen eher eng umgrenzen, ihneninnerhalb des Rahmens aber viel Freiheit lassen.Bei einem Fragebogen kommen die Personen mitAuswahlantworten viel besser zurecht als mitvöllig freien Antworten.

• Wenn Menschen wenig gewöhnt sindabstrakt, strukturell und logisch

• exakt zu denken, dann würde ich allekonkreten und ganz praktischen Im-pulse wie z. B. anschauliche Fallsitu-ationen bevorzugen als Motor des kre-ativen Denkens.

• Wenn die Gruppe jedoch eher büro-kratisches oder wissenschaftlichesDenken gewöhnt ist, würde ich geradeintuitive, assoziative und metaphori-sche Methoden anwenden, weil mandamit diese Zielgruppe erfahrungsge-mäß am besten herausfordert ohne siezu überfordern (was trotzdem leichtpassieren kann).

• Gestalterische Techniken (Modellie-ren, Ausprobieren, Aufmalen) sind fürKindergruppen ein sehr effektivesMittel, nicht nur ihre Fantasie, son-dern auch ihre anwendungsspezifischeKreativität zu aktivieren.

• Wenn Sie in Mitarbeitergruppen krea-tive Planungs- oder Auswertungsme-thoden anwenden möchten, dannklappt das recht gut, wenn Sie sich

vorher klar machen, dass irgendjemand aus reinenKonkurrenzgründen die Methode angreifen wird.Ein dickes Fell hilft in diesem Fall.

7 Was behindert die Kreativität von Gruppenoder Einzelnen?

Die Standard-Antworten ("Killerphrasen", "wenigLob, viel Kritik", "enormer Leistungsstress", "Angstvor dem Versagen") sind alle richtig und dennochgebe ich eine andere Antwort: Nur ein mangelndesSelbstvertrauen behindert kreatives Denken undHandeln wirklich.

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ulrich baer: methoden für die pädagogische arbeit

ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003 27

Methoden für die pädagogische Arbeit(Ausschnitt aus: 111 Methoden für die pädagogische Arbeit)

ALLES ERST MAL FALSCH MACHEN!Sich zunächst alle Maßnahmen zur Verhinderung des Ziels ausdenken, dann diese ins Gegenteil ver-kehren1. Wenn die Gruppe ein positives Ziel vor Augen hat,

dann sammeln alle in einem ersten Schritt alleMaßnahmen, die zur Verhinderung des Ziels füh-ren würden, schreiben die Einfälle auf einzelneKärtchen und heften sie nebeneinander an

2. Im zweiten Schritt werden dann alle Ideen jeweilsunter die Kärtchenreihe der Verhinderungsideenangeheftet, die das genaue Gegenteil darstellen.

3. Nun werden einige Positiv-Ideen ausgewählt undauf Paare aufgeteilt, die sich in begrenzter, kurzerZeit Gedanken dazu machen sollen, wie man die-sen Vorschlag verwirklichen könnte.

4. Dann berichten die Paare im Plenum ihre Vor-schläge für die Realisierung.

5. Eine abschließende Bewertung erfolgt durch "Ex-perten" (können die tatsächlich Zuständigen oderRollenspieler aus der Gruppe sein) für Finanzen,Personalwesen, Materialeinkauf, Öffentlichkeits-arbeit, Politikerkontakte, Jugendbeirat.

+ IDEEN SAMMELN

+ KREATIVITÄTSTECHNIK

+ VORSCHLÄGE BEWERTEN

DIE GESCHICHTE DES BAUMSJeder erfindet die Geschichte eines Baums, dessen Bild man gewählt/gezogen hat

MATERIAL: Bilder von Bäumen

Paarweise oder einzeln wird aus einem Stapel dasBild eines Baumes gezogen und jedes Paar oder jedereinzelne Mitspieler denkt sich in drei Minuten dieGeschichte des Baums aus.

• Was hat der Baum alles schon erlebt und gesehen?

• Warum ist er gerade so gewachsen?

• Was hat sich im Laufe seines Lebens in seiner di-rekten Umgebung verändert?

• Was wurde schon alles mit ihm gemacht?

Dann werden nacheinander die Bilder gezeigt und dieGeschichten erzählt. Es kann auch reizvoll sein, eini-ge Bilder doppelt zu haben und die unterschiedlichenGeschichten zu demselben Bild zu hören

VARIANTE: Jeder wählt sich ein sympathischesBaum-Bild. Dann erzählt man in einer Kleingruppe,warum man sich gerade diesen Baum ausgesucht hatund was der Baum mit dem eigenen Leben zu tun hat.

+ GESCHICHTEN ERFINDEN

+ KREATIVITÄTSTRAINING

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kreativität

28 ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003

FREMDWÖRTER ALS KREATIVKICKUnbekannte Wörter als Anregung für kreative ProblemlösungMATERIAL: Fremdwörterlexikon

Nutzen Sie ein Fremdwörterlexikon als Kreativkick,indem Sie sieben beliebige Wörter heraussuchen(wahllos auf die Seiten tippen) und versuchen, diesein Beziehung zu dem kreativ zu lösenden Problemoder zu der Aufgabe zu setzen. Glauben Sie nicht,dass das funktioniert? Probieren Sie es aus: je ent-fernter Anregungspunkte manchmal sind, umso stär-ker ist der Kreatibschub.

VARIANTE: Ein schönes Kreativspiel ist das Aus-denken von Bedeutungen eines unbekannten Fremd-worts. Dann nachschlagen, was es wirklich bedeutet.Damit kann man auch ein Quizspiel mit Auswahl-antworten entwickeln.

+ ASSOZIATIONEN

+ KREATIVIMPULS

+ KREATIVSPIEL

+ QUIZ

+ SPIEL ERFINDEN

KLEINES GROSS UND GROSSES KLEIN MACHENAuf neue Ideen kommen, indem ein Merkmal einer Sache verändert wird

Unter dem Motto "Kleinesgroß und Großes klein ma-chen" entsteht beispielsweiseeine neue Spielidee: Daskleine, traditionelle Faden-spiel wird ganz groß gestaltet,mit Menschen statt Fingernund Seilen statt Wollfäden.Wenn man ein Merkmal einerSache, einer Veranstaltung,einer Methode oder einesProjekts bedeutsam verändert,entsteht daraus vielleicht einevöllig neue Idee. Möglicher-weise ist sie völlig verrücktund nicht zu verwirklichen,aber dann probiert maneben die Veränderungeines anderen Merkmals!

+ KREATIVITÄTSTECHNIK

+ METHODEN ERFINDEN

+ KREATIVITÄTSTECHNIK

+ METHODEN ERFINDEN

+ NEUES ENTWICKELN

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ulrich baer: methoden für die pädagogische arbeit

ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003 29

MERKWÜRDIGE BILDERERKLÄRENSurreale Bilder mit einer Geschichte "logisch" er-klären

MATERIAL: Manchmal findet man auch auf Rekla-me-Postkarten verrückte Bildmontagen oder man fertigt siemit Digitalfotos und Bildbearbeitung software selbst an.

Jeder bekommt die Fotokopie oder einen Farbdruck einessurrealen Bildes (Bilder von Salvador Dali, Henri Matisseoder Quint Buchhholz "Der Sammler der Augenblicke" [sie-he unser Beispiel-Bild] oder ähnliche Kinderbilderbücher).Zu den Bildern soll man sich eine Geschichte ausdenken, diedie abgebildete Situation logisch herleitet bzw. begründet.Haben alle ihre Story parat, werden reihum die Bilder gezeigtund die Geschichten erzählt.

+ BILDERSPIEL

+ GESCHICHTEN ERFINDEN

+ ERZÄHLEN

Abbildung: Quint Buchholz, Der Sammler der AugenblickeCopyright: 1997 Carl Hanser Verlag München-Wien

PERSONENRATEN: BIOGRAFIEN ERFINDENSich von unbekannten Leuten Lebensläufe ausdenkenEine Kreativitätsaufgabe, die jeder an allen Orten erfüllen kann, wo viele Leutesind: in öffentlichen Verkehrsmitteln, im Kaffeehaus, im Wartezimmer, aufEvents. Picken Sie sich eine Person heraus, die aus irgendeinem Grund aus derMenge heraussticht - weil sie eine besondere Kopfbedeckung trägt, weil sieIhnen sympathisch ist, weil sie doppelt so alt wie die anderen ist oder, oder.Denken Sie sich einen kleinen Lebenslauf dieser Person aus: Alter, Beruf,vielleicht Name, Familienstand, hervorstechende Charaktereigenschaften. Washat die Person schon Schlimmes und Schönes erlebt? Wenn Sie zu zweit diesesSpiel spielen, vergleichen Sie Ihre Einfälle!

VARIANTE: Stellen Sie Bilder (Porträtfotos) von Leuten zusammen, von denenSie die wahren Daten wissen oder ermitteln können (Verwandte, nicht ganzallgemein bekannte Prominente, CD-ROM "Bilder von Jugend " ausMünchen). Einzelne Gruppen bekommen dann diese Bilder und sol-len sich auf Biografien einigen. Zum Schluss werden die Tatsachen bekanntgegeben. Es soll unbedingt diskutiert werden, aufgrund welcher äußerenMerkmale man die Daten ausgedacht hat.

ANMERKUNG: Dieses "Bildnis machen" führt durch die Varianten undden Vergleich mit der Wirklichkeit nicht zur Klischee- oder Vorurteilsbil-dung, sondern zu differenzierter Wahrnehmung und zur Förderung vonEmpathie (sich in andere hineinversetzen können).

+ BIOGRAFIE

+ EMPATHIE

+ RATEN

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kreativität

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PERSPEKTIVE WECHSELNDurch einfachen Platzwechsel eine andere Sichtweise erlangen

Diesesw Foto hat übrigens ein Kind zum Deutschen Jugendfotopreiseingereicht'

+ BERATUNG + EMPATHIE

+ KONFLIKTMANAGEMENT + KREATIVIMPULS

+ RAUMGESTALTUNG + ROUTINE

Setzen Sie sich doch mal auf einen anderen als ihrenangestammten Platz bei der Teamsitzung, der Dienstbe-sprechung, der Lehrerkonferenz oder beim Schülerrat-treffen. Sie haben andere Nachbarn, ein anderes Gegen-über, ein anderes Gefühl für den Raum. Die örtlicheVeränderung kann erhebliche Änderungen in ihremKopf bewirken. Setzen Sie sich mal auf die andere Seiteihres Schreibtisches (da, wo Besucher sitzen) oder ste-hen Sie auf und gehen in die entfernteste Ecke IhresZimmers oder stellen Sie sich mal auf einen Stuhl,schauen Sie unter die Stuhlreihe ...

Bei Konflikten und Interessengegensätzen ist es oft hilf-reich, sich mal in den anderen hineinzuversetzen - nichtum seine Meinung zu übernehmen, sondern um seineSichtweise nachvollziehen zu können. Da hilft eine Ver-änderung der üblichen Position im Raum ganz erheblich.Sie könnten auch mal ihre Büromöbel umstellen! Probie-ren Sie die verschiedensten räumlichen Veränderungenaus - auch mit Gegenständen, Vorhängen, Blumen, Bü-chern.

Einige weiterführende Literaturangaben:Bugdahl, Volker: Kreatives Problemlösen. Würzburg:Vogel-Verlag 1991Ulmann, Gisela: Kreativität. Weinheim: Beltz Verlag1968Hoffmann, Achim: Kreatives Spielen. Leipzig: UraniaVerlag 1990Wilkes, Malte W.: Kreativität ist Kribbeln im Kopf.München: Goldmann Verlag 1984Akademie Remscheid (Hrsg.): Konzept Kreativität in derKulturpädagogik. Remscheid 1989Luther, Michael und Gründonner, Jutta: KönigswegKreativität. Paderborn: Junfermann 1998Gäde, Ernst-Georg und Listing, Silke: Sitzungen effektivleiten und kreativ gestalten. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 1998_Rodari, Gianni: Grammatik der Phantasie. Die KunstGeschichten zu erfinden. Leipzig: Reclam Verlag 1999_v. Hentig, Hartmut: Kreativität - Hohe Erwartungen aneinen schwachen Begriff. München: Carl Hanser Verlag1998Baer, Ulrich: 666 Spiele. Seelze: Kallmeyer 1993

Die beiden abgedruckten Beiträge sind ein kleiner Aus-zug aus dem Buch von Ulrich Baer „Kreativität für al-le“, das im Kallmeyer Verlag, Seelze erschienen ist. DasBuch enthält über 200 Kreativideen und –methoden fürden pädagogischen Alltag und einige konzeptionelleBeiträge sowie eine CD-ROM mit Spielen, Bildern undKreativ-Software.

Ulrich Baer ist Erziehungswissenschaftler mit denSchwerpunkten Jugendarbeit und Spielpädagogik. Seit1973 ist er Dozent, Studienleiter und stellv. Direktor derAkademie Remscheid für musische Bildung und Medien-erziehung. Herausgeber der Fachzeitschrift für kreativeGruppenarbeit „gruppe & spiel“. Autor zahlreicherSpiele und Bücher (u.a. 666 Spiele, Lernziel: Lebens-kunst).

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matthias schwabe: vom wert des „eigenen“

ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003 31

Matthias Schwabe

Vom Wert des „Eigenen“Oder: Wenn Kreativität zum Begabungsdefizit wird

Es war einmal ... vor ungefähr 18 Jahren, da schneite mirein neuer Klavierschüler in den Unterricht, ganze 5 Jahrealt. Ich war zuerst skeptisch, ob er nicht zu jung sei, aberder kleine Kerl hatte solchen Spaß am Klavierspielen,dass er meine Zweifel bald zerstreute. Jede Stundemusste bei ihm mit Improvisation beginnen. Lange Zeitgenügten uns dafür zwei Spielregeln. Entweder wirspielten 3-händig Melodie (er mit 1 Hand) mit Beglei-tung (ich mit 2 Händen) oder wir gaben uns gegenseitigKlangrätsel auf, bevorzugterweise mit Handpuppen.Welche Handpuppe stelle ich gerade musikalisch dar:den Teufel, den Zauberer oder den Räuber? Das machteuns beiden großen Spaß. Weitaus weniger Spaß machtees, ihn mit konventionellem Klavierspiel zu konfrontie-ren, denn selbstverständlich wollte er auch das lernen.Egal ob nach Gehör oder nach Noten: die einfachstenLiedchen, die andere Schüler in kürzester Zeit bewältig-ten, dauerten bei ihm viele Wochen - und am Ende klan-gen sie immer noch holprig und unsicher.

17 Jahre später: der mittlerweile 22jährige kommt zumUnterricht und stellt 2 Seiten Gershwin-Noten aufs Kla-vier: ´S Wonderful. Dann beginnt er zu spielen, und wases da zu hören gibt, ist ausgesprochen schlüssig undüberzeugend. Ein Uneingeweihter allerdings würde sichdie Augen reiben, denn das Gehörte hat eigentlich ziem-lich wenig mit dem zu tun, was notiert ist. Oder doch?Ah ja, die Harmonien der Einleitung tauchen plötzlichauf und mit einem Mal ist auch das Thema zu hören,genau wie in den Noten - na ja, fast genau so - aber jetztist er schon wieder woanders... - Aus den 2 Seiten wirdein 10minütiges Stück, das als Ablauf sehr geschlossenwirkt, sehr nach Gershwin klingt und dennoch die Notennur hin und wieder streift. Ich bin mir sicher, Gershwinhätte seine Freude daran gehabt, angeblich hat er selbstnie ein Stück zweimal auf dieselbe Weise gespielt.

Das tut mein Schüler übrigens auch nicht. Beim Vorspieldrei Tage später präsentiert er zu meiner großen Verblüf-fung eine in großen Teilen ganz andere, diesmal sehrnachdenkliche Version. „Was und wie ich spiele, hängtvon meiner Verfassung ab“ erklärt er nachher einer Zu-hörerin.

Ein Mensch, der sich mit Musik selbst ausdrücken kann,und zwar sehr überzeugend - was will man mehr? Natür-lich bin ich stolz auf ihn. Aber nur, solange er improvi-siert oder eigene Stücke spielt! Denn mit festgelegtenStücken ist es immer noch ähnlich wie früher: er brauchtMonate, um 2 Seiten Notentext halbwegs sicher zu spie-len, und ist dann immer noch befangen. Wer ihn notierteStücke spielen hört und weiß, wie lange er schon Unter-richt hat, muss mich als Klavierlehrer für einen kom-pletten Versager halten!

In Wirklichkeit aber ist er mein „Vorzeige-Schüler“.Denn an ihm lässt sich deutlich zeigen, dass es eine Art

von Musikalität gibt, die sich in Vorgegebenem nichtentfalten kann, oder nur, wenn zu dem VorgegebenenEigenes hinzukommt (wie bei dem Gershwin-Stück),wenn das Vorgegebene im wahrsten Sinn des WortesangeEIGNET wird.

Um es klipp und klar zu sagen: nach den Kriterien einesherkömmlichen Instrumentalunterrichts ist dieser Schülereine Niete! In Wahrheit aber ist er ein talentierter Musi-ker! In einem konventionellen Unterricht nach Notenhätte er spätestens nach 3 Jahren das Handtuch geworfen.Welch großes Talent wäre dabei verloren gegangen!Halten wir uns dann vor Augen, welch großer Prozent-satz der Instrumentalschüler an Musikschulen früheroder später aufgeben (ich glaube von 80% gelesen zuhaben), dann stellt sich die Frage: Wie viele von ihnenhätten gute Musiker werden können, wenn ihnen erlaubtworden wäre, ihren eigenen Weg zu gehen, IHRE Musikzu machen?

Musikalische Kreativität, also die Fähigkeit, eigene Mu-sik zu erfinden (manchmal wird ja auch das zum Lebenerwecken von Notiertem als kreativ bezeichnet - aberhier soll nicht um Worte gestritten werden) ist, das wirdin der praktischen Unterrichtsarbeit deutlich, nicht den„großen Genies“ vorbehalten. Es gibt Kreativität aufvielen Stufen, von der ganz großen Bahn brechenden biszu der ganz kleinen, die sich damit begnügt, für das ei-gene Anliegen eigene Formulierungen zu finden - egalob verbal oder musikalisch. Ist das wirklich kreativ? HatKreativität nicht mit Originalität zu tun? Ich würde be-haupten, dass das Maß an Eigenem ein Gradmesser fürKreativität ist; Eigenes nicht in dem oberflächlichenSinne, etwas selbst gemacht zu haben, sondern in demSinne, dass das Resultat eben nicht klischeehaft ist, nichtklingt wie tausend andere Stücke, sondern vielmehrEIGENschaften hat, die das Stück zu einem Einzelstückmachen.

Eine 15jährige Schülerin (15 scheint das magische Alterzu sein, in dem eigene Stücke an- und entstehen), die erstseit kurzem bei mir ist und sich sehr geschickt anstellt,präsentierte kürzlich ihr erstes Stück, eine einfache Me-lodie mit Dreiklangs-Begleitung. Der Anfang ist iden-tisch mit „All my Loving“ von den Beatles (was sie nichtkannte), doch unversehens wechselt die in a-moll begon-nene Melodie nach gis-moll, um dann über H-Dur wiederin a-moll zu landen, als sei nichts passiert. Kurz vor demEnde mündet das Stück in einen übermäßigen Dreiklang,der sich dann in den Schluss auflöst. Das Ganze wirkteher schlicht, die eigentlich ungeheuerlichen harmoni-schen Dreistigkeiten, derer sich die Schülerin wohlge-merkt gar nicht bewusst war, wirken ausgesprochenorganisch, und verleihen dem Ganzen einen besonderenCharme.

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kreativität

32 ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003

Ich glaube nicht, dass dieses Mädchen wirklich originellsein wollte, Sie wollte einfach nur ein Stück schreiben,das ihr gefällt. (Keiner hatte sie übrigens dazu aufgefor-dert!) Aber es zeigte sich, dass sie bei aller Harmlosig-keit des Vorhabens (Melodie mit Dreiklangsbegleitung)etwas sehr Eigenes entwickelte, das wohlgemerkt nichtnur eigen, sondern auch überzeugend war (wobei ichmich frage, ob wirklich eigene Stücke nicht immer über-zeugend sind).

Wir haben es hier mit einem anderen Schüler-„Typus“ zutun als beim ersten Beispiel: dieses Mädchen ist imSpielen vorgegebener Stücke nach Noten sehr erfolg-reich (das Klavier ist schon ihr drittes Instrument), abersie hat eben - wie viele andere auch - eine kreative Bega-bung, eine Kompetenz, die sich entwickeln möchte. Obdaraus mehr wird als gelegentliche eigene Stückchen,lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sagen.Aber darum geht es nicht. Sie will sich musikalisch ent-falten, und zwar nach allen Seiten. Dazu gehört auch das(improvisatorische) Komponieren.

Noch einen dritten Typus möchte ich vorstellen. Dabeihandelt es sich um Schüler, die mit gleicher Motivationvorgegebene Stücke nach Noten (oder auch nach Gehör)spielen und improvisieren. Der entscheidende Unter-schied aber ist, dass sie beim Improvisieren deutlichbesser musizieren als beim Interpretieren: rhythmischpräziser, in der Gestaltung gezielter, als Person authenti-scher. Improvisation ist für sie der geeignete Rahmen,um ihre Musikalität zur Geltung zu bringen und zu kulti-vieren.

Damit ließen sich also drei „Sorten Kreative“ auflisten:

1. Die „existentiell Kreativen“, für die das eigene Erfin-den (i.d.R. in Form von Improvisation) der einzigeund entscheidende Zugang zum Musizieren und da-mit existentiell notwendig ist

2. Die „potentiell Kreativen“, die beim Selbst-Erfindeneigene Kompetenzen entdecken, weiterentwickelnund ausleben

3. Die „musikantisch Kreativen“, für die das „freieSpiel“ die beste Methode ist, ihre Musikalität zu ent-falten (wohin auch immer sie sich später entwickelnmögen)

Die Situation des „real existierenden Instrumentalunter-richts“ ist bekannt und kaum noch der Erwähnung wert.Immerhin haben viele Lehrer mittlerweile erkannt, dassKreativität eigentlich einen festen Platz in ihrem Unter-richt haben müsste. Leider haben sie nie gelernt, wie daszu praktizieren ist. Und leider haben viele von ihnenAngst davor, sich einer Fortbildungssituation ausgerech-net im Fach Improvisation zu stellen, weil sie sich nichtvorstellen können, wie sich ihre enorme instrumental-technische Kompetenz mit ihren noch ganz unentwi-ckelten kreativen Fähigkeiten vertragen soll.

Vor diesem Hintergrund muss man die Realität der dreigenannten Kreativitäts-Typen anders formulieren. Esgibt

1. begabte Schüler, die den Instrumentalunterricht ab-brechen, weil ihre Lehrer nicht in der Lage sind, ihreigentliches Potential zu erkennen und/oder zu för-dern

2. begabte Schüler, die im Instrumentalunterricht aufenge Musizierweisen festgelegt werden, weil ihre In-strumentallehrer nicht bemerken, welche weiterenFähigkeiten in ihnen stecken.

3. begabte Schüler, deren tatsächliches Maß an Bega-bung nicht zum Tragen kommt, weil das, was ihnenam meisten liegt, im Unterricht keinen Platz hat.

Instrumentalunterricht schneidet in (viel zu) vielen Fäl-len einen gesamten Musik- und damit auch Begabungs-Bereich einfach ab bzw. definiert für ein ganz einge-grenztes Feld musikalischer Aktivität die alleinige Gül-tigkeit. Dabei ist der Instrumentalunterricht nur ein Bei-spiel, das stellvertretend für viele steht. Es ist allerdingsein besonders krasses Beispiel, weil es sich dabei umEinzel- oder zumindest Kleingruppen-Unterricht handelt,die Lehrenden also wirklich die Möglichkeit haben, sichauf die Besonderheiten ihrer Schüler einzustellen.

Was an Musikhochschulen ganz allmählich durchzusi-ckern beginnt und an der einen oder anderen Stelle schonWirkung zeigt, muss eine Selbstverständlichkeit unseresKultur- ebenso wie unseres Ausbildungsbetriebes wer-den: Kreativität ist ein wichtiger Bestandteil des Musi-zierens, (mindestens) ebenso wichtig wie das Spiel nachGehör (welches ein ähnliches Schattendasein fristet) unddas Spiel nach Noten. Auszubildende - Instrumental-schüler ebenso wie Musikstudierende - haben einANRECHT darauf, in dieser Musizierweise gefördert zuwerden.

Und: es darf nicht sein, dass die Fähigkeit zur Kreativitätgar zum Fluch wird, wenn Kinder „nur“(!) kreativ begabtsind. Wichtig für eine angemessene Würdigung vonKreativität ist sicherlich die Erkenntnis, dass es nicht nurdie „große“, sondern auch alle möglichen Grade „mittle-rer“ und „kleiner“ Kreativität gibt. Diese Eigenschaftensind - welchen Umfang auch immer sie haben - kostbarund förderungswürdig.

Ein Ernstnehmen von Kreativität heißt aber auch - unddies sei abschließend betont - dass man nicht angesichtsjeglichen kreativen Produkts in unkritischen pädagogi-schen Jubel ausbricht, sondern das tut was auch für dieFörderung anderer kostbarer Eigenschaften gilt: mit demjeweils richtigen Maß an Kritik, Anerkennung und Er-mutigung und der (individuell unterschiedlich) angemes-senen Balance aus Freiräumen und Vorgaben den Schü-lern dabei zu helfen, ihre Talente zu erkennen und aus-zubauen. Angemessene Methoden dafür fehlen nicht: Siewerden seit Jahrzehnten (beispielsweise in unseren Krei-sen) praktiziert und stetig weiterentwickelt.

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luc ciompi: „wer nicht sucht, der findet!“

ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003 33

INTERVIEW„Wer nicht sucht, der findet!“

Das Phänomen Kreativität aus Sicht der AffektlogikProf. Luc Ciompi, interviewt von Reinhard Gagel und Matthias Schwabe

Herr Prof. Ciompi, Sie haben eine Affekttheorie - odervielmehr eine Theorie des Zusammenwirkens zwischenFühlen und Denken - begründet. Können Sie uns derenGrundprinzipien in komprimierter Form erläutern?

Ich will es versuchen. Die Theorie hat den Namen „Af-fektlogik“, was zunächst paradox klingt. Was hat denndie Logik mit Affekten und was haben die Affekte mitLogik zu tun? Gerade dies aber ist der Kern- und Aus-gangspunkt der ganzen Affektlogik: dass es nämlich keinFühlen ohne Denken und kein Denken ohne Fühlen gibtund geben kann. Für diese Behauptung gibt es zahlreichewissenschaftliche, aber auch alltagspraktische Begrün-dungen. Die neuesten und härtesten Belege dafür kom-men aus der Neurophysiologie, aus den Hirnwissen-schaften, nach denen Fühl- und Denkbereiche funktionellaufs engste miteinander verflochten sind. Dasselbe be-obachteten aber längst auch schon die Psychoanalytiker,und Gleiches erfahren wir sozusagen ständig im Alltag.

Ich fasse Gefühle bzw. Emotionen oder, als Oberbegriff,sog. Affekte (von lateinisch afficere = anmachen) alsumfassende körperlich-seelische Gestimmtheiten auf.Solche Gestimmtheiten gibt es schon im Tierreich. Af-fekte haben tiefe evolutionäre Wurzeln. Affekte sindEnergien bzw. gerichtete bioenergetische Muster. Eshandelt sich um bestimmte biologisch sinnvolle Energie-verteilungen sowohl im Körper wie in der Psyche und imGehirn. Solche Energieverteilungen sind evolutionärgekoppelt mit wichtigen Verhaltensweisen wie Flucht,Kampf, Kommunikation, Geselligkeit, Sexualität, Nah-rungssuche usw. Interesse, Angst, Wut, Freude, Lust undTrauer, nach manchen Autoren wohl auch noch Schreck,Scham und Ekel sind sogenannte Grundgefühle, wie mansie ganz gleich in sämtlichen Kulturen, aber auch beiallen höheren und z.T. niedrigeren Tieren antrifft.Daneben gibt es – speziell beim Menschen - noch un-zählige Gefühlsnuancen, die teils als Mischungen undteils als kulturelle Aus- und Überformungen von Grund-gefühlen aufgefasst werden.

Bestimmte Grundgefühle koppeln sich erlebnis- undsituationsabhängig mit bestimmten Wahrnehmungs- undden entsprechenden Denk- und Verhaltensweisen. Sobilden sich funktionell integrierte Fühl-Denk-Verhaltensmuster oder "Fühl-Denk-Verhaltensprogramme", die in ähnlichen Situationenimmer wieder aktiviert werden. Ein Beispiel: Ich kommein eine fremde Stadt und verbinde dabei ganz automa-tisch alles Neue, das ich nach und nach kennen lerne –Strassen, Plätze, Hotels, Restaurants, Menschen usw. -mit bestimmten positiven oder negativen Gefühlen. In

der Folge funktionieren diese Fühl-Denkverbindungen,die durch zusätzliche Erlebnisse laufend verfeinert undzum Teil auch korrigiert werden, gewissermassen alsLeitplanken oder Fühl-, Denk- und Handlungsprogram-me, auf deren Grundlage ich mein ganzes weiteres Ver-halten orientiere und organisiere.

Weitreichende Folgen hat ferner die - evolutionär wie-derum höchst sinnvolle -Tendenz, die Umwelt immerwieder durch die Brillen der einmal angelegten Fühl-,Denk- und Verhaltensweisen wahrzunehmen. Habe ichmit einer bestimmten Stadt, einem Lokal oder Menscheneinmal besonders gute oder schlechte Erfahrungen ge-macht, so werde ich emotional ähnliche zusätzliche Er-fahrungen bevorzugt wahrnehmen, unähnliche dagegeneher vernachlässigen. So bilden sich emotional einseitigeingefärbte Fühl-Denkweisen bzw. Mentalitäten undVorurteile.

Wie ich meine Umwelt wahrnehme, hängt somit in ho-hem Maße von meiner aktuellen emotionalen Verfassungab. Je nachdem, ob ich in Wut, Freude, Gelassenheit,Ruhe, Entspannung oder einer ihrer unzähligen Ab-wandlungen bin , werde ich entsprechende Denkweisenentwickeln. Fühlen und Denken wirken zirkulär zusam-men: Einerseits lösen bestimmte Erlebnisse, Wahrneh-mungen oder Gedanken bestimmte Gefühle aus, undandererseits beeinflussen diese Gefühle dann ihrerseitsdas Denken und Wahrnehmen in einem viel höherenAusmaß, als wir gemeinhin für wahr halten . Herrschenentsprechende Gefühlsverfassungen vor, so kann es zurAusbildung einer richtiggehenden "Angstlogik", "Wutlo-gik", "Hasslogik", aber auch "Freudelogik", "Liebeslo-gik" oder "Trauerlogik" kommen.

Von besonderem Interesse ist ferner – insbesondere auchfür das Problem der Kreativität – ein affektlogischesVerständnis der sog. Alltagslogik, also unseres gewöhn-lichen und scheinbar weitgehend affektneutralen All-tagsdenkens. Zum Alltag wird alles einmal Neue undAufregende, das sich oft genug wiederholt. Das Alltags-denken und -fühlen entsteht durch Gewöhnung: Dieursprünglich intensiven positiven oder negativen Gefüh-le, die wir allem zunächst Neuen gegenüber empfinden,verflachen immer mehr, je öfter wir damit konfrontiertwerden. Sie wirken jedoch im Untergrund grundsätzlichgleichartig weiter: Autofahren z.B. erlernen wir zumeistmit viel Angst, vielleicht auch Freude oder manchmalz.B. Wut über sich selbst oder den blöden anderen Auto-fahrer, der einem in die Quere kommt. Mit der Zeit tretenalle intensiveren Gefühle in den Hintergrund, und wirfahren "ganz neutral" und "automatisch" richtig. Dabei

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interview

34 ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003

leiten indessen die gemachten emotionalen Erfahrungenunser Verhalten unbewusst durchaus weiter, so etwa inForm von besonderer Vorsicht an unübersichtlichenStellen oder von gelassener Entspannung, wenn man aufeiner Gradstrecke einmal so richtig Gas geben kann.Schliesslich bewegen wir uns selbst noch im kom-plexesten Verkehr wie selbstverständlich, ohne irgend-etwas Besonderes zu denken oder fühlen. Sobald aberetwas Ungewöhnliches passiert, so kommen die ur-sprünglichen Gefühle mit alter Heftigkeit wieder zumVorschein.

Grundsätzlich ganz Ähnliches geschieht nicht nur mitunzähligen anderen vergleichsweise einfachen Alltags-fertigkeiten wie Lesen, Schreiben, Bruchrechnen, Kla-vierspielen, sondern auch mit viel komplexeren Fühl-Denk-Verhaltensweisen bis hin zu den Konzepten undTheorien, an denen wir uns in Kunst und Wissenschaftorientieren.

Sie haben sich ja u.a. auch speziell mit Kreativität aus-einandergesetzt. Wie würden Sie mit Ihrer Theorie Kre-ativität erklären?

"Erklären“ ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort.Eher handelt es sich darum, gewisse Phänomene, die mitKreativität zusammenhängen, auf der Grundlage derAffektlogik in neuem Licht zu sehen. Zwei Aspekte sinddabei besonders wichtig: einerseits die Funktion derAffekte als Energiequellen, und andererseits das geschil-derte Verständnis der Alltagslogik als Gegenpol zuminnovativen Fühlen und Denken.

Kreativität zeichnet sich durch eine besondere Fühl-Denk-Verhaltensdynamik aus, die mit der Alltagslogikim Widerspruch steht, bzw. aus ihr heraustritt. Zu etwasnicht mehr Aufregendem und schliesslich ganz Alltägli-chem verflachen mit der Zeit auch alle anfänglich hoch-gradig affektintensiven künstlerischen "Sprachen" undStilformen – denken wir nur an die Barockkunst, dieKlassik, die Romantik, den Jugendstil oder die "klassi-sche Moderne", deren Möglichkeiten von den Epigonender kreativen Pioniere schliesslich bis zum Gehtnicht-mehr ausgeschöpft wurden. Mit der ewigen Wiederho-lung immer desselben grundsätzlichen Fühl-, Denk- undVerhaltensmusters sinkt die emotionale Intensität auf denNullpunkt. Zumindest in der künstlerischen Avantgardestellt sich Langeweile und Überdruss ein, und geradedieser Überdruss schafft, verbunden mit Widerspruchund Kritik, neue emotionale Spannung. Emotion aber ist,wie wir gesehen haben, gerichtete biologische Energie,und emotionale Spannung ist energetische Spannung.Mit anderen Worten: Ein affektenergetisches Potentialbaut sich auf, das das alte Fühl- , Denk und Verhaltens-system zunehmend labilisiert und sich an einem kriti-schen Punkt plötzlich entlädt, entladen muss, ganz ähn-lich wie ein Blitz, der auf nicht vorhersehbare Weise denHimmel zerschneidet..

Ebenso unvorhersehbar sind Form und Struktur des "kre-ativen Funkens", beziehungsweise des neuen künstleri-schen Fühl-, Denk- und Verhaltensmusters, das an einemkritischen Punkt der emotionalen Spannung plötzlichaufblitzt. Bemerkenswert ist dabei indes ein Mechanis-

mus, mit dem sich die sog. Chaostheorie – eine Theorievon unvorhersehbaren plötzlichen Phasensprüngen inenergiegeladenen Systemen aller Art, die meiner Mei-nung nach ebenfalls für psychische Prozesse von gros-sem Interesse ist - in allgemeingültiger Weise auseinan-dergesetzt hat. Die neuen spannungslösenden Funkti-onsmuster gruppieren sich nämlich bevorzugt rund umgewisse Kristallisationskeime, die vorher zwar meistauch schon vorlagen, aber bloss eine ganz unbedeutendeRolle spielten. Der Chaostheoretiker Hermann Hakenspricht dabei von vorher peripheren, nun aber plötzlichzentral werdenden sog. Ordnungsparametern, um dieherum sich ein neues Energieverteilungsmuster automa-tisch neu ordnet.

Auf das Problem der künstlerischen und sinngemässauch der wissenschaftlichen Kreativität übertragen be-deutet dies, dass an einem kritischen Punkt der (kollekti-ven oder individuellen) emotionalen Spannung sich neueAusdrucksformen plötzlich an periphere Ideenkeimeanlagern, die vorher oft die längste Zeit völlig unbeachtetgeblieben waren, aufs Mal nun aber alle freien Energienin ihren Bann ziehen. Konkret kann es sich bei diesenspannungslösenden Entdeckungen um neue Stilformen,neue Harmonien etwa in der Musik oder in der Malereihandeln - jedermann macht eine Zeit lang nur noch inNouvelle Art, oder in Konzeptueller Kunst, in NeuerMusik oder sonst etwas noch nie Dagewesenem. Bisschließlich alle Möglichkeiten auch dieser Innovationwieder ausgereizt sind und neue Spannungen sich auf-bauen, die den ganzen Prozess von vorne beginnen las-sen.

Man kann derartige kreative Umwälzungen grundsätzlichganz gleichartig sowohl im ganz großen Maßstab, dasheißt auf der kollektiven und kulturellen Makroebene,wie auch im kleinsten und individuellsten Rahmen be-obachten. Immer wieder sind es emotionale Energien, dieden kreativen Prozess in Gang bringen, und immer wie-der lösen sich die Spannungen für einige Zeit durch einemehr oder weniger umfassende Neuorganisation desvorherrschenden Fühlens und Denkens.

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luc ciompi: „wer nicht sucht, der findet!“

ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003 35

Wie kann man aus Sichtweise der Affektlogik Kreativitätfördern?

Wenn wir die kreativen Künstler und Wissenschaftlerbefragen, unter welchen Bedingungen sie Neues schaf-fen, so werden wir wohl ebenso viele unterschiedlicheAntworten bekommen, wie Personen befragt wurden.Kreativität ist letztlich immer wieder ein persönlichesMysterium. Aus Sicht der Affektlogik lässt sich indessenwohl doch etwas allgemeiner Gültiges dazu sagen. WennEmotion = Energie ist, so bedeutet dies zunächst, dassohne eine gewisse emotionale Spannung – man könnteauch sagen ohne ein gewisses emotionales Leiden -nichts Kreatives zustande kommen kann. Wenn keineemotionale Energie im System ist, wenn keine unange-nehmen Fragen gestellt werden, nichts kritisiert undnichts hinterfragt wird, dann passiert nichts. Überhauptkommt Neues wohl immer von Kritik, die Spannungschafft. Kritik ist unangenehm, aber ungeheuer produktiv- doch nur bis zu einem gewissen Grad. Wenn wir näm-lich zu viel emotionale Spannung haben - z. B. vor lauterKritik so angstvoll oder wütend sind, dass wir nur nochan die Angst oder Wut zu denken vermögen, so blockiertauch dies die Kreativität.

Folglich braucht es etwas dazwischen. Der Nährbodender Kreativität scheint - immer auf der Grundlage einerhinreichend beherrschten Technik, versteht sich - eineemotionale Spannung zu sein, die sich einerseits auf einekritische, das bisherige Gleichgewicht genügend labili-sierende Höhe aufbaut, aber andererseits im entscheiden-den Moment auch in eigentümlicher Weise wieder nach-bzw. "loslässt" und ein Stück weit entspannt. Nicht sel-ten stellt sich der kreative Einfall nämlich gerade dannein, wenn man ihn nicht mehr verbissen sucht, so z.B.auf einer langen eintönigen Wanderung, bei irgendeinerganz anderen Zwecken dienenden stereotypen Tätigkeit,im Halbschlaf oder sogar im Traum. Der "kreative Ein-fall" – ein wunderbares Wort! - fällt in der Tat ganzunversehens ein, und immer kommt dieses "Einfallen",affektlogisch gesehen, einer Spannungslösung gleich. Dafügt sich ein vorheriges unangenehm gespanntes undwiderspruchsvolles Fühl-Denk-Verhaltensmuster plötz-lich zu neuer und freudvoller Harmonie. „Heureka!"("Ich habe es gefunden!“) rief der nackt aus dem Bad aufdie Strasse stürzende Archimedes schon vor 2500 Jahrenvoller Freude, nachdem er das Gesetz des spezifischenGewichts und Auftriebs im Wasser entdeckt hatte.

Sie haben dies kürzlich in einem Vortrag in die Wortegefasst „Wer nicht sucht, der findet!“

Ja, genau, und dieser Satz kommt wiederum einer para-doxen Aussage gleich. Doch die Realität der Kreativitätist tatsächlich paradox. Der zitierte Satz, der mir vormehr als 30 Jahren einmal eingefallen ist, bedarf jedocheiner Ergänzung, die auf die beschriebene emotionaleMittellage hinweist. Vollständig, und noch paradoxer,lautet er nämlich: „Wer nicht sucht, der findet - voraus-gesetzt dass er wirklich ein Suchender ist"

Sie betrachten ja Kreativität auch mit einer gewissenSkepsis. Könnten Sie den Grund dafür erläutern?

Ja, Skepsis, denn ich denke, dass auch die Kreativitätihre zwei Seiten hat. Die eine ist die schöne und gute,deretwegen jedermann gerne kreativ sein möchte - be-sonders natürlich wenn er ein Künstler ist. Kreativitätwird heutzutage fast nur als positiv gewertet. Aber es gabauch Zeiten, wo dies keineswegs der Fall war, so inmancher Hinsicht z.B. im Mittelalter oder bei den altenÄgyptern. Da war es geradezu eine Sünde, Neues zuerfinden und einzuführen, und auch dies war meinerMeinung nach nicht bloß Erstarrung, sondern fürs Ganzeein Stück weit sinnvoll. Denn damit eine Gesellschaft,aber auch damit ein einzelner Mensch, eine Familie, einUnternehmen usw. existieren kann, braucht es nicht bloßständige Innovation, sondern ebenfalls Konstanz undKontinuität. Wir können nicht andauernd Neues einfüh-ren, das alles Alte über den Haufen wirft. Vielleichthaben wir gegenwärtig gar nicht zu wenig, sondern zuviel an Kreativität, und damit an Beschleunigung undpermanenter Umwälzung. Deshalb ist es ganz gut,, dassdie echt kreativen Menschen, die großen und begnadetenKünstler, eine winzige Minderheit bilden. Sie haben dieAufgabe, die Gesellschaft zu hinterfragen und neue kre-ative Lösungen vorzuschlagen, wenn die alten aus ir-gendeinem Grund hinfällig werden. Aber auch die Nicht-Künstler und Nicht-Entdecker, kurz die konservativenNicht-Kreativen sind, aufs Ganze gesehen, notwendig,denn ohne sie kann sich kein lebensfähiges Gleichge-wicht zwischen den beiden Extrempolen ergeben.

Sie sprechen sich also für eine Balance zwischen Kreati-vität und Kontinuität aus?

Ja, so ist es.

Literatur:

Luc Ciompi: Die emotionalen Grundlagen des Denkens.Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Göttingen 1997

Ders.: Außenwelt - Innenwelt. Zur Entstehung von Zeit,Raum und psychischen Strukturen. Göttingen 1988

Ders.: Affektlogik. Über die Struktur der Psyche und ihreEntwicklung. Ein Beitrag zur Schizophrenieforschung.Stuttgart 1982

Ders.: Gefühle, , Affekte, Affektlogik – ihr Stellenwertin unserem Menschen- und Weltbild. Wiener Vorlesun-gen, Picus- Wien 2002

Prof. em. Dr. med. Luc Ciompi leitete als Psychiater undPsychotherapeut 17 Jahre lang die SozialpsychiatrischeUniversitätsklinik Bern und war anschließend Gastpro-fessor am Konrad Lorenz-Institut für Evolutions- undKognitionsforschung in Altenberg bei Wien. Er ist Autorzahlreicher wissenschaftlicher Publikationen, Begründerneuartiger Methoden zur milieutherapeutischen Be-handlung von schweren psychischen Störungen sowieGewinner mehrerer internationaler Forschungspreise.Seit über 20 Jahren entwickelte er das Konzept der Af-fektlogik...

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ausbildung

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AUSBILDUNGPeter Jarchow

Das Fachgebiet Improvisationan der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig

Zur Geschichte

Es begann alles damit, dass Mitte der siebziger Jahre inder DDR für die Musikhochschulen in Dresden, Weimar,Leipzig und Berlin neue, verbindliche Lehrpläne erstelltwerden sollten. Dabei wurden auch neue Ausbildungsfä-cher ins Leben gerufen. Einmal Korrepetition, um dieKlavierstudenten neben dem Konzertieren und Unter-richten auch auf die Tätigkeit des Korrepetierens anSchulen und Theatern vorzubereiten. Da der Tanz in denentscheidenden Gremien (Ministerium für Kultur undVerband der Theaterschaffenden) vertreten war und derMangel an geeigneten Ballettkorrepetitoren deutlich war,wurde neben vokaler und instrumentaler Korrepetitionauch Ballettkorrepetition als Ausbildungsfach etabliert.

Einige Zeit später Zeit wurde das Fach Improvisationeingerichtet, vorerst für Studenten der Fächer Klavier,Korrepetition, Dirigieren, Musik-Pädagogik und Kompo-sition.

Wohl deshalb, weil ich zu der Zeit Pianist bei Palucca inihrer Dresdner Schule war und weil ich zusammen mitWolfgang Drengk die Tradition der Weimarer Improvi-sationswettbewerbe (gegründet von dem OrganistenJohannes-Ernst Köhler und dem MusikwissenschaftlerAlbrecht Krauss) weiter entwickelte, wurde ich in beideLehrplan-Gremien berufen. Und wohl deshalb, weil ichin beiden Gremien tätig war, bekam ich einen Lehrauf-trag für Ballettkorrepetition an der Leipziger und Dresd-ner Musikhochschule. Es ergab sich, dass in Leipzig sichauch andere Studenten – und nicht nur Pianisten - inmeinem Unterricht einfanden. Großzügig erteilte mir dieHochschule einen Lehrauftrag für Gruppenimprovisati-on. Mehrfach holten sich die Studenten bei den Weima-rer Improvisationswettbewerben erste Preise und 1977kamen sie in bunten Scharen nach Dresden zu Paluccaund spielten bei ihr das Blaue vom Himmel und gründe-ten so die Winterkurse für Improvisation.

Die Idee hatte Bestand. Die Winterkurse für Improvisa-tion haben sich von musikalischer Begleitung für Tanz-unterricht erweitert auf Schauspiel, Stummfilm, Malerei,Musiktheater und Tanztheater und finden im Februar2004 zum 25.Mal statt.

Es gab viele Improvisationsveranstaltungen in Dresden,Leipzig, Gera, Dessau und Magdeburg, bei denen Tänzerder Palucca Schule Dresden, der Dresdner Staatsoperund Musiker aus Leipzig mitwirkten. In Leipzig warenImprovisationsabende mit Studierenden der Musikhoch-

schule und der Theaterhochschule (Choreographie undSchauspiel) an der Tagesordnung.

Die Unterstützung oder auch nur Billigung solcher Akti-vitäten seitens der DDR-Hochschulen war offensichtlichund widerspricht eigentlich ihrem Ruf der Bevormun-dungen. Improvisation als künstlerisches unvorhersehba-res Wirken birgt eigentlich in sich die Gefahr, den Idea-len des sozialistischen Realismus nicht in jedem Fallentsprechen zu müssen. Ein Beweis der Unterstützung,die heutzutage kaum vorstellbar ist, ist die Tatsache, dassTilo Augsten 1987 einen Vertrag als Assistent von mirbekam, mit dem Auftrag zu hospitieren und gelegentlich,wenn mir so war, den Unterricht weiterzuführen.

So kam Tilo Augsten ins Boot der Improvisation an derHochschule für Musik in Leipzig und ist heute Fachge-bietsleiter Improvisation der Fachrichtung Kompositi-on/Tonsatz.

Und so kam 1989 die Wende auf uns zu. Dass geradeLeipzig das Zentrum des Aufbegehrens und Tilo Augsteneiner der Aktiven war, mag ihn bewogen haben, in derZeit nicht ratlos und ängstlich abzuwarten, sondern mitkühnen Ideen in die Offensive zu gehen.

Wir hatten die Idee eines regulären Hauptfaches Impro-visation, wollten für die Musikpädagogen (alle Instru-mente und Gesang) verbindliche Lehrpläne des FachesImprovisation (bisher nur im geringen Umfang für Kla-vier) und wollten alle anderen Studenten in dem neuenFach „Übungen zu Neuer Musik“ mit Improvisationvertraut machen.

Und so kam es auch. Der neue Rektor, Professor Sieg-fried Thiele, unterstützte unsere Vorschläge entschieden,indem er Tilo Augsten und mir hauptamtliche Verträgeanbot und meine Stelle 1992 in eine Professur für Impro-visation und Ballettkorrepetition umwandelte. So hattenwir ideale Bedingungen. Da die Fülle der anfallendenStunden nicht von uns beiden geleistet werden konnte,wurden Honorarverträge unter anderem mit dem Kom-ponisten und Pianisten Michael Schorcht, dem Gitarris-ten Michael Lauer, dem Cembalisten Armin Thalheimund dem Komponisten und Posaunisten Friedrich Schen-ker abgeschlossen, die alle heute noch in Leipzig unter-richten.

Es waren insgesamt um die 30 Hauptfachstudenten, diemit akademischen Grad „Diplom-Musikpädagoge fürImprovisation“ ihr Studium abschlossen. Es waren nichtnur Leipziger, sondern auch aus Hannover, Bremen,Dresden, Berlin, Würzburg und Linz kamen die Studen-

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peter jarchow: das fachgebiet improvisation an der hochschule leipzig

ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003 37

ten. Der Unterricht dieses zweijährigen Studiums teiltesich ein in Einzelunterricht, Methodik, Lehrprobe, zeit-genössische Musik und Gruppenimprovisation. Für dieAufnahme wurden eindeutige improvisatorische Fertig-keiten und pädagogisches Gespür vorausgesetzt. DerAbschluss bestand aus einem Konzert einschließlichOrganisation und Konzeption, einer Lehrprobe Einzelund Gruppe in unterschiedlichen Besetzungen und einertheoretischen Arbeit, damals schriftlich, heute als Vor-trag.

Einige Abschlusskonzerte hatten durch die Wahl desOrtes bereits spektakulären Charakter. Ein Gitarrist, eineSängerin und ein Posaunist verbanden sich mit einerTänzerin zu mitternächtlicher Stunde in einem Wald undhatten an einem Brunnen, im und um einen alten Turmund auf einer Waldlichtung ihre Spielplätze. Ebenso wareine alte stillgelegte Fabrikhalle oder ein TreppenhausAustragungsort der Abschlussprüfungen.

Für die Musikpädagogen waren insgesamt zwei JahreImprovisation als Pflichtfach vorgesehen. Das erste mitEinzelunterricht diente zum Erlernen improvisatorischerFertigkeiten. Im zweiten Jahr wurde der Unterrichtpaarweise erteilt und es ging um das Ausprobieren päda-gogischer Möglichkeiten, mit dem Ziel, später den Mu-sikunterricht mit improvisatorischen Elementen anzurei-chern. Die Abschlussprüfung dieser Studenten war so gutwie identisch mit der Aufnahmeprüfung für das Haupt-fach Improvisation.

Übungen zu Neuer Musik hatten die Bestandteile zumInhalt, die vornehmlich nur mit Improvisation zu leistenwaren oder im besonderen Maße das Verständnis fürneue Musik stärkten: Minimal-Musik, Aleatorik, Bitona-lität und Bimetrik, graphische und verbale Notation undoffene Formen wurden von Tilo Augsten und anderenMitarbeitern der Fachrichtung Komposition/Tonsatzunterrichtet.

In dieser Zeit haben sich zwei Aktivitäten etabliert, diesich regen Zuspruchs erfreuten. Einmal die LeipzigerImprovisationswettbewerbe, die für alle Instrumente undGesang ausgeschrieben sind und wo man einzeln, zuzweit oder in Gruppen starten kann. In der Jury warenneben Tilo Augsten und mir als Vorsitzender unter ande-ren Prof. Günter Philipp (Dresden), Dietburg Spohr(Frankfurt / Main), Friedrich Schenker (Berlin), ThomasReuter (Hannover), Armin Thalheim (Berlin), Prof. Hol-ger Bey (Berlin) und Prof. Ralf Schrabbe (Leipzig).Jedem Wettbewerb war eine Gesprächsrunde ange-schlossen, bei denen die Jurymitglieder mit den Teil-nehmern über Bewertungskriterien, Methodik und Stel-lenwert in der Ausbildung und in der Praxis diskutierten.

Als Pendant zum Winterkurs der Palucca Schule Dresdenfinden in Leipzig Herbstkurse für Improvisation statt, dievon den Honorarlehrkräften, den Jurymitgliedern undanderen Gastdozenten bestritten wurden und sich zwarauf Musik beschränken, diese aber in vielen Spielartenanbieten.

Meine persönliche Entscheidung, 1999 den Ruf einerProfessur für Ballettmusik an der Hochschule für Schau-spielkunst „Ernst Busch“ Berlin im Studiengang Cho-

reographie anzunehmen, brachte ein wenig Unruhe in dieImprovisationsausbildung an der Leipziger Musikhoch-schule. Unser Wunsch nach einer Neuausschreibung derProfessur für Improvisation scheiterte trotz vehementerProteste namhaftester Künstler. Die Professur wurdedringend für die neu eingerichtete Fachrichtung Schul-musik benötigt und für schulpraktisches Musizierenumgewidmet. Es blieb zwar alles beim Alten, die Lei-tung des Fachbereichs Improvisation wurde an die Fach-richtung Komposition / Tonsatz angegliedert und mit derLeitung wurde Tilo Augsten beauftragt. Es wurde alles inallem aber etwas schwieriger, die Improvisation mit allenAktivitäten aufrechtzuerhalten oder gar weiter auszubau-en, aber dank der Beharrlichkeit von Tilo Augsten, demungebrochenem Interesse der Studenten und der Leis-tungsbereitschaft aller Honorarlehrkräfte konnte dieImprovisation im wesentlichen erhalten werden. Eswurde sogar ein Aufbaustudium für zeitgenössischeMusik eingerichtet für Instrumentalisten und Sänger inder Kombination von Interpretation zeitgenössischerMusik und entweder Improvisation oder Komposition.Im Frühjahr 2003 konnte die Cellistin Corinna Eikmeieraus Hannover mit hervorragenden Ergebnissen als Inter-pretin und Improvisatorin das Studium abschließen.

Wir in Leipzig aber haben wieder Wünsche für die Zu-kunft. Wir denken an ein grundständiges Studium Im-provisation, welches selbstverständlich in Verbindungmit einer instrumentalen oder Gesangsausbildung ein-hergeht. Wir wollen die Ergänzungs- und Zusatzstudien-gänge aufrechterhalten und wir wollen ein Aufbaustudi-um mit dem Schwerpunkt Improvisation einrichten. DieHerbstkurse könnten auch andere improvisatorischeAusbildungen der Leipziger Musikhochschule einbindenwie Jazz, Alte Musik, Kirchenmusik und Schulmusik.Und wir planen für Frühjahr 2004 einen Wettbewerb fürTänzer und Musiker, die in Gruppen von 1-3 Musikerund 1-3 Tänzer antreten können. Die Aufgaben sollen inder ersten und dritten Runde gemeinsam gelöst werden,in der zweiten werden Tänzer nach einer noch zu erstel-lenden Komposition improvisieren und die Musiker nacheiner Filmvorlage. Die nächsten Wettbewerbe werdendann wechselnd jeweils andere Gebiete der Improvisati-on zum Inhalt haben. Wir wollen den Winterkurs fürImprovisation der Palucca Schule Dresden in das Aus-bildungsprogramm fest einbinden.

Ein Symposion über Improvisation in der Gesamtheitvon Kunst und Pädagogik, welches parallel zum 25.Winterkurs für Improvisation stattfinden wird, kanninhaltlich auch neue Anregungen geben, die das Gebietder Improvisation in der Ausbildung der Musikhoch-schule Leipzig bereichern kann. So hoffen wir alle weiterund stärken diese Hoffnung mit ungebremstem Taten-drang.

Zur Methodik

Es gibt viele Meinungen zur Methodik als „Kunst desplanmäßigen Vorgehens“, zur Lehr- und Lernbarkeit derImprovisation. Wir in Leipzig haben zwar unsere Vor-stellungen (und sicher hat jeder unserer Pädagogen da

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ausbildung

38 ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003

noch seine eigenen und wir hoffen, dass unsere Studen-ten im Laufe des Studiums zu eigenen und vielleichtganz anderen kommen), wir meinen deshalb, dass esrichtig sei, unsere Vorstellungen grundlegend zu prakti-zieren und zu vermitteln, aber nicht unter dem Aspektder Einmaligkeit und Richtigkeit.

Wir begreifen Improvisation als Spiel mit Musik. Diesim doppelten Sinn: Einmal die Tatsache des Spielens,einmal das dauernde schöpferische Entwerfen, Verän-dern und Verwerfen der Spielregeln. Wir fordern auf zurBesinnung auf Ursprünglichkeit, wir wollen jedes im-provisatorisches Tun ohne erprobte und erfolgverspre-chende Muster anfachen. Wir legen Wert auf Befreiungvon fixierten Vorgaben, vom Denken in und Handelnnach Noten. In diesem Punkt sehen wir auch einen Un-terschied zur Komposition: Eine Improvisation ist nureinmal in der Zeit des Erklingens lebendig und entziehtsich so weitgehend einer exakten Analyse, und der Wegvom Klangerlebnis zur Abstraktion der Notierbarkeit istso nicht notwendig, ist überflüssig und eigentlich sogarschädlich.

Nach dem Ausspruch von Leonardo da Vinci „die Kraftentsteht aus dem Zwang und stirbt durch die Freiheit“treten wir der Ansicht entgegen, Improvisation sei ein-fach so drauflos spielen und man könne ohnehin tun, wasman wolle. Wir wollen durch Begrenzung, Einschrän-kung und striktes Beachten der vorgegebenen Aufgabenund Regeln die Studenten zur Entfaltung ihrer Kreativitätbringen. Wir sehen Improvisation als eine Möglichkeitzur Erhöhung der Sensibilität, einerseits zu musikali-

schen Strukturen und Prozessen, andererseits zu eigenenEinfällen und im Zusammenspiel zu den Einfällen derMitspieler. Wir verstehen Improvisation als Ermunterungzum eigenen, eigenwilligen und eigenartigen Umgangmit Musik, mit sich selbst und mit anderen und hoffen soauf glückliche Studenten mit unerschütterlichem Ver-trauen auf ihre eigenen schöpferischen Kräfte.

So haben Faktoren des Unterrichtens bei der Improvisa-tion eine andere Bedeutung als beispielsweise einer Eng-lisch- oder Mathematikstunde. Da das Ziel die Besin-nung und Entfaltung eigener schöpferischer Kräfte ist,steht die Frage der Planung und des Verlaufs einerStunde im anderen Licht, ebenso Beurteilung und Kritik,die helfen und fördern, auch fordern sollen, aber nie denFluss des Erfindens hemmen oder gar unterbrechen dür-fen. Wie ein Gärtner sich liebevoll um seine Pflanzenkümmert und ihnen nur beim Wachsen helfen kann, indem er gute Bedingungen schafft: Er kann den Pflanzendas Wachsen nicht vormachen. Der Improvisationslehrerkann auch nur helfen und gute Bedingungen schaffen,damit der Student seine eigene Kreativität findet.

Ausgehend von der improvisatorischen Praxis haben wir„Tugenden“ erkannt, die dem Improvisierenden sozusa-gen gut zu Gesicht stehen. Diese Tugenden kann man inÜbungen trainieren. Sie erfordern vollen Einsatz undwenn sie den Spieler überfordern, erweist sich daraus dieNotwendigkeit des Trainings. Eine Tugend wäre dieGenauigkeit, die in erster Linie das Hören betrifft.Kleinste Nuancen im Tempo, in der Dynamik oder in derSchwere oder Leichtigkeit der einzelnen Töne sollenregistriert werden und im weiteren Spiel Raum finden.Es wäre Schnelligkeit zu trainieren. Diese weniger imschnellen Spiel, mehr in der Schnelligkeit des Erfassensneuer Wendungen im eigenen Spiel oder im Spiel derPartner, aber besonders im Entscheiden über Umgangmit dem musikalischen Material. Diese Entscheidungenverlangen noch eine andere Tugend, die leicht zu be-schreiben ist, aber schwer zu machen: Nämlich zu einereinmal gefällten Entscheidung auch zu stehen und sieauch bei anscheinend widrigen Umständen beizubehal-ten, um so einen musikalischen Konflikt zu verschärfen,der dann - zwar schwierig - zu lösen wäre, die Improvi-sation aber so spannend macht. Nicht zuletzt wäre derSinn für Außergewöhnliches und die Weiterführung insExtreme zu fördern. Improvisationen leben davon, dasssie bis an die Grenze des Unmöglichen kommen,manchmal sogar im Feld des Unmöglichen doch nochMöglichkeiten entdecken, die das Verständnis der Spie-ler und Zuhörer überraschend erweitern. Solche Mo-mente können zu den Sternstunden gerechnet werden.Der Grundsatz „mir wird schon etwas einfallen, nichts istunmöglich, fangen wir an“ könnte als Kardinaltugendeines Improvisierenden genannt werden und bedarf derständigen Pflege, des Trainings und der Auffrischung.

Aufgabenstellungen lassen sich aus dem musikalischenMaterial entwickeln. Ein Ton oder eine Tonfolge, einIntervall oder ein Zusammenklang kann Ausgangspunktsein, der jedoch schon bei der ersten bescheidenen Aus-führung sofort ein komplexes musikalisches Ereignis ist.Durch weitere Begrenzung und neue Bedingungen kann

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peter jarchow: das fachgebiet improvisation an der hochschule leipzig

ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003 39

der Improvisierende dann die grenzenlose Vielfalt einesTones oder eine Tonfolge erkennen und nach eigenenEntscheidungen zu einem Kunstprodukt formen. Ebensokönnen Phrasierungsvorgaben, Rhythmen oder metrischeStrukturen Ausgangspunkt sein. Nichtmusikalische Pro-gramme, zum Beispiel aus Märchen, aus der Natur oderaus der Psyche, bieten gerade im Extremen immer wie-der unendliche Möglichkeiten, Improvisationsfreude zuentfachen. Sie können fast garantieren, dass die impro-visatorischen Lösungen der Eigenwilligkeit und Einma-ligkeit der Aufgabenstellung nicht nachstehen.

Im Methodikunterricht und in den Lehrproben legen wirgroßen Wert auf das Erlernen von Formulierung derAufgaben und haben Maximen herausgefunden. DieFormulierung soll unmissverständlich sein, Nachfragensollen sich so erübrigen. Sie soll dem Improvisierendendas Gefühl vermitteln, es handele sich um eine neuartige,vorher noch nie existierende Sache und er soll sofort denDrang in sich spüren, die Aufgabe anzugehen und dieFormulierung der Aufgabe soll ihm die Zuversicht ver-mitteln, dass er auch bei extrem enger Begrenzung dieFreiheit hat, mit seinem Können und mit seiner Phantasieureigene Lösungen zu finden, die alle richtig und gutsind, weil es die eigenen sind.

Jeder Pädagoge wird in jeder Improvisationsstundemehrmals damit konfrontiert, die Improvisation seinerSchüler zu bewerten. Das ist nicht einfach und auch nochfrei von widersprüchlichen Ansätzen. Der subjektiveFaktor soll dabei nicht verschleiert oder gar geleugnetwerden. Der Lehrer urteilt sofort und ohne die Möglich-keit, sein Urteil abzuwägen. Er kann nur darüber reflek-tieren, was er während des Improvisierens bemerkt hatund am Ende der Improvisation auch noch behalten hat.Er darf auf keinen Fall seine Vorstellungen einer Lösungzum Maßstab machen, sondern muss versuchen, die Ideedes Schülers zu verstehen und ihn in seinem Sinn aufUnvollkommenes, Langweiliges oder Sprunghaftes auf-

merksam machen. Und die Bewertungen sollen demSchüler sofort verständlich und plausibel sein, er mussdie Veränderungsvorschläge für machbar halten, seinenMöglichkeiten angemessen und zum Vorteil für seineImprovisation ansehen. Und die Bewertungen dürfenniemals den Schüler in seiner kreativen Würde verletzen.

Fazit:

Dies sind alles Ergebnisse unserer Arbeit an der Leipzi-ger Musikhochschule. Ich habe sie aufgeschrieben, ohnemeine Kollegen vorher zu konsultieren oder umfangrei-che Recherchen über frühere Ansichten anzustellen. Sowiderspiegeln sie meine derzeitige Haltung, zu einemanderem Zeitpunkt hätte ich vielleicht wieder andereAnsichten. Ich möchte aber gern mehr über Improvisati-on wissen. Zum Beispiel darüber, wie und in welchenEbenen das Denken während einer Improvisation funkti-oniert, was den Improvisierenden bewegt, seine Ideeweiterzuführen, zu verändern oder etwas Neues zu be-ginnen und was von seinem Wissen und seinem Könnenin diesen Bruchteilen von Sekunden ihm tatsächlich zurVerfügung steht. Und ich möchte auch mehr darüberwissen, wo ich jetzt noch gar keine Ahnung habe, dassich es einmal wissen möchte. So gesehen hoffe ich aufstete Veränderungen und wäre betrübt, wenn ich in eini-gen Jahren immer noch von diesem Artikel angetan wä-re.

Peter Jarchow ist Professor für Musik an der Hoch-schule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin sowieDirektor des Deutschen Instituts für Improvisation. Fer-ner hat er einen Lehrauftrag für Improvisation and erHochschule für Musik und Theater „Felix MendelssohnBartholdy“ Leipzig inne, wo er den Hauptfachstudien-gang Improvisation gegründet hat.

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portrait

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v.l.n.r.: Michel Seigner, Peter K Frey, Alfred Zimmerlin

PORTRAIT

Peter K Frey, Michel Seigner, Alfred Zimmerlin

KARL ein KARL - ein Selbstbildnis

Ende 70er Jahre: Die musikalischen und politischenAufbrüche und Ausbrüche der 60er Jahre waren wiederzurückgedämmt worden. Beherzte Free-Jazzer waren zu32-taktigen Chorusformen zurückgekehrt; die erneuern-den Impulse der Rockmusik waren durch deren kommer-zielle Vereinnahmung weitgehend gebrochen; die zeitge-nössische Musik fand zurück zur neu-alten Tonalität.

In Zürich fand die einzige Konzertreihe, in der neueStrömungen des Jazz und der improvisierten Musik eineHeimat hatten (Modern Jazz Zürich), mangels weitererfinanzieller Unterstützung ein abruptes Ende. Die Musi-ker, die sich aber nicht unterkriegen lassen wollten,gründeten 1975 die Musiker Kooperative Schweiz(MKS), ein Zu-sammenschlussder improvisie-renden Musi-kerinnen undMusiker. DieMKS schaffteneue Auftritt-möglichkeitenin der ganzenSchweiz undverbesserte dieSituation ge-genüber denBehörden undStiftungensowie gegen-über der schweizerischenUrheberrechtsgesellschaftSUISA: Die improvisierte Musik wurde förderungswür-dig. Zudem belebte sich der künstlerische und persönli-che Austausch unter den Musizierenden. 1978 wurde inZürich die Werkstatt für Improvisierte Musik (WIM)gegründet, anfänglich ein Proberaum, ab 1980 bis heutemit wöchentlichen Werkstatt-Aufführungen. Von denAnfängen bis heute ist die WIM ein wichtiges Forum fürdie improvisierenden Musikerinnen und Musiker nichtnur der Schweiz. Sie wurde zu einem Labor, in welchemNeues und Ungewöhnliches ausprobiert werden konnte.Heute beispielsweise tritt auch vermehrt die junge Elekt-ronik-Szene in Erscheinung. Die WIM hatte eine kataly-tische Wirkung auf andere Musikzentren, z.B. Bern,Basel, Freiburg i.Br., Wiesbaden. Sowohl in der MKS alsauch in der WIM waren Mitglieder von KARL einKARL als Haupt-Initianten zuvorderst dabei.

In diesem Umfeld fanden sich 1983 drei Musiker mit

sehr unterschiedlichen musikalischen Laufbahnen zu-sammen: das Trio KARL ein KARL entstand. Peter KFrey hatte die charakteristische Entwicklung des Jazz-musikers von Swing bis Free-Jazz durchlaufen. MichelSeigner war nach seiner klassischen Ausbildung vorwie-gend als Komponist von Film- und Theatermusik tätigund pflegte neben zeitgenössischer Musik eine Vorliebefür Rock und improvisierte Musik. Alfred Zimmerlin,ausgebildeter Komponist und Musikologe, war einerseitsmit Kompositionen zeitgenössischer Musik, andrerseitsals frei improvisierender Musiker an die Öffentlichkeitgetreten.

Allen gemeinsam war eine ungebrochene Lust am Expe-rimentieren,große Erfahrungim Umgang mitImprovisationund derWunsch, einegemeinsame,eigenständigemusikalischeAusdrucksformzu entwickeln,die sich vomdamals gängi-gen üppigenFree-Jazz-Idiomabsetzte. Dieunterschiedliche

musikalische Herkunft derdrei sollte sich

befruchtend auswirken können. Um vom kleinsten ge-meinsamen Nenner ausgehen zu können, reduzierteKARL ein KARL das musikalische Material radikal aufseine elementaren Bestandteile: Punkt, Strich, Stille. DieBesinnung auf die Bauelemente der Musik auf tiefsterEbene führte zu einer Untersuchung der Wirkung vonVeränderung in den verschiedenen Parametern Zeit,Farbe/Geräusch, Dynamik, Tonhöhe. Im Zentrum stan-den beispielsweise das Verhältnis zwischen Klang undStille, gezielter und differenzierter Umgang mit Klang-farben, Lautstärkeproportionen, Klangdichte, Form undStruktur. Stilistisch bzw. idiomatisch gebundene Flos-keln und Formeln wurden vermieden. Solches Spielver-halten führte zwangsläufig dazu, dass auf instrumental-technische Automatismen nicht mehr zurückgegriffenwerden konnte. All dies geschah im stillen Kämmerlein –gewissermaßen als Training – und führte zu einem kom-positorischen Bewusstsein innerhalb improvisierter Mu-

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karl ein karl - ein selbstbildnis

ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003 41

sik. An Konzerten dagegen spielte KARL ein KARL freiimprovisierte Musik ohne Abmachungen und vorgege-bene Gesetze, aber sie klang anders – neu – und konntenach so viel Askese im Proberaum überbordende Sinn-lichkeit entwickeln.

Aus dieser Arbeit ergab sich die besondere Charakteris-tik der Musik von KARL ein KARL. Hinzu kam derUmgang mit Stimme und Wort, das spontane Kreierenvon Lautgebilden im dadaistischen Sinn. Die Sprachelieferte KARL ein KARL einerseits Klang- und Laut-material für vokale Aktionen, andrerseits löste ihre Se-mantik auch Experimente mit neuen dramaturgischenund formalen Überlegungen aus. Beispielsweise entstand1983 das einminütige experimentelle Hörspiel karl einkarl, bei welchem die Sprache des gleichnamigen Textesvon Konrad Bayer einerseits radikal musikalisiert wurde,andrerseits seine Semantik wörtlich genommen und alsMikrodram in extreme Ausdrucksbereiche getriebenwurde. Dies war die erste kollektiv-kompositorischeArbeit von KARL ein KARL, dokumentiert auf demCassettensampler "sieben vor 84". Die Arbeit mit Textendes Wiener Autors Konrad Bayer begleitete KARL einKARL von Anbeginn bis heute; sein "karl ein karl"-Textgab dem Trio auch seinen Namen.

Die Auseinandersetzung mit den Lautballungen und demSchillern zwischen Semantik und Phonetik in BayersPoesie, aber auch in Werken von Eugen Gomringer,Ernst Jandl, Dario Fo, Helmuth Heissenbüttel etc., löstedie Entwicklung einer neuen improvisatorisch-sprachli-chen Ausdrucksform aus, die wir "instant poetry" nann-ten. Dies ist eine jeweils aus dem musikalischen Augen-blick heraus entwickelte Poesie, deren Gehalt Kriterienwie Rhythmus, Klangfarbe, Gestus etc. gehorcht. Wort-laut, Semantik und Klang dieser improvisierten Textesind also nicht – wie sonst üblich – der Ausgangspunktfür die Musik, sondern deren Resultante. Ein Blick aufden Text "karl ein karl" lässt unmittelbar folgende Fra-gen aufkommen: Ist es eine Geschichte? Ist es Unsinn?Ist es Lautmalerei? Ist es beiläufig oder Hauptsache? Istes Spiel mit Sprachrhythmus? Ist es ein Manifest? ... DerText steckt voller Ambivalenzen und berührt sich damitmit dem zentralen Thema der Arbeit von KARL einKARL: narrativem und nicht narrativem Verhalten, stän-digem Wechseln zwischen Vorder- und Hintergrund,permanenten Klangtransformationen und -transportenzwischen den drei Instrumenten und den Stimmen, etc.Alle Beziehungen zwischen Stimme und Instrument bzw.Sprache, Musik und Sprachmusik werden ausgeschöpft.Festgehalten ist dieser Ansatz auf der LP Gramelot(1985). Der Musikpublizist Bert Noglik formulierte seineEindrücke davon folgendermaßen:

"Ausbruch, Aufschrei, Geschnatter, Gegacker und Ge-stöhn, die Stimme als Medium zwischen musikalisier-tem Laut und assoziativem Hof von Silben und Wort -so, wie 'Karl ein Karl' das macht, ist es neu. Und dasist ebenso bemerkenswert wie die Frage, wieso in derso experimentierfreudigen bis -wütigen Musik nochkeiner darauf gekommen ist. In Richtung Fläche, Büh-ne und Szene hat die improvisierte Musik längst grenz-über-schreitend in den Raum gegriffen. Dass eine Be-

wegung, die ihren Kick vom Jazz bekam, mithin die In-strumentalisierung der Stimme und die Vokalisierungdes Instrumentalspiels zum erspielt/ersungenen Be-stand zählen kann, im Übergang zum Lautgedicht, zumLautmalerischen – beide Begriffe verweisen auf dasGenreübergreifende – sich versuchen würde, hätte manerahnen können. Da man es nicht tat, tritt 'Karl ein

der verzweifelte karl greift zum karl. aberschon hat karl karl genommen. da erscheintkarl mit karl auf dem karl und wirft karl auf karlin den karl. karl kommt und findet karl. dastösst karl auf karl und karl verstösst karl. karlstösst auf. über karls karl knallt sich karl überkarl.aber karl gibt nicht auf. karl weiss was er will.und karl brennt. karl verbrennt. karl hat sichverbrannt. und karl fällt.aber karl gibt nicht auf.karl weiss was er will.und karl stirbt.aber karl gibt nicht auf. karl weiss was er will.karl greift über karl nach karl auf karl über.und da steht karl. karl ist da. karl und karl be-fällt ein karl. karl und karl ahnen dass karlüber karl auf karl gegriffen habe. karl gefälltkarl. karl entfällt. karl gefällt sich und karlzerfällt.aber karl gibt nicht auf. karl weiss was er will.(...)

(Ausschnitt aus: Konrad Bayer: karl ein karl)

Karl' mit 'Gramelot' nun den Beweis an. Der italieni-schen Theatersprache entstammend, schließt der Beg-riff 'Gramelot' die Nachahmung einer fremden Sprachemit klangtypischen Silben ein. Mitteilungen bleiben nunmal auf die programmierbare Logik und Aussagebe-schränktheit von Computersprachen begrenzt, sofernes nicht gelingt, sie mit lebendigen Emotionen zu er-füllen. Und gerade so eine Aufladung mit Persönlichembzw. Zeitbedingtem gelingt 'Karl ein Karl' auf komple-xe Weise zwischen abstrakter Musikalisierung und se-mantisch vieldeutiger Laut und Wortbildung. DochNeuigkeit allein wäre heute schon ein alter Hut. Wennall das tiefer greift als die sich auf gekonnte Weise ver-schleißenden Muster von Werbung und Kommerz, sovor allem deshalb, weil Frey, Seigner und Zimmerlinsich in unvoraussagbaren Gehversuchen kollektiverImprovisation erproben und auf den schnell mit Beifallbedachten Gag verzichten. Was 'instant poetry' undLautgedicht anbelangt, so führt eine der (im allgemei-nen Bewusstsein wohl schon verschollenen) Traditi-onslinien bis zu Raoul Hausmann und Kurt Schwitters,eine andere zur artifiziellen Widerborstigkeit der 'Wie-ner Gruppe'. Auch der Ausbruch aus dem Bildungs-bürgertum hat in Bildung verankerte Wurzeln. Und'Karl ein Karl' würde nur Verschollenes hervorkehren,wäre da nicht eine historisch neue Qualität: die im Im-provisatorischMusikalischen gewonnene Souveränität

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portrait

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für die integrative Spannung von Sound und Rhythmus.Man höre sich das einzige Stück dieser Platte an, dasauf den Einsatz der Stimme verzichtet und das den vo-kalinspirierten oder ergänzten Parts in nichts nach-steht. Sichtbar/hörbar wird schließlich eine Musikauf-fassung (wie auch eine Art des gemeinsamen Musizie-rens), die nur bedingt an instrumentale Möglichkeitengebunden ist. Improvisation als eine im Musikalischenerfahrene Qualität, macht vor dem Medium der Erfah-rung nicht halt. Im unkonventionellen Zusammenklang(wie im Geräusch-Prozess) offenbaren Frey, Seignerund Zimmerlin einen sehr eigenwilligen Sinn für musi-kalischen Drive."

(Bert Noglik in: Jazz Podium)

KARL ein KARL setzt ein breites Spektrum von Klang-farben ein. Durch neue Spieltechniken, durch Anbringenvon Tonabnehmern an verschiedenen Stellen der Instru-mente, durch Präparation der Instrumente und durchSkordaturen werden Bereiche erschlossen, die über daskonventionelle Klangspektrum hinausgehen. Hinzu kamwährend einiger Jahre auch eine Erweiterung durch denEinsatz elektronischer Mittel, wobei eine stark vergrö-ßerte Klangpalette möglich wurde, aber auch zusätzliche,rhythmisch strukturierte Ebenen durch den Einsatz vonDigital Delays. Die Elektronik machte uns die Möglich-keit bewusst, das Trio auch als ein einziges Instrumentaufzufassen, an welchem drei Menschen arbeiten. Dergezielte Umgang mit dem ganzen Spektrum zwischenden Polen eines von einem Trio produzierten Gesamt-klangs und drei heterogenen, individuellen Klangebenenwurde für die Tonsprache von KARL ein KARL prä-gend. In letzter Zeit wurde die Elektronik drastisch redu-ziert und schließlich ganz wegelassen. Das Klangspekt-rum beschränkt sich nun auf die Instrumentalklänge.Auch die Stimme wird nur noch sehr sporadisch einge-setzt. Gegenwärtig arbeiten wir an einem neuen Konzeptfür den Umgang mit elektronischen und computer-gestützten Ausdrucksmitteln: Schnelle Wechsel von reininstrumentalen zu stark elektronisch verfremdeten Klän-gen (und umgekehrt) sollen es ermöglichen, die Musikdurch große und schnelle Bewegungen zwischen Gegen-sätzen auch ins Extreme zu treiben.

Die Musik von KARL ein KARL durchläuft einen stän-digen Entwicklungsprozess. Den drei Musikern ist darangelegen, ihre eigenen musikalischen Tabus immer wiederzu durchbrechen. So gelingt es KARL ein KARL bei-spielsweise heute, Stil bzw. musikalische Idiome alsgleichberechtigte Klangmaterialien in den Spielraumihrer Musik einzuflechten: ein Vorgehen also, das ur-sprünglich einer eigenständigen Sprachfindung zuliebetabuiert wurde. So können in freien Improvisationen vonKARL ein KARL schon seit der LP Gramelot Modellevon Popularmusik unterschiedlicher Herkunft fetzenwei-se oder auch ausgedehnter, verborgen oder penetrantauftauchen. Damit arbeitet KARL ein KARL wie mitjedem anderen Material auch. Dieser Bereitschaft, ihreMusik immer wieder neu zu befragen und Grundsätze zuübertreten, verdanken die drei Musiker von KARL einKARL ihre Spiellust.

Kollektivkompositionen

Parallel zur ständigen Weiterentfaltung der freien Impro-visationskunst entwickelte sich aus KARL ein KARLaber auch ein eigentliches Komponistenkollektiv, undzwar in dem emphatischen Sinne, dass jede kompositori-sche Entscheidung gemeinsam getroffen und verantwor-tet wird – eine Seltenheit. Nach dem oben erwähntenKurzhörspiel entstand 1987 Nine to Nine, eine Kompo-sition für das Sextett string field (sechs Saiteninstru-mente), deren Aufführung 24 Stunden dauert. Die sechsMusikerinnen und Musiker durchschreiten diesen Zeit-raum in individuell verschiedenen Zeitmaßen. Grundge-rüst ist eine Struktur von sechs verschiedenen Pulsen,deren Klänge von Computer gesteuerten, digitalen Syn-thesizern erzeugt und durch eine Lichtquelle visualisiertwerden. Jedem der Performer ist ein bestimmter Pulszugeordnet. Wie Planeten kreisen die sechs Pulse um einimaginäres Zentrum und bilden dabei Konjunktionen.Die Aufführung beginnt mit der totalen Konjunktion vonallen sechs "Planeten": die Pulse starten gleichzeitig.Genau nach 24 Stunden tritt die nächste totale Konjunk-tion ein. Sie bestimmt den Endpunkt des Stückes. Damitdies möglich ist, basieren die Zeitverhältnisse der Pulseauf den Primzahlen 3, 5, 7, 11, 13, 17. Innerhalb der 24Stunden bilden sich auch Konjunktionen von 5, 4, 3 oder2 Pulsen. Fünfer-Konjunktionen sind eher selten, Zwei-er-Konjunktionen häufig. Die Fünfer-Konjunktionenbestimmen die biologischen Rhythmen von Aktivität undPassivität der Performer. Dadurch bilden sich permanentwechselnde Gruppierungen von Solo bis Sextett.

Als Äquivalent zum individuellen Puls ist jedem Perfor-mer eine individuelle Tonhöhe in einer fixierten Oktav-lage zugeteilt. In Phasen von Aktivität erklingt dieseTonhöhe unabhängig vom übrigen harmonischen Ge-schehen. Im Verlauf des ganzen Stücks werden 98 Ak-korde unterschiedlicher Dichte durchschritten. Ihre Ein-satzpunkte werden durch einen Teil der Vierer-Konjunktionen bestimmt. Diese Akkorde liefern dasTonhöhenmaterial, das die sechs improvisierenden Mu-sikerinnen und Musiker individuell, jedoch von ihrempersönlichen Puls bestimmt, ausdeuten. Vergleichbar mitMeteoriteneinbrüchen in Systeme, die strengen Gesetz-mäßigkeiten folgen, durchbrechen spontane, "chaoti-sche" Aktionen Einzelner die oben beschriebenenStrukturen. – Die Uraufführung fand in Burgdorf statt.Weitere Aufführungen mit stets an die neuen Situationenangepassten Versionen wurden in Zürich (TramdepotTiefenbrunnen) 1988, in Miami USA als Beitrag zumNew Music America Festival 1988, in Zürich (Helmhaus)1996 und in Baden/AG (forumclaque) 1998 gespielt.

Karls Fest (1991) ist eine medienspezifische Produktion,welche die Möglichkeiten der Compact Disc nutzt, in-dem das Publikum das Werk vollständig, aber auch in jeverschiedenen Ausschnitten anhören kann: Durch ent-sprechende Programmierung des CD-Abspielgeräts kannbeispielsweise das berühmt gewordene DonaueschingerKonzert von KARL ein KARL (1989) ganz wiedergege-ben werden. Es gibt aber auch die Möglichkeit, eineKarl’sche "Tafelmusik" oder eine Folge exquisiter Songszusammenzustellen und sich gar ein wunderbares Nach-

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karl ein karl - ein selbstbildnis

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tisch-Rezept diktieren zu lassen. Als Ganzes bringt KarlsFest eine enge Verbindung von komponierten und im-provisierten Passagen und ordnet sie zu einem lukulli-schen Bankett mit sechs Gängen, Unterhaltung, Infor-mation und Küchenarbeit. Neben Studio und Live-Aufnahmen hat KARL ein KARL bei Karls Fest erstmalsextensiv Samples und digitale Klangbearbeitung ver-wendet. So ist beispielsweise der Song "Nos traditions?Notre addition!" ausschließlich aus veränderten "Abfall-geräuschen" und Sprachfetzen von zwei Interviews ge-wonnen, welche KARL ein KARL mit einer Spezialistinfür gesundes Essen und einem Spezialisten für Fast Foodgeführt hat. Küchen-, Koch- und Essgeräusche werdenebenso musikalisiert wie der Applaus des Donaueschin-ger Publikums.

Mit dem Projekt Stans (1992) hat KARL ein KARLeine räumliche Computerinstallation mit elektronischenKlängen und Instrumentalmusik geschaffen. Das Publi-kum wird durch Klangereignisse in elementar einfacherGestik und variabler Dichte durch ein Gebäude zu einemOrt der Konzentration geführt. Dort spielte KARL einKARL ein langes, frei improvisiertes Stück, in welchesein Computer mit sparsamen Interventionen eingreifenkonnte. In doppeltem Tempo und mit verändertem Hör-bewusstsein wurde das Publikum danach wieder hinausgeleitet. Je eine Variante dieses Konzepts wurde 1993 imPodewil (Berlin) und 1999 im Kaskadenkondensator inBasel aufgeführt.

Genaugenauf (1995) ist die erste musikdramatischeArbeit von KARL ein KARL. Es entstand ein szenischesHörspiel auf Texte von Konrad Bayer zusammen mitzwei Schauspielern (Peter Schweiger und Wolfram Ber-ger). Regie führte Peter Schweiger. Die Basis des Wer-kes ist ein Tonband, auf welchem ausschließlich mit demComputer bearbeitete Sprachklänge zu hören sind, dieaus einem mit verschiedenen Sprechhaltungen gelesenenText von Konrad Bayer gewonnen wurden. DiesesGrundband von etwa 70 Minuten Dauer steuert die Dra-maturgie des ganzen Stücks und bewirkt auf der Bühneüberraschende Wechsel der Bilder und Szenen. DasBand bringt gleichsam Klänge aus einem riesigen Hirnhervor und rekonstruiert ein Gedächtnis. Dieses bestehtaus einem Kontinuum von fünf Schichten, die immerwieder durch die im Bayer-Text verborgenen Kurven der"Gehirnströme" je verschieden an die Oberfläche gespültund hörbar werden: Wir finden eine erste Schicht desElementaren, ein zweite Schicht im Innern des Menschenmit dem Rauschen seiner Nerven und seines Blutes, die(3) lautlichen Äußerungen des Menschen in der Masse,die (4) lautlichen Äußerungen der technischen Produkte,der Maschinen des Menschen, den (5) Klang des Univer-sums. Auf der Bühne treffen sich in der chaotischenKüche eines Sandlers zwei Schauspieler. Mit gelesenen,rezitierten und gespielten Bayer-Texten kommunizierendie beiden auf seltsame Weise miteinander, handfest bismetaphysisch. Drei Musiker gesellen sich zu ihnen, grei-fen ein, kommentieren, schaffen wechselnde akustischeBühnenbilder, setzen sich ab. Aus einem Ghettoblasterklingen ab und zu Bayer-Songs, von KARL ein KARLmittels Samplingtechnik komponiert. Absurde Szenenund ein Wahrnehmungsraum entstehen, welche die

Sprachwelt Bayers und seine Poesie mit dem vom Dich-ter geforderten "sechsten Sinn" zur Geltung bringen.Rund dreißig Aufführungen im Theater an der Winkel-wiese, Zürich, in Feldkirch (A) und in Aarau fandenstatt.

Diese Arbeit trieb KARL ein KARL weiter in Ja –Sprachmusik und Musiksprachen auf Texte vonKonrad Bayer (1996), ein medienspezifisches, auf CDveröffentlichtes Hörspiel, welches die Verbindung vonSprache und Musik, wie sie in Genaugenauf entwickeltwurde, mit anderem Material weiter verfolgt. "Ja" heißtbekanntlich oft nicht ja. Die unterschiedlichen Tonfälle,in denen es ausgesprochen wird, verleihen ihm die man-nigfaltigsten Bedeutungen: ein JA, das "vielleicht" sagt;ein JA, das "unmöglich" sagt; ein JA, das "leck mich"sagt; ein JA, das "nein" sagt; ein JA wie ein "Amen". Diegesamte musikalische Ebene von Ja ist von KARL einKARL mittels Sampling und computergestützter Monta-ge gestaltet und produziert worden. Diese besteht ausfünf ineinander verflochtenen Grundelementen: DerRahmenhandlung und anderen gesprochenen Texten vonKonrad Bayer, dem JaSagerLied und seinen Variationen,Instrumentalstücken, Songs und einer aus dem Unter-grund sporadisch auftauchenden musique concrète.

Die Rahmenhandlung des Werkes bildet der Text"Frühstück" von Konrad Bayer, dialogisch gesprochenvon Peter Schweiger und Wolfram Berger: Zwei Män-ner gesellen sich zum Frühstück. Der Eine wendet sichmit lapidaren Fragen an sein Gegenüber, um am Endeder CD bei der Feststellung zu landen, dieser sei derrichtige Mann für seine undurchsichtigen Pläne. DerAndere beantwortet alle Fragen und Unterstellungendurchwegs mit "ja", jedoch mit so differenzierten Un-tertönen, dass sich für die Zuhörenden eine schillerndeGeschichte aufrollt. Dieser Text, in Teilabschnitte zer-legt, strukturiert wie ein Refrain das ganze Stück. Da-zwischen werden neun weitere Texte Bayers unter-schiedlichen Inhalts eingeflochten, die in eine poe-tischmusikalische Assoziativwelt eingebettet sind. DasJaSagerLied (Ritornello 1 u.2, Aria: "alles mag auchetwas anderes heißen") greift in Liedform die Rahmen-handlung auf, bildet eine zweite strukturelle Ebene undführt das Stück zu einem makaber fulminanten Ende.

Die Instrumentalstücke sind Improvisationen, bestimmtdurch ihre spezifische Platzierung im Stück und derendramaturgische Funktion.

Die Songs wiederum greifen oft die Melodik der ge-sprochenen Sprache auf, setzen sie in überraschend neueZusammenhänge und scheuen sich nicht, "besetztes",popularmusikalisches Klangmaterial zu verwenden. Diemusique concrète (Fantasie) ist ausschließlich aus derStimme von Peter Schweiger gewonnen worden. Ausdem von ihm auf sehr verschiedene Weise gesproche-nen Text "Stadt" wurden Fragmente und Sprechmelo-dien ausgefiltert und anschließend mit elektronischenMitteln in musikalische Klänge umgewandelt. Dies wardas Basismaterial für die Komposition von Klangräu-men in denen sich Texte wie "lapidares museum","mirjam" oder "versuch einer musterstemwarte" ereig-nen.

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portrait

44 ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003

Es lassen sich somit fünf verschiedene Grade derMusikalisierung von Text feststellen, im Werk be-nannt mit aus der Tradition bekannten Titeln:

Recitativo secco: trocken gelesene Texte, be-gleitet von einem sparsa-men "basso continuo".

Capriccio: Texte mit Klang und Ge-räuschcollagen und instru-mentalen Aktionen.

Fantasia: Texte im Klangraum dermusique concrète, die ihrer-seits durch eine totale Mu-sikalisierung von Spracheerzeugt worden ist.

Aria: Textmusikalisierung alsSong.

Notturno, Toccata etc.: Instrumentalstücke mit de-skriptiven Zügen.

Millennium (1999/2000): KARL ein KARL gestal-tete den Jahreswechsel 1999/2000 mit einer Klang-installation von 1999 elektronischen, Computer ge-steuerten Klängen: Die vergangenen 1999 Jahre un-serer Zeitrechnung wurden auf die drei Stunden vorMitternacht an Silvester 1999 zusammengedrängt,und zwar in einer exponentiellen Beschleunigungs-kurve, welche das Wachstum der Erdbevölkerung indieser Zeitspanne nachzeichnet. Dem ersten Jahr-hundert entsprach somit eine Dauer von einer Stundeund zwanzig Minuten, dem zwanzigsten nur nochneun Sekunden. Jedes Jahrhundert umfasste 100Klänge mit je einer einheitlichen Klangfarbe, jedesneue Jahrhundert wurde mit einem Salutschuss be-grüßt. Das zweite Jahrtausend (etwa 11 Minuten)begleitete KARL ein KARL live. Die Aufnahme aufunserer Compact Disc setzt im Jahre 973 ein, gegendas Ende der Karolinger-Zeit und genau fünfzig Jah-re nach dem Tod von König Karl III. dem Einfälti-gen. Nach Mitternacht spielte KARL ein KARL einStück für das Jahr 2000.

Auf Grund der gemachten Erfahrungen ist KARLein KARL nun daran, ein interaktives Werk im Sin-ne eines "work in progress" für das Internet zu ent-wickeln: lookup – überdir. Den Zuhörenden / Zu-schauenden soll eine Plattform geboten werden, diees ihnen erlaubt, spielerisch und aufmerksam aufKlang- und Bildereignisse Einfluss zu nehmen. An-gestrebt ist eine gleichberechtigte Verknüpfung derauditiven und der visuellen Ebene. Dazu hat KARLein KARL sich mit dem visuell wie auch auditiv ar-beitenden Ernst Thoma zu einer Koproduktions-Gemeinschaft zusammengetan. Form und Präsenta-tion der Arbeit sind mobil, und die Besuchenden un-serer virtuellen Bühne können in das Gescheheneingreifen und es mitgestalten. Dennoch sollen dievielfältigen Konstellationen, die sich aus solchen O-perationen ergeben, denselben hohen Grad an Ver-bindlichkeit aufweisen, der sich als Standard vonKARL ein KARL etabliert hat.

Die wichtigsten Konzerte:

• New Music America Festival in Miami mit der eige-nen Komposition nine to nine.

• Donaueschinger Musiktage

• Dresdener Tage für Neue Musik

• Illinger Burgfest

• Jazzfestival Zürich

• Ein Fest für Konrad Bayer im Schauspielhaus Wien

• Internationales Bachfest Schaffhausen

• nine to nine zur Kunstausstellung Zürcher Inventar

• Frühjahrstagung des Institutes für Neue Musik undMusikerziehung Darmstadt

Discographie:

• "Gramelot" LP Unit-Records 4008 (1985)

• "KARLS FEST" CD Unit-Records 4039 (1991)

• "ja" CD MGB 9705 (1997)

Zu den Mitgliedern der Gruppe

Peter K Frey, Kontrabass, Stimmewww.tonundton.chGeboren 1941. Arbeitet als frei improvisierender undkomponierender Musiker (Kontrabass und Stimme) u.a.KARL ein KARL und im Kontrabassduo mit DanielStuder sowie in Soloauftritten.Mitgründer und Co-Leiter der (WIM), Zürich.Seit 1978 ist er frei schaffend und für verschiedene In-stitutionen als Kursleiter für freie Improvisation undMusik mit Computer tätig.

Michel Seigner, Komposition, Sounddesign und Gitarrewww.klangbau.comGeboren 1946. Studierte klassische Gitarre bei HermannLeeb und Kontrapunkt / Komposition bei YehoshuaLakner..Autor zahlreicher Bühnenmusiken und Musik-theater an europäischen Bühnen.Komponist zahlreicher Filmmusiken für Deutsche undSchweizerische Produktionen.Internationale Konzerttätigkeit vorwiegend mit demTrio KARL ein KARLDozent an der Hochschule für Gestaltung und Kunst,Zürich (HGKZ), Studienbereich ”Neue Medien”

Alfred Zimmerlin, Violoncellowww.timescraper.de/komponisten/alfred_zimmerlin.htmlGeboren 1955. Studierte Komposition (Hans Wüthrich-Mathez, Hans Ulrich Lehmann), Theorie (Peter Ben-ary), Musikwissenschaft (Kurt von Fischer) und Musik-ethnologie (Wolfgang Laade).Seit 1980 Mitarbeit in der "Werkstatt für improvisierteMusik" (WIM) Zürich. International tätig als improvi-sierender Musiker (Violoncello) und Komponist.

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wolfgang schliemann, joachim zoepf: improvisierte musik - ars sui generis

ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003 45

DOKUMENTATION

Wolfgang Schliemann, Joachim Zoepf

Improvisierte Musik - ars sui generisEin kleines Manifest

Die Notwendigkeit, Improvisierte Musik als eigenständi-ge künstlerische Kategorie zu behaupten, ergibt sich fürPraktizierende nahezu zwangsläufig aus der alltäglichenErfahrung, dass niemand sonst daran ein plausibles Inte-resse hat. Zu viele Missverständnisse und absichtsvolleUngenauigkeiten beherrschen den Diskurs, sofern dieserüberhaupt ernsthaft geführt wird. Wenig pragmatischscheint es uns, eine umfassende, sich gegen alle Anfech-tungen absichernde Definition der Improvisierten Musikanzustreben, wo doch die Einführung einer abgrenzendenBezeichnung viel dringlicher wäre.An einer Definition haben sich bezeichnender Weiseschon viele mit unterschiedlich fragwürdigen und wenigverbindlichen Ergebnissen versucht. Die Sache jedoch sozu benennen, dass man weiß, was damit gemeint ist undauch, was nicht, scheint ein Fettnapf voll heißem Brei zusein.

Es geht eben nicht nur um ein Etikett, sondern vielmehrum die angemessene Einordnung eines musikalischenPhänomens, dessen Aktualisierung seit Mitte des 20.Jahrhunderts eine zentrale Rolle in Theorie und Praxiszeitgenössischen Musikschaffens zukommt.Treffend beschreibt Derek Bailey das Phänomen Impro-visation in seinem 1980 erschienenen Buch „Improvisati-on – It´s nature and practice in music“ (deutsch 1987:„Musikalische Improvisation – Kunst ohne Werk“):„Improvisation besitzt die seltsame Eigenschaft, alsverbreitetste Form musikalischer Betätigung zugleich dieam wenigsten anerkannte und verstandene zu sein“.Kein Zweifel, Improvisation als Grundhaltung des han-delnden Subjekts ist auch über die musikalische Betäti-gung hinaus in vielen Lebensbereichen immer schon da,bevor sich für die Einnahme einer anderen Haltung ent-schieden wird: sie ist das Wesen allen Spiels. In dieserGrundhaltung drückt sich Unmittelbarkeit aus, ein Be-dürfnis nach Gegenwärtigkeit und Klarheit. Damit stehtImprovisation keineswegs im Widerspruch zu den Anfor-derungen an Komplexität und Differenzierung. Im Ge-genteil, Improvisation macht beides erst möglich - wannimmer es um authentische Kommunikationsprozessegeht, also um Gleichzeitigkeit.So auch die musikalische: „Improvisation bedeutetGleichzeitigkeit von musikalischer Erfindung und klangli-cher Realisierung“, sie ist darüber hinaus „(...)auch alsautonome und unwiederholbare Interpretation und Re-zeption in einem zu verstehen.“ (Das neue Lexikon derMusik, J.B.Metzler 1996).

Unmissverständlich wird so die Unterscheidung zwischenImprovisation und Komposition getroffen, denn letztere

beruht immer auf der Ungleichzeitigkeit von Vorgängender musikalischen Kreation. Irreführend hingegen wärees, eine solche Unterscheidung an der Werkhaftigkeit ei-nes Musikstücks festmachen zu wollen. Denn den Werk-begriff ausschließlich im Falle schriftlicher Fixierung undindividueller Autorenschaft noch anwenden zu wollen,hieße, fünf Jahrzehnte der Diskussion um dessen Gültig-keit zu ignorieren: danach kommt dem sinnlich erfahrba-ren musikalischen Endprodukt - gleich, ob komponiertoder improvisiert -, wegen seiner Vergänglichkeit ohne-hin eher überhaupt kein Werkcharakter zu. In der bilden-den Kunst hingegen wird unterdessen sogar erkannt, dassnicht das Objekt, sondern die Tätigkeit das eigentlicheWerk ausmacht...

Immer wieder wird musikalische Improvisation fälschli-cher Weise gleichgesetzt mit Improvisierter Musik, esmuss sogar häufig von regelrechtem Missbrauch gespro-chen werden, wo immer damit Musik charakterisiertwerden soll, bei deren Zustandekommen Improvisationeine auch noch so geringe Rolle spielt. Dabei hat schonBailey selbst eine hinreichend brauchbare Differenzie-rung eingeführt: die zwischen idiomatischer Improvisati-on, also solcher, die sich im Kanon bestimmter Stilmittelansiedeln lässt, und non-idiomatischer Improvisation,welche jene Praxis bezeichnet, die sich außerhalb solcherFestlegungen bewegt.Dass es auf dem weiten Feld zwischen tradierten undinnovativen musikalischen Formvorstellungen unzähligeHybride auf der Basis geschriebenen, gezeichneten odererinnerten Materials gibt und die zu realisieren alle einesgewissen Improvisationsvermögens bedürfen, steht außerFrage. Daher können wir hier auch tatsächlich von einemlegitimen Mittel zum Zweck des Erzeugens von Musikreden: Improvisation als Methode.

Wenn aber Improvisation als Selbstzweck ernst genom-men wird - und nur dann - können die improvisierendenSubjekte sich wieder jener spielerischen Haltung verge-wissern, die ihnen ganz am Anfang ihrer Persönlichkeits-entwicklung zu eigen war. Es ist dies jetzt eine Haltung,die sich durch ihre bewusste Ergebnisoffenheit von allenanderen wesentlich unterscheidet und die die Wahl derMittel im Spielprozess immer wieder hinterfragt. Einästhetisches Dogma ist ihr ebenso äußerlich wie dasKalkül der Reproduzierbarkeit, wodurch eine unbegrenzteVielfalt unikater Musik ständig neu entsteht und vergeht.

Die klingende Manifestation dieser Improvisationspraxisschließlich, ob sie nun mit dem Attribut non-idiomatisch,frei oder rein versehen ist, erfordert einen eigenen Gat-

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dokumentation

46 ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003

tungsbegriff. Dieser muss deutlich machen, dass es sichhierbei um Musik handelt, der zwar dieselben universel-len Parameter zugrunde liegen wie aller Musik, die aberwegen ihrer grundlegend anderen Entstehungs- undWirkweise eben auch nach grundsätzlich anderen Krite-rien beurteilt zu werden verdient:

IMPROVISIERTE MUSIK IST EBEN EINE KUNSTFÜR SICH.

Im Raum steht nun die Aufgabe, adäquate Qualitätskrite-rien zu finden, sie zu benennen, anzuwenden und damitder Improvisierten Musik endlich zu eigener Geltung zuverhelfen. Das bedeutet, jener falschen Bescheidenheit

ein Ende zu setzen, die sich mit dem Status der zweitenWahl zufrieden gibt. Ein Selbstbewusstsein ist gefragt,das sich die Wahl gestattet, Ungesichertes nicht nur zuwagen, sondern auch zu sagen. Denn ebenso sehr wieImprovisierte Musik von der Fähigkeit zu freier Assozia-tion und nicht von Virtuosität lebt, benötigt ihre Bewer-tung anstatt akademischen Hochmuts den schlichten Mutzur Ehrlichkeit.

sui generis (lexikal.) : von eigener Art, nur durch sichselbst eine Klasse bildend, einzig, besonders, >lat.<: vonseiner eigenen Art

Reinhard Gagel

Manifest der Improvisation - eine Provokation?Künstlerische Manifeste, die eine Ästhetik zu etablierenund Künstlergruppen eine Identität zu geben versuchten,sind in der Geschichte der Kunst, der Literatur und derMusik vielfältig bekannt. In den letzten Jahren haben derdänische Filmemacher Lars von Trier und seine Kollegenmit dem „Dogma95“ einer neuen Filmproduktionsweise(z.B. nur mit Handkamera aufzunehmen) für Aufsehengesorgt. Vor kurzer Zeit trat eine Hamburger Literaten-Gruppe mit einem sich selbst auferlegten „Manifest“ (nureinfache Sätze, wenig Adjektive usw.) an die Öffentlich-keit. All diesen Traktaten ist gemeinsam, dass sie ge-meinsame Arbeits-Regeln offensiv formulieren, die sichbewusst abgrenzen und auf Reduktion und Beschrän-kung zielen, um sich selbst zu vergewissern und diesesals eine Kraft nach außen zu tragen. Nicht zuletzt warendie Manifeste auch Werbung und stellen Qualitätsmaß-stäbe dar, an denen die Ergebnisse gemessen werdenkonnten.

Die improvisierte Musik der letzten 30 Jahre hat sichvielfältig entwickelt. Vorangetrieben durch Regelnspieltechnischer, moralischer und ethischer Art, die sichMusiker und Gruppen selbst gegeben haben und diemanchmal auch über die musikalische Arbeit hinausveröffentlicht sind. Diese Regeln werden natürlich nichtblind „befolgt“, sie werden nicht gelehrt, sie sind kein„Kanon“; aber manche von ihnen werden weitergegebenund bieten das Gerüst für einen guten Workshop.

Dennoch folgen die Improvisatoren ihren individuellenKunst-Vorstellungen und fühlen sich „frei“ zu tun, wasvon den Regeln für sie sinnvoll ist und was immer ihnenmusikalisch einfällt. Dieses Phänomen ist übrigens auchfür die komponierte Musik der letzten 50 Jahre zu be-obachten. Spätestens wenn man beginnt, über die Musikanderer oder die eigene Musik sprechen zu wollen, wirddiese Individualität zum Mangel, weil es wenig gemein-sam entwickelte und bewährte Begrifflichkeiten gibt.Noch schwieriger wird es, mit Zuhörern darüber zu spre-chen, was sie gerade gehört haben. Vielleicht ist das ein

Grund, warum sich die improvisierte Musik leider weiterauf einen kleinen Kreis von Spezialhörern beschränkt,obwohl sie das Zeug hätte, über eine Avantgarde hinauszu wirken.

Denn die Zeiten haben sich geändert: Über die engerenZirkel hinaus ist Improvisation mittlerweile in der mu-sikwissenschaftlichen, -ästhetischen und vor allem in dermusikpädagogischen Diskussion angekommen: dort inder Frage der Vermittlung von Neuen Klängen, der Mo-tivation zu musikalischen Experimenten und einer ausder Oberfläche in die Tiefe gehenden Musikausbildungist sie wie ein „Deus ex machina“: alle hoffen auf sie,keiner kennt sich aus und alle meinen, sie nicht zu kön-nen. Darüber hinaus fehlen dem Musikbetrieb die Ideen,etwas wesentlich Neues zu präsentieren; der Konzertbe-trieb und seine traditionellen Strukturen sind ausgelaugt.Mit klar formulierten Arbeitsregeln, nicht einer ästheti-schen Diskussion um Legitimation und Begründung,könnte die Improvisation für Musiker und Zuhörer trans-parenter werden: Improvisation steht für eine Arbeits-weise, an die wir MusikerInnen uns halten; an der manuns messen kann, und deren Ergebnisse gerade wegendieser Regeln ihre eigene Qualität haben.

Manifest der improvisierten MusikImprovisation ist die authentische Art und Weise, Musikzu machen. Sie ermöglicht, die eigene Expressivität zuerleben und in eine klingende Formung zu bringen. Sieist eine künstlerische Methode, die ebenso einfach ist wiesie verfeinert werden kann. Sie ist stilistisch nicht ge-bunden und entsteht immer im Dialog, ist im weitestenSinne eine „soziale Kunst“. Mit Improvisation kommtman zu wesenhaft und qualitativ eigenständigen musika-lischen Ergebnissen und ihre Arbeitsweise ist grundsätz-lich verschieden von der Reproduktion und Interpretati-on.

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reinhard gagel: manifest der improvisation / luis zett: zweieiige zwillinge

ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003 47

Es folgen einige Punkte, die eine Arbeitsweise beschrei-ben, die ImprovisatorInnen befolgen und ihrem Spielzugrunde legen.

1. Nur das aus dem Prozess, d.h. in der Echtzeit, also ineinem fixierten Zeitraum Entstandene ist das musika-lische Ergebnis. Jeglicher Zeitsprung, unterbrechenoder wiederansetzen (z.B. um sich zu verbessern) istnicht erlaubt.

2. Die Musik baut sich aus den jeweiligen musikali-schen und kommunikativen Fähigkeiten der Betei-ligten auf, die dem jeweiligen Prozess dienen. DieMusik entsteht aus dem Zusammenspiel von Spielernmit eben diesem Bewusstsein.

3. Konkreter Zeit- und Spiel-Raum sowie die jeweiligeSituation haben Einfluss auf die Gestaltung der Mu-sik. Es gibt kein „objektives“, das heißt davon unab-hängiges Spiel, sondern im Gegenteil, besondereGelegenheiten und Räume werden gesucht, um in ih-nen zu improvisieren.

4. Jede Improvisation ist einmalig, es gibt keine Wie-derholung (außer in der Dokumentation auf Tonträ-gern).

5. Vorplanungen verschiedenen Grades, z.B. Gliede-rungen, Organisation des Zusammenspiels, Spielre-

geln und Anfangsideen usw. können vereinbart wer-den. Sie müssen aber zu immer wieder offenen äs-thetischen Ergebnissen führen.

6. Spielroutinen, Klischees und Patterns sollen zuguns-ten einer höchstmöglichen „Varietas“, d.h. Vielfältig-keit und Beweglichkeit im Ausdruck, vermiedenwerden.

7. Im Mittelpunkt stehen der lebendige Gedanke undseine unmittelbare Entfaltung. Ihm hat die jeweiligeindividuelle technische „Perfektion“ zu dienen, dienicht Selbstzweck ist. Das Einfache steht gleichbe-rechtigt neben dem Virtuosen; das Reduzierte gleich-berechtigt neben dem Komplexen. Es gibt keine Stil-vorgaben oder -einschränkungen.

8. Damit ist jede in diesem Sinne musikalische Hand-lung ein MUSIKWERK.

Das Manifest ist ein Spiel des Geistes, kein starres Reg-lement. Aber vielleicht gibt diese Provokation einenAnstoß, mit einem klaren Statement an die Öffentlichkeitzu treten und erkennbar zu werden. Zumindest aber hel-fen explizite Arbeitsregeln, das eigene musikalischeHandeln und das der anderen, mit denen man spielt,immer wieder zu überprüfen, zu reflektieren und weiter-zuentwickeln.

Luis Zett

Zweieiige ZwillingeKomponieren und/oder Improvisieren

Im "ringgespräch" LXVII betont Martin Speicher, erwolle "keineswegs Komposition gegen Improvisationausspielen"; das klingt überzeugend nach Brückenschlag- es bleibt aber doch der Verdacht hängen, da gäbe es,wenn man nicht ganz so konziliant eingestellt wäre,durchaus zwei rivalisierende, durch Andersartigkeit sichabgrenzende, durch Grundsatzentscheidungen konkurrie-rende, durch eine Äquatorlinie klar sich abgrenzendepolare Hemisphären des Musikschaffens.Neulich fand ich im Notenstapel meines Sohns das voneinem fleissigen Arrangeur Ton für Ton aufgeschriebenelegendäre "Köln Concert" von Keith Jarrett - ein Höhe-punkt konzertanter Jazzimprovisation. Nanu, dachte ich,ist da eine Improvisation plötzlich zur Kompositionmutiert? Wie ist das möglich?Es ist möglich. Eigentlich, dämmerte es mir, ist so wasallemal möglich. Denn ob ein Musikstück von Hand (inNotenschrift) oder digital (auf CD) konserviert ist, spielteigentlich keine Rolle - fixiert ist fixiert. Wenn alsoImprovisation und Komposition (jedenfalls theoretisch)in der Form ihrer Bewahrung zusammenfallen können,so dürften beide wohl auch vom Ansatz und vom Wegher nicht "zwei Paar Schuhe" sein, zwei (wie es gele-gentlich suggeriert wird) fundamental unterschiedliche

Zugänge zur und Umgänge mit Musik. Es dürfte alsovon Nutzen sein, erst einmal die Gemeinsamkeiten her-auszuarbeiten, um dann zu sehen, was an Unterschied-lichkeiten bleibt.Lassen wir hier beiseite, dass natürlich jeder Anfängerauf seiner Gitarre, seiner Geige, seinem Klavier etwas adhoc daherspielen (improvisieren) und das Gespieltevielleicht auch in Noten aufschreiben (komponieren)kann. Uns interessiert der konzertant-relevante Bereich.Und hier dürften wir mühelos darin übereinstimmen,dass sowohl das Improvisieren wie auch das Komponie-ren eine gewisse Meisterschaft, eine Souveränität imUmgang mit Musik bzw. einem bestimmten Musikgenrevoraussetzt. Man muss sein Handwerk - egal ob es umJazziges, Poppiges, Modernes, Experimentelles etc. geht- beherrschen, man muss einen starken Sinn für Aufbau,Zusammenhang, Gestalt eines Musikstücks haben, mansollte das kreative Potezial für eine "eigene Handschrift"mitbringen.Nun ist ja das gängige Klischee dieses: Der Improvisie-rende schüttelt quasi die Musik aus dem Ärmel, er ist derSpielmann und Hexenmeister - der Komponierende istder stupende Tüftler und Mechanikus, der nach Bauplä-nen arbeitende, die Arbeit überarbeitende Musikingeni-

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dokumentation

48 ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003

eur. Beides kann in Einzelfällen zutreffen, bleibt aber inder Regel naives Klischee. Glaubt jemand im Ernst, einKeith Jarret habe zu Beginn seines Köln Concert nochgar nicht gewusst, was ihm im Lauf des Abends alleseinfallen würde? Dass ein auf der Bühne improvisieren-des Duo oder Ensemble nicht jede Nummer in zigDurchgängen geprobt, abgesprochen, verfeinert habe -auch wenn dann nicht alles bis ins letzte festgelegt wur-de? Andererseits weiss man, dass Mozart manche Kom-positionen "aus dem Ärmel schüttelte" während ihmseine Constanze Geschichten vorlas; in einer einzigenNacht schrieb er die Ouvertüre zu "Don Giovanni"; in 28Tagen hat Verdi seinen ganzen "Troubadour" herunter-geschrieben - viel Zeit für Überarbeitung und Feilereiwird da nicht dringewesen sein. Man sollte sich nichtvon Begriffen täuschen lassen. Auch der Improvisationliegt in der Regel eine Idee, ein Konzept, ein Voraus-und Herumprobieren zugrunde; die per Titel als aus demStand heraus entstandenen "Impromptus" von Schubertsind durchaus streng durchkomponierte Kompositionen;wiederum wirken etwa Mozarts Klavier-"Fantasien" oderTeile aus Bachs "Toccaten" als hätte jemand beim Her-umprobieren und Improvisieren heimlich mitgeschrie-ben. Der "geniale Wurf", egal ob aufgeschrieben odernicht, setzt allemal einen gewissen konzeptionellen Sinnund eine beharrliche Arbeit am musikalischen Materialvoraus.Irgendwo bin ich auf das Statement gestoßen, Improvi-sation habe es mit dem "nicht geplanten Moment" zu tun.Das kann eigentlich nur für den musikalisch minderbe-mittelten Improvisierer gelten, der eben nicht voraus-weiß, wie der nächste Ton klingen wird, wenn er auf derGeige eine Saite "irgendwo" abdrückt oder auf demKlavier "irgendeine" Taste drückt, während der versierteMusiker auch dieses "irgend was" vorausweiß und des-halb von Moment zu Moment plant, was er macht. Diesgilt auch für das Improvisieren im Ensemble; zwar weißhier der einzelne Spieler nicht, was der/die andere/n imnächsten Moment bringen werden (obwohl dies für einegut aufeinander eingespielte Truppe auch nur bedingtgilt), aber jeder Spieler wird seine Reaktion auf dasNichterwartete wiederum bewusst, geplant vornehmen.Freilich - und da haben wir es mit einem klaren Unter-schied von Impro- und Kompo-Musik zu tun - kann derImprovisierende im Moment des Spielens seine Planungbzw. sein Konzept ändern. Darin liegt eine Entschei-dungsfreiheit, die derjenige der seine oder eine fremdeKomposition vorführt (in der Regel) nicht hat. Dass alsoImprovisieren viel mit einer Fähigkeit zur spontanenEntscheidung zu tun hat, liegt auf der Hand.Der Improvisation wird - vive la liberté! - zugute gehal-ten, dass selbst wenn das "gleiche" Stück zweimal odermehrmals gespielt wird, das Ergebnis nie gleich ausfal-len wird. Aber dieser Bonus kann auch nur unter Vorbe-halt vergeben werden. Erstens weiss man auch aus derklassischen Musik, dass Komponisten ihre bereits aufge-führten Werke oft überarbeitet, abgeändert haben ("Ur-fassung", "Überarbeitete Fassung", "Neufassung"...); undzumal in der modernen Musik, in der Improvisatorischesoft konzeptuell in die Komposition integriert ist, kannvom "zweimal gleichen Ergebnis" nicht mehr die Redesein - dasselbe Stück von John Cage kann in der einen

Aufführung beträchtlich anders klingen als in der ande-ren! (Auf solche Kompo/Impro-Connections werde ichnoch zu sprechen kommen.)Betrachtet aus der Perspektive des Musikkonsumenten,der sich z.B. improvisierte Stücke über eine CD-Aufzeichnung zuführt, ist es (abgesehen vom Wissen,dass...) ohnehin so, dass es eigentlich keinen Unterschiedmacht, ob er sich eine Komposition anhört oder eineImprovisation - auch diese wird, so oft er die Scheibeauflegt, immer gleich klingen, könnte also auch (siehe"Köln Concert") aufgeschrieben werden. Ich wage zubehaupten, dass selbst ein erfahrener Musikliebhaber(ohne das Wissen, dass bzw. ob...) in sehr vielen Fällenvon CD-konservierter Musik, gerade neuerer Herkunft,nicht entscheiden könnte, ob er es nun mit einem kom-ponierten oder improvisierten Stück zu tun hat.Mit welchem Recht dürfte man also die eine Art desMusikmachens gegen die andere ausspielen! Die Vor-stellung von den beiden durch einen Äquator von einan-der abgegrenzten Hemisphären trifft nicht zu - es seidenn, man macht sich klar, dass man diese Äquatorlinieauf einer Reise von "Nord" nach "Süd" überhaupt nichtbemerken würde, denn der Übergang wäre völlig flie-ßend. Vielleicht denkt man sich das Ganze besser alszwei sich überschneidende Kreise, wobei die sich de-ckende Fläche - die Gemeinsamkeiten - größer wäre alsdie zwei sich nicht deckenden Flächen - die Unterschie-de.Es ist ja nicht nur so, dass die beiden Vorgehensweisenbeim Musikmachen halt "irgendwie" gleich sind - sielassen sich ja oft gar nicht auseinander nehmen. ZweiBeispiele aus meiner eigenen Werkstatt: In meinerSammlung "Com-Positionen - 18 Klavierklangstücke zu18 land-light-paintings von Diether Kunerth" (veröffent-licht als Musik-Video) ist das Schluss-Stück so organi-siert, dass die linke Hand ein fortwährendes Bass-Oktavenostinato spielt, die rechte im strikten Takt einen5-tönigen Akkord anschlägt, dessen beide Ecktöne im-mer gleich bleiben, während die mittleren drei ständigvariiert werden sollen - ein kleiner Spielraum für Impro-visation also. In der zur Veröffentlichung anstehendenSammlung "Beyond..." ist bei einem Stück nur eineSkale von 8 Tönen vorgegeben mit der Anweisung, dieseca. 5 Minuten lang auf alle Möglichkeiten hin (akkor-disch, melodisch rhythmisch) zu "erkunden" - ein nie zuerschöpfender Spielraum für Improvisation.Es gibt Unterschiede, aber sie sind wohl kaumausschlaggebend. In der Regel braucht der Improvisie-rende mehr Mut zu spontanen Entscheidungen - sein"Ergebnis" bleibt letztlich immer offen; in der Regelbraucht der Komponist mehr Mut zu klaren Entschei-dungen - sein Ergebnis gilt als fertig, er muss dafür ohneWenn und Aber einstehen. Um ein weniger geografisch-geometrisches Sinnbild zu wählen, könnte man auf zwei-eiige Zwillinge verweisen: dieselbe Herkunft, dasselbeAnlagepotenzial, engste Verwandtschaft, dennoch unter-schiedliche Lebenswege - nicht ganz gleich, dennochganz ähnlich. Hier irgend etwas zu werten, wäre wirklichdas Allerletzte, was angebracht wäre.

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tagungen & kurse

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BERICHTE

TAGUNGEN & KURSE

„KLANGUMWELT: SCHONGEHÖRT?“ Tagung am 15.3.2003 inMeran, ItalienBereits im siebten Jahr treffen sich Mitglieder undInteressenten des Forum Klanglandschaft (FKL),welches als Verein Menschen verschiedener Diszip-linen verbindet, die Interesse am Hören und einerverantwortungsbewußten Gestaltung der akustischenUmwelt haben. Es entstand aus einem Impuls des seit1993 bestehenden World Forum for Acoustic Ecolo-gy (WFAE) und dient als Informations- und Kon-taktplattform au europäischer Ebene.

Die bis jetzt real durch Italien, Österreich, Schweizund Deutschland getragene Arbeit wird im Wesentli-chen durch die persönlichen Arbeitsschwerpunkte derMitglieder geleistet. Dies sind u.a. Landschaftsge-stalter und -ästhetiker, Musiker, Pädagogen, Akusti-ker und Klangdesigner, Rundfunk- bzw. Hörspielma-cher, Ethnologen, Ökologen, Tourismus-Vertreter,EDV-Spezialisten. Das Hören und Zuhören brauchtinterdisziplinäre Ansätze, um sowohl als Alltagsei-genschaft als auch Kunst neue Räume zu öffnen. Ineiner Zeit des technologischen Wandels verändernsich in kürzester Zeit Hörgewohnheiten (z.B. Signalevon Handys) , andererseits sterben vorher vertrauteKlänge aus (z.B. Kohlen abkippen, Hahnkrähen).Allein mit negativen Schlagzeilen über wachsendenund zu bekämpfenden Lärm (Schallschutzwände) o-der die Unfähigkeit vieler Menschen, Stille zu ertra-gen, sind die Probleme unserer Klangumwelt nicht zulösen. Sinnvoll sind qualitative Ansätze, die die hör-bare Umwelt mehr ins Bewusstsein rücken, auchnach Bedeutungen und Identitäten fragen, die Men-schen mit den Klängen ihres Ortes verbinden. EineMöglichkeit dazu sind die vom kanadischen Klang-ökologen M. Schafer entwickelten Hörspaziergänge,auf denen mit verschiedener Zielstellung vorher ge-wählte Parcours gemeinsam ohne zu reden begangenund ggf. aufgenommen und ausgewertet werden. Diefür Wirtschaftszwecke hochfinanzierte Zunft derKlangdesigner, die z.B. am Klang des Zuschlagenseiner Tür oder dem Motor eines Porsche arbeiten o-der jenen Klang entwickeln, welcher bestimmteChips beim Kauen gut verkäuflich macht, ist nur einSpezialfall. - Hören und Zuhören bedeutet, Kriterienzu entwickeln zur Mitgestaltung und Einflussnahmeauf die akustische Umwelt. Die Tagung stand imZeichen, die Themen und Zusammenhänge einerbreiteren Öffentlichkeit nahe zu bringen. Die italieni-schen Angebote gingen von musikalischen Spielenmit Kindern, Vorträge zu historischen Klangland-schaften

in einem musikpädagogischen Projekt mit Internet-programm - THEBIGEAR in welchem aus aller WeltKlangbeschreibungen gesammelt werden, die die I-nitiatoren mit ihren Mitteln akustisch inszenieren undin einer 24-Stunden-Eingangs- Echtzeit-Kompo-sition hörbar machen bis zu einem nach speziellerAnleitung inszenierten Hörspaziergang und Fragen,wie die Kommune rechtlich und inhaltlich akustischeÖkologie praktizieren kann. Aus Deutschland kamenBeiträge zu Soundscapes als musizierpraktischemImpuls (Prof. G. Olias, Potsdam), sowie ein Work-shop Stein und Flöte (H. Heyne, KlangHütte) der mitdem realen Klang und Sinneserfahrungen mit Steinenund Naturflöten arbeitete. Aus Österreich kommt diederzeitige Präsidentin des Forums, Gabriele Proy, dieals Soundscape-Designerin neben anderen auch eige-ne Klanglandschaftskompositionen vorstellte. In sol-chen werden konkrete oder elektronisch erzeugtebzw. verfremdete Aufnahmen aus Landschaften mu-sikalisch oder/und pädagogisch entwickelt. Dies gehtbis zur völligen Verfremdung von Kontext undZeit/Frequenz, z.B. rhythmisches Zirpen von Grillenmehrfach nach unten oktaviert als Bass-Beat für dar-über gelegte andere Klänge und kommt damit in dieNähe der Geräusch-Kulissen verschiedenster gesam-pelter Techno-Musik. Für mich als Improvisations-musiker interessant war die Erfahrung eines ca. halb-stündigen Hörspaziergangs, den A. Colimberti ausRom leitete. Er begann direkt am Tagungshaus vonkunst meran, innen durch moderne Architektur akus-tisch nicht abgetrennt, In den dunklen, hellhörigenGewölben der Laubengasse eingebunden, dann an ei-nem Kirchplatz vorbei, Serpentinen durch einenSteingarten hinauf in gleißendes Licht mit Vogel-stimmen und die Kulisse der nahen Schneeberge. DasHauptohrmerk waren Klänge aller Art. Zusätzlich a-ber konnten die nahe folgenden Teilnehmer geradezufällig oder auch absichtlich erzeugte Klänge durchFüße oder Anschlag wiederholen, untersuchen. DasInterssante war, daß dies immer dann musikalischstimmig erschien, wenn es trotz Absicht absichtslosblieb. Der gesamte Spaziergang wurde eine Kompo-sition bzw. Improvisation. In einer bestimmtenStimmung lenkte auch das Sehen nicht mehr vomHören und Tun ab. A. Colimberti möchte, um einbesseres Verhältnis zwischen Mensch und Natur(wieder) herzustellen zu den Wurzeln europäischerKultur zurückgehen und damit dem klanglichen Ele-ment als Weltharmonie. Gleichzeitig bezieht er auchElemente ein, die im Schamanenentum Verwendungfinden wie z.B. durch bestimmte Wiederholungenvertiefte Wahrnehmung zu erreichen. Anregen fürden RING für Gruppenimprovisation möchte ich ein(Tagungs-) Thema, das Improvisation mit/in der Na-tur (Kultur) aufgreift.

Hannes Heyne

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berichte

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IMPROVISIEREN: WOZU?5. Internationale Tagung für Improvisation inLuzern am 7. - 12.10.2003Alle drei Jahre wieder findet sie statt, die InternationaleTagung für Improvisation in Luzern, 2002 bereits zum 5.Mal. Leider kommen von Mal zu Mal weniger Teilneh-mer, in diesem Fall waren es gerade mal 70 angemeldete.Das ist besonders deshalb schade, weil das Programmausgesprochen spannend und gewinnbringend angelegtwar. Wie immer bildete der Dreiklang Konzerte - Vor-träge - Workshops/Seminare die Grundstruktur.

Die Konzerte waren insbesondere hinsichtlich ihrer Ge-gensätzlichkeit sehr gut konzipiert. Kaum denkbar, dasses jemanden gab, dem ausnahmslos alles gefiel. Für michpersönlich war von „unzumutbar“, „peinlich“, „unver-ständlich“ über „ambivalent“, „passabel“, „interessant“bis zu „höchst ungewöhnlich“, „vorbildlich einfühlsam“und „großes musikalisches Erlebnis“ alles dabei.

Ein Thema war dabei offenbar die Rolle des Computersin der Improvisation. Bezeichnend Stephan WittwersPerformance am ersten Abend. Da schlappt einer teil-nahmslos auf die Bühne, schabt ein wenig an seinerGitarre herum und fummelt dazu an verschiedenen Ge-räten, erzeugt einige sehr scheußliche kratzbürstigeKlänge und Geräusche, sagt nach einiger Zeit schulter-zuckend „Das war’s!“ und schlappt wieder von der Büh-ne. Hat der da oben nur mal eben seine Geräte auspro-biert? Nein, es war sein „Auftritt“! Entweder, das istvölliger Unsinn oder es ist das Zelebrieren von Inkom-petenz oder aber - vielleicht ist es eine neue Ästhetik?(Vielleicht die „Neue Wurschtigkeit“?) Ich war - wieviele andere - eher abgeschreckt, aber das war ja auchnur das eine Ende der Skala.

Ein Computer spielte auch im Auftritt des Trios HansKoch, Martin Schütz und Fredy Studer eine Rolle. Derhervorragende Bassklarinettist Koch hatte einen Laptopdabei, den er weitaus häufiger bediente als sein Musikin-strument. Wer nun wie ich erwartete, dass der Computerwenigstens interessante Klänge hervorbringen würde,sah sich enttäuscht. Was vielmehr passierte war, dassKoch beim Bedienen des Laptops völlig aus der Kom-munikation mit den anderen ausstieg und nur noch demGerät hingegeben war, während seine beiden Mitspielerintensivst versuchten, diese Kommunikationslücke zuschließen, indem sie sich ganz auf ihn bezogen. So warplötzlich der Computer im Zentrum des Geschehens -Kommunikation auf der Einbahnstraße. Schade drum,die Bassklarinette wäre ergiebiger gewesen. Fairerweisesollte hinzugefügt werden, dass andere dieses Konzertdeutlich besser bewerteten.

Schauen wir mal ans andere Ende der Skala. Da gab esMaria de Alvear, die in einer kurzen, jedoch äußerstvehementen Performance gesprochene Worte in gesun-gene musikalische sowie Körper-Gesten übersetzte. Einsehr ungewöhnlicher, sehr ausdrucksstarker und mithöchster Intensität präsentierter Beitrag, der von totalerAblehnung bis zu völliger Euphorie wohl die gesamtePalette an möglichen Reaktionen hervorrief (wobei die

positiven deutlich überwogen). Zuvor war ein Duo mitder Sängerin Lauren Newton und dem SchlagzeugerFritz Hauser zu hören. Lauren Newton setzte ihre Stim-me zweifellos sehr professionell und sehr sicher ein, aberfür meinen Geschmack war es zu sehr „übliche“ neueMusik. Der Schlagzeuger Fritz Hauser agierte eigentlicheher als Begleitung, aber diese war so intensiv, einfühl-sam und bei aller Sparsamkeit präzise und treffend plat-ziert und pointiert, dass er für mich der eigentliche (stil-le) Star dieses Auftritts (und einer der überzeugendstenMusiker der gesamten Konzertreihe) war.

Mein persönliches Highlight war die Gruppe „adesso“mit Walter Fähndrich (Viola), Peter K Frey (Kontrabass)und Hansjürgen Wäldele (Oboe). Ihre Art Neuer Musikist sehr intensiv, sehr karg und doch zugleich ausgespro-chen klangschön (dabei keineswegs gefällig). Die Mittelwerden extrem sparsam eingesetzt: oft spielte jeder nureine einzige Idee, so dass Ikebana-artige Trios entstan-den, die dann lange und mit Liebe zum Detail ausgespieltwurden (Lilli Friedemann hätte ihre Freude daran ge-habt!!): ein Klangerlebnis der sehr ästhetischen Art (ins-besondere die ppp-Melodie auf der Oboe!).

Zweites Element des Tagungs-Dreiklangs: die Vorträge.Wie immer waren sie hochkarätig besetzt und wie beiden Konzerten ging es auch hier um gegensätzlicheSichtweisen. Da war der Psychiater Ciompi (vgl. dasInterview in diesem Heft), der die Sicht der von ihmentwickelten Affektlogik darstellte, Christian Kadennahm die ethnologische Perspektive ein, Hans UlrichReck war als Kunsthistoriker geladen und Franz JosefCzernin als Schriftsteller. Wer Näheres erfahren möchte,dem sei die demnächst erscheinende DokumentationIMPROVISATION 5 anempfohlen, die im AmadeusVerlag Winterthur erscheint.

Das dritte Tagungs-Element waren die Workshops undSeminare, die nachmittags an drei aufeinander folgendenBlöcken zu je 90 Minuten stattfanden. Auch hierzu wa-ren interessante und renommierte Referenten geladen.Eher zufällig verschlug es mich anfangs in Eckart Al-tenmüllers Seminar „Zur speziellen Hirnphysiologieerdachter, erlernter und automatisierter musikalischerHandlungen“. Dieses trockene Thema wurde so lebendigund spannend präsentiert, dass es zu einem festen Be-standteil meines täglichen Stundenplans wurde. DieInhalte, die ich hier unmöglich zusammenfassen kann,werden ebenfalls in der geplanten Publikation enthaltensein. Während diese Veranstaltung recht gut besucht war,mussten andere kompetente und interessante Referentenmit sehr geringen Auditorien von häufig weniger als 5Personen Vorlieb nehmen.

Stattdessen tummelten sich die TeilnehmerInnen lieberin den (Praxis-)Workshops, die größtenteils von denabends konzertierenden Musikern geleitet wurden. DieseWorkshops waren für mich (und viele andere) eine Ent-täuschung, denn leider zeigte sich, dass gute improvisie-rende Musiker nicht unbedingt gute Kursleiter sind.Besonders viele - ca. 40 - Teilnehmer kamen zu demrenommierten Schlagzeuger Pierre Favre. Der erzähltenette Dinge über Improvisation, ließ dann 1 Spieler im-provisieren (ein Vergnügen, das mir zuteil wurde), er-

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tagungen & kurse

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zählte weiter, ohne auf das Gespielte einzugehen, ließmich dann mit einem zweiten Spieler spielen - wiedererzählen, dann die beiden alten + 1 neuer Spieler und sofort. Das Erzählen hatte nichts mit dem Gespielten zu tun(oder doch? Das wusste man nicht so genau. Meint ermich, wenn er etwas sagt oder meint er das eher allge-mein? Eine unangenehme Situation, aus der leider nichtszu lernen ist). Die Spieler passten nicht zueinander, weilsie ganz unterschiedliche stilistische Hintergründe undErfahrungen hatten - alles in allem enttäuschend. HansKoch hingegen begann mit sehr schönen Übungen, diesowohl zum Ein-Spielen wie zum Ein-Hören gut waren.Dann aber wurde - ich konnte es kaum fassen - dirigiert.Und zwar so präzise, dass für eigenes Erfinden überhauptkein Platz mehr war. Hören konnte man schon gar nicht,alle Konzentration war auf „korrekte“ Ausführung ge-richtet. Wir mussten lernen, welche Geste was bedeutet,an bestimmten Stellen gab es Sonderzeichen: diese Stel-len sollte man sich merken um sie später auf Zeichenwieder reproduzieren zu können. Also: dunkle Töne, sehrleise, dann kurze laute hohe dazu, dann Symbol 1 - „wel-che Idee war das noch mal?“ - zu spät, es geht schonweiter und jetzt bitte nochmal Idee 2. Ich kam mir vorwie ein Computer. Da improvisiert einer und ich bin seinInstrument. Herzlichen Dank - aber weshalb sollte ich?So besonders gut war die Musik, die dabei entstand, nunauch wieder nicht und man konnte ihr noch nicht einmalwirklich zuhören. So war ich froh, am Ende bei HelmutBieler-Wendt zu landen (der „nur“ zum Unterrichtengeladen war). Er hatte ein Grüppchen mit sehr lebendi-gen Leuten um sich versammelt, die nach Herzenslustmit Musik und Bewegung experimentierten.

An dieser Stelle also die Bitte an die Organisatoren: dieWorkshop-Leiter sollten eher nach ihrer Unterrichtsfä-higkeit ausgesucht werden als nach ihrem Renommé alsauftretende Künstler. Und manche bekannten Leutekönnen ja beides: auftreten und unterrichten (wie bei-spielsweise der originelle Posaunist George Lewis ausKalifornien).

Nichts desto trotz und bei aller Kritik an Einzelheiten:diese Tagung war eine Labsal an Anregungen, bot eineWoche intensiver Erfahrungen und fachlicher Auseinan-dersetzung. Und da man bekanntlich auch aus negativenErfahrungen lernt, sehe ich die von mir kritisch ange-merkten Aspekte durchaus positiv. Sofern die Organisa-toren Fähndrich, Frey und Baumann die große organisa-torische Mühe noch einmal auf sich nehmen, wozu ichsie ausdrücklich ermuntern möchte, sei allen Lesernempfohlen, sich die nächste Tagung nicht entgehen zulassen. Eine solche Fülle an Erfahrungen ist am heimi-schen Herd unmöglich zu machen.

Matthias Schwabe

IMPROVISIAKUMTreffen improvisierender MusikerInnen28.-29. September 2002 in Köln."Es stehen mehrere Spielräume in einem Haus zur Ver-fügung, in denen MusikerInnen sich finden, improvisie-

ren und in einen Prozess der musikalischen Interaktiontreten. Der besondere Aspekt dabei ist, dass im ganzenHaus parallele Improvisationsprozesse entstehen. Indiese kann man einsteigen, aber auch aus ihnen ausstei-gen und neue musikalische Orte suchen, indem man inneue Räume geht oder im Haus herumwandert und zu-hört".

So hieß es u.a. im Ausschreibungstext, und ich hatte eineArt Marathon erwartet, mit vielstündigem ununterbro-chenem Spiel. Weniger marathonähnlich wurde die Ver-anstaltung allerdings durch die Plenums-Diskussionen,die regelmäßig stattfanden. Samstagmorgen begrüßte unsOrganisator und Moderator Reinhard Gagel an der Rhei-nischen Musikschule Köln und präsentierte die Idee einerWechselwirkung zwischen Musikmachen und Diskussi-on. Es wurden sogleich die Themen Improvisation contraKomposition und ästhetisch contra sozial erwähnt ... einphilosophischer Ansatz, schien es mir, wie manchmal beiden Deutschen! Doch bald gingen wir zur praktischenPlanung über. Reinhard erwähnte, dass vorher verschie-dene Modelle verwendet wurden: im Flur und Treppen-haus spielen, oder in den Räumen mit offenen Türen.Wir einigten uns darüber, uns in zwei Gruppen zu teilenund fingen an zu spielen (mit geschlossenen Türen).Dem oben zitierten Text gemäß wanderten einige Spielernach einiger Zeit zur anderen Gruppe über. Dann Ple-numsdiskussion - Mittagspause - und Aufteilen des Ple-nums beim Spielen in Spieler und Zuhörer. Zunehmendmehr Teilnehmer waren im Laufe des Tages "hinzuge-tröpfelt".

Sonntag fingen wir an mit einem kurzen Tutti - und danngab es verschiedenen Formationen, Duo bis Quartett, mitden übrigen als Zuhörer. Mit Besprechungen dazwischenverging die Zeit schnell - und mit einer Improvisation inden Fluren und im Treppenhaus endete die Musizierakti-vität.

Bei der abschließenden Diskussion wurden von einigenTeilnehmern die Länge der Diskussionen kritisch be-rührt, sie wurden aber auch generell als positiv beurteilt.Auch wurde die Idee eines öffentlichen Konzerts als Teilder Veranstaltung in Vorschlag gebracht.

Dank der sensiblen Moderation von Reinhard war dieVeranstaltung offen für Wünsche und für den Prozessder Teilnehmer. Für mich als Gast aus Dänemark wardies eine Begegnung mit einer gemütlichen Musikkulturworin Amateure und Profis (wenn diese Trennung nochSinn hat) sich mischten - wie es scheint, typisch wenigs-tens für Ring-Veranstaltungen (so auch bei der Herbstta-gung Dassel 1997). Einige Teilnehmer hatten sich vorherüber die improvisierte Musik in der "Klangwerkstatt" ineinem Kölner Bürgerhaus getroffen - interessant, von soeiner "volkstümlichen" Aktivität auf dem Gebiet zu hö-ren. Die vorherigen Erfahrungen der Teilnehmer warenverschieden, das Niveau von Konzentration und musika-lischer Qualität aber sehr hoch - das Syndrom des "Ein-heitsbreis" kam z.B. meinem Eindruck nach nicht vor,dafür aber eine Reihe von beeindruckenden Klangbil-dern, wie der Wechsel von Musikerformationen sie insRelief zueinander rückte.

Carl Begrstrøm

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berichte

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Andy Schreiber beim Workshop

SPRACHKLANG / KLANGSPRACHE: Linzer Improvisationstage 2003

„einwortnebendas

ein wortneben dasein zweiteswort tritt

ein wort nebendas ein zweitesneben das eindrittes.wort tritt.

ein wort.neben dasein zweites neben dasein drittes neben dasein viertes wort tritt .........“

Ernst Jandl (darstellung eines poetischen problems)

Dazu meinte Andi Schreiber einer der 7 Workshopleiter,die heuer die Linzer ImprovisationsTage mit dem ThemaSprachklang/ Klangsprache mitgestalteten:„Das ist wie Improvisation. Einer spielt einen Ton. Derzweite Spieler kommt dazu und schon hat man zwei Töne,ein Intervall, Material, mit dem man starten kann. Außerbeide spielen gleichzeitig den selben Ton, das ist danneine böses Geschenk“Sein Workshop “ Him Han Fang war das Wort“ -Improvisationen mit und über Texte von Ernst Jandl wareiner der vielen Kurse die sich dem Thema Sprach-klang//Klangsprache widmeten.Im Gegensatz zum Vorjahr wo man in viele verschiedeneStilrichtungen hineinschnuppern konnte (elementareGruppenimprovisation, Barock, Jazz, Neue Musik, indi-sche Musik,...), fand heuer eine Schwerpunktbildung inden Richtungen Jazzimprovisation und Neue Musik statt.Elfi Aichinger, Dozentin für Jazzgesang, bot „Grooveand Fantasy“an: Ein Workshop in dem man mit und überPatterns z.B. im Elfer , überlagert durch 5er, und 6er...improvisieren konnte.Agnes Heginger ebenfalls Dozentin für Jazzgesang ver-band im Plenum als auch in ihrem Kurs "SichtbarerKlang - Hörbares Bild" - Lust-, und humorvolles Expe-rimentieren mit dem eigenen Klang-Körper“ (Stimme,Bewegung und Körperausdruck).Peter K.Frey, seit 20 Jahren praktizierender improvisie-render Musiker aus der Schweiz. Und Vertreter der Frei-en Improvisation. forderte seine Kursteilnehmer ziemlichheraus: Vorspiel, Konzertsituation, unbekannte Mitspie-ler, zusammengewürfelte Besetzungen... Anschließendwurde über das Gespielte reflektiert: Wie bringe ichmeine musikalischen Ideen ein, agiere ich oder reagiereich nur, welche Stellen waren interessant zum Zuhören....Auch die Verbindung von fremden Sprachklängen undInstrumenten konnte man mit einem indischen Sprecher

bei dem Workshop „ Le lunlinguale Sprachmusik“ beiKaren Schlimp erforschen.Dem Thema Sprache und andere Materialien z.B Zeitun-gen, Boomhackers ... widmete sich Michaela Ulm inihrem Workshop “O-Ton. Aus dem Off ins Geschehen“

Neu waren in diesem Jahr Im-provisationskonzerte der Do-zenten: Soloperformances mitPeter K Frey (Kontrabaß undStimme) und Agnes Heginger(Stimme), ein Duokonzert mitAndi Schreiber und Elfi Ai-chinger (Violine und Stimme),und eine multiästhetische Per-formance mit dem Titel„Schriftstücke“. Diese fand ineiner Kirche aus dem 8. Jhdtstatt mit Nader Mashajeki,(Kalligraphie und persischeSprache) mit Corinna Eickmei-er (Cello), mit Werner Ra-

ditschnig (Schreibmaschine) und KarenSchlimp (Klavier und Konzeption)

Wie auch letztes Jahr beruhte das Organisationskonzeptder Linzer ImprovisationsTage auf der Grundlage dieKurse mit einem Gastdozenten von auswärts und Lehrernaus der eigene Institution (dem Linzer BrucknerKonser-vatorium) zu bestreiten. Ziel der Initiatorinnen und Or-ganisatorinnen Heidi Schneider und Karen Schlimp war

es den Teilnehmern Zugang zu verschiedenen Improvi-sationsstilen zu eröffnen, und Möglichkeiten für dieErweiterung des musikalischen Ausdrucksrepertoires zuschaffen. Auch wenn die Begegnung mit fremden Stil-

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tagungen & kurse

ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003 53

richtungen manchmal Verunsicherung auslösten, konntevielleicht gerade dadurch grenzüberschreitendes Denkenentstehen, das für die Improvisation eine entscheidendeRolle spielt.Ein schöner Nebeneffekt ergab sich heuer durch diesesThema, da Schauspieler, Jazz -und Klassische Musiker ,Studenten, Musikschullehrer, Musikuniprofessoren undLehrende des Brucknerkonservatoriums ( insgesamt 67Teilnehmer) in den Kursen miteinander improvisiertenund voneinander profitierten . Begegnungen die imnormalen Berufsalltag und Studienbetrieb nicht soschnell stattfinden können.Ausblicke auf das kommende Jahr gibt es auch schon:„Improvisierte Musik verschiedener Kulturen“ von 23.-25. Februar 04. in Linz.

Karen Schlimp

Gemeinsames Musizieren im Schnittpunktvon Interpretation und ImprovisationWorkshop an der Musikakademie GheorgheDima in Cluj-Napoca (Rumänien) im April 02

Motivation

Es ist heute mehr als 20 Jahre her, dass Lilli Friedemanndurch ihr künstlerisches und musikpädagogisches Schaf-fen Pionierarbeit im Bereich instrumentaler Gruppenim-provisation geleistet hat und wegweisend für die Ent-wicklung der Musiktherapie war. Gruppenimprovisationals Musikalische Basis-Ausbildung - wie steht es heutemit diesem pädagogischen Ziel Lilli Friedemanns in derHochschulausbildung?

Die Bedeutung von Gruppenimprovisation in der Musik-ausbildung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenenist unumstritten wie durch zahlreiche Veröffentlichungenbelegt ist. Auch gibt es eine Vielfalt an Workshops fürLaien und BerufsmusikerInnen im Bereich Gruppenim-provisation. Die Arbeit Lilli Friedemanns trägt also in-zwischen reichhaltige und vielfältige Früchte. Trotzdemist die Integration von Gruppenimprovisation in dasVeranstaltungsangebot der Hochschulen, die eine Mu-sikausbildung anbieten, noch immer nicht selbstver-ständlich, wenn man mal vom musikpädagogischenBereich mit Schwerpunkt Grund- und Sonderschulenabsieht. Im Veranstaltungskanon des Instrumentalfach-studiums ist, wenn überhaupt, Platz für das Improvisie-ren innerhalb einer Gruppe im Bereich Komposition oderKammermusik. Letzterer beschränkt sich meist auf dieInterpretation komponierter Werke, wobei zeitgenössi-sche Kompositionen eher eine Ausnahme bilden. DieVorteile des Improvisierens in der Gruppe sind wichtigeProzesse musikalischer Entwicklung und Lebenserfah-rung, wie z.B. die direkte Auseinandersetzung mit sei-nem Instrument, eigene musikalische Entfaltung undnonverbale Kommunikation, das Fließen von Klängendurch den ganzen Körper mit der Verbindung von Innenund Außen, Gehen eigener Wege sowie das Entgegen-

wirken einer Eingleisigkeit zukünftiger MusikerInnenund MusikpädagogInnen.

Gruppenimprovisation als eigenständige Veranstaltungim Bereich Ensemblespiel in jeder Art der Musikausbil-dung sowohl an Konservatorien und Musikhochschulenals auch an Universitäten einzurichten, ist ein wün-schenswertes Ziel. Das regelmäßige Veranstalten vonGruppenimprovisations-Workshops innerhalb der Mu-sikausbildung, möglichst mit wechselnden DozentInnen,stellt dabei ein kurz- und mittelfristiges Ziel in dieseRichtung dar. Förderprogramme im Hochschulbereich,wie z.B. Sokrates, DAAD und Goethe, erleichtern dieUmsetzung dieser Ziele.

So möchte ich mit dem folgenden Bericht

• KollegInnen Mut machen, sich an den Bereich Grup-penimprovisation heranzuwagen (z.B. durch Fortbil-dung, Ergänzungsstudium),

• DozentInnen im Bereich Gruppenimprovisation mo-tivieren, ins Ausland zu gehen und auch dort Kursedurchzuführen,

• KollegInnen anzuregen, Workshops an Hochschulenzu geben, an denen Gruppenimprovisation bisherunterbelichtet ist,

• Neugier und Interesse von MusikstudentInnen we-cken, sich im Rahmen ihrer Ausbildung mit Grup-penimprovisation auseinanderzusetzen,

• am Instrumentalspiel interessierte Laien auffordern,über den Tellerrand zu schauen/spielen und sich beimMusizieren in Gruppen nicht auf die Interpretationvon Kammermusikwerken zu beschränken, sondernGruppenimprovisation als andere kreative Möglich-keit des Ensemblespiels miteinzubeziehen.

Vorstellung des Projektes

Vom 23. bis 25.4.02 fand an der Gheorghe Dima Musik-akademie in Cluj-Napoca (Rumänien) ein Workshop imBereich Gruppenimprovisation unter meiner Leitungstatt. In der Musikausbildung dieser Musikakademiesteht das Instrumentalstudium im Mittelpunkt. Nebenden Instrumentalfächern gibt es eine kleine musikpäda-gogische Abteilung, eine Abteilung Musikethnologiesowie eine Komponistenausbildung.

Seit Herbst 2001 existiert eine Hochschulpartnerschaftzwischen der Musikakademie Cluj und dem FachbereichMusik der Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg.Aufgrund dieser Partnerschaft konnte der Workshop imRahmen des EU-Sokrates Programms veranstaltet wer-den. Der Workshops mit dem Thema ”Playing Music asCrossover of Interpretation and Improvisation of Music”bot Musikstudierenden der Musikakademie ohne Be-grenzung auf Studienschwerpunkt und -semester einenpraxisorientierten Einstieg in den Bereich Gruppenim-provisation.

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berichte

54 ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003

Zur Vorbereitung des Workshops

Das Projekt war für mich eine Herausforderung besonde-rer Art. Es war sowohl meine erste Reise nach Rumänienals auch das erste Mal, dass ich einen Workshop an einerHochschule im Ausland gegeben habe. Vorbereitung undDurchführung des Workshops verliefen ohne großeProbleme und mit positiven Überraschungen. Entspre-chend der mir verfügbaren Information über Studienin-halte und Ausbildungsschwerpunkte der MusikakademieCluj und meiner Berufserfahrung im musikpädagogi-schen und musikpraktischen Bereich habe ich Themaund Lernstoff des Workshops konzipiert. Da für alleTeilnehmerInnen (TN) die Auseinandersetzung mitGruppenimprovisation neu war, wählte ich die Verbin-dung von Interpretation und Improvisation als Verbin-dung von Vertrautem und neuen Erfahrungen. Anregun-gen zur Konzeption des Workshops gaben mir dabei u.a.(1). Wichtige Inhalte des Workshops waren das Ken-nenlernen verschiedener Möglichkeiten der musikali-schen Gestaltung, die über die den TN aus dem Studiumgewohnten Interpretationen traditionell komponierterund notierter Musikwerke der verschiedenen Epochenhinausgingen sowie das gemeinsames Musizieren ohneNoten als direkte Kommunikation und persönlicher Aus-druck in Verbindung mit dem erlernten Instrument. Da-bei waren das Experimentieren mit Klängen und dasErfinden von musikalischen Phrasen als Stegreifspielebenso Spielinhalt wie die Auseinandersetzung mitRahmenkompositionen westlicher/deutscher Kammer-musikliteratur des 20. Jh. Wichtig für die Auswahl derStücke, die ich aus organisatorischen Gründen in derVorbereitungsphase des Workshops treffen musste, wardie instrumentale Flexibilität in der Besetzung der Stim-men. Ergänzende Literatur und Notenmaterial hatte ichaufgrund eines Finanzzuschusses des Fachbereichs Mu-sik der C.v.O.- Universität Oldenburg und der freundli-chen Spende von Partituren der Komponistin BarbaraHeller aus Darmstadt für die Durchführung meinesWorkshops verfügbar. Dieses Unterrichtsmaterial stehtdurch den Verbleib in der Bibliothek der Gheorghe DimaMusikakademie für weiterführende Studien nun Lehren-den und Studierenden in Cluj zur Verfügung.

Zur Durchführung des Workshops

An meinem Workshop haben 8 StudentInnen des Instru-mentalfachs teilgenommen. Die StudentInnen spieltenverschiedene Instrumente (Geige, Klavier, Percussion,Gesang, Mandoline) und waren in unterschiedlichenAusbildungssemestern (zwischen dem 1. und 5. Stu-dienjahr von insgesamt 5 Studienjahren). Der zeitlicheRahmen des Workshops umfasste drei Blöcke, wobeijeder Block aus zwei Unterrichtsstunden mit Pause be-stand. Der Workshop fand an drei Tagen hintereinanderjeweils von 12h bis 15h im Schlagzeugraum der Musik-akademie statt.

Die Einführung bildete ein kurzer Dozentenvortrag mitLiteraturbeispielen über die Möglichkeiten der Darstel-lung von Musikstücken in der Palette von traditionellerNotenschrift, Rahmennotation, verbaler Spielanweisungund Grafik (2). Jeden der drei Blöcke habe ich von der

Struktur des Lernstoffs her ähnlich aufgebaut, inhaltlichjedoch sehr verschieden. Begonnen wurde jeder Blockmit kleinen Spielaufgaben zum Wahrnehmen und

(Re-)Agieren der TN mit ihrem Hauptinstrument in derGruppe. Auch das Einbeziehen von Körperperkussionwar als Einstieg gut geeignet und machte den TN beson-deren Spaß. Anschließend wurden die durch Experimen-tieren gemachten Erfahrungen zu einem komplexenMusikstück, das gemeinsam entwickelt und in der TN-Gruppe realisiert wurde, kombiniert. Im dritten Teil einesjeden Blocks beschäftigten wir uns mit verschiedenenMöglichkeiten der Interpretation einer aus dem Angebotwestlicher Kammermusikliteratur von mir vorab ausge-wählten und der Gruppe vorgegebenen Rahmenkompo-sition (3), (4), (5) und (6). In der musikalischen Ausein-andersetzung loteten die TN die interpretatorischen Frei-räume der individuellen Gestaltung aus. In den Rollen alsSpielerInnen und ZuhörerInnen hatten sie die Möglich-keiten von Interpretieren, Wahrnehmen, Analysieren undVergleichen. Die TN erfuhren zugleich eine Fülle vonAnregungen zur Konzeption und Gestaltung der Mikro-und Makrostruktur von Musikstücken. Während desWorkshops stand der Spaß am kreativen Arbeiten ebensoim Vordergrund, wie das unvoreingenommene sich Ein-lassen auf die als Mosaiksteine eines Gesamtkonzeptesim Bereich Neue Musik entwickelten Spielaufgaben. DieVerbindung von Farben und Klängen als Kombinationder akustischen mit der visuellen Ebene stellte hierbeieine Besonderheit der individuellen Ausdrucks- undGestaltungsmittel dar. Dieser Ansatz der Gruppenimpro-visation (7) wurde von mir in der musikpädagogischenPraxiserfahrung entwickelt und hat sich in langjährigerPraxisanwendung im Hochschulbereich bewährt.

Alle TN konnten sich sehr gut auf den Inhalt der Lehr-veranstaltung einlassen. So waren Beteiligung und Mit-arbeit der Studierenden optimal. Da der Workshop mit-ten in der Veranstaltungszeit der Musikakademie lag undrelativ kurzfristig organisiert war, entstanden einigeRaum- und Zeitprobleme, die jedoch schnell vor Ortgeklärt werden konnten. Besonders gefreut hat mich,dass zeitweise einige Kolleginnen trotz ihres vollen Ter-minplans begeistert mitgespielt bzw. interessiert zuge-hört haben. Die Verständigung lief in Deutsch, Englischund Rumänisch, es fand sich immer jemand der dol-metschte.

Die Ausstattung der Unterrichtsräume hatte bei weitemnicht den Standard und den Komfort einer deutschenMusikhochschule. Trotzdem war das keine beim gemein-samen Musizieren spürbare Einschränkung. Entstandeneorganisatorische Probleme wurden durch das Könnenund die Musikalität der TN wettgemacht, so die Begren-zung der zur Verfügung gestellten Räume auf zwei an-einander angrenzende relativ kleine Räume, vollgestelltmit Klavier und verschiedenen Perkussionsinstrumenten,so dass z.B. die Durchführung von Spielaufgaben mitBewegung nicht möglich war. Ich musste also auch beider Durchführung des Workshops improvisieren, wasaufgrund der flexibel gestalteten Spielaufgaben ohneweiteres möglich war.

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tagungen & kurse

ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003 55

Aufgrund der knapp bemessenen Unterrichtszeit für dasgemeinsame Improvisieren wurde auf ein Abschlusskon-zert verzichtet. Der Prozess der Erarbeitung der Work-shopinhalte war allen Beteiligten wichtiger als die Prä-sentation der Lernergebnisse nach außen. Diese Projektmit einem zweiten Gruppenimprovisationsworkshopfortzusetzen, in dem es um die individuelle Konzeptionund die gemeinsame Realisierung und Gestaltung kom-plexer spartenübergreifender Spielkonzepte geht, istgeplant.

Ausblick

Mit meinem Workshop habe ich einigen rumänischenStudentInnen einen Musikbereich nähergebracht, mitdem sie sich in ihrer Ausbildung nicht oder nur am Ran-de auseinandersetzen und der seit 1976 einen Schwer-punkt in der Oldenburger Musikpädagogikausbildungbildet. Der Workshop hat alle TN begeistert. Die Wich-tigkeit von Gruppenimprovisation und Interpretationzeitgenössischer Musik als Studieninhalte wurde von denrumänischen StudentInnen und KollegInnen bestätigt. Eswar eine sehr intensive Woche mit sehr viel Musik. Kon-zerte des Hochschulorchesters und -chores, Kammermu-sik und Folklore standen auf dem Programm ebenso wieBesichtigungen und Ausflüge. Die rumänische Gast-freundschaft und Herzlichkeit hat mich beeindruckt. Ichhabe mich auch sehr gefreut, zwei rumänische Musikpä-dagoginnen wiederzutreffen und so die Kontakte frühererJahre aus Deutschland zu vertiefen. Auch neue Kontaktezu KollegInnen der Partnerhochschule gaben Impulse fürzukünftige Projekte. Voneinander lernen, miteinanderMusik erleben und gemeinsam Musikbereiche entdecken- das war und ist die spannende Herausforderung dieserHochschulpartnerschaft.

Literatur:

(1) Nimczik, Ortwin/ Rüdiger, Wolfgang: InstrumentalesEnsemblespiel, Übungen und Improvisationen - klas-sische und neue Modelle, Material- und Basisband,ConBrio 1997

(2) Karkoschka, Erhard: Das Schriftbild der Neuen Mu-sik, Moeck Verlag 1966

(3) Cage, John: Five, Henmar Press New York 1988(4) Bauckholt, Carola: Quintett in freier Besetzung,

Thürmchen Verlag Köln 1989(5) Heller, Barbara: Stationen, Furore Verlag Kassel

1994(6) Heller, Barbara: Domino, Furore Verlag Kassel 1993(7) Levens, Ulla: Wir machen Musik mit Farben und

Klängen: Spielideen und Lernerfahrungen durchGruppenimprovisation, Oldenburger VorDrucke, Di-daktisches Zentrum der C.v.O.- Universität Olden-burg 2003 (im Druck)

Ulla Levens

(Ulla Levens ist Dozentin für Geige/Bratsche, Kammer-musik und Gruppenimprovisation an der Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg und Mitglied des ErstenImprovisierenden Streichorchesters).

HERBSTTAGUNG 2002 des Rings im Jugendhof Vlotho - ein ReiseberichtNach Vlotho kommt man nur mit einem Zug, der keinenSchaffner hat. Keine Auskunft ist zu bekommen in die-sem Zug. Wahrscheinlich ist es immer dunkel und regne-risch, wenn man hier ankommt. Nur ein Ruf ("ist das hierVlotho?") bringt Klarheit über den Namen der Bahnsta-tion. Allein im Westen. Und im Dunkeln. Wo bitte isthier dieser ominöse Jugendhof? Können die ihreHerbsttagung nicht an einem etwas bekannteren Ortmachen? "Hallo, ich fahr' auch zur Herbsttagung - davorn steht das Taxi, Du kannst gleich mit zum Jugendhofkommen!"... Zufälle gibt's! ...

"Stimme - Geste - Raum": Peter Ausländer hat den Un-tertitel zur diesjährigen Herbsttagung vergessen! - "EineFahrt ins Ungewisse..." Denn mit 'Raum' ist nicht irgend-ein Raum gemeint, sondern der sogenannte 'öffentliche'.Schon am Vormittag des zweiten Tages wird es alsohinaus aus dem geschützten Rahmen des Jugendhofesund hinein ins Viothoer Stadtleben, genauer gesagt inausgewählte Ladenlokale - z.T. mit Publikumsverkehr -gehen. Inspiriert vom konkreten Ort sollen wir versu-chen, nach kurzer Vorbereitungszeit eine zur Situationpassende Aktion zu gestalten. [Ganz schön kalt dasFahrwasser, in das wir hier geraten sind!]

Bloß gut, dass wir am Freitagabend daran noch nichtdenken. Bloß gut, dass Peter Ausländer schon zu Beginnso schöne, so witzige und so gute Ideen mit uns realisiertund uns mit diesen Übungen ganz nebenbei auf die sams-täglichen Performances vorbereitet.

Aber was heißt vorbereitet.... . Der berechtigte Wider-spruch aus der Gruppe folgt Samstag auf dem Fuße -erwischt P.A. aber nicht auf dem falschen. Die Ver-schmitztheit und Ruhe seiner Reaktion ist vielsagend.Peters Beispiel des Jungen, der - mit Verweis auf diemögliche Verletzungsgefahr - das Gehenlernen liebersein lässt, habe ich bis heute nicht vergessen. Die für denAbend vorgesehene Performance im Café "MULI" wirdim Ergebnis der Diskussion nicht abgesagt, aber offengelassen. Als wir Bier, Apfelsaft und Wein trinkend dortum einen Tisch herum sitzen, entsteht sie fast von allein,zum richtigen Zeitpunkt, aus freier Entscheidung, mitungewissem Ausgang....

Summa summarum: Ich finde mich mit meiner Stimme,meiner Stimmung und meiner Körperlichkeit im Raum.Ich erfinde aus mir selbst heraus Kombinationen vonKlängen, Gesten und Bewegungen, die dieser Körper-lichkeit, dieser Stimmung und dieser Stimme Ausdruckverleihen. Andere Menschen hören und sehen mich - undziehen womöglich ihre Schlüsse. Die "Anderen" zeigenmir - allein durch ihre Anwesenheit - überdeutlich, wases heißt, zu improvisieren: sich dem Ungewissen auszu-setzen. Es ist wie im richtigen Leben: Wer wagt, kannauch gewinnen.

Marno Schulze

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berichte

56 ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003

FRÜHJAHRSTAGUNG 2003des Rings für GruppenimprovisationDie diesjährige Frühjahrstagung vom 2. – 4. Mai inSchlüchtern war dem Thema „Improvisation nach Kon-zepten“ gewidmet. Neben den Moderatoren MatthiasSchwabe und Herwig von Kieseritzky fanden sich 15Musiker aus ganz Deutschland, Dänemark und Öster-reich ein.

Die musikalischen Hintergründe (Musiktherapie, klassi-sche Musikausbildung etc.) waren ebenso vielfältig wiedie Motivationen an der Tagung teilzunehmen. Diesereichten von der puren Lust auf das gemeinsame Musi-zieren über den Wunsch Impulse für die musikpädagogi-sche Arbeit zu erhalten bis zur kritischen Auseinander-setzung mit eigenen Vorbehalten gegenüber dem Ta-gungsthema. Da die Auswahl an Konzepten reichhaltigund vielfältig war, gelang es, allen gerecht zu werden.

Nachdem wir in spontan gebildeten Kleingruppen rund-um verteilte graphische Vorgaben direkt realisiert hatten,war eine lockere Atmosphäre entstanden und jeder hatteeinen ersten musikalischen Eindruck der anderen Teil-nehmer. Bei der Vorstellung der mitgebrachten Konzepte(z.T. aus Ringgespräch LXVIII, aber auch Kompositio-nen von John Cage, Steve Reich u.a.), wurde mir per-sönlich erst bewusst, dass an diesem Ort nicht über dasalte Thema der Grenze zwischen Komposition und Im-provisation diskutiert werden würde. Es sollte schlichtdarum gehen, sich mit Neugier auf eine Vorgabe einzu-lassen, und mit der eigenen improvisatorischen Erfah-rung etwas daraus zu machen.

Die Urheberfrage war zwar deutlich präsent, wurde abernicht problematisiert, sondern mit einem Augenzwinkernerwähnt: “ Gehört das Stück jetzt Stockhausen oder uns?Und wie ist das bei Globokar...?“

Mit dieser angenehm unverkrampften Haltung demThema gegenüber wurde sehr intensiv und konzentriertan einzelnen Stücken gearbeitet. Am Samstag verteiltenwir uns in drei Arbeitsgruppen auf verschiedene Räume.Die kleinste Gruppe versammelte sich um Ivan Vincze,sie realisierten u.a. dessen Kompositionen, eine Gruppeließ sich auf vokale (Chor)konzepte ein und die Gruppe,zu der ich gehörte, beschäftigte sich mit verbalen Spiel-anweisungen.

Wir hatten uns Vorlagen von Globokar und Spahlingerausgesucht. Zwei Sätze Text genügten, um uns über einelange Zeit zu beschäftigen. Unsere Vorstellungskraft undErfahrung reichten aus, um schon im Vorhinein beurtei-len zu können, was für uns spannend sein würde, oderum gegebenenfalls gewisse Anteile zu verändern oderwegzulassen (wozu Globokar ausdrücklich auffordert).

Spielen, darüber Sprechen, etwas verändern, wiederspielen – war ein Ablauf, der sich sehr bewährte. DieFokussierung mittels eines Konzepts auf ein bestimmtesParameter bringt den einzelnen Spieler und auch dieGruppe an Grenzen, die im freien Spiel seltener erreichtwerden. Auf diesen Aspekt reduziert, wäre das Konzept-spielen quasi eine Übung für freies Improvisieren. Aller-dings entstand dabei jedesmal gute Musik und die ein-

zelnen Versionen enthielten in ihrer Verschiedenheit alsGrundcharakter die „Idee“ des Konzepts. Die Arbeit mitverbalen Anweisungen machte es möglich, sich einebestimmte Idee einzuprägen, beim Spielen jedoch unab-hängig von einer Vorlage (Noten, Graphik o.ä.) zu sein.Somit war es möglich, die Intensität und Unmittelbarkeitzu erhalten, die ich vom freien Spielen her kenne.

In einem internen Konzert am Samstagabend wurden dieErgebnisse der einzelnen Arbeitsgruppen präsentiert. EinTeil der ausgewählten Konzepte enthielt weitaus kon-kretere Vorgaben. Ich empfand die Stücke mit vorgege-benem Tonmaterial längst nicht so intensiv in der musi-kalischen Wirkung. Möglicherweise reicht allein dieVorgabe bestimmter Tonhöhen, um dem Musiker sovielEigenverantwortung abzunehmen, dass er sich zu sehrauf das „Funktionieren“ der Vorlage verlässt, und damitdas Halten der Spannung gefährdet.Die Realisierung von Chormusik für eine Gruppe vonwenigen und teils unerfahrenen Vokalisten musste eineprozessorientierte Erfahrung bleiben, wobei das präsen-tierte Ergebnis durchaus eine Vorstellung eröffnenkonnte, was chorisch möglich ist.

Die Kombination und Überlagerung verschiedener Flu-xus-Konzepte zu einem „Fluxus-Mix“ (mit Wasserge-räuschen, Regenschirm-Duell, und anderen theatrali-schen Aktionen) hat gut funktioniert und Spielern wieZuhörern größten Spaß bereitet.

Den Sonntagvormittag widmeten wir in großer Rundeder Realisierung von zwei Kompositionen, wobei jeweilszwei Versionen gespielt wurden. Bei Stockhausen spal-tete sich die Gruppe in zwei Lager: die einen wollten denText ganz wörtlich nehmen („spiele einen Ton...“), dieanderen fanden es wichtig, bekannte Aussagen Stock-hausens zu diesem Stück mit zu berücksichtigen. Wiederergaben sich zwei verschiedene Versionen, die die glei-che „Idee“ erahnen ließen.

Die Beschäftigung mit „Stones“ von Christian Wolffwar, neben den Fluxus-Stücken, die experimentellsteArbeit. Auch hier zeigten sich verschiedene Einstellun-gen : liegt der Schwerpunkt auf dem Zulassen des Spiel-triebs (ausprobieren, Steine kullern lassen...) oder auf dermusikalischen Gesamtgestalt? Außerdem machten wirdie deutliche Erfahrung, wie das Hören einer ersten Ver-sion das Spielen der zweiten beeinflusst.

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tagungen & kurse

ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003 57

Die Atmosphäre innerhalb der Gruppe ließ es zu, dassverschiedene Haltungen nebeneinander stehen konnten,jede Art der Herangehensweise hatte ihre Berechtigungund brachte je eigene interessante Aspekte hervor.

Da wir bis zum Schluss intensiv musiziert hatten, bliebfür ein abschließendes Resümee keine Zeit. Die Einstel-lung zum Improvisieren nach Konzepten hat sich fürmanche im Laufe dieser drei Tage gewiss verändert.

Insgesamt ist zu betonen, dass unter den Tagungsteil-nehmern viele erfahrene Improvisatoren waren, die esgewöhnt sind, sich auf andere Spieler und deren Eigen-heiten einzulassen und gleichzeitig ein Höchstmaß anVerantwortung für die Musik, die entsteht, zu überneh-men. Dass dies ideale Voraussetzungen auch für dieUmsetzung von Improvisationskonzepten sind, brauchtwohl kaum erwähnt zu werden.

Margret Trescher

SYMPOSIUM IMPROVISIERTE MUSIKin Kleinsassen / RhönKleinsassen ist ein Dorf in der Nähe von Fulda. Dasneben der Kirche größte Gebäude ist die Kunststation,am Ortsrand im Grünen gelegen. Mit ihren großzügigenAusstellungsräumen, in deren einem sogar ein Flügelsteht, bietet sie beste Voraussetzungen, darin ein Sympo-sium für Improvisierte Musik zu veranstalten.Konzerte, Gespräche und reichlich Gelegenheit zumSpielen in ad-hoc-Gruppen sind Programm eines Kon-zepts, das die Veranstaltung als offene Kollektiv-Werk-statt in lockerer und konzentrierter Arbeitsatmosphärefür maximal 30 Teilnehmende vorstellt. Gemeinsamentwickelt haben es Mitglieder der Landesarbeitsgemein-schaft Jazz und Improvisierte Musik Hessen und Jazz-freunde Fulda e.V. (wobei sich von Jazz niemand irritie-ren lassen sollte), um schon in der Form dem Inhalt desSymposiums gerecht zu werden.Sein Verlauf zwischen Samstagmittag und Sonntagabendfolgt einem flexiblen Zeitgerüst, innerhalb dessen dieorganisatorischen Belange soweit geklärt sind, dass sichdie TeilnehmerInnen ihrem Thema voll und ganz zuwen-den können: freie Improvisation als eigenständige Praxisim Kontext zeitgenössischer Musik konkretisiert sich alsdas, was die Beteiligten daraus machen.Statt eines oder mehrerer Dozenten tragen den Ablaufder Zusammenkunft verantwortlich bis zu zehn Mitglie-der der LAG, die als Ensemble-H-Pool musikalisch beider Bildung von ad-hoc-Ensembles wie auch gesprächs-weise als KommunikatorInnen präsent sind.Einer ersten Spielrunde mit spontan zusammen gestelltenGruppen folgt ein erstes öffentliches Konzert mit demEnsemble-H-Pool, womit schon ausreichend Stoff fürspätabendliche Gespräche geschaffen ist. Darin dreht essich sowohl um die ästhetischen Aspekte der musikali-schen Improvisation als auch die kommunikativen, weildas Improvisieren – zumal das „frei“ genannte – natür-lich neben künstlerischen erfahrungsgemäß auch sozialeFragestellungen aufwirft.

Der Sonntagvormittag ist weiterer ad-hoc-Gruppenbil-dung vorbehalten, aus der heraus sich in fließendemÜbergang die Gestaltung des zweiten öffentlichen Kon-zerts mit Ensembles aller Beteiligten ergibt. Der ehergeringe Publikumszuspruch von außen bewirkt hier kei-ne Stimmungstrübung, da das Symposium allein schoneine eigene Öffentlichkeit darstellt und gegenseitigesZuhören sich – je nach Kondition – für alle gebietet. Dieabschließende Gesprächsrunde jedenfalls ist immer aucheine Reflexion des Gespielten resp. Gehörten und ent-scheidet darüber, ob ein open end mit weiteren ad-hoc-Gruppen gewünscht wird.Der zentrale Gegenstand des Symposiums sind Prozess-haftigkeit und Indeterminiertheit des konkreten Ereignis-ses. Daher sind die drei bisherigen Zusammenkünftetrotz des weitgehend beibehaltenen Konzepts und derüberwiegend wiederkehrenden Teilnehmenden (u.a. ausHamburg, Berlin, Köln und München) durchaus ver-schieden ausgefallen.Garantiert wird dies allein schon durch die Unterschied-lichkeit der Herkünfte resp. Erfahrungsstände und zwi-schenzeitlichen Entwicklungsschritte sowohl der ange-sprochenen TeilnehmerInnen als auch der Pool-Mitglie-der, deren Kompetenz und Engagement im übrigen auchkünstlerische Ernsthaftigkeit und kommunikative Ver-bindlichkeit der Veranstaltung sicherstellen.Der Diskurs zur auf dem Symposium erklingenden Mu-sik als einer, die der Authentizität wegen auf jeglicheVorgaben verzichtet, kreist bezeichnenderweise immerwieder um die Facetten des Begriffs der nicht-idioma-tischen Improvisation (nach Bailey): „Die Vorstellungeiner nicht-idiomatischen Musik, wie sie Derek Baileyformulierte, meinte nicht das Neu-Erfinden des eigenenSpiels bei jedem Anlass, die permanente tabula rasa,sondern zielte ab auf das vorab Unkategorisierbare desZusammentreffens mehrerer Musiker, die ihre eigenen,oft inkompatiblen Sprachen sprechen. Mag auch jedersein persönliches Idiom mitbringen, so ist das kollektiveErgebnis doch keineswegs idiomatisch vorprogram-miert.“ (Peter-Niklas Wilson)Insofern ist der hohe Anspruchsrahmen des Symposiumsabgesteckt; mit einem dank Landesförderung sehr gerin-gen, die Selbstkosten für Verpflegung und Unterbrin-gung deckenden Teilnahmebeitrag kann dagegen dieEinstiegsschwelle bislang noch niedrig gehalten werden.Ob damit auch in weiterer Zukunft noch gerechnet wer-den kann, muss jedoch dahingestellt bleiben. Zu hoffenist, dass diesem Symposium nicht das gleiche Schicksalzuteil wird wie seinem „urbanen“ Pendant, denFUSSNOTEN – Improvisierte Musik im Kontext. Demwurde nämlich kürzlich der Landeszuschuss (aus demEtat für Jazzförderung) auf Empfehlung einer neuen Jurygestrichen – FUSSNOTEN 7) in Gießen fand trotzdemstatt und hat ein neues Betätigungsfeld gefunden: dieBemühung um einen neuen Landesförderetat für Impro-visierte Musik...Das Symposium Improvisierte Musik in der KunststationKleinsassen 2003 wird dessen ungeachtet am 6. und 7.September stattfinden. Informationen sind unter 06657-919658 (fon) bzw. 8399 (fax) bei Johanna Walther oderunter [email protected] erhältlich.

Wolfgang Schliemann

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berichte

58 ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003

KONZERTE"FRÜHLINGSBEBEN"Improvisationskonzert von "peter hoch &friends" in TrossingenDer in Trossingen ansässige Komponist und Improvisa-tionsmusiker Peter Hoch hatte Kolleginnen und Kolle-gen zu einem "Frühlingsbeben" am 29. März in denKulturspeicher des Klavierhaus Hermann nach Trossin-gen eingeladen.

Für die Pianisten Claudia Ulla Binder aus Zürich, UliJohannes Kieckbusch, Balingen und Gerd Lisken, Biele-feld, stellte das Klavierhaus zwei hervorragende handmade S4 Yamaha Flügel bereit. Peter Hoch brachte zu-sätzlich noch ein ganzes Arsenal an Klangerzeugern mitund die Blockflötisten Eiko Yamada, Heidelberg undAlbrecht Barth, Bernau, hatten alle Instrumente derBlockflötenfamilie zur Verfügung. Die sechs Musikerund ihr Instrumentarium erlaubten ein abwechslungsrei-ches Programm in vielfältigen Besetzungen-. 4 Pianistenan zwei Flügeln, Duette von Pianisten und Flötisten,Triobesetzungen an zwei Flügeln oder mit Piano, Block-flöte und Percussion, Soli und Tutti.

Die Veranstaltung fand außerdem in einer besonderenForm statt: von 17:00 bis 20:00 Uhr konnten die Besu-cher nach Belieben kommen und gehen; dazwischenwurde in einer ausgedehnten Pause zu einem Umtrunkund einem Imbiss eingeladen, um mit den Zuhörern insGespräch zu kommen. Dieser kommunikative Aspekt,zusammen mit der intensiven Hörbereitschaft und derinspirierenden "Werkstatt"-Atmosphäre, fanden beimPublikum große, positive Resonanz; viele der Besucherblieben drei Stunden lang bis der letzte Ton verklungenwar. In einer Zeit, in der die Popmusik den allgemeinenMusikgeschmack beherrscht und als das Kulturgut insBewußtsein der Menschen gerückt wird, ist es nicht hochgenug zu schätzen, dass Zuhörer von der Einmaligkeitdieser Musik zu beeindrucken und zu begeistern waren.Dazu trugen allerdings die sechs Musiker bei, die dankihrer technischen Fertigkeiten und ihrer umfassendenmusikalischen Erfahrungen ein Publikum - dem solcher-lei Musik noch nie zu Ohren kam - mit der Intensitätihres Spiels in den Bann ziehen und faszinieren können.

Ein Ausschnitt des Konzertes wird als Mitschnitt aufeiner CD dokumentiert.

CDs & BÜCHERIndiviDuo: ein ander hörenDie CD-Produktion einer improvisatorischen Live-Aktion ist die Stunde der Wahrheit: Trägt die Musikauch jenseits der Aufführungs-Atmosphäre und dem beiImprovisation stets mehr oder weniger vorhandenenPerformance-Charakter? Hat das reine Klangerlebniswirklich musikalische Substanz? Rechtfertigt die Musikdas mehrmalige Anhören?

Die Geigerin und Bratschistin Rike Kohlhepp und der(kompositorisch ausgebildete) Pianist Thomas Reuter,die seit 5 Jahren gemeinsam improvisierend als Indivi-Duo auftreten - haben sich dieser Herausforderung ge-stellt und präsentieren mit ihrer CD ein ander hören denLive-Mitschnitt eines Konzertes vom Januar 2002 inKassel. Dem Ablauf liegen weit gefasste Vereinbarungenzugrunde: eine Folge frei gestalteter Sätze als Suite, dieräumliche Trennung der Spieler, die Einbeziehung derStimme, die Konzentration auf den Verlauf der Klang-farben im einen Stück, auf die verschiedenen Qualitätendes Rhythmus und der Bewegung in einem anderenu.v.m.

Die beiden Akteure sind glänzend aufeinander einge-spielt. Von der totalen Verschmelzung bis zur völligenIndividualisierung kosten sie die Möglichkeiten der mu-sikalischen Interaktion genüsslich aus. Sie agieren mitüberbordender Spiellaune und zugleich mit Lust an prä-ziser farblicher Nuancierung ebenso wie an der Spielbe-wegung und den daraus resultierenden rhythmischenGestaltungs- und Variationsmöglichkeiten. Dabei de-monstrieren sie einen souveränen Umgang mit dem Ton-höhenmaterial. Insbesondere der Klavierpart verblüfftmit atmosphärisch präzise ausgehörten Vielklängen;bisweilen wie Erinnerungsbilder aufblitzende tonaleElemente fügen sich wie fremdartige Puzzleteile in eineunvorhersehbare und darum umso spannendere Ordnungein.

Das Besondere aber an dieser vorwiegend ästhetischenund klangschönen Musik ist deren heiter-nachdenklicherGrundcharakter. Schwere, Pathos, selbst Dramatik ist ihrfern, vielmehr sucht und findet sie ihren Mittelpunkt inder Stille, im genauen Hören, im sorgfältigen zeitlichenund klanglichen Dosieren, das eine merkwürdige unddoch sehr überzeugende Verbindung mit lustvoller - undtrotzdem wohlbemessener - Ausgelassenheit und einemSinn für gestalterische Verspieltheit und dezenten Humoreingeht.

Alles in allem ein geglücktes musikalisches Ereignis, dasauf CD zu konservieren sich wahrlich lohnt und auchnach wiederholtem Anhören immer noch nach mehrverlangt!

Matthias Schwabe

IndiviDuo: ein ander hören, upalarecords 99015.Vertrieb: Opal Verlag, Wilhelmshöher Weg 47,34128 Kassel, www.upala.de

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cds & bücher

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Felix Klopotek: HOW THEY DO IT FreeJazz, Improvisation und NiemandsmusikDie Schubladen sind voll, die Texte müssen raus. Es istdiese Art von Musikbuch. Da hat einer sechs Jahre lang,von 1996 bis 2002, protokolliert, räsoniert, rezensiert,theoretisiert, hier und da veröffentlicht, wo man eben inDeutschland veröffentlichen konnte über Free Jazz, Im-provisation und «Niemandsmusik», was soviel heißt wieaktuelle Musik, von der keiner so recht weiß, wo siehingehört, avancierte DJ-Kultur, Elektronik, haltloserGitarrenlärm. Die Schubladen sind voll, und eigentlichist es ein bisschen schade um die Texte, die da so ver-streut in der Welt sind. Es ist diese Art von Buch, unddiese Bücher werden gebraucht. Als Bestandsaufnahme,Gedächtnisprotokoll, Quellensammlung. Es geht nichtimmer sehr ordentlich in diesen Büchern zu. Wie könntees auch, bei so unordentlichen Musiken, bei so unter-schiedlichen Textsorten, Medien, Entstehungsanlässen?Man versucht, Text-Stapel zu bilden, Post factum Kapi-tel zu konstruieren: «Free Jazz» (aber passt da derTrompeten-Minimalist Franz Hautzinger wirklich hin-ein?). «Post-Serialismus» (aber ist das wirklich dieSchublade für Keith Rowe?). «Gitarrenrenaissance»(aber ist Derek Bailey ein Wiedergeborener?) Es wärekleinlich, da allzu sehr zu kritteln.

Felix Klopotek, Musikbegeisterter aus Köln, Musik-schreiber, Mittäter auch als Aktivist des GROB-Labels,hat seine Stapel sortiert. Klopotek ist jung, keine dreißig.Aber er hat viel gehört, viel «Repertoirekenntnis» erwor-ben in einem überaus unübersichtlichen, schlecht doku-mentierten Musikkosmos, zu dem Peter Brötzmann zäh-len und Cecil Taylor, AMM und Eugen Chadbourne,Christian Marclay und Jim 0'Rourke, Mouse on Marsund Fennesz. Klopotek ist jung, und seine Texte verbin-den auf entweder sehr lässige oder sehr kunstvolle Weise(ich bin mir da noch nicht sicher) Seminaristenprosa undSzenejargon. Mal geht es ganz akribisch mit Fußnotenzu, dann wird wieder frei assoziiert. Gelegentlich wan-dert Klopotek auf dünnem Eis. So, wenn er über kompo-nierte Neue Musik schreibt, und auf historische Datenund Fakten sollte man ihn nicht unbedingt festnageln.Aber das wäre ja auch eine andere Art von Buch.

Klopotek versammelt die Texte nicht nur, stellt sie nichtnur aus, sondern versieht sie nachträglich mit einer Ebe-ne von Sub-Texten, Marginalien, Fragen. Das ist sym-pathisch, weil es das Unabgeschlossene des Schreibensüber eine so frische Musik erfahrbar macht, die Notwen-digkeit, die gerade gebildeten Kategorien und Hierar-chien sofort wieder zu hinterfragen, wenn die Musik siefalsifiziert. Und das tut sie andauernd, zum Glück.

Peter Niklas Wilson

Felix Klopotek HOW THEY DO ITFree Jazz, Improvisation und NiemandsmusikVentil Verlag, Mainz 2002, 222 Seiten

Aus: Neue Zeitschrift für Musik 3/2003, copyright: NeueZeitschrift für Musik, Postfach 3640, 55026 Mainz

Christopher Dell:PRINZIP IMPROVISATIONEine Straßenszene in Kairo aus der Vogelperspektive:kreuz und quer um eine Verkehrsinsel herumstehendeBusse und Autos, dazwischen hin- und herwuselndeMenschengruppen. Chaos pur, und irgendwie funktio-niert dieses urbane System doch - dank des «PrinzipsImprovisation». Das Foto ziert den Schutzumschlag vonChristopher Dells gleichnamigem Buch, und man darf esals Metapher lesen: Improvisation nicht allein als künst-lerische Strategie, sondern als «Sozialtechnologie», dieeinen «Flow» auch dort ermöglicht, wo Rationalität ander Komplexität der Situation scheitert.

Die Literatur über musikalische Improvisation ist über-schaubar. Derek Balleys Klassiker Improvisation. ItsNature and Practice in Music versuchte, das weite Pano-rama von Improvisation zwischen Barock, Flamenco und«nicht-idiomatischer», sprich: «freier» Improvisation insBlickfeld zu rücken, Improvisation eher als Normaldennals Sonderfall musikalischen Handelns darzustellen.Eddie Prévost war mit No Sound is Innocent der Phä-nomenologie des «MetaMusician» auf der Spur, desImprovisators also als einer Art höherem Musik-Wesen.Und die von Walter Fähndrich herausgegebenen Berichteder Luzerner Improvisationstagungen betonten stets dieweit übers Musikalische herausreichende Relevanz vonImprovisation.

Wenn Prinzip Improvisation irgendwo anschließt, dannam ehesten hier. Ansonsten steht dieses Buch wie einMonolith in der Improvisations-Literatur da. Kein Ver-weis auf vorliegende Publikationen zum Thema, stattdes-sen Rekurs auf Peter Brook, Pierre Bourdieu, HannahArendt, Martin Heidegger oder Aristoteles. Dell entwirfteine Theorie der Improvisation ex nihilo, eine Philoso-phie einer oral tradierten sozialen Handlungsform, die ineinem «bodily turn» lange verdrängtes «Körperwissen»neu verfügbar macht. Kernbegriffe einer solchen inter-disziplinär angelegten Philosophie von Improvisation als«im Handeln begriffener Intuition» sind «Kairos», dergünstige Augenblick, und «Metis», eine Form der prakti-schen Intelligenz, die eben jenen opportunen Momentgeistesgegenwärtig zu ergreifen vermag.

Was diesen Entwurf indes mühsam zu verfolgen macht,ist sein hoher Abstraktionsgrad. Nur selten nennt DellBeispiele aus sozialer oder künstlerischer Praxis. Sobleibt der Text eine Folge von Setzungen, die der Lesermehr oder weniger plausibel finden mag. Nicht minderfragwürdig scheint Dells stete Rede von Improvisationim Singular, seine Hypostatisierung von Improvisationzu einer homogenen, nicht weiter differenzierten Größe -als stünde nicht gerade der Begriff Improvisation füreinen ganzen Komplex heterogener Motivationen undHandlungsformen. Doch dies ist wohl der Preis vonDells Absage an den Diskurs mit der vorliegenden Lite-ratur, eine Absage, die bei Dells emphatischer Betonungdes kommunikativen Impetus von Improvisation um sowidersinniger wirkt. So werden wir auf ChristopherDells angekündigte Abhandlung zur Technologie der

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berichte

60 ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003

Improvisation warten müssen, um die Plausibilität derTheorie am praktischen Exempel überprüfen zu können.

Peter Niklas Wilson

Christopher Dell: PRINZIP IMPROVISATION, Verlagder Buchhandlung Walther König, Köln 2002, 268Seiten

Aus: Neue Zeitschrift für Musik 3/2003, copyright: NeueZeitschrift für Musik, Postfach 3640, 55026 Mainz

Gertrud Meyer Denkmann: KÖRPER - GESTEN - KLÄNGEDas kürzeste Kapitel steht am Anfang: dort sagt GertrudMeyer Denkmann, was dieses Arbeitsbuch nicht seinsoll: keine Klavierschule, kein Dogma einer neuen Kla-viertechnik, kein vollständiges Technik- oder Improvisa-tionsprogramm.

Auf mehr als 160 Seiten dann, im praktischen Querfor-mat, entwickelt sie, was sie stattdessen meint: sie be-schreibt als Ausgangspunkt den Körper (des Spielers),seine Gesten, seine Bewegungs- und Klanggesten. Sienimmt den Begriff der Geste, den Vilem Flusser be-schrieben hat als eine Körperbewegung, bei der es sichum eine Sinngebung handelt, beim Wort und wandertunter diesem Aspekt durch verschiedenste Klang- undAusdrucksbereiche der Neuen, aber auch der Alten Mu-sik. Der Spieler soll sich dem Klang mit Atem, Bewe-gung und Stimme nähern. Hier ist nicht Bewegung nurMittel zum Klang, sondern Klang ist Bewegung: er be-wegt und wird bewegt.

Eine Fülle von Spielmaterialien sind zusammengetragenund unter verschiedensten Aspekten von Gesten geord-net. Dabei ist dies ein wirkliches Arbeitsbuch: mit Er-läuterungen, Anregungen, Aufgaben, um ins Spiel zukommen; und damit alles ganz klar wird, meist auch vonder grafischen Seite zusätzlich in Notation oder grafi-scher Notation dargestellt.

Das Kapitel „Gesten der Körpersprache“ stellt elementa-res Spiel mit Hand- und Armclustern in den Mittelpunkt:von der Bewegungsgeste, der schlichten Bewegung, zurKlanggeste, zu geformten strukturierten musikalischenZeitabläufen. „Gesten taktiler Kontakte“ im 2. Kapitelmeint sowohl das Spielen auf dem Gehäuse, dem Rah-men, dem Deckel als auch Improvisationen mit denKlanggesten als Alternative zu Fingerübungen. Ein ganzneuer Umgang mit „Technik“ tut sich hier auf. Im drittenKapitel unter dem Begriff „Gesten der Klangerzeugung“sind alle ungewöhnlichen Klänge des Instrumentes zumErproben freigegeben: Obertonspiel, Harmonics, Filterusw.

Im Zentrum des Arbeitsbuches steht die Klangwelt derNeuen Musik: Literaturbeispiele zu Cluster- und Ak-kordtechniken (u.a. Cowell, Ustwolskaja, Brown, Kagel),wobei nur Ausschnitte - und daraus abgeleitet, Auffüh-rungsvorschläge - vorgestellt werden, an denen dann dieWirkung der bisher improvisatorisch erarbeiteten Cluster

auch in kompositorischem Zusammenhang erfahrenwerden.

Improvisationsvorschläge, die abgeleitet wurden ausKompositionen, sind in einem weiteren Kapitel einerseitsHeranführung an Werke von Beethoven (!), Debussy,Cowell, Kurtág, Klaus Huber, Boulez, Stockhausen,B.Heller, Nikolaus A. Huber, Zender, Messiaen, Schne-bel, andererseits eigenständiges Klangerforschen undImprovisieren. An den Variationen für Klavier op.27 vonAnton Webern wird das Prinzip, Werke in einzelnenSchritten durch Klangerforschung in Improvisation zuerarbeiten, an einem „Klassiker“ demonstriert.

Die weiteren Kapitel sind eine anregende und faszinie-rende Sammlung von Materialien für Stücke, Improvisa-tionen, Performances, musiktheatrale Aktionen, an denendeutlich wird, dass Gertrud Meyer Denkmann eine dererfahrensten Kennerinnen der Entwicklung der NeuenMusik der letzten Jahrzehnte ist.

Das Kapitel „Gesten der Klangrede“ beschäftigt sich mitdem Verhältnis von Texten und Musik, vor allem denSpielanweisungen von Schumann und Satie, aber auchKompositionen von Hespos und dem gemeinsamen „Di-alogisieren“ an einem oder zwei Klavieren. Instrumen-tales Theater von Schnebel und Kagel, aber auch selbstinzenierte darstellerische Aktionen stehen im Mittelpunktdes Kapitels „Klanggesten als Visible Music“. Und kei-neswegs Geschichte, (wie bei Aufführungen während derletzten Ringtagung deutlich wurde), sind die unter demTitel „Gesten der Verweigerung“ zusammengefasstenFluxus-Texte und Kompositionen .

Dieses Arbeitsbuch bietet eine Fülle von Anregungen fürdiejenigen Klavierspieler und -Pädagogen, die abseits derPfade des Üblichen Literatur und Spielmaterial suchen.Improvisation ist hier einerseits die Erforschung undErfahrung mit Klang- und Spielmaterial, andererseitseigenständiges künstlerisches Ausdrucksmittel, dasSpieler und Schüler zum Arbeiten und Bearbeiten diesesgewiss nicht so populären Musikbereiches anregt.

Reinhard Gagel

Gertrud Meyer-Denkmann: Körper - Gesten - Klänge.Vorschläge zur Improvisation, Interpretation undKomposition neuer Musik am Klavier, Saarbrücken1998

Wilfried Gruhn: DER MUSIKVERSTAND

Wilfried Gruhn, Professor für Musikpädagogik an derMusikhochschule Freiburg, beschäftigt sich in diesemBuch mit einer Frage, die sicher alle diejenigen interes-siert, die mit Musikunterricht in der einen oder anderenForm zu tun haben: Wie „funktioniert“ Musiklernen?Oder, präziser ausgedrückt: Welche neuropsychologi-schen und -physiologischen Prozesse laufen eigentlichab, wenn wir Musik hören und lernen?

Die Lernforschung ist ein brandaktuelles Thema derHirnforschung, und erst durch neue, in den letzten Jahrenentwickelte Test- und Untersuchungsverfahren ist es

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cds & bücher

ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003 61

heute möglich, neurologische Verarbeitungsprozesse desCortex (der Großhirnrinde, in der alle Wahrnehmungs-verarbeitungsprozesse ablaufen) genauer zu beschreibenund zu verstehen. Wer sich auf diesem Gebiet speziellmit musikalischen Fragen beschäftigt, hat mit besonde-ren Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Frage beispielswei-se, was Musikhören von „normaler“ akustischer Reizver-arbeitung unterscheidet, kann nur dann befriedigendbeantwortet werden, wenn zumindest ansatzweise einge-grenzt wird, was unter Musik zu verstehen sei. Und wennes um solche Begrifflichkeiten wie „Musik verstehen“geht, wird die Sache erst recht kompliziert.

Hier gibt es keine einfachen Lösungen. Gruhns Weg,seine Leserschaft an dieses Themengebiet heranzufüh-ren, ist ebenso einfach wie überzeugend: Detailgenauzeichnet er den Weg seiner Forschungen nach. Ein ge-wisses Basiswissen über neurophysiologische Vorgängeist dabei unerlässlich; dieses wird aber allgemein ver-ständlich und didaktisch gut aufbereitet dargeboten. Werdie Mühe auf sich nimmt, die naturwissenschaftlichenund verfahrenstechnischen Details „über sich ergehen zulassen“, wird durch wirklich interessante Einblicke indiese Forschungsarbeit belohnt.

Die Ergebnisse, die Gruhn zusammenfasst, scheinen aufden ersten Blick (besonders für diejenigen, die viel mitImprovisation arbeiten!) wenig spektakulär: Das Selbst-entdecken ist für Schülerinnen und Schüler besonderswertvoll; es ist in jedem Fall sinnvoll, zunächst musikali-sche Erfahrungen zu machen und diese erst danach sys-tematisch zu strukturieren – was nützt es, die Töne derSubdominantparallele hersagen zu können, wenn mankeine Ahnung hat, wie das klingt?

Gruhns Forschungen bestätigen also, was die moderneMusikpädagogik längst fordert: Nicht Anhäufen vonWissen macht wirkliche musikalische Bildung aus, son-dern der direkte, in der Praxis möglichst freie Umgangmit Musik: Es geht darum, ein produktives Verhältnis zuseiner eigenen musikalischen Erfahrungswelt zu gewin-nen. Dass Improvisation dabei eine bedeutende Rollespielen kann und sollte, liegt auf der Hand, Gruhn betontdies ausdrücklich.

Auf weitere Ergebnisse der auf die Musik bezogenenLernforschung darf man gespannt sein; es bleibt zu hof-fen, dass sich langfristig Auswirkungen auf die allge-meine Praxis des Musikunterrichts ergeben.

Albert Kaul

Wilfried Gruhn: Der Musikverstand. NeurobiologischeGrundlagen des musikalischen Denkens, Hörens undLernens, Georg Olms Verlag 1998

„ICH KLINGE, ALSO BIN ICH!“

Alles wird Musik. Eine spielerische Entde-ckungsreise für Kinder von Beate Quaas.

Dieses Buch ist eine Art Anleitung für Erzieherinnenoder auch Eltern, wie Musik auf vielfältigste Weise in

das Leben von Kindern bzw. in den Kindergarten-Alltageinbezogen werden kann: Musik als selbstverständlichemenschliche Aktivität, die sich auf einige Rituale undSpielregeln stützt, aber keiner präzisen Fixierung bedarf.Der Buchtitel ist Programm: Alles wird Musik.

Es beginnt mit Hören (1. Kapitel). Das Ohr wird ertastet,Klänge werden entdeckt, versteckt, gefunden, die Kinderspüren akustische Schwingungen (mit einem Luftballonin der Hand), nehmen Alltagsgeräusche bewusst war,sprechen darüber, beziehen sie in Verse ein, imitierensie, bewegen sich dazu, reagieren auf musikalische Ges-taltung: laut - leise oder langsam-schnell, erraten darge-stellte Tiere, imitieren einander. All dies geschieht inkleinen Spielen, kurzen Versen oder Geschichten und zuteils ganz beiläufigen Anlässen.

Die Stimme wird entdeckt (2. Kapitel): Situationen, diedas Singen der Kinder fördern, Atem- und Stimmbil-dungsübungen für Kinder - überzeugend und praxis-erprobt! -, Spiele zur stimmlichen Körpererfahrung,Spiele mit stimmlichen Lauten, Worten, Sprachmelodie.Dann Lieder, eher kurze musikalische Formeln, aus demAlltag mit Kindern entwickelt und für den alltäglichenGebrauch geeignet: das Vorfreude-Lied, das Zähneput-zen-Lied, das Lied zum Aufräumen, das Spazieren-gehen-Lied ...

Schließlich kommen die Instrumente an die Reihe (3.Kapitel): zuerst die Körperinstrumente, dann die wun-derbare Musik aus der Hosentasche (Zitat: „Ich klinge,also bin ich“), u.a,. mit dem Vorschlag, eigene Handy-Melodien und SMS-Muster für selbst gebastelte Papp-Handys zu erfinden sowie der Anleitung für ein Hosenta-schenkonzert. Und noch ein Thema, das den Praxisbezugunterstreicht: bewährte Rituale für das Verteilen undauch Einsammeln von Instrumenten. Aber natürlich wirdauch musiziert - mit gemischten Instrumenten, mitTrommeln, auf Blasinstrumenten. Als Anregung dienenimprovisatorische Grundformen von Lilli Friedemann(deren Mitarbeiterin die Autorin früher einmal mehrerelang Jahre war).

Den Abschluss bildet ein kurzes Kapitel über den Einsatzvon CDs.

Dies ist kein Buch über Improvisation im engeren Sinne.Improvisatorische Ideen erscheinen ganz nebenbei undohne großes Aufsehen als eine wichtiger Bestandteil deseigentlichen Themas: Musik zu einer Selbstverständlich-keit im Leben von Kindern zu machen, Geburtshilfe zuleisten für ihre Beziehung zu allem Klingenden, sowohlhörend als auch selbst musizierend. Dass die Autorin beiihren Vorschlägen auf eigene praktische Erfahrung zu-rückgreift - mit ihren eigenen Kindern, mit ihrer Arbeitim Kindergarten und ihrer Tätigkeit in der sozialpäda-gogischen Ausbildung - ist das ganze Buch hindurchspürbar und unterstreicht den Wert ihrer Aussagen. Eineechte Bereicherung für die frühkindliche musikpädagogi-sche Literatur!

Matthias Schwabe

Beate Quaas: ALLES WIRD MUSIK. Eine spielerischeEntdeckungsreise für Kinder, Christophorus-Verlag,Freiburg i. Br. 2003, 60 Seiten

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ring-internes

62 ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003

RING-INTERNES

Seit letzten Sommer sind dem Ring dreizehn neue Mit-glieder beigetreten:

Anne Fricker ist Klavier-, Rhythmik- und Improvisati-onslehrerin und wohnt in Adelberg (Raum Stuttgart)

Masayuki Nakaji hat in Salzburg bei W. Roscher Poly-ästhetische Erziehung studiert und bildet in Tokyo Mu-siklehrer aus.

Sabine Wreski lebt als Musikpädagogin in berlin undgibt u.a. Improvisationskurse für Kinder.

Anne-Oda Würzebesser aus Dresden ist Diplom-Musikpädagogin und Pianistin und unterrichtet auchMusikalische Improvisation.

Gabriele Detering ist Musiktherapeutin und lebt inVelbert. Sie war Teilnehmerin der Herbsttagung 2002.

Anke Ames lebt als Musikerin in Dortmund, spielt Ak-kordeon und Violine und arbeitet im Grenzbereich zwi-schen Improvisation und Komposition. Sie war Teilneh-merin der Frühjahrstagung 2003.

Christine Appelt lebt in Bamberg und war Teilnehmerinbei W. Metzlers Arnoldshainer Improvisationswerkstatt

Wolfgang Schliemann ist Schlagzeuger und Musikpä-dagoge und schon seit vielen Jahren improvisatorischtätig. Er spielt und verschiedenen Besetzungen und istMitinitiator zahlreicher Improvisationsveranstaltungen,insbesondere in und um Wiesbaden. (siehe auch unter“DOKUMENTATION“ in diesem Heft)

Eva Maschke studiert Schulmusik in Hamburg und istMitbegründerin des Improvisations-Ensembles „DieRote Fingur“.

Theresa Hackel ist Musikstudentin in Berlin und eben-falls Mitbegründerin des Improvisations-Ensembles „DieRote Fingur“.

Jeannine Jura studiert Klarinette und Elementare Mu-sikpädagogikund hat ebenfalls das Ensemble „Die RoteFingur“ mitbegründet.

Jonathan Jura studiert in Berlin Korrepetition undkomplettiert das Quartett „Die Rote Fingur“.

Raffael Sommer ist Rhythmiklehrer und Schlagzeugerund lebt in Ludwigsburg (Raum Stuttgart)

Herzlich willkommen im Ring!

Ausgetreten sind Christine von Renesse (Berlin), Edel-traud Schwarz (Stuttgart-Leonberg), Philipp Richter(Lübeck), Silvia Hansen (Berlin) und Gerhard Bartning(Ahrensburg)

Der aktuelle Mitgliederstand des Rings ist 165.

www.impro-ring.de: Seit April dieses Jahres ist die komplette Homepage desRings im Internet. Sie enthält u.a. eine Selbstdarstellungdes Vereins mit Anmeldeformular (beides deutsch undenglisch), das Ring-Jahresprogramm, den Kurskalender,Informationen über das Ringgespräch (u.a. Inhaltsver-zeichnisse und je 1 - 2 Probeartikel von sämtlichen Hef-ten, dazu ein Bestellformular), eine sogenannte „virtuelleBibliothek“ (mit ca. 50 kurz kommentierten Literatur-hinweisen zum Thema Improvisation, aufgeteilt auf 5Themen-Regale) und eine Seite mit Aktuellem. VielenDank an Gundhild Fischer, die diese Seiten sehr über-zeugend gestaltet hat!

Ausblick auf das kommende Jahr. Die Frühjahrstagung2004 wird sich dem Thema „Hören und Improvisieren“widmen. Es soll darum gehen, Aufnahmen von improvi-sierter und komponierter Musik gemeinsam anzuhörenund diese als Anlass zum gemeinsamen Improvisieren zunutzen. Der genaue Termin steht noch nicht fest, wirdaber an einem Mai-Wochenende sein, Veranstaltungsortist voraussichtlich wieder Schlüchtern (Hessen)

Längerfristig gesehen sind wir auf der Suche nach einemneuen Tagungsort als Alternative zu Schlüchtern. An-forderungen: möglichst zentral in der Mitte Deutschlands(Umkreis Kassel wäre perfekt), über ICE-Bahnhof er-reichbar, ruhige Lage, großer Gruppenraum, möglichstmit Flügel, 2-3 Kleingruppenräume wünschenswert,angenehme Raumatmosphäre, gute Küche und trotzdembezahlbar ... schwer zu finden also! Sachdienliche Hin-weise nimmt die Redaktion (siehe Impressum S. 2) ent-gegen.

Zahlungserinnerung

Wer seinen Beitrag 2003 noch nicht entrichtet hat, mö-ge dies bitte möglichst bald nachholen.

Die aktuellen Beitragssätze lauten:

Vollzahler 25 - 40 € (Selbsteinstufung!)

Studenten, RentnerArbeitslose 5 €

Ehepaare, Familien 45 - 70 € (Selbsteinstufung!)

Zahlungen bitte auf das Konto:Ring für GruppenimprovisationKonto-Nr. 47 49 51 - 105Postbank Berlin, BLZ 100 100 10

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ring-informationen

ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003 63

RING-INFORMATIONEN

Die Veranstaltungen des Rings für Gruppenimprovisa-tion im Herbst 2003:

23.-24. August, Bremen:Improvisation in der Gruppe - Musik spielenderfinden für musikalisch und musikpädagogisch Interes-sierte, mit oder ohne Improvisationserfahrung(Leitung: Matthias Schwabe)

12.-14. September, 24.-26. Oktober, 5.-7. Dezember inBerlin: Musikalische Gruppenimprovisation - Intensivkursfür Fortgeschrittene für musikalisch und musikpädago-gisch Interessierte mit Improvisationserfahrung (Leitung:Herwig von Kieseritzky und Matthias Schwabe)

11.-12. Oktober, Köln: 5. IMPROVISIAKUM - ein offener Prozess für im-provisierende MusikerInnen (Organisation und Moderation: Reinhard Gagel)

21.-23. November, Schlüchtern (Hessen)14. Herbsttagung des Rings für Gruppenimprovisati-on mit Peter K Frey (Zürich) als Gestreferent zumThema „Freie Improvisation - Das Er-finden einer nochnie gehörten Musik als ‚anarchischer’ Prozess“

Nähere Angaben sind dem Jahresprogramm des Ringsbzw. den kürzlich verschickten Flyern zu entnehmen.

Weitere Kursangebote sind im KurskalenderImprovisation 2003 abgedruckt.

Beides ist gegen ein Rückporto von je 0,55 € bei derRedaktionsadresse (siehe Impressum S.2) zu erhaltenoder im Internet unter www.impro-ring.de nachzulesen.

Regionale Kontaktpersonen des Rings:

Berlin: Matthias Schwabe, Tel. 030-8472 1050Fax: 030-814 15 03, email: [email protected],

Frankfurt: Gabriele Stenger-Stein Tel. 069-465 142, Fax: 069-3535 8673

Hamburg: Ute Schleicher, Tel./Fax: 04101-851 552

Heidelberg: Eiko Yamada, Tel. 06221-484 973Fax: 06221-474 915, email: [email protected],

Kassel: Barbara Gabler, Tel. 0561-897 352 (Verlag)Fax: 0561-897 352, email: [email protected],

Köln: Reinhard Gagel, Tel./Fax: 0221-590 77 35email: [email protected]

Folgende alte Ausgaben des Ringgesprächs sind zumStückpreis von 3 € zuzüglich Versandkosten käuflich zuerwerben: (bei Abnahme des Gesamtpakets gilt ein ver-günstigter Preis):

• ringgespräch LV, juni 1992:„Zum Gedenken an Lilli Friedemann“

• ringgespräch LVI, dezember 1992:„Zum Gedenken an Lilli Friedemann (2)“

• ringgespräch LVII, juni 1993„Improvisation im Instrumentalunterricht“

• ringgespräch LVIII, januar 1994„Improvisation im Konzert“

• ringgespräch LIX, august 1994„Musik und Bewegung“

• ringgespräch LX, februar 1995„Improvisation in der Schule“

• ringgespräch LXI, november 1995„Improvisation - Haltung oder Handwerk?“

• ringgespräch LXII, juni 1996„Improvisation in Literatur, Tanz, TheaterBildender Kunst und Architektur“

• ringgespräch LXIII, april 1997„Improvisation und ihre Wirkung“

• ringgespräch LXIV, märz 1998„Die Stimme in der Improvisation“

• ringgespräch LXV, märz 1999„Dimensionen der Improvisation“

• ringgespräch LXVI, märz 2000„Improvisation und Spiel“

• ringgespräch LXVII, juni 2001„Qualität in der Improvisation“

• ringgespräch LXVIII, juni 2002„Improvisieren nach Konzepten“

Bestellungen bitte an die Redaktionsadresse (siehe Im-pressum S. 2), Bezahlung nach Erhalt der Sendung,Rechnung liegt bei.

Zum Abonnieren des Ringgesprächs genügt eine form-lose schriftliche Nachricht

München: Dazze Kammerl, Tel. 08151-95 33 44Fax: 95 33 45, email: [email protected]

Österreich: Karen Schlimp, Tel. 0699-1134 6601

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impro-nachrichten

64 ringgespräch über gruppenimprovisation, juni 2003

IMPRO-NACHRICHTEN

Der Grimme-Preis ging in diesem Jahr - kaum zu glau-ben - an eine Improvisation, und zwar - noch unglaub-licher - an eine Fernseh-Improvisation: „Blind Date 2 -Taxi nach Schweinau“ war am 8. Juni 2002 von derARD ausgestrahlt worden. Die beiden Komiker AnkeEngelke und Olli Dittrich hatten sich jeder zuvor eineRolle ausgesucht - sie als Taxifahrerin, er als Fahrgast -und trafen so aufeinander. Allerdings handelte es sichnicht um eine live-Improvisation, vielmehr wurde dasStück aufgezeichnet und geschnitten. Trotz allem - eineder begehrtesten deutschen Film-Trophäen für eine Im-provisation - das ist neu.

Das 4. Symposium Improvisierte Musik in Kleinsas-sen (Rhön) findet am 6.-7. September statt (siehe auchBericht auf S. 57). Information und Anmeldung beiJohanna Walther, Thiergarten, 36145 Hofbieber,Tel. 06657 - 919 658, Fax: 06657 - 8399

Vom 10. bis 16. August findet in Centre de Sornetan einImprovisationskurs „improvisation d’ ensemble“ mitHansjürgen Wäldele und Nicolas Rihs statt: „VomAbschätzen des Potentials einer Geste bis zur Gestaltungvon Kammermusik“. Und zwar „pour tous musicienscurieux, amateurs ou professionnels“. Näheres unterwww.list-woodwind.net/GS.html,email: [email protected], Tel. 032 / 484 95 35(vermutlich Ländervorwahl der Schweiz)

Die Autonomie des Spielers in der freien Improvisa-tion: Selbstverwirklichung - oder Selbstaufgabe imKollektiv? Lautet der Titel des Workshops Freie Impro-visation mit Urs Leimgruber (Paris), der am 3.-5. Okto-ber 2003 in Heidelberg stattfindet. Näheres ist zu erfah-ren bei: Eiko Yamada, Tel. 06221-48 49 73,Fax: 47 49 15, email: [email protected]

Ein ganz auf InstrumentallehrerInnen abgestimmtesKursangebot veranstaltet die LandesmusikakademieBerlin am 7.-8. November: Elementares Improvisierenim Anfangsunterricht. Eigene Spielerfahrung, konkreteUnterrichtsideen und methodisch-didaktische Hinweisewerden Inhalt dieses Workshops sein, der von MatthiasSchwabe geleitet wird. Anmeldung bis 24.10. an: Lan-desmusikakademie Berlin, An der Wuhlheide 197, 12459Berlin, Tel. 030 - 53072-203 (Fax: -222)email: welcome@landesmusikakademie-berlin.dewww.landesmusikakademie-berlin.de

Internetadressen zum Thema Improvisation:

hjem.get2net.dk/intuitive (Denmark´s Intuitive MusicConference, Carl Bergstrøm-Nielsen, „Quotation of theMonth“ und mehr)

www.aimev.de (Arbeitskreis Improviserte Musik, Köln)

www.klangundkoerper.de oder www.humantouch.de(Klang&Körper / HumanTouch, Klein Jasedow: Impro-visations-Workshops und Konzerte des Now!-Ensembles)

www.improinstitut.de (Deutsches Institut für Improvi-sation)

www.impro-ring.de (Ring für Gruppenimprovisation)