Roman Niewodniczanski · AusgAbe 3 — april 2014 Tue Gutes fürs Kind und rede darüber Stichwort...

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Kunststoff, der nachwächst Die Erfindung zweier Tüftler könnte die Welt ein wenig grüner machen 20 23 AUSGABE 3 — APRIL 2014 Tue Gutes fürs Kind und rede darüber Stichwort Helikopter-Eltern 30 33 Character im Porträt Roman Niewodniczanski Bitburger-Erbe wird Saar-Winzer 6 17 ECHTES. PRIVATE. BANKING.

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Kunststoff, der nachwächstDie Erfindung zweier Tüftler könnte die Welt ein wenig grüner machen

20 — 23

AusgAbe 3 — april 2014

Tue Gutes fürs Kind und rede darüberStichwort Helikopter-Eltern

30 — 33

Character im Porträt

Roman Niewodniczanski Bitburger-Erbe wird Saar-Winzer

6 —17

echtes. privAte. bAnking.

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Liebe Leserin, lieber Leser,

Zukunft und Leben – das sind die beiden Schlagworte dieser neuen „Character“-Ausgabe. Beide Begriffe haben ganz bestimmte Bedeutungen für uns: Die Zukunft wollen wir gestalten, sie in die eigenen Hände nehmen und für uns und andere ein wenig besser machen. Und das Leben wollen wir genießen, wir wollen die Freude daran spüren, auch wenn das bei allem Stress des Alltags zuweilen sehr schwierig erscheint.

Doch was hat das mit einer Privatbank zu tun? Ganz einfach: Wir verwalten und gestalten Vermögen, das ist unsere Aufgabe. Dabei ist Geld immer nur Mittel zum Zweck: für ein gutes Leben heute und in der Zukunft, für sich selbst und die nächsten Generationen.

Roman Niewodniczanski, der „Character“ dieser Ausgabe, zeigt exemplarisch, wie die Begriffe Zukunft und Leben miteinander in Verbindung stehen. Der Bitburger-Erbe lehnte es ab, dem vorgezeichneten Weg zu folgen und die Brauerei seiner Familie weiterzuführen. Er entschied sich für einen anderen Weg, für eine andere Zukunft: Niewodniczanski ist heute ein erfolgreicher Winzer in der Saar-Region und lebt damit seinen Traum.

Die Themen Zukunft und Leben beschäftigen uns auch auf den übrigen Seiten des Magazins. Zum Beispiel im Zusammenhang mit den sogenannten Helikopter-Eltern: Eltern wünschen ihren Kindern eine glückliche Zukunft. Doch schießen heutige Eltern vor lauter guten Absichten auch über das Ziel hinaus und bewirken das Gegenteil. Oder unser Porträt des Unternehmens Kremer Pigmente. Geschäftsführer Georg Kremer war sich vor Jahrzehnten bewusst, dass er in einer Branche ohne Zukunft tätig ist. Doch war er zuversichtlich und hat seine Firma in eine erfolgreiche Zukunft geführt.

In die Zukunft zu denken und dabei die Gegenwart lebenswert zu machen, so ist das Ziel von Tecnaro zu verstehen: Die Gründer Helmut Nägele und Jürgen Pfitzer produzieren mit ihrem schwäbischen Unternehmen Kunststoff – und zwar aus Holz. Dem Design der Zukunft widmet sich unser Gastautor Professor Thomas Gerlach. Er berichtet, wie Unternehmen schon heute die Dinge gestalten, die morgen Teil unseres Alltags sind.

Ist das auch Zukunft? Im Flieger telefonieren, ununterbrochene Kommunikation selbst über den Wolken? Oder doch besser den Moment leben, einfach mal ein Buch lesen oder die Augen zumachen und schlafen? Darum geht es in unserer Rubrik Hello / Goodbye. Sie werden erleben, wie viele Seiten die Themen Zukunft und Leben besitzen. Und wir würden uns freuen, wenn wir Ihnen zumindest einige neue Perspektiven auf diese Schlagworte eröffnen können.

Bleiben wir im Dialog!

geld ist immer nur mittel zum zweck:

für ein gutes leben heute und in zukunft,

für sich selbst und die nächsten

generAtionen.

horst schmidt

Aus dem Bethmannhof

grüßt Sie herzlich

Vorstandsvorsitzender

der Bethmann Bank

die zukunftsoll man nicht

voraussehen wollen, sondern möglich

machen.

Antoine de Saint-Exupéry

2 EditorialGegenwart Character Ausgabe 3 / 20143

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zukunftgegenwArttrAdition

Character im Porträt

Roman Niewodniczanski Bitburger-Erbe wird

Saar-Winzer

6 —17

Character 12 ausgewählte Zitate

26 — 27

Character Einplanen

34 — 35

Perspektivenwechsel — Plötzlich Zeit! —

Kostbares Gut mit schnellem Verfallsdatum

24 — 25

Character im Porträt — Roman Niewodniczanski —

Bitburger-Erbe wird Saar-Winzer

6 —17

Hello / Goodbye — Über den Wolken —

Paketzustellung per Drohne und das Ende der Ruhe im Flugzeug

18 — 19

Unternehmen der Zukunft — Kunststoff, der nachwächst — Die schwäbische Tecnaro bietet

Alternativen zum Plastik

20 — 23

Unterbewertet — „Klein-Istanbul“ in der Kurpfalz —

Mannheim

50 — 51

Zahlen, bitte! — Trüffel —

Das delikate Gold

28 — 29

Einplanen — Durch das Jahr —

mit Roman Niewodniczanski

34 — 35

Werte im Wandel — Tue Gutes fürs Kind und rede darüber —

Helikopter-Eltern

30 — 33

Ja / Nein — Intelligenz en gros —

Eine Entscheidungshilfe für bestimmte Fälle

36 — 37

Für morgen — Das ganz große Kopfkino — Professor Thomas Gerlach über

das Design der Zukunft

46 — 49

Panorama — „Noch'n Drink?“ —

Mythos Bar

52 — 61

Impressum 62

Unternehmen mit Tradition — Hier stimmt die Chemie — Kremer Pigmente im Allgäu

stellt seltene Farbpigmente her

38 — 43

12 Dinge, die man tun sollte — Von guten Weinen und der Schönheit unter Wasser —

44 — 45

12 ausgewählte Zitate — von Roman Niewodniczanski —

26 — 27

Character 12 Dinge, die man tun sollte

44 — 45

Gegenwart Character Ausgabe 3 / 20144 5

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Inhalt

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Bitburger-Erbe wird Saar-Winzer

Roman Niewodniczanski

interview: dAgmAr deckstein Fotos: mArc krAuse

Der Hausherr, als „winzer des JAhres 2012“ preisgekrönt, empfängt Besucher im Herrenzimmer von vAn volxem.

Das ehemals berühmte Weingut war in Schwierigkeiten geraten. Doch Roman Niewodniczanski erwarb es vor 14 Jahren,

modernisierte es mit viel liebe und leidenschAft und kaufte vielen Hundert Winzern in der umliegenden sAAr-gegend

ihre brachliegenden Steillagen ab. Er will wieder an die großen Zeiten zu Anfang des 20. Jahrhunderts anknüpfen,

als die Weine aus der Region zu den begehrtesten

der welt zählten.

Gegenwart Character Ausgabe 3 / 20146 7

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Porträt

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Als winzer, der überAus ehrgeizig ist,

möchte ich einen der besten weine der

welt erzeugen.

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Porträt

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Herr Niewodniczanski, nach Verkos-tung Ihrer Weine kommt einem der seinerzeitige SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück in den Sinn. Hatte er aus Ihrer Sicht damals, Ende 2012, zumindest in einem nicht Recht? Pinot Grigio! Er hat gesagt, er würde keine Flasche Pinot Grigio kaufen, die „nur“ fünf Euro koste. Na ja, ich schätze Steinbrücks etwas bissige Art, aber in diesem Fall hat er sich eher un-geschickt verhalten. Fakt ist nämlich, dass der Durchschnittspreis einer in Deutschland verkauften Flasche Wein unter zwei Euro liegt. Dabei sind jedoch viele zu Discount-preisen angebotene Weine heute, zumindest technisch gesehen, deutlich besser als früher. Sie sind handwerklich in Ordnung. Auch ich habe als Student so angefangen, Wein zu entdecken. Wenn ich aber zwei Jahrzehnte Weinerfahrung später diese Weine erneut verkosten soll, dann verzichte ich lieber und steige auf ein gutes Pils oder Mineralwasser um.

Spiegeln sich die Güte und Qualität eines Weins also nicht unbedingt im Preis? Bis zu einem gewissen Grad schon. Einen naturnah erzeugten, möglichst bekömmli-chen wie auch aromatisch ansprechenden Wein zu einem Preis von unter fünf Euro anzubieten, ist eigentlich kaum möglich. Wer überdies einen handwerklich erzeugten Wein genießen möchte, der auch noch den Charakter einer bestimmten Herkunft, Bo-denformation und weinbaulichen Tradition widerspiegelt, der ein Erlebnis darstellt, wird meiner Überzeugung nach eher einen Betrag von mindestens zehn Euro anlegen müssen. Trotz der extrem hohen Kosten der Handarbeit vieler extrem fleißiger Mitarbeiter in unseren Schiefersteillagen bemühen wir uns auf Van Volxem, auch in unserer ‚Einstiegsklasse‘ von gut zehn Euro einen hervorragenden Gutswein anzubieten. Ich messe die Güte eines Weinguts immer auch an der Qualität seiner Einstiegsklasse.

Ihr Nachbar Egon Müller nimmt aber schon mal dreistellige Euro-Beträge für die Flasche. Gibt es überhaupt ob-jektivierbare Kriterien für die Qualität eines Weines? Wer daran zweifelt, ist herzlich eingeladen, Van Volxem einmal in der Zeit der Lese zu besuchen. Wenn wie bei uns 60 Erntehelfer wie Gebirgsgämsen die Steillagen entlang klettern und von Hand sorgfältig in meh-reren Durchgängen einzelne Rosinen aus den Reben picken, dann wird auch dem Flachlandbewohner klar, dass Steillagen-weinbau äußerst kostspielig ist. Ob teure Weine unbedingt einen größeren Genuss vermitteln als günstigere, ist letztlich sub-jektiv. Genauso subjektiv wie das Ablesen der Uhrzeit von einer Schweizer Uhr. Ein solch mechanisches Meisterwerk ist ein ‚Zeitablese-Erlebnis‘ der besonderen Art. Und ein ebensolches Erlebnis bietet ein großer Wein.

Sie wollen anknüpfen an die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts, da Saar-weine als die teuersten der Welt gehandelt wurden. Solche Aussichten müssten doch den studierten Betriebswirt Roman Niewodniczanski begeistern. Da ich eine Vielzahl an Originaldokumen-ten historischer Preislisten und Getränke-karten besitze, bereitet es mir immer wieder größte Freude, Sommeliers in New York, Peking oder Singapur entsprechende Preis-vergleiche eines Petrus, Lafite, Cheval Blanc oder Montrachet gegenüber einem hiesigen Scharzhofberger oder Wiltinger Kupp vorzustellen. Insbesondere im Ausland weckt dies zunächst einmal Neugierde und Interesse für unsere Arbeit. Preislich sind wir von der damaligen Situation ebenso Lichtjahre entfernt wie von den Weinpreisen vieler unserer geschätzten Kollegen in Frankreich. Aber der qualitätsbewusste Weinfreund wird in keinem Land der Welt heute ein besseres Preis-Genuss-Verhältnis finden als in Deutschland und ganz be-sonders bei Rieslingweinen von Mosel und Saar.

Wie entstand überhaupt Ihre Liebe zum Wein? Ich hatte mit Theobald Simon nicht nur einen Großvater, der ein brillanter Firmenchef war – er hat immerhin die Grundlagen für den heutigen Wohlstand meiner Familie geschaffen. Er war auch ein unglaublich kultivierter Mann. Er war Brauer, Intellektueller, Sammler und Mäzen. An großen Feiertagen trank er Mosel- wein – in einer Zeit, in der Moselweine ihr großes Renommee bereits verloren hatten. Das hat mich als Kind sehr geprägt. Seinen Gesichtsausdruck, als er von diesem Wein trank, ja, den habe ich bis heute vor Augen. Dass die Mosel in den Zeiten meiner Jugend ein eher katastrophales Ansehen hatte, hat meine Neugierde dann nur noch mehr geweckt. Und mein Studium historischer Dokumente über diese kulturell wie landschaftlich so außerordentlich reiche Region mündete dann schließlich in Begeisterung. Interessante Weine sind immer auch Spiegelbilder einer Kultur-landschaft, einer bestimmten Zeit und letztlich auch Ausdruck einer bestimmten Winzerper-sönlichkeit. Das alles fasziniert mich an Wein und bereichert mein Leben täglich aufs Neue.

Wie hat es Ihre Familie, die seit vier Generationen für die Bierbrauerei Bitburger Verantwortung trägt, auf- genommen, dass sich ihr jüngster Spross nun ausgerechnet dem Wein verschrieben hat? Ich hatte mich schon früh für den Weinbau an der Mosel und ihren Nebentälern interes-siert und engagiert. So hatte ich gemeinsam mit ein paar guten Freunden Mitte der 1990er Jahre das damals rasch erfolgreiche ‚Wein & Gourmetfestival MSR‘ auf ehren-amtlicher Basis initiiert, um der aus meiner Sicht so reichen Wein- und Kulturlandschaft und ihren Erzeugern auf die Beine zu helfen. Das hat meine Familie schon mal kritisch gesehen. Als ich dann das Weingut Van Volxem kaufte, erntete ich auch Spott, der sich inzwischen aber gelegt hat.

interessAnte weine sind immer Auch

spiegelbilder einer kulturlAndschAft, einer bestimmten zeit und letztlich

Auch Ausdruck einer bestimmten winzer-

persönlichkeit.

Die Grundlage großer Rieslinge: Der Schieferboden ist reich an Mineralien

und entstand über Millionen von Jahren aus Meeresablagerungen.

Gegenwart 10

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11 Ausgabe 3 / 2014CharacterPorträt

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Meine Großmutter war damals übrigens die Einzige in der ganzen Familie, die mich rückhaltlos unterstützt und ermutigt hat.Letztlich bin ich meiner Familie aber un-endlich dankbar, dass sie es mir ermöglicht hat, mir mit dem Kauf von Van Volxem meinen Lebenstraum zu verwirklichen.

In welchem Zustand haben Sie das Weingut um die Jahrtausendwende übernommen? Es war schon ziemlich heruntergekommen, teilweise haben wir Ruinen vorgefunden. Vier Generationen lang war das Gut von der Familie Van Volxem bewirtschaftet wor-den – die übrigens einer belgischen Brauerei- dynastie entstammt. Damit schließt sich mit mir wieder der Bier-Kreis.

Dem Vernehmen nach haben Sie einen mittleren Millionenbetrag investiert. Hat sich das für Sie schon ausgezahlt? In finanzieller Hinsicht freut es mich, dass das Weingut nach den enormen Investitionen der Anfangsjahre inzwischen wirtschaftlich auf soliden Beinen steht. Wir sind schon jetzt in der Lage, vom Weingut leben zu können. Aber die finanzielle Rendite stand

für mich nie im Vordergrund meines unter-nehmerischen Engagements.

Sondern vielmehr was? Langfristigkeit und generationenübergrei-fende Nachhaltigkeit. Wie jede Krise bot mir auch die Krise des Mosel-Saar-Ruwer-Anbaugebiets die Gelegenheit, in einer bestehenden Branche neu erfolgreich sein zu können. Ich habe als Student auch etwas gezockt mit Derivaten und anderen Finanz-produkten, aber dabei habe ich gelernt, dass es sich viel mehr lohnt, in echte Werte lang- fristig zu investieren und dabei preußische Tugenden an den Tag zu legen. Viele Altersgenossen meiner Generation sind auf kurzfristige Gewinnerzielung ausgerichtet und haben den Blick auf die Schaffung nichtmonetärer, echter Werte verloren.

Nun lehrte ja gerade die letzte Finanz-krise viele Anleger, wieder in reale Werte wie Boden und Rohstoffe zu investieren. Davor kann ich nur alle warnen, die nicht ganz persönlich für Landwirtschaft oder Weinbau brennen. Es braucht fundiertes

Wissen und großes persönliches Engage-ment, um langfristig erfolgreich sein zu können.

Wie viele Flaschen Wein produziert Van Volxem inzwischen pro Jahr und wie organisieren Sie Marketing und Vertrieb? Die auf Van Volxem erzeugte Anzahl Flaschen schwankt schon klimatisch bedingt recht stark, es sind zwischen 250.000 und 350.000 Flaschen pro Jahr. Im Durchschnitt ist dies etwas weniger als eine Flasche je Rebe, was dem Niveau französischer Grand Crus ent-spricht. Dank der seit einigen Jahren tollen Nachfrage müssen wir uns kaum um den Verkauf kümmern und können entscheiden, welcher Weinfachhändler welche Anzahl Flaschen erhält. Webshop, Vertriebsagentu-ren oder Verkaufsmitarbeiter haben und wollen wir nicht. Schwerpunktmäßig beliefern wir die ambitionierte Gastronomie im In- und Ausland, aber wir verscheuchen auch keinen privaten Weinliebhaber, der nach vorheriger Terminvereinbarung an der Tür des Weinguts klingelt.

dAnk der seit einigen JAhren tollen

nAchfrAge müssen wir uns kAum um den

verkAuf kümmern und können entschei-

den, welcher wein-fAchhändler welche

AnzAhl flAschen erhält.

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12Gegenwart Porträt

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während ich bei Allen Anderen dingen

des täglichen konsums recht

spArsAm bin, verlässt mich diese spArsAm-

keit beim Anblick einer hundert JAhre Alten flAsche leider.

Glorreiche Vergangenheit: Roman Niewodniczanski besitzt viele historische Dokumente etwa aus der

Kaiserzeit, die von dem einstigen hohen Ansehen der Saarweine zeugen.www.bethmannbank.de

Character Ausgabe 3 / 20141514Gegenwart Porträt

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Zu Ihrem Erfolg trägt ja auch Ihr Kellermeister Dominik Völk bei. Wie kamen Sie auf ihn? Ganz einfach durch eine Anzeige: „Aufstrebendes Moselgut sucht qualitäts-besessenen Kellermeister.“ Dominik kommt aus Würzburg und hat als eines von neun Winzerkindern schon mit 16 gelernt, den väterlichen Betrieb zu leiten. Er war damals – vor elf Jahren – 20, als er zu uns kam. Und er ist derjenige, der mir hilft, mich nicht zu ruinieren. Weil ich gerne sehr schnell und emotional handle.

Wo sehen Sie sich, wo sehen Sie Van Volxem in zehn Jahren, in 20 Jahren? Das Weingut Van Volxem ist immer noch ein Weingut i. G., also „in Gründung“, auch heute im 15. Jahr nach der Wiedergründung. Ich habe erst kürzlich wieder ein paar traumhafte Weinberg-Parzellen dazukaufen

Viele deutsche Winzer beklagen, dass sich heute kaum noch einheimische Beschäftigte für die Arbeit an den Reben gewinnen ließen. Wie und woher rekru-tieren Sie Ihre bis zu 55 Arbeiter? Das ist schwer, wir haben einen drama-tischen Fachkräftemangel in der Branche. Hochmotivierte Mitarbeiter, die hoffentlich auch unternehmerisch denken, sind wie bei so vielen anderen Unternehmen auch unsere Achillesferse. Ich habe hier ein sehr gutes Team beisammen, aber das ist ein hartes Stück Arbeit gewesen. Nur wer seine wie bei uns bienenfleißigen und qualitätsbegeisterten Mitarbeiter gut behandelt, fair bezahlt und ihnen erklärt, warum und wieso welche Arbeiten welche Konsequenzen haben, wird letztlich auch seine unternehmerischen Ziele erreichen. Schwerpunktmäßig kommen unsere überwiegend fest angestellten Kräfte aus Osteuropa.

können, auf die ich mich freue wie ein kleines Kind. Wir sind also immer noch in diesem dynamischen Aufbauprozess begriffen. Da fällt es mir sehr schwer, zu sagen, wo wir in 20 Jahren stehen werden. Ich weiß, dass ich heute mit meinen fast 46 Jahren den Höhepunkt dessen erlebe, was ich erreichen kann. Als Winzer, der überaus ehrgeizig ist, möchte ich einen der besten Weine der Welt erzeugen. Auch wenn ich dieses Ziel nie erreichen könnte, es ist der Charme und das Ziel meines Berufs.

Es heißt, Sie hätten als passionierter Sammler großer Weine 12.000 Flaschen in Ihrem Keller versammelt. Wer soll die denn wann trinken? Ich stamme aus einer Familie passionierter Sammler, und diese Leidenschaft ist sicherlich auch Bestandteil meines Erbguts. Während ich bei allen anderen Dingen des täglichen Konsums recht sparsam bin, verlässt mich diese Sparsamkeit beim Anblick einer hundert Jahre alten Flasche leider. Die Folge ist ein gut sortierter Weinkeller, der mir aber ein sehr beruhigendes Gefühl gibt.

Einer Ihrer bekanntesten Mit-Wein-bauern heißt Günther Jauch, der das Weingut von Othegraven gekauft hat. Kann man so ein Weingut eigentlich im Nebenerwerb betreiben? Das ist schon toll, den renommiertesten Fern-sehmoderator Deutschlands zum Nachbarn zu haben. Ich fühlte mich nicht zuletzt in meinem eigenen Entschluss bestätigt, als Günther Jauch beschloss, auch ein Weingut an der Saar zu erwerben. Wir tauschen uns intensiv aus, wir haben ein sehr gutes, kollegiales Verhältnis, was eher unüblich ist in der Winzerbranche. Wir trinken immer mal wieder Wein zu-sammen, genießen die Abende und sprechen natürlich auch übers Winzergeschäft. Günther Jauch und seine Frau Thea engagieren sich sehr. Beide träumen nicht nur wie ich von einem erfolgreichen und starken Weingut, sondern gehen ganz bewusst auch die erfor-derlichen Schritte ein. Bewundernswert!

vom bier zum wein

Roman Niewodniczanski, 45, ist der Ururenkel des Gründers

Johann Peter Wallenborn, der 1817 die Bitburger-Brauerei

in der Eifel gründete. Sein Vater Thomas Niewodniczanski war

lange Jahre Geschäftsführer der Brauerei, heute haben Roman

Niewodniczanskis ältere Brüder Jan und Matthäus zwei der vier

Bitburger Vorstandsposten inne. Manchmal schon hat sich der

Neu-Winzer aus der Bitburger-Dynastie als „schwarzes Schaf“

der Familie bezeichnet, weil er eher dem Wein als dem familien-

traditionellen Bier zugeneigt war. Er studierte Betriebswirtschaft

und Wirtschaftsgeografie, war einige Jahre in der Unternehmens-

beratung tätig – und fällte dann die Entscheidung seines Lebens:

Er ließ sich zum Winzer ausbilden, bereiste Weingüter von Süd-

afrika und Kalifornien bis nach Neuseeland – immer auf der Suche

nach dem passenden Weingut. In Wiltingen an der Saar wurde er

dann 1999 endlich fündig – und übernahm ein mittlerweile marodes

Weingut, das 100 Jahre zuvor zu den besten der Welt gehörte.

Dort will er auch wieder hin, der im positiven Sinne ehrgeizige, für

seine Mission „brennende“ Winzer aus der Bierbrauer-Dynastie.

Gegenwart Character Ausgabe 3 / 201416 17

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Porträt

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über den wolkenDer Fortschritt macht auch vor dem Himmel nicht halt: Während es bei der Paketzustellung per unbemanntem Flugobjekt noch die ein oder andere Hürde zu überwinden gilt, fallen in der bemannten „Flugfahrt“ langsam die letzten Schranken. Immer weiter werden die Regeln gelockert, was den Gebrauch elektronischer Geräte an Bord betrifft – nicht immer im Interesse der Passagiere.

pAkete per drohne

Mit großem Hallo stellte Amazon Ende 2013 in einem Werbevideo die Paketzustellung der Zukunft vor:

Ein unbemannter Flugkörper mit vier Rotoren pickt ein Paket auf und wirft es – stabil verpackt – aus niedriger

Höhe über dem Garten des Empfängers ab. Einziger Nach-teil: Amazon durfte nicht einmal das Werbevideo in den USA drehen, da dort der Einsatz von Drohnen durch die

Flugaufsichtsbehörde FAA stark eingeschränkt ist.

Deutlich leiser (dafür schon einige Schritte weiter) ist dagegen die Deutsche Post, die etwa zeitgleich zu Amazons

PR-Stunt bereits die ersten Zustelltests ausführte: Der so-genannte Paketkopter stellte ferngesteuert Medikamente

aus einer Apotheke zu. Solche Sondereinsätze könnten auch der erste Bereich sein, in dem die Drohnenzustellung Rea-

lität wird. Im Regeldienst soll sie auf absehbare Zeit noch nicht zum Einsatz kommen.

Denn auch in Deutschland ist der Flugverkehr natürlich reguliert – so muss eine Drohne beispielsweise immer von

einem Menschen auf Sicht gesteuert werden. Ab einem Gewicht von fünf Kilo wird außerdem für jeden einzelnen

Start eine Einzelfallerlaubnis benötigt. Und selbst wenn das irgendwann anders sein sollte, bleibt das theoretische

Risiko von Drohnenwilderern, die sich in der Nähe von Amazon- oder Postpaketzentren postieren und sich mit

einer Schrotflinte ein paar Pakete vom Himmel schießen.

ruhezone flugzeug

Sowohl in den USA als auch in Europa ist es Passagieren demnächst erlaubt, ihre Mobiltelefone und andere elektro-nische Geräte bei Start und Landung angeschaltet zu lassen. Bei Telefonen oder Tablets muss jedoch der soge-nannte Flugmodus aktiviert sein, das heißt: Man kann Filme ansehen, spielen oder E-Books lesen – Telefonate oder das Surfen im Internet werden im Flugzeug noch nicht möglich sein.

Doch auch das könnte sich ändern, denn sowohl die ameri-kanische Behörde FCC als auch die Europäische Agentur für Flugsicherheit (EASA) prüfen gerade, ob die Funksignale der Handys wirklich den Funkverkehr oder die Instrumente der Piloten stören könnten, was bislang stets als Begrün-dung für das Verbot galt.

Die Passagiere scheinen indes gar nicht so wild auf die möglichen neuen Freiheiten zu sein. In Umfragen sprechen sich die meisten immer noch für telefonatfreie Flüge aus. Zu abschreckend erscheint die Vorstellung, auf engstem Raum zwischen lauter mitteilsamen Menschen gefangen zu sein, die jede Turbulenz, jedes Duty-Free-Angebot und unzählige andere Nichtigkeiten sofort lautstark in die Heimat durchgeben.

Auch EU-Verkehrskommissar Siim Kallas, der für die Lockerung der Regelung mitverantwortlich ist, merkte in einem Interview an: „Das Flugzeug ist der letzte ruhige Ort der Welt, wo die Leute nicht telefonieren.“ Noch nicht.

Text: Christoph Koch

hello goodbyehello / goodbye

Hightech in der Luft: Während künftig Pakete per Drohne zugestellt werden könnten,

wird auch die Benutzung von Computern und Smartphones in Flugzeugen diskutiert.

Character Ausgabe 3 / 201419

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Zukunft 18 Hello /Goodbye

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Der Weg in die Zukunft der Kunststoffe führt über eine alte knarrende Holztreppe – hinauf bis unter das Dach eines kleinen Hauses in Ilsfeld im Großraum Stuttgart. Die Stiege ist eng, und wer groß ist, muss ein wenig den Kopf einziehen, um nicht anzustoßen. Früher haben hier die Mitarbeiter des be- nachbarten Betonwerks Büroarbeiten erledigt. Aber das ist schon ein paar Jahre her; den Betrieb gibt es nicht mehr. Heute heißen die Hausherren Helmut Nägele und Jürgen Pfitzer. Chemieingenieur der eine, Maschinenbau-techniker der andere. Zwei Tüftler – und zwei Unternehmer. Gründer und geschäftsführende Gesellschafter der Tecnaro GmbH.

Ihre Erfindung könnte die Welt ein wenig grüner machen, ohne dass sie deshalb gleich hässlicher sein muss. Wie das gehen kann, zeigen Nägele und Pfitzer in der kleinen Dach-kammer mit den holzgetäfelten Schrägen. Aus Schränken und Regalen kramen sie allerlei vermeintlich höchst unterschiedliche Dinge hervor: Kleiderbügel, Lautsprecherboxen, Flöten, Urnen, Tupper-Dosen, Spielzeugfi-

kunststoff, der nAchwächst Die erFinDung zweier TüFTler könnTe Die welT ein wenig grüner machenDie schwäbische Tecnaro hat einen Holzstoff entwickelt, der wie Plastik verarbeitet werden kann. Bis die Industrie von ihrer Erfindung Notiz nahm, vergingen Jahre. Doch nun läuft das Geschäft prächtig. Denn Erdöl, der Stoff, aus dem herkömm-liche Kunststoffe produziert werden, wird immer knapper.

unternehmen der zukunft

guren. Und ein Paar Pumps, entworfen von Gucci-Stardesigner Sergio Rossi. „Das ist alles aus unserem Holz“, sagt Pfitzer. Ein wenig Triumph klingt in seiner Stimme mit. Kein Wunder. Denn die Produkte sind der Beleg dafür, dass der von ihm und seinem Geschäftspartner entwickelte Werkstoff das Zeug hat, auf einem Milliardenmarkt mitzumischen: im Geschäft mit Kunststoffen. Nägeles und Pfitzers Idee kann herkömmli-che, also aus Erdöl hergestellte Kunststoffe in vielen Bereichen ersetzen. Ressourcen-schonend, umweltfreundlich und zu einem vergleichbaren Preis.

mehr Als 2.500 rezepturen für Alle Anwendungsbereiche

Entdeckt haben die beiden Unternehmer den Bio-Kunststoff bereits Mitte der neunziger Jahre. Damals arbeiteten sie am Fraunhofer-Institut. Inspiriert vom Geist des Erdgipfels in Rio de Janeiro 1992 machten sie sich auf die Suche nach einem Werkstoff aus nach- wachsendem Material. Dabei stießen sie auf

Lignin, ein Polymer, das in jedem Baum und jedem Busch vorkommt und zur Verholzung führt. Kaum eine andere natürliche Ressource ist so verfügbar. In der Papierindustrie fällt Lignin massenhaft als Abfall an – weltweit sind es 60 Millionen Tonnen pro Jahr.

Auf die Idee daraus Kunststoff zu entwickeln war vor Nägele und Pfitzer noch niemand gekommen. Sie mischen das pulverförmige Lignin mit feinen Naturfasern aus Hanf und Flachs, mengen Bienenwachs oder Harz dazu. Erhitzen, kühlen und portionieren die so entstandene Masse, bis ein Granulat ent-steht. Das kann später erneut erhitzt und als gleichsam flüssiges Holz weiterverarbeitet werden – etwa im Spritzgussverfahren, so wie herkömmlicher Kunststoff. Arboform nennen sie ihren Werkstoff, in Anlehnung an das lateinische Wort für Baum: arbo. Je nach Bedarf passen die Tecnaro-Chefs die Mischung ihres Holzstoffs an, von dem sie in jedem Jahr bis zu 10.000 Tonnen produzieren.

Zwei Unternehmer – zwei Tüftler: Die Tecnaro-Gründer Helmut Nägele (l.) und

Jürgen Pfitzer vor ihrer Werkshalle.

Character Ausgabe 3 / 201420 21

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Unternehmen der ZukunftZukunft

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„Wir haben mehr als 2.500 Rezepturen“, erzählt Nägele. Damit lassen sich nach sei-ner Überzeugung nahezu alle Eigenschaften abdecken, über die herkömmliche Kunst-stoffe verfügen. Abgesehen vielleicht von der Widerstandsfähigkeit besonderer Hoch-leistungsmaterialen, die Temperaturen von mehr als 300 Grad aushalten müssen. Auch kann Arboform für Produkte verwendet werden, die heute aus Holz gefertigt werden – Mundstücke für Flöten beispielsweise oder Krippenfiguren.

der erfolg liess lAnge Auf sich wArten

Mehr als 15 Jahre ist es her, dass Nägele und Pfitzer Arboform entwickelten. Sie haben dafür bereits viele wichtige Erfinder-preise abgeräumt, darunter den European Inventor Award, gestiftet von der Europäi-schen Kommission und dem Europäischen Patentamt für außergewöhnliche Ideen.

In hohe Umsätze haben die Tüftler diese Auszeichnungen lange Zeit nicht umsetzen können. Erst jetzt kommt das Geschäft mit dem Bio-Kunststoff kräftig in Schwung. Tecnaro hat Kunden in der Autoindustrie, beliefert Hersteller von Büroartikeln, Musik-instrumenten und Spielzeug. Und seit einiger Zeit auch Tupper, einen der weltgrößten Her-

steller von Haushaltswaren. „Die Nach-frage ist riesig“, freut sich Nägele. Warum der Erfolg so lange auf sich warten ließ? „Vielleicht“, so meint Pfitzer, „weil wir Un-ternehmersein nicht gelernt haben und auch in der Familie kein Unternehmer war, den wir hätten fragen können.“ Aber es braucht eben auch Zeit, einen so neuen Werkstoff wie Arboform zu vermarkten. Wer bisher herkömmlichen Kunststoff verwendet hat, wird vielleicht die Produktion von ein, zwei Artikeln aus seinem Sortiment umstellen. Um dann zunächst intensiv zu testen, zu prüfen und zu beobachten. Darüber können Monate, wenn nicht Jahre vergehen. „Natürliche Reife- zeit“, sagt Nägele dazu. Und betont dann auch: „Wenn wir zehn oder 20 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung hätten, würde uns das nicht schneller machen.“

Das Geld. Anfangs hatten die Unternehmer alle verfügbaren Finanzquellen anzapfen müssen, um ihre Idee voranzutreiben.

Banken, Familie, Förderinstitute. Trotzdem hatte es 2003 so ausgesehen, als würde es nicht reichen. Ein großer Kunde hatte die Rechnung nicht bezahlt, Rücklagen gab es keine, die Firmenkasse war leer. Die Tecnaro-Chefs mussten ihren damals fünf Mitarbeitern gestehen, dass sie sie nicht bezahlen konnten. „Trotzdem sind alle am nächsten Tag wieder zur Arbeit gekommen, weil sie von der Idee überzeugt waren“, sagt Pfitzer. Heute beschäftigt Tecnaro mehr als 30 Mitarbeiter – und stellt weiter kräftig ein. Die Idee, Plastik durch einen nach-wachsenden Kunststoff abzulösen, fasziniert viele. Der Leiter der Forschungsabteilung beispielsweise hat eine führende Position am Fraunhofer-Institut gekündigt, um bei Tecnaro mitzumachen. Andere haben ihren Beamtenstatus aufgegeben und bei Nägele und Pfitzer angeheuert.

fünf JAhre vorsprung vor möglichen nAchAhmern

Den vielfältigen Verlockungen von Investoren und Chemieunternehmen, die bei Tecnaro einsteigen wollten, haben die Firmengrün-der bisher stets widerstanden. Weil sie „ihr Baby“, wie sie Tecnaro nennen, nicht alleine lassen wollten. Und weil ihnen Geld, auch viel Geld, nicht so wichtig ist, wie eine Sache voranzubringen, von der sie überzeugt sind. Angst vor Nachahmern haben Nägele und Pfitzer nicht: „Wir haben vier bis fünf Jahre Vorsprung gegenüber jedem, der jetzt an den Start geht.“ Geschäftszahlen sind geheime Kommandosache. Aber klar ist: Es läuft gut für Tecnaro. Die beiden Chefs beschäftigen sich mit Umzugsplänen, wollen raus aus dem angemieteten Gelände des ehemaligen Betonwerks. Größer, moderner soll das neue Firmengebäude sein. Dann ist sicher auch Platz für Vitrinen, in denen all die Produkte ausgestellt werden, die aus Arboform gefer-tigt sind. Nur groß sollten diese Glasschränke sein. Denn die Erfindung der beiden ehemali-gen Tüftler des Fraunhofer-Instituts beginnt gerade erst, Kreise zu ziehen.

Text: Stefan Weber

Der Bio-Kunststoff in der Prüfung: Hier wird die Wärmeformbeständigkeit des

innovativen Werkstoffs gemessen.

wir hAben vier bis fünf JAhre vor-sprung gegenüber Jedem, der Jetzt An

den stArt geht.

bio-kunststoffe sind Auf dem vormArsch

Das Jahr 2035 könnte den Wendepunkt markieren: Dann ist nach Schätzung der

Internationalen Energieagentur (IEA) die maximale Erdölförderung erreicht.

Nach 2035 wird Jahr für Jahr weniger von diesem Rohstoff auf den Markt

kommen. Denn die globalen Erdölvorkommen sind begrenzt, irgendwann sind

die Reserven erschöpft.

Das ist ein Problem für alle Hersteller, deren Produkte ganz oder teilweise aus

Kunststoffen bestehen. Schließlich werden die meisten Kunststoffe aus

Erdöl hergestellt; etwa vier Prozent der weltweit geförderten Mengen werden

dafür genutzt. So setzen viele Branchen vermehrt auf Kunststoffe aus

nachwachsenden Rohstoffen.

Noch spielen diese Bio-Kunststoffe auf dem Weltmarkt keine nennenswerte

Rolle. Der Grund: Sie sind oft vergleichsweise teuer und decken nur ein schmales

Spektrum an Eigenschaften ab. Zum Einsatz kommen sie derzeit vor allem im

Verpackungsbereich. Folien für Lebensmittel oder Plastiktüten werden

zunehmend aus biologisch abbaubaren Kunststoffen produziert. Cateringpro-

dukte wie Bestecke und Essschalen oder Gartenartikel wie Pflanztöpfe oder

Mulchfolien bestehen oft aus biologisch schnell abbaubaren Materialien.

Auch in der Spielzeugindustrie ist die Umstellung auf Bio-Plastik ein Thema.

Experten sind sicher: Den Durchbruch werden Bio-Kunststoffe erst schaffen,

wenn sie ähnlich kratzfest und widerstandsfähig gegen Hitze und UV-Strahlen

sind wie viele auf Erdölbasis gefertigten technischen Kunststoffe. Ein Mode-

trend, der irgendwann abebbt, sind Materialen aus nachwachsenden Rohstoffen

freilich nicht. Es ist notwendig, sich mit ihnen zu beschäftigen, denn so wie

bisher – mit der Fertigung aus Erdöl – geht es nicht mehr lange weiter.

Character Ausgabe 3 / 201422 23

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Unternehmen der ZukunftZukunft

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perspektivenwechsel

plötzlich zeit! kosTbares guT miT schnellem VerFallsDaTum

Drei Stunden Zeit für mich sind ein seltenes, aber gern genommenes Geschenk. Denn mein Standardarbeitstag besteht aus zehn bis zwölf Stunden, die zu 90 Prozent bereits im Vorfeld durchgeplant sind. Mehr als die Hälfte meiner Arbeitszeit investiere ich in Meetings und Telefonkonferenzen mit Mitarbeitern, Kollegen und Vorgesetzten. Mein Marketingteam verteilt sich auf den Hauptsitz Basel und die Niederlassungen New York und Hyderabad in Indien.

Für mich ist es sehr wichtig, meine Mitar-beiter regelmäßig zu sehen. Dazu kommen wichtige Ärztekongresse des von mir betreuten Therapiebereichs der Dermato-

Leiterin internationales Marketing bei einem Pharmakonzern in Basel

cArolin bArth-kollmer, 40

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logie. Dort nehme ich häufig an Vorträgen teil und vermarkte natürlich die von mir verantworteten Medikamente. Das ist mein Kontakt zu unseren Kunden. Daher fliege ich im Durchschnitt alle zwei Wochen auf Geschäftsreise, mindestens vier Mal pro Jahr bin ich in New York.

Wie ich diese drei Stunden verbringe, hängt also tatsächlich davon ab, wann ich gerade wo bin. So habe ich es trotz der Tatsache, dass ich bestimmt schon zehn Mal in Bangkok war, dort noch nie ins National-museum geschafft. In New York würde ich eine Abteilung des Whitney Museum of American Art anschauen, die ich noch nicht kenne, beispielsweise die Installationen der deutschstämmigen Künstlerin Eva Hesse.

In Basel habe ich schon öfter spontan die Vortragsstunden der Schüler der Musik Akademie Basel besucht. Sie dauern oft nur eine Stunde, sind hervorragend, und

es ist schön, junge Künstler zu erleben. Kultur ist mir sehr wichtig, und der Genuss von Bildender Kunst als auch klassischer Musik ist für mich ein guter Ausgleich zu meinem sonst sehr auf Effizienz und Ergebnis geprägten Beruf. Sollten sich die drei Stunden tatsächlich zu einem freien Tag mit guter Wetterprognose ausweiten, dann ist die Entscheidung klar: Dann packe ich meinen Rucksack, setze mich in den Zug und unternehme eine Wanderung im Berner Oberland oder im nah gelegenen Jura. Zuletzt war ich auf dem Schilthorn, wo einst der James Bond-Film „Im Geheim-dienst ihrer Majestät“ gedreht wurde. Dort genoss ich den Blick auf Eiger, Mönch und Jungfrau bei Sonnenschein. Frische Luft, Bewegung und Bergpanorama machen meinen Kopf frei.

Milchbauer in Inzlingen bei Basel

AndreAs bAchthAler, 39

Ganz ehrlich: Drei Stunden Zeit für mich alleine? Das gibt es praktisch nie. Auf einem Bauernhof ist immer etwas zu tun. Ich habe eine 80-Stunden-Woche: Morgens um 5.15 Uhr aufstehen, um 6.30 Uhr stehe ich bereits im Stall, auch sonntags, und melke zusammen mit meinem Bruder Jonas und meinem Vater unsere 170 Milchkühe. Das dauert mit der Melkmaschine etwa bis 8 Uhr. Derweil versorgen meine Frau und meine Mutter die 50 Kälber. Danach gehe ich aufs Feld: Die Gülle muss weg, ein Teil des Futters wie Mais und Gras baue ich selbst an, es ist ein natürlicher Kreislauf.

Pünktlich um 12 Uhr essen wir zu Mittag, alle zusammen, meine Eltern, mein Bruder, meine Frau, meine drei Kinder und auch unser Auszubildender. Das ist ein fixer Ter-min für uns, an dem sich alle drei Generati-onen treffen und wir Wichtiges besprechen. Danach geht es je nach Wetter ab 12.30 Uhr oder 13 Uhr weiter mit der Feldarbeit. Um 17.30 Uhr müssen die Kühe wieder gemolken werden, das dauert dann bis 19 Uhr. Spätes-tens um 22 Uhr falle ich ins Bett.

Wir wohnen landschaftlich idyllisch auf ei-nem Hügel am Waldrand, sehr nah an der Schweizer Grenze. Ich sehe öfter Leute hier joggen und schüttle darüber nur den Kopf. Sonntagnachmittags gönne ich mir einen Mittagsschlaf, im Sommer unternehme ich gerne etwas mit meiner Frau und meinen Kindern. Leider bleibt dafür selten Zeit. Spontan ins Schwimmbad gehen oder gar in den Urlaub wegfahren – das ist bei uns einfach nicht drin.

Ich bin ehrenamtlich Feuerwehrmann und habe alle zwei Wochen montagabends von 20 bis 22 Uhr Übung, danach sitzen wir noch zusammen. Das ist mein einziges Hob-by, wenn man so will. Ich habe die Atem-schutzausbildung absolviert, gehe also auch in brennende Häuser oder Wohnungen mit starker Rauchentwicklung. Vergangenes Jahr hatten wir im Dorf einen Wohnungs-brand, da stand ich dann im Kinderzimmer und habe vor lauter Rauch noch nicht einmal das Kinderbett gesehen, vor dem ich stand. Die Eltern und ihr dreijähriger Sohn waren bereits in Sicherheit, trotzdem hat mich allein der Gedanke geschockt, dass darin hätte ein Kind liegen können. In solchen Momenten weiß ich dann genau, warum ich meine wenige Freizeit in dieses Ehrenamt investiere.

Protokoll: Geraldine Friedrich

Character Ausgabe 3 / 201425Gegenwart 24 Perspektivenwechsel

Wie füllt jemand drei Stunden, die er unverhofft für sich hat? Ein Bauer, der täglich zwölf Stunden auf den Beinen ist, sehnt sich nach Ruhe. Eine Managerin, die durch die Welt jettet, tauscht den Konferenzraum gegen Kultur. Die Präferenzen sind unterschiedlich, doch eins haben beide gemeinsam: keine Langeweile.

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* von Roman Niewodniczanski

Character 27 Ausgabe 3 / 201426Gegenwart

Die Rebe liebt Die Sonne,

abeR noch viel mehR

Den Schatten ihReS heRRn

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12 ausgewählte Zitate*

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240 verschiedene Trüffelarten werden unter-schieden. Die Trüffel gibt es nicht. Der Be-griff „Trüffel“ bezeichnet umgangssprachlich sämtliche unterirdischen Pilzarten. Rund 86 Trüffelarten zählen weltweit zu den echten Trüffeln, ihr botanischer Name beginnt stets mit „Tuber“ (dt. Beule, Höcker), davon wachsen etwa 25 Arten in Europa.

800 Tonnen China-Trüffel verlassen China jedes Jahr, ihr Einkaufspreis liegt zwischen drei und zehn Euro je Kilo, ihr Verkaufspreis zwischen 200 und 1.500 Euro, da sie oft fälschlicher-weise als Périgord-Trüffel verkauft werden. 300 Tonnen der China-Trüffel landen in Europa. Optisch ist die billige China-Trüffel für Laien kaum von der edlen und viel teureren Périgord-Trüffel zu unterscheiden.

trüffelDas DelikaTe golDMit kaum einem Lebensmittel wird so viel betrogen wie mit Trüffel. Grund: Der Kilopreis liegt je nach Art zwischen drei und 12.000 Euro. Unseriöse Gastronomen tricksen Gäste aus, indem sie bei ihren Speisen das chemisch hergestellte Trüffelöl mit der billigen China-Trüffel kombinieren: Es sieht optisch nach Trüffel aus und schmeckt auch nach Trüffel – nur enthält die Speise im Grunde keine der wohl- schmeckenden Trüffelarten, die man als Gast erwarten sollte.

0 Prozent Trüffel enthält das edel anmutende Trüffelöl. Der Grund: Das Aroma entsteht dank des chemisch hergestellten „naturiden-tischen Aromastoffs“ Bismethylthiomethan, das aus Flüssiggas hergestellt wird und Pflanzenöl zugesetzt wird. Die Stückchen, die verkaufsträchtig in den Ölflaschen zu sehen sind, sind in der Regel minderwertige Reste getrockneter Trüffel, die keinerlei Einfluss auf das Aroma haben. Trüffel schmecken nur frisch, frische Trüffelstücke würden aber in-nerhalb kürzester Zeit schimmeln. Daher ist echtes Trüffelöl im Handel nicht erhältlich.

mindestens 35 Euro muss ein Pastagericht mit zehn Gramm geriebener Alba-Trüffel in einem Restaurant kosten, sonst sind es keine echten Alba-Trüffel.

zu 70 bis 80 Prozent bestehen Trüffel aus Wasser.

220.000 Euro erzielte die 1,5 Kilogramm schwere Alba-Trüffel, die der Bauer Cristiano Savini 2007 bei Pisa fand, bei einer Versteigerung. Er spendete den Erlös für einen guten Zweck.

zu 99,9 Prozent sind es dressierte Hunde – und nicht etwa die vielfach zitierten Trüffel-schweine –, die bei der Trüffelsuche helfen. Denn Schweine fressen die Trüffel am liebsten sofort auf, während Hunde sich mit einem Leckerli davon abhalten lassen. Ins-besondere die Hunderasse Lagotto Romag-nolo mit ihrem herausragenden Geruchssinn eignet sich für die Suche.

zAhlen, bitte!

7 in Europa heimische Arten haben kuli-narischen Wert: die Alba-Trüffel (Tuber magnatum), die Périgord-Trüffel (Tuber melanosporum), die Burgunder-Trüffel (Tuber uncinatum), die Wintertrüffel (Tuber brumale), die Sommertrüffel (Tuber aestivum), die Weiße Märztrüffel (Tuber borchii) und die Knoblauchtrüffel (Tuber macrosporum). Die botanischen Namen sind wichtig, da nur sie eine Trüffelart genau bezeichnen. Seriöse Gastronomen schreiben daher auf eine Speisekarte nicht nur „Trüffel“, sondern beschreiben botanisch genau, welche Trüffelart sie servieren.

2.500 bis 12.000 Euro kostet je nach Angebot das Kilo Alba-Trüffel. Sie wächst in Italien und in Kroa-tien und in geringer Menge in Frankreich.

Die zweitteuerste Trüffel ist die schwarze Périgord-Trüffel: Ein Kilo kostet zwischen 1.500 und 2.500 Euro.

3 bis 10 Jahre benötigen mit Trüffelsporen geimpfte Bäume, damit an ihren Wurzeln Trüffel wachsen. Vor allem in Chile, Spanien, Aus-tralien, Neuseeland, Italien und Frankreich gibt es Trüffelplantagen, auf denen Bäume mit Burgunder- und Périgord-Trüffelsporen geimpft werden, damit man später die Pilze ernten kann. Die teuren Alba-Trüffel wach-sen dagegen nur wild.

1.500 ausgebildete Trüffelhunde gibt es in der Schweiz, 650 Trüffelsucher sind dort in einer offiziellen Liste eingetragen. In

Deutschland ist das Trüffelsammeln da-gegen verboten – alle Arten stehen unter Naturschutz.

46 scheint eine magische Grenze zu sein, denn nördlich des 46. Breitengrades hat man bislang noch nie die Königin der Trüffel, die weiße Alba-Trüffel, gefunden. Dieser Brei-tengrad verläuft bei Genf. Bei den weißen Trüffeln, die Pilzsammler in Deutschland finden, handelt es sich um die kulinarisch wertlose Mäandertrüffel.

Text: Geraldine Friedrich

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Tradition Zahlen, bitte!

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Mal Hand aufs Herz: Was ist das Bemerkens- werte am Zähneputzen? Am Anziehen einer Strumpfhose? Am – pardon! – abendlichen Toilettengang? Genau! Eigentlich nichts! Die banalen Herausforderungen des Alltags erklimmen jedoch ganz neue Ebenen der Bedeutsamkeit, wenn sie von den lieben Kleinen gemeistert werden. Valentin Ole beim Legobauen, Anna Teresa beim Zoobesuch, Bastian Alexander auf dem Töpfchen: Stolze Eltern, so mag man meinen, erleben die Welt durch die Augen ihrer Kinder permanent neu. Und sie reden permanent darüber. Im Büro, im Restaurant, beim Sport, überall werden die Episoden des häuslichen Alltags detailliert ausgebreitet. Und wehe dem, der angesichts eines fremden Kleinkindes nicht augenblicklich in Verzückung gerät!

Um nicht falsch verstanden zu werden: Kinder können viel Freude bereiten. Sie können auf die erwachsene Bevölkerung geradezu anste-ckend wirken – mit ihrer echten Freude, mit ihrem unverstellten Blick auf die Welt und natürlich mit dem großen Vertrauen, das sie ihren Eltern entgegenbringen. Eltern verspü-ren diese einzigartige Faszination, wenn sie beobachten, wie ihre Kinder heranwachsen und sich zu vollständigen Charakteren entwickeln. Nun ist das Leben mit Kindern für Eltern auch anstrengend, zuweilen auf-reibend. Wer einmal das Drama erlebt hat, das sich beim Abendbrot entwickelt, nur weil die Gurkenscheiben am falschen Platz liegen, wird da pflichtschuldig zustimmen. Aber das wird wohlwollend in Kauf genommen.

tue gutes fürs kind und rede dArüberEine neue Generation von Eltern ist herangewachsen. Eine Generation, die alles richtig machen will – und daraus jedes Recht ableitet. Die sogenannten Helikopter-Eltern nehmen ihren Erziehungsjob allzu ernst, nerven damit aber oft ihr Umfeld und verwöhnen ihre Kinder mehr, als denen guttut.

werte im wAndel

Schließlich vermitteln Kinder den Älteren das beruhigende Gefühl, dass es irgendwie weitergehen wird mit dieser Welt.

die neue Art von eltern

Nun sind das Erfahrungen, die jede Eltern-generation machen muss. Doch für eine neue Art von Erziehungsberechtigten ist das alles nicht mehr so einfach. Die Rede ist von Helikopter-Eltern: Eltern, die permanent um ihre Kinder kreisen. Die sich mit ihrem Erziehungsjob – zumindest vordergründig – deutlich mehr Mühe geben, als das noch ihre Eltern taten oder deren Eltern. Sie tauchen beim Babyschwimmen möglichst früh mit ihren Säuglingen auf und auch ab. Sie nehmen demonstrativ Elternzeiten und ordnen soziale Kontakte grundsätzlich dem familiären Stundenplan unter. Sie bereiten jede Schulaufführung möglichst akribisch vor und feuern ihren Nachwuchs auf dem Fußballfeld am lautesten an. Sie unterziehen die Freunde ihrer Kinder einem eingehenden Check und überprüfen selbst die Berufe der Eltern. Sie nehmen sich jedes Recht heraus, natürlich nur zum Wohle des Kindes.

Helikopter-Eltern sind noch in der Unterzahl. Aber sie machen sich mehr und mehr be-merkbar. Wer einmal beim Sonntagsbrunch eine fidele Mütterrunde am Nebentisch er-lebt hat, die unvermittelt ihre Babys herum- reicht, um an den Windeln zu riechen und den Wechsel gleich noch vor Ort auszuführen, der kann ein Lied davon singen. Unappetit-

lich? Aber es geht doch ums Kind! Weniger harmlos sind dann schon die Eltern, die ihre Kinder per Auto zur Schule bringen, idealerweise per SUV oder S-Klasse. Inzwi-schen beklagen sich immer mehr Schulen über ernsthafte Verkehrsprobleme, über parkende Eltern-Taxis in zweiter Reihe und gefährdete Kinder, die noch per pedes zum Unterricht kommen. Manche Mütter sollen es auf mehr als 40 Fahrtermine pro Woche bringen – nicht nur zur Schule, sondern selbst zur Bushaltestelle oder zur nahe gelegenen Sporthalle. Und der Taxi-Dienst endet nicht etwa mit der Kindheit, sogar manch 16- oder 17-Jähriger nutzt gerne noch die Fahrbereitschaft im Hotel Mama. Aber wer will sein Kind schon alleine auf den Weg schicken, wenn da draußen so viele rücksichtslose Autofahrer unterwegs sind?

der nächste klAssenkAmpf

In letzter Instanz führt das neue Selbstver-ständnis sogar zur gesellschaftlichen Fronten- bildung. Denn wer leise Kritik am neuen Tanz ums Kind wagt, wird allzu schnell mit den Verdiensten der Erziehenden zum Schweigen gebracht. Schließlich kämpfen diese per Kinderzeugung wacker gegen den demografischen Wandel. Sie sichern dem nichtsnutzigen Rest die Solidarsysteme und nehmen dafür nur zu gern Entbehrungen in Kauf. Sowieso: Kinderlose sind doch ver-

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Gegenwart Werte im Wandel

Page 17: Roman Niewodniczanski · AusgAbe 3 — april 2014 Tue Gutes fürs Kind und rede darüber Stichwort Helikopter-Eltern 30 —33 Character im Porträt Roman Niewodniczanski Bitburger-Erbe

antwortungslos, ja gefühllos. Hedonisten, die wenigstens Sozialstunden leisten sollten! Das ist übertrieben, gar polemisch? Keineswegs. Denn das ist eine Auffassung, die im Von-der- Leyen-Land eher noch gefördert wird. Wer allerorten die „heilige Familie“ zelebriert und das Ideal der Power-Mutter propagiert – auch wenn er selbst die Hilfe von Kinder-frauen und Haushaltshilfen in Anspruch nehmen konnte –, der schafft natürlich eine Stimmung, die Menschen mit anderen Lebensentwürfen automatisch abwertet.

Woher kommt dieses neue Selbstverständnis der Eltern? Mit überzogener Ängstlichkeit ist es kaum zu erklären, auch nicht mit einer Überdosis des Elternhormons Oxytocin. Hat eine Generation von Selbstdarstellern Kinder bekommen, wie das Feuilleton vermutet? Reden sich die Eltern ihre materielle Investition ins Objekt Kind schön, wie Forscher in den USA meinen? Plausibler klingt da ein anderer Erklärungsansatz: Psychologen sagen, dass es Eltern heute an Orientierung und Anerken-nung fehlt, dass sie diesen Missstand durchs Kind kompensieren. Und tatsächlich muss man ihnen zugutehalten, dass die Anfor-derungen an die Erzieher eine neue Qualität erreicht haben: Sie sollen Beruf mit Familie in Einklang bringen, wird ihnen von Politik und Medien souffliert. Und sie müssen einen hochqualifizierten Nachwuchs heranziehen, der fit ist für die globalisierte Welt.

konsequenzen für die kinder?

Die Frage, die dabei schnell in den Hinter-grund tritt, lautet: Welche Auswirkungen hat die Helikopterei eigentlich für die Kinder? Ist es wirklich zuträglich, wenn die Altvorderen alle Wünsche erfüllen und alle Probleme aus dem Weg räumen? Wenn sie den Eltern der Freunde ungefragt Erziehungsratschläge geben und den Elternabend sprengen, um den Lehrern den Job zu erklären? Natürlich, werden viele antworten. Schließlich ist ein Helikopter-Paar noch immer besser als eine alleinerziehende Mutti oder ein Vati, der nur am Wochenende vorbeischauen darf. Und natürlich wird es auch einen Anteil

Heranwachsender geben, der dankbar ist für eine umsorgte Kindheit und für die elterliche Hilfestellung selbst noch bei der Jobsuche nach der Uni.

Jedoch berichten Psychologen längst von Überbehüteten und Verwöhnten, die genauso verhaltensauffällig werden wie Vernachlässigte und Misshandelte. Denn wer zu Hause seine Launen ausleben kann, wird wenig Verständnis dafür aufbringen, dass dieses Verhalten au-ßerhalb der heimischen vier Wände nicht so einfach fortgesetzt werden kann. Wer sich als Partner seiner Eltern versteht und nicht den Umgang mit Regeln erlernt, wird sich auch „da draußen“ nicht an Regeln halten wollen. Und wer nicht erfährt, dass es Anstrengungen erfordert, um ans Ziel zu kommen, wird später ein erhebliches Problem haben. Dabei benötigen Kinder eigentlich feste Maßstäbe, die durch die Eltern vorgegeben werden und an denen sie sich orientieren – und auch rei-ben – können. Wer aber der Mittelpunkt der Welt ist, der benötigt keine Orientierung.

Frühere Elterngenerationen haben ihren Job noch anders gehandhabt. Sie waren einfach Eltern. Ganz selbstverständlich. Sie hatten es natürlich auch nicht leicht, und sie haben noch eine Verteilung der Geschlechterrollen praktiziert, die heute nicht mehr wünschens-

wert ist. Jedoch waren sie sich bewusst, dass mit Kindern einfach nicht mehr so viel geht wie noch zu Zeiten trauter Zweisamkeit. Daheim die Kinder betüdeln, im Job dyna-misch durchstarten, in der Freizeit möglichst viel Unterhaltung genießen und abends am liebsten noch mit dem minderjährigen Nachwuchs auf ein Bier ins Lokal – ganz einfach, weil sonst keine Zeit mehr dafür bleibt: Das ist in modernen Helikopter-Zeiten genauso unmöglich wie bei den eigenen Eltern vor 30 Jahren.

Frühere Eltern waren sich bewusst, dass nicht immer alles gehen muss – nicht immer alles gehen kann. Sie haben nicht gehadert, ob sie zu lieblos sind, wenn sie ihren Kindern mal Grenzen setzen. Denn das war zwingend notwendig, damit die Familie funktionierte – und damit auch Rücksicht auf die unmittelbare Umwelt geübt wurde. Und sie haben keinen spürbaren Frust geschoben und an ihren Mitmenschen ausgelassen, weil die Verpflichtungen über-hand nahmen und plötzlich keine Besuche im Theater mehr möglich waren – sondern sich guten Gewissens auch mal Freiräume genommen. Und die Kinder? Haben sie sich dadurch zurückgesetzt gefühlt? Vernachlässigt? Oder aber eingeengt? Wohl kaum.

entspAnnte eltern – entspAnnte kinder

Vielleicht ist es deshalb an der Zeit, überen-gagierte Eltern im Sinne ihrer Kinder – und auch ihres genervten Umfelds – daran zu erinnern, wieder etwas mehr Gelassen-heit zu leben. Keineswegs sollen sie ihren Kindern Disziplin und Gehorsam nach altem preußischem Vorbild einbläuen. Aber sie sollten sich auch nicht als Individuen aufgeben und alles der selbst erwählten Elternrolle opfern. Entspannte Eltern bekommen entspannte Kinder – und ganz nebenbei auch entspannte Mitmenschen.

Text: Frank Paschen

frühere eltern- generAtionen hAben

ihren Job noch Anders gehAndhAbt.

sie wAren einfAch eltern.

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Gegenwart Werte im Wandel

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27.09 – 05.10.2014 surf world cup sylt

Ende September weht in Westerland auf Sylt wieder ein weltmeisterlicher Wind. Die besten Windsurfprofis liefern sich dort einen spannenden Showdown.

www.windsurfworldcup.de

11. – 13.07.2014 north seA JAzz festivAl

rotterdAm

Der Jazz, die Stimme des amerikani-schen Südens, ist wild und intuitiv.

Zuhörer können sich ganz auf die Musik einlassen und sie genießen. Das

North Sea Jazz Festival bietet die perfekte Möglichkeit, die großen

Künstler dieser Musikrichtung live zu erleben.

09. – 13.04.2014 Art cologne – kunstmArkt in köln

Die ART COLOGNE ist die weltweit älteste Messe für bildende Künste der letzten beiden Jahrhunderte. Rund 200 internationale Galerien stellen in Köln verschiedene Gemälde, Skulpturen, Multiples, Instal-lationen, Videokunstwerke und einiges mehr aus.

30.04.–04.05.2014 pictoplAsmA festivAl, berlin

Das Pictoplasma Berlin beschäftigt sich mit Figurendesign in Kunst und Grafik. Es versteht sich als weltweit führendes Festival des zeitgenössi-schen „Character Design“ und bietet eine Konferenz mit Vorträgen von mehr als 28 herausragenden Künst-lern, Illustratoren und Designern.

27. – 31.07.2014 münchner opernfestspiele Die Münchner Opernfestspiele sind der Höhepunkt der Opernsaison. Musikliebhaber aus ganz Europa zieht es in die bayerische Hauptstadt, um in den historischen Gebäuden der Stadt die großen Stimmen der Opernwelt zu hören.

Große Weine sind sein Lebensinhalt. Neben der zeitintensiven Arbeit im Weinberg bleibt Roman Niewodniczanski nur wenig Raum für Kulturgenüsse. Aber das Jazzfestival im Norden und die Opernfestspiele im Süden lässt sich der Musikliebhaber als persönliche Jahres-Highlights nicht entgehen. Auch die Redaktion hält noch ein paar weitere Termin-Tipps für ein genussvolles Jahr 2014 parat.

durch dAs JAhr mit romAn niewodniczAnski

25. – 27.07.2014 24 stunden rAdrennen Auf dem nürburgring Nürburgring, Nordschleife: Das 24-Stunden-Rennen für Radfahrer ist eine der Attraktionen auf dem Nürburgring. Bei Tag und in der Nacht stellen sich die Fahrer – angetrieben nur durch Muskelkraft – der Herausforderung in der „Grünen Hölle“. Dabei müssen sie pro Nordschleifenrunde mehr als 500 Höhenmeter und rund 23 Kilometer überwinden.

11. – 13.07.2014 38. internAtionAles oldtimer-

meeting, bAden-bAden

Blitzender Chrom, nostalgisches Flair und stilvolle Kulisse: Die Besucher des 38. Oldtimer-Meetings

in Baden-Baden erleben eine Zeitreise durch die Automobilgeschichte. Zu sehen sind mehr als 300

Oldtimer, ein Autokorso durch die Stadt und sogar eine Modenschau.

einplAnen

EinplanenZukunft

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April

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„Weisheit der Masse“? Das klingt zunächst falsch. Ist die Masse nicht für gewöhnlich nicht ziemlich, nun ja … beschränkt? Zahl-reiche Experimente haben jedoch gezeigt, dass unter bestimmten Voraussetzungen eine große Gruppe von Menschen tatsächlich in der Summe klüger ist als ihre klügsten Individuen.

Ein Beispiel: Bittet man Menschen, abzu-schätzen, wie viele Murmeln sich in einem großen Glasbehälter befinden, liegen alle daneben – manche knapp, manche deutlich. Bildet man jedoch den Durchschnitt aus den Schätzungen, ist dieser extrem nah an der wahren Anzahl. Und fast immer präziser als die beste Einzelschätzung. Auch bei der Quizsendung „Wer wird Millionär?“ hat der Publikumsjoker, bei dem das Studiopublikum befragt wird, eine höhere Erfolgsquote als der Telefonjoker, bei dem ein vorab vom Quizkandidat ausgewählter Experte zu Rate gezogen wird.

„Selbst bei der Suche nach einem verschol-lenen U-Boot und einer bei einem Flugzeug-absturz vor der Küste Spaniens versunkenen Wasserstoffbombe wurde die Technik erfolg-

wenn ihre Mitglieder so individualistisch handeln wie möglich.“ Es sei wichtig, dass es sich um eher faktische und quantifizier-bare Fragen handele, damit es möglich ist, aus den Antworten einen Durchschnittswert zu bilden. Weiterhin sei es vorteilhaft, wenn sich die Mitglieder der Gruppe nicht zu ähnlich seien, was ihren Hintergrund, ihre Einstellung und ihre Expertise betrifft.

Bei der Suche nach dem U-Boot setzte sich eine Gruppe zusammen „und jeder Einzelne, vom Offizier bis zum Techniker, gab eine Mutmaßung ab, was passiert sein könnte: Wie schnell und weit das U-Boot in welche Richtung gefahren sein müsste, wie hoch oder wie tief es sich befinden könnte“, er-klärt Surowiecki. „Einige Flaschen Whiskey dienten als Wetteinsatz. Eine Person fasste all diese Einzelaussagen zusammen und ermittelte daraus einen Ort – und tatsäch-lich befand sich das U-Boot nur 200 Meter davon entfernt. Das Interessante: Niemand der Beteiligten hatte auf genau diesen Ort getippt – es war nur die Summe ihrer Ver-mutungen.“

Text: Christoph Koch

intelligenz en gros eine enTscheiDungshilFe Für besTimmTe FälleDas ganze Leben lang muss man sich entscheiden. Was studieren? Wo arbeiten? Kaufen oder Mieten? Strand oder Berge? Entscheidungen können uns lähmen – aber es gibt Tricks, wie wir sie beschleunigen, erleichtern und verbessern können. Wir stellen in jeder Ausgabe eine Entscheidungstechnik vor, beschreiben, wie sie funktioniert und wann man sie am besten einsetzt.

JA / nein

es ist pArAdox, Aber gruppen sind dAnn Am klügsten,

wenn ihre mitglieder so individuAlistisch

hAndeln wie möglich.

reich angewandt“, erklärt James Surowiecki. Der Wirtschaftskolumnist des „New Yorker“ hat in seinem Buch „Wisdom of the Crowds“ genau analysiert, wann die Gruppe bessere Entscheidungen trifft als das Individuum.

Wichtig sei vor allem, so Surowiecki, dass alle Mitglieder der Gruppe unabhängig voneinander ihren Tipp abgeben. „Es ist pa-radox, aber Gruppen sind dann am klügsten,

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Ja / NeinZukunft

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In einem Dorf im Allgäu werden rare und teure Farbpigmente hergestellt. Die Zutaten heißen Gallapfel, Juraperle oder Sepia. Doch was in Aichstetten vor sich geht, ist kein Hexenwerk. Ein Besuch bei Georg Kremer, dem Firmengründer.

unternehmen mit trAdition

An diesem Blau kommt niemand vorbei. Zwei Pfeiler begrenzen die Einfahrt der Mühle aus dem 18. Jahrhundert. Gestrichen sind sie in einer Farbe, die den Himmel über dem Allgäuer Dorf Aichstetten selbst an sonnigen Tagen blass wirken lässt: Smalte. Smalte ist ein auf Kobalt basierendes Pigment aus gemahlenem Glas. Ein giftiges, überirdisches Blau, dessen Intensität sich mit wechselndem Licht verändert. Schon die Ägypter mischten daraus Farbe, um Sarko-phage zu verzieren. Auch Titian, El Greco und Jan Vermeer malten damit. Die Kunst des 16. Jahrhunderts wäre ohne dieses Pigment eine andere. Und doch verschwand es Anfang des 20. Jahrhunderts vom inter-nationalen Markt – bis ein Student aus Baden-Württemberg 1974 die Rezeptur wiederentdeckte.

Georg Kremer ist Chemiker. Womit er sich noch auskennt: Kunstgeschichte, Literatur- und Sprachwissenschaft, Philosophie, Ethnologie, Ökonomie, Physik, Mathematik. Unter anderem. Sein umfassendes Wissen hat dem 67-Jährigen dabei geholfen, in 37 Jahren in der Provinz ein Unternehmen aufzubauen, das heute mehr als 100.000 Kunden in der ganzen Welt mit Farbpig-menten beliefert. Anspruchsvolle Kunden. Der Maler Sigmar Polke war einer. Auch der Maler und Bildhauer Georg Baselitz kauft bei Kremer ein. Viele internationale Museen lassen sich Kremer Pigmente für ihre Restauratoren liefern. Aber auch ambi-tionierte Malermeister oder Hobbykünstler mischen sich ihre Farben mit den Rohstoffen aus dem Sortiment an. Und natürlich die Industrie.

die teuerste fArbe der welt

Einige der Töne sind so teuer, dass ihre Ver-wendung selbst die Medien eine Schlagzeile wert ist: „Die teuerste Farbe der Welt“ heißt es zum Beispiel über das Purpurpigment. Für ein Gramm wird der Drüsensaft von 10.000 neuseeländischen Schnecken benötigt. Im Verkauf kostet es 2.500 Euro. Andere der Pigmente, die in Aichstetten hergestellt

werden, sind sonst nirgendwo auf der Welt erhältlich. So wie einst die Smalte, mit der alles begann. „Ein Bekannter benötigte das Blau für die Restaurierung einer Londoner Kirche“, sagt Kremer. „Doch seit 1910 wurde Smalte nirgends mehr produziert. Also habe ich nach einem Rezept gesucht.“ Mithilfe einer Anleitung von 1820 machte er sich schließlich in seinem Labor an die Arbeit. Das Ergebnis überzeugte den Kirchen- restaurator. Kremer hatte seinen ersten Kunden.

So, sagt er, sei die Idee entstanden, sich als Hersteller seltener Pigmente selbstständig zu machen. Doch das ist nur die eine Version der Geschichte, die buntere. Die andere ist weniger farbenfroh, dafür brillant. Der Chemie-Student suchte nach einem Weg, neben dem Studium Geld zu verdienen. Forschung schloss er für sich aus: „Für eine neue Erfindung braucht man viel Kapital. Und sobald man erfolgreich ist, läuft man Gefahr, von einem Konzern geschluckt zu

werden.“ Also wandte er sich den rückläufigen Märkten zu – und entschied sich für his-torische Farben. „Das Marktsegment war 1975 zum Sterben verurteilt.“ Doch Kremer gründete seine Firma 1977.

dAs Aufspüren seltener rezepturen.

Im Verkaufsraum stehen Hunderte Glas-fläschchen aufgereiht. Jedes ist gefüllt mit Pigmenten einer Nuance: Nelkenfarbe, Plossblau, Pyrit, Zuckerdolomit, Sepia. Es gibt Erdfarben und Neonfarben. Glitzerpar-tikel, die für die Herstellung von Nagellack oder Christbaumkugeln benutzt werden. Pigmente für Geigenlacke. Nur etwa 250 der rund 1.500 angebotenen Partikel werden in der Mühle hergestellt: „Wir produzieren ausschließlich das, was wir nicht in besserer Qualität einkaufen können.“

Die Spezialität des Firmenchefs ist jedoch das Aufspüren seltener Rohstoffe und Rezepturen. In den dreißiger Jahren hatte die IG Farben, das seinerzeit größte Che-mieunternehmen der Welt, damit begonnen, die Farbenindustrie umzustrukturieren. „Den Verbrauchern sollten nur noch fertige Produkte angeboten werden“, sagt Kremer. Zuvor hatten Maler ihre Farben aus Pigmenten angemischt. Wer nicht genau arbeitete oder das Produkt wechselte, bekam kein einheitliches Ergebnis. Entsprechend erfolgreich waren die pinselfertigen Farben in Eimern und Tuben, die in den fünfziger Jahren das Mischen überflüssig machten. „Bis 1960 gab es in jeder Stadt einen Laden, der Farbpartikel und Bindemittel anbot. 20 Jahre später waren nahezu alle diese Läden verschwunden.“ Georg Kremer rechnete also nach: Wenn es in jeder deutschen Stadt fünf Menschen gäbe, die weiterhin Verwen-dung für die Rohstoffe hätten, wären das mehr als 10.000 potenzielle Kunden. Ein guter Anfang. Er begann, Pigmente aus Konkurs-masse und Restbeständen aufzukaufen. Sein erstes Sortiment.

dAs mArktsegment wAr 1975 zum

sterben verurteilt.

Georg Kremer

hier stimmt die chemie Das unTernehmen kremer pigmenTe isT alTen Farben auF Der spur

Character Ausgabe 3 / 201438 39

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Tradition Unternehmen mit Tradition

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wir produzieren Ausschliesslich dAs,

wAs wir nicht in besserer quAlität einkAufen können.

Georg Kremer

Links: Auf dem Weg zum Blau: Der Lapis-Stein wird in einer Mühle ge-

mahlen und schließlich einem aufwendigen Sieb- und Reinigungsverfahren unterzogen.

Die reinste Form des Lapislazuli ist Fra Angelico Blau.

Rechts: Herstellung der Farbe: Kremer stellt nicht nur Pigmente, sondern auch fertige Gebrauchsfarben her. Dazu

werden die Pigmente je nach gewünschtem Produkt mit verschiedenen Bindemitteln

„angerieben“, also vermischt.www.bethmannbank.de

Ausgabe 3 / 20144140 CharacterTradition Unternehmen mit Tradition

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kundensuche per Anschreiben

In dem Flügel der Mühle, der in Goldocker gestrichen ist, steht Rudolf Fürgut im Blaumann an einem Tisch und mahlt in einem Mörser grüne Glaspartikel. Von Hand. „Wenn sie zu gleichmäßig sind, verlieren sie die Brillanz“, sagt er. 40 Angestellte arbeiten in Herstellung, Versand, Lager, Büro und Einkauf. Die meisten kommen aus dem Um-land und mussten deswegen nicht von den Vorteilen des Standorts überzeugt werden. Auch für Georg Kremer lagen diese auf der Hand: Arbeit und Familie lassen sich hier gut vereinbaren. 1984 erwarb die Familie die von Wiesen und alten Bäumen umgebene Mühle. Es folgten aufwendige Renovie-rungsarbeiten. Seitdem bewohnt Kremer mit seiner Frau und den Kindern einen Teil des Firmensitzes. Hinter der Mühle fließt die Aitrach vorbei und liefert den Strom für die Produktion. Darüber hinaus bietet der Standort günstige Lagerflächen. Und es gibt nur wenige Nachbarn, die sich beschweren könnten, wenn bei Kremer mal wieder El-fenbeinschwarz gebrannt wird und es in den Straßen nach geröstetem Elefant riecht.

Obwohl es mittlerweile einen Autobahnan-schluss gibt, ist das Dorf immer noch nicht gut angebunden. Doch das stört den Chemiker nicht. Sein Ziel ist ohnehin immer der Versandhandel gewesen, sagt er. In den sieb-ziger Jahren fand er seine Kunden, indem er in Telefonbüchern blätterte. Kremer schrieb jeden gelisteten Restaurator und Kunstmaler an. „Ich verschickte 30 Briefe mit einer Bestellliste, und es kamen drei Bestellungen zurück.“ Viele Abnehmer habe er allein durch Mundpropaganda gewonnen, sagt Kremer. Später warb er in Kunstmagazinen. Die Bestellliste im DIN-A-4-Format wurde mit den Jahren länger. Heute verschickt das Unternehmen Kataloge mit über 200 Seiten. Seit 1995 gibt es eine Website, in deren Ge-staltung viel Arbeit investiert wurde.

zwei JAhre Auf suche nAch dem grün

Die Kunden sind anspruchsvolle Ästheten. Manche kommen extra nach Aichstetten, um sich beraten zu lassen. Zweigniederlas-sungen gibt es nur in München und New York. Kaufen kann man Kremer Pigmente

jedoch fast überall auf der Welt, bei Händlern in Litauen, Australien, Taiwan oder Mexiko. Und natürlich im Online-Shop. Trotzdem nimmt sich Georg Kremer weiterhin die Zeit, um nach Rohstoffen zu suchen, die sonst niemand hat. Ein bis zwei Monate im Jahr ist er unterwegs. Sei es, um in Italien eigen-händig nach einer besonderen Veroneser Grünen Erde zu graben – zwei Jahre hat ihn die Suche nach dem Vorkommen gekostet – oder um in Bibliotheken Rezepturen zu recherchieren. So, wie er einst die Formel für Smalte gesucht hat. Für die Farbe, die seitdem nicht nur eine Londoner Kirche und die Pfeiler am Eingang seiner Mühle schmückt, sondern seit 2004 auch das Kreuz der Dresdner Frauenkirche. Weithin sichtbar. Überirdisch schön.

Text: Jessica Braun

kremer pigmente – besonderheiten Aus dem sortiment

Pfirsichkernschwarz: Auf Wunsch eines Künstlers, der etwas über ein seltenes

Schwarz gelesen hatte, begann Georg Kremer mit getrockneten Pfirsichkernen

zu experimentieren. Anfangs mussten die Angestellten die Pfirsiche essen, damit

ihr Chef an die Kerne kam. Mittlerweile gehört die Farbe zum beständigen

Sortiment – die Kerne bezieht Kremer von einem Pfirsichspezialisten.

Fra Angelico Blau: Mit 200 Euro für 10 Gramm gehört Kremers Fra Angelico

Blau (Ultramarin) aus Lapislazuli zu den teuersten Pigmenten der Welt.

Dürer musste es einst mit Gold aufwiegen, sagt man. Der Edelstein für die Her-

stellung wird in Afghanistan gewonnen. Die dort lebenden Tadschiken handeln

mit ihm, um an Geld für Waffen und Medikamente zu kommen.

Zinnober: Echter Zinnober ist eine rote Modifikation von Quecksilbersulfid

und nur bedingt lichtecht. Deswegen wird der Farbton heutzutage häufig

mit einem alternativen Pigment nachgestellt. Wenn jedoch ein Altarbild des

Renaissance-Malers Matthias Grünewald restauriert werden muss, bestellt der

Restaurator die Farbe in Aichstetten.

Böhmische Grüne Erde: Nicht nur das Turmkreuz der Dresdner Frauenkirche

wurde mit Pigmenten aus Aichstetten bemalt. Auch das Grün im Inneren der

Kirche hat Georg Kremer geliefert. Es ist eine spezielle Böhmische Grüne Erde,

die dort vermalt wurde. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war dies eine weit

verbreitete Farbe. Mittlerweile sind die Fundorte von guter Qualität selten

geworden. Georg Kremer bezieht seine aus einem militärischen Sperrgebiet in

Tschechien. Woher genau, will er natürlich nicht verraten.

Titanweiß: Für das 6,5 Mio. Euro teure Gemälde, das der Künstler Miquel

Barceló im „Saal der Menschenrechte“ des Palais des Nations in Genf an der

Decke anbrachte, mussten die Mitarbeiter in Aichstetten die Produktion

gehörig ankurbeln. Viele Pigmente, darunter das Titanweiß, wurden tonnen-

weise bestellt. Mit Druckpistolen brachte der Künstler die Farben auf künstlich

geformten Zapfen an. Die fertig bemalte Decke ähnelt einer Tropfsteinhöhle

in allen denkbaren Schattierungen.

Handgefertigt: Die Aquarellfarben von Kremer Pigmente.

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Ausgabe 3 / 201443CharacterTradition Unternehmen mit Tradition

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Schon Goethe wusste, dass das Leben viel zu kurz ist, um schlechten Wein zu trinken. An diese Devise hält sich auch Winzer Roman Niewodniczanski. Aber nicht nur große Weine und andere schöne Dinge des Lebens begeistern ihn, er lässt sich auch leidenschaftlich gerne beim Rennradeln den Fahrtwind um die Ohren pfeifen. Das hilft beim Abschalten. Wie auch noch andere Dinge, die man im Leben keines-wegs versäumen sollte, findet Roman Niewodniczanski.

von guten weinen und der schönheit der unterwAsserwelt

12 dinge, die mAn tun sollte

2. mit dem rennrAd bei rückenwind in der Abendsonne von hAvAnnA den mAlecón entlAngsAusen

8. unter dem meeres-spiegel die unendliche schönheit der schöp-fung bewundern

5. sich tAgtäglich bewusst An den schönen dingen des lebens erfreuen

6. freunde trotz Aller verpflichtungen nicht vernAchlässigen

1. lAut lAchen

4. sich von schlechtem essen und miesen weinen fernhAlten

3. unter der dusche mit Aller inbrunst singen

7. mAl dAs hAndy AusschAlten

10. mit dem heissluft- bAllon die wunder- schöne moselregion erleben

12. die kostbArkeit eines 100 JAhre Alten weines erleben

11. mehr zeit mit der fAmilie verbringen

9. beim denken und hAndeln Ausgetretene pfAde verlAssen

12 Dinge, die man tun sollte

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Zukunft 12 Dinge, die man tun sollte

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Formschön gestaltete Gegenstände bereichern unser Leben. Wir haben Freude, sie zu be-trachten, haptisch zu erleben, sie anzuwenden und uns damit zu zeigen. Doch warum ist das so? Mit dieser Frage beschäftigen wir uns meist nicht. Etwas gefällt, und wir genießen die schönen Gefühle, die wir dabei erleben. Erfolgreiche Unternehmen treiben die Antworten auf diese Frage jedoch an. Denn sie sind entscheidend für das Design der Zukunft – und damit letztlich für ihren Erfolg.

Das Design beschäftigt sich mit diesen Fragen. Ich bin davon überzeugt: Die Ant-worten sind die inneren Bilder, die schon beim ersten Kontakt mit einem Produkt in uns entstehen und die wir mit eigenen Wünschen und Sehnsüchten abgleichen. Ohne unser bewusstes Zutun visualisieren wir Antworten auf die Frage: „Wie fühle ich mich mit dem Produkt?“, „Wie wirke ich damit auf andere?“ Unser Gehirn produziert vielfältige und bunte Szenen, mit denen wir unsere eigene Erlebniswelt gestalten. Wir führen quasi unbewusst Regie über das zukünftige Leben mit diesem Produkt: Der Dreh für das ganz große Kopfkino beginnt.

Ob Menschen sich zum Kauf eines Produktes entschließen, hängt natürlich entscheidend davon ab, welche Bilder das Produkt in ihnen entfesselt. Nur wenn sie sich vorstellen können, damit ihre Träume und Hoffnungen zu erfüllen, werden sie bereit sein, Geld dafür anzulegen.

Um ein erfolgreiches Produkt zu gestalten, würde sich so mancher Unternehmer gerne einer magischen Glaskugel bedienen, die ihm die Zukunft abbildet. Das wäre ein echter Wett-bewerbsvorteil. Da es diese Glaskugel nicht gibt, investieren Unternehmen heute immense Summen in wissenschaftliche Marktforschung und das Sammeln großer Datenmengen.

Aus unserer langjährigen Erfahrung wissen wir jedoch, dass die Aussagekraft von „Big Data“ meist überschätzt wird. Dabei lügen weder die Daten noch die Kunden. Aber die Daten erfassen eben nur das, was ist, und nicht das, was sein wird. Und die Kunden selbst? Sie sind sich der Motive ihres

Handelns meist nicht bewusst. Wie sollten sie dann darüber Auskunft geben? Folglich bildet „Big Data“ nur die Gegenwart ab. Zukunft und Inspiration können Unterneh-men davon nicht erwarten.

Wer erfolgreiche Produkte der Zukunft gestalten will, geht besser hinaus in die Welt, in die Zentren und Läden großer Innenstädte. Er geht shoppen und beobachtet die Menschen beim Einkauf. Er sollte sich nicht primär dafür interessieren, was die Menschen kaufen, sondern wie sie dies tun. Er sollte versuchen, die Wünsche und Sehnsüchte der Menschen zu entdecken und das Kopfkino beim Betrach-ten der Produkte zu sehen. Dieses Vorgehen ist recht archaisch: Erspüren. Wahrnehmen. Erforschen. Nennen wir es „Kreative Analyse“. Es erfordert empfindliche Antennen, die wahr-nehmen, was da draußen los ist.

In der Geschäftswelt ist es nicht üblich, über Gefühle zu sprechen. Die meisten Manager trauen sich das nicht. Doch nur mit rationalen Argumenten werden wir uns den Produkten der Zukunft nicht nähern. Immer offensicht-licher wird, dass Erfolg nicht allein über den Qualitätsaspekt entschieden wird. Die Qualität der Produkte wird immer wertiger, gleichzeitig werden sich die Produkte immer ähnlicher. Eine Auswahl wird nur noch über den Preis oder aber die Wirkungsfrage – das Kopfkino – entschieden.

dAs gAnz grosse kopfkino Design Der zukunFT

für morgen

mArktforschung und big dAtA können die inneren vorstel-

lungsbilder der menschen nicht ent-schlüsseln. unter-

nehmen sollten sich ihnen vielmehr über

eine „kreAtive AnAlyse“ nähern.

Unternehmen stehen vor der Herausforderung, im Heute Produkte zu gestalten, die in der Zukunft die Menschen begeistern und prägend für ihr Leben sein werden. Bereits Jahre im Voraus müssen sie Antworten auf die Frage finden, was die Menschen zukünftig bewegt und welche Produkte Zugang in ihr Leben finden werden. Das ist eine spannende Aufgabe. Doch Unternehmer sollten sie nicht allein den Marktforschern überlassen.

Ein Gastbeitrag von Professor Thomas Gerlach

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46 Für morgenZukunft

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Der Preis ist jedoch selten ein echter Wett-bewerbsvorteil, denn meist findet sich in kürzester Zeit jemand, der das Produkt noch billiger herstellen und anbieten kann.

Und nicht zuletzt: In unseren entwickelten Ländern haben die Menschen alles. Sie brauchen nichts mehr. Sie werden deshalb nur noch Dinge kaufen, mit denen sie etwas Besonderes zum Ausdruck bringen können, von denen sie erwarten, dass es sie verändert, weiterentwickelt und ihr Leben „würzt“.

Für Unternehmen ist die Königsdisziplin, mit der sie diese unterbewussten Erwartungen ihrer Kunden erfüllen können, das Design. Dem Design kommt die Aufgabe zu, die Wir-kungs- und Haltungsfragen auf ein Produkt zu projizieren und ihnen durch Form, Ma-terie und Farbe Ausdruck zu verleihen. Der Raum, in dem diese Projektion stattfinden kann, ist definiert durch den „genetischen Code“ einer Marke und eines Unternehmens. Das Design muss adäquat darstellen, was den Kern der Marke, des Produkts und des Unternehmens ausmacht. Denn nur wenn ein Unternehmen aus seiner eigenen Identität heraus agiert, kann es auch seine Kunden auf einer emotionalen Dimension über innere

Vorstellungsbilder erreichen. Und letztlich muss das Produkt auch zu den industriellen Möglichkeiten oder dem Handwerk des Unternehmens passen.

Die Zukunft wird im Konzert der unter-schiedlichsten Produkte gestaltet. Das Unternehmen muss sich deshalb vorstellen, wie es mit einem neuen Produkt am Markt, bei seinen Händlern und Kunden wirkt. Jedes neue Produkt verändert auch die Marke. Es gilt zu fragen: Will man diese Veränderung? Passt das zu uns? Ein Unternehmen sollte dabei konsequent bei sich bleiben und nicht jedem Trend folgen. Es kann auch die bessere Entscheidung sein, manches anderen zu überlassen.

Und wie sehen nun die Produkte der Zukunft aus? Welche inneren Bilder der Menschen sollte das Design der Zukunft beantworten?

Authentizität: Menschen streben nach einer positiven Ausstrahlung. Neben der Geltung nach außen – Wie wirke ich damit? – wird auch die innere Erbauung eine immer größere Rolle spielen: Wie fühle ich mich mit dem Produkt? Entspricht es meinen Werten? Bringt es mich weiter?

Interaktion: Menschen wollen sich in der Gemeinschaft erfahren. Die Möglichkeit des Miteinanders ist ein Schlüsselfaktor.

Das Echte: Nachahmer haben keine wirk-liche Chance. Gesucht wird das Stilvolle, Eindeutige, das Wertige und nicht zuletzt: das Neue.

Zudem müssen wir erkennen, dass es den großen „Supervernunftsschwenk“ beim Ver-braucher noch nicht gibt. Wie sonst ist es zu erklären, dass die Elektromobilität mit hohen Subventionen zu den einzelnen Verbrauchern getragen wird und dennoch der „mündige“ Kunde genau das Gegenteil davon macht: Er fährt in Scharen im SUV mit Allrad durch unsere Innenstädte. Dies zeigt, dass neue Produktkonzepte durch ihre ganzheitliche Ausstrahlung nicht zwingend das erwünschte Kopfkino auslösen können. Der Schlüssel ist vielmehr die bessere emotionale Wirkung und Aufladung: Nur wenn sich die Benutzer gut fühlen und gemäß ihrem Selbstbild auf andere wirken, stellt sich langfristiger Erfolg für nachhaltige Produkte ein. Das Design der Zukunft muss diese Aufgabe erfüllen.

Professor Thomas Gerlach sieht seine Aufgabe als Designer seit mehr als drei Jahr-

zehnten darin, mit der Gestaltung von Marken und Produkten die Vorstellungs-

bilder der Kunden mit denen der Unternehmen in Einklang zu bringen. Seine

Karriere begann er als Chefdesigner, Geschäftsführer und Europapräsident von

frogdesign, das durch die Arbeiten für Apple, Sony und viele andere internationale

Konzerne Weltgeltung erlangte. 1992 wurde er Unternehmer und beriet bisher mit

via4 Design Unternehmen wie Acer, Deutsche Bank, Fissler, Hewlett Packard,

Mercedes-Benz, Samsung, Swarovski oder Villeroy & Boch. Darüber hinaus ent-

wickelt und realisiert er eigene Unternehmenskonzepte. 2004 bekam er einen Ruf

an die Hochschule Pforzheim, wo er den international anerkannten Studiengang

Master of Arts in Creative Direction MACD aufbaute und bis heute leitet.

Professor Thomas Gerlach ist mit mehr als 70 Design- und Innovationspreisen

vielfach international ausgezeichnet.

dAs design der zukunft ist nicht

beliebig, es entsteht in einem definierten rAum. unternehmen sollten bei sich blei-ben und nicht Jedem

trend folgen.

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Zukunft Für morgen

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mAnnheim „klein-isTanbul“ in Der kurpFalzWo Neckar und Rhein sich küssen, liegt Mannheim. Die Industriestadt zeigt ihren Charme erst auf den zweiten Blick: mit spannenden Museen, Bädern und dem aufstrebenden Szenestadtteil Jungbusch.

unterbewertet

Mannheim? Na klar, der Bahnhof! Egal ob von Basel nach Berlin, von Stuttgart nach Köln oder von Karlsruhe nach Hamburg – Mannheim ist immer dabei. Im Vergleich zu dem nur 20 Kilometer entfernten, von Touristen überlaufenen Heidelberg zieht die Industriestadt jedoch bislang wenig Privatrei-sende an. Ein Fehler, der sich beim nächsten Umsteigen korrigieren lässt.

Gleich außerhalb des Bahnhofs rechts erhält man bei der Tourist Info einen kostenlosen Stadtplan. Inmitten der Architektur der 1960er und 1970er Jahre wirkt Mannheim zunächst wenig einladend, eine Dönerbude reiht sich an die andere, dazwischen Billig-bäcker, die von Laufkundschaft profitieren. Nur Insider stoppen auf der linken Straßen-seite bei „Tokyo Sushi“ in L14, laut Einheimi-schen nicht nur das beste Sushi-Restaurant der Stadt, sondern der ganzen Region.

L14? Die erste wichtige Lektion: Mannheims gesamte Innenstadt verfügt über keine Stra-ßennamen, sondern teilt sich recht pragma-tisch in mit Buchstaben und Zahlen benannte Quadrate auf. Der Besucher nehme sich die zwei Minuten Zeit, schaue auf den Stadtplan, mache sich kurz die Logik klar und wird sich zurechtfinden.

Es gibt sie natürlich, die klassischen Sehenswürdigkeiten: Vom Bahnhof aus

führt der stark befahrene Kaiserring zum Wasserturm auf dem Friedrichsplatz, der mit Wasserspielen und Rasen eine grüne Oase inmitten doppelspuriger Straßen bildet. Dort, direkt vor dem Kongresszentrum Rosengarten, wirkt Mannheim mondän. Gleich gegenüber befindet sich die Mann-heimer Kunsthalle, die mit spektakulären Ausstellungen um die Klassische Moderne punktet. Inmitten der Quadrate liegen die Reiss-Engelhorn-Museen, die mit ihren historischen Ausstellungen Besucherströme anlocken.

Mindestens genauso spannend sind für Entdeckerseelen jedoch Orte wie das 1920 eröffnete Herschelbad in U3, einem von dem gleichnamigen jüdischen Kaufmann finanzierten Hallenbad, das frisch renoviert nicht nur Sauna- und Schwimm-, sondern auch Jugendstilfans anlockt. Im Sommer lohnt sich die Abkühlung im Strandbad Neckarau. Der Eintritt ist frei. Wer mag, kann sich mit Neckarblick im Restaurant „Strandbad“ stärken.

Wer von Mannheims Marktplatz in Rich-tung Nordwesten geht, taucht in eine andere Welt ein. Hier beginnt „Klein-Istanbul“, geprägt durch Geschäfte mit Goldschmuck, der Hochzeitswährung Nummer eins, Brautkleid-Studios und Moscheen in Hinterhöfen. Das Stadtbild wirkt verändert,

es kommt Kreuzberg-Atmosphäre auf. Hier ist Mannheim Berlin im Miniformat, mit knapp zehn Prozent der Einwohner.

Mannheims derzeit spannendstes Viertel Jungbusch liegt dazu in direkter Nach-barschaft am Verbindungskanal zwischen Neckar und Rhein. Das Arbeiterviertel ist nicht nur Heimat Deutschlands einziger Pop-Akademie und des dazu passenden „Musik-Parks“, der Existenzgründern aus der Kreativwirtschaft günstige Büroräume bietet, sondern hat sich zum coolen Ausgeh-stadtteil mit Multikulti-Flair gewandelt. In der Jungbuschstraße verströmen Kneipen mit Namen wie „Onkel Otto Bar“, „Nelson“ und „Kiets König“ St.-Pauli-Atmosphäre. In den vergangenen zwei Jahren haben dort viele neue Bars und Restaurants wie die Cocktail-bar „Hagestolz“ oder das vegan-vegetarische Restaurant „Kombüse“ eröffnet.

Wenige Meter neben der Popakademie entstehen derzeit 90 „Wohn- und Geschäfts-einheiten“, die als Lofts für 3.000 Euro je Quadratmeter vermarktet werden. Direkt gegenüber befinden sich noch alte Fabrikge-bäude mit zersprungenen Fensterscheiben – sie werden wohl nicht mehr lange existieren: Die Veredelung, neudeutsch Gentrifizierung, des Jungbusch hat begonnen.

Text: Geraldine Friedrich

tokyo-sushi-bAr

l 14 11 68161 mannheim

Tel. 06 21/ 3 97 28 09

www.tokyo-sushi-bar.de

musikpArk mAnnheim

hafenstraße 49 68159 mannheim

Tel. 06 21/ 39 74 69 42

www.musikpark-mannheim.de

gemeinschAfts- zentrum

Jungbusch

Jungbuschstr. 19 68159 mannheim Tel. 06 21/1 49 48

www.jungbuschzentrum.de

strAndbAd mAnnheim- neckArAu

strandbadweg 1 68199 mannheim

Tel. 06 21/ 80 39 65 98

www.strandbad-mannheim.com

popAkAdemie bAden-württemberg

gmbh

hafenstr. 33 68159 mannheim

Tel. 06 21/ 53 39 72 00

www.popakademie.de

bundeslAnd: BADEN-WÜRTTEMBERG

höhe: 97 m ü. NN

fläche: 144,96 km²

einwohner: 294.627 (31.12.2012)

bevölkerungsdichte: 2.033 Einwohner je km²

kfz-kennzeichen: MA

Friedrichsplatz Mannheim mit Wasserturm und Rosengarten

Gegenwart Character Ausgabe 3 / 201450 51

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Unterbewertet

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Wohlfühloase der Businessclass, Ort der Selbstfindung, Bühne der Sehnsucht: die klassische American Bar. Ihr Zauber, ihr Mythos.

„noch’n drink?“pAnorAmA

Schumann’s Das Schumann’s am Münchner

Odeonsplatz wurde 1982 eröffnet und entwickelte sich zum Treffpunkt von Autoren,

Künstlern – und der Schickeria. Gründer Charles Schumann entwickelte zwei eigene

Serien von Bargläsern und zahlreiche Cocktails wie den „Swimmingpool“ oder den

„French 68“.www.bethmannbank.de

Ausgabe 3 / 201453Character52Tradition Panorama

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Funicular Die Funicular Lounge Bar befindet sich im Funicular Restaurant Complex in der

georgischen Hauptstadt Tiflis. Die Bar, die sich höhenmäßig über allen anderen Bars

der Stadt befindet, bietet den Besuchern ein besonderes Dekor: ein Fresco des Künstlers

Koka Ignatov aus den 1960ern namens „Tribute to Pirosmani“. Waterhouse

Die Waterhouse Bar & Terrace im Hilton Brighton Metropole Hotel lädt die Gäste

zum Verweilen in komfortablen Sitzecken, auf der Champagner- und Zigarren-Terrasse

oder direkt an der Bar. Neben einer Reihe von Getränken wie dem unverkennbaren

Earl Grey Martini werden dort Meeresfrüchte oder Scones mit Marmelade und Sahne

serviert.

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Hagestolz Die Hagestolz Bar in Mannheim wurde

erst im Jahr 2012 von drei Studenten mit privatem Kapital gegründet. Die Jungunter-

nehmer mixen ihre Getränke aber auf einem zweckentfremdeten Verkaufstresen

von 1890. Der Begriff Hagestolz stammt aus dem Mittelalter und bezeichnet einen

überzeugten Junggesellen.

die bAr – schule der einsAmkeit.

Luis Bunuel

Red Dog Saloon Der Red Dog Saloon versprüht uramerika-nisches Flair mitten in London. So wird das

Barbecue dort zubereitet wie einst über den Feuerstellen im Süden der USA, wobei

amerikanische Hölzer wie Hickory und Mes-quite für den original rauchigen Geschmack

verwendet werden.

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mAn muss dem leben immer um

mindestens einen whiskey vorAus sein.

Humphrey Bogart

„Der Mensch“, sagt Woody Allen, „lebt nicht vom Brot allein. Nach einer Weile braucht er einen Drink.“ Zum Beispiel nach Feierabend. Also: ab nach Hause! Und dort? Post vom Finanzamt, Rechnungen im Briefkasten, der Kühlschrank leer und die Haushaltshilfe hat die Hemden verwaschen … Aber auch wenn man kein Single ist, muss es nicht immer lustig sein, nach Hause zu kommen. Die Ehefrau ist vielleicht übel gelaunt, weil der Gärtner nicht kam, die schlechten Schulnoten der Kinder müssen besprochen werden und der DVD-Player hat den Geist aufgegeben. Alltag! Probleme! Zeit also, einen Umweg zu machen. Zeit, dorthin zu gehen, wo man ebenfalls zu Hause ist, aber wo keine Probleme warten: in eine Bar.

die bAr Als ort der inspirAtion und des müssiggAngs

Bei Gimlets, Slings, Margaritas oder nur beim ersten Bier des Abends gleitet man hier hinüber vom Stress des Tages in die Trägheit des Abends. Für viele sind diese ersten Stunden in einer noch fast leeren Bar die schönsten. Es ist die Zeit der „Happy Hour“, die Zeit, den Tag Revue passieren zu lassen, das Tempo aus sich selbst und der Welt herauszunehmen.

In der Bar ist der Mensch zwar nicht da-heim – aber doch irgendwie zu Hause. Hier triumphieren Inspiration, Müßiggang und die subtilen Spielarten der Kommunikation. Alle Bars sind notwendige Höhlen in Groß-städten, letzte tröstliche Refugien. Und auch das verschlafenste Provinznest wird durch die Existenz einer Hotelbar aufgewertet. Für die einen ist die Bar ein Hort der kul-tivierten Einsamkeit, für die anderen eine Bühne der kalkulierten Selbstdarstellung. Immer gilt: Die Bar, lichtscheu wie sie ist, lässt Hektik und Stress, Tempo und Härte in Dämmerlicht und Dunkelheit versinken. Leise klirren Gläser, Gesprächsfetzen ver-mischen sich und Errol-Garner- oder Miles- Davis-Melodien driften schwerelos durch den Raum.

Die Bar ist eine Erfindung der angelsäch-sischen Kultur. Deshalb ihr Name: Ein Bar, das sind im Englischen 110 Zentimeter – und so hoch ist eine Bartheke. Und weil die Bar in Amerika die kultiviertesten Blüten trieb, etablierte sie sich als „American Bar“. Da fällt einem Edward Hoppers Bild „Nighthawks“ ein. Die Ikone aller Barbilder erzählt von der Sehnsucht, die an diesem Ort herrscht, und von der Möglichkeit, hier gemeinsam einsam zu sein. Die Bar als kul-tivierte Bühne einsamer Menschen männ-lichen Geschlechts? Falsch! Nicht nur auf Hoppers Bild von 1942 sitzt auch eine Frau am Tresen. Längst haben Businessfrauen, Wirtschaftslenkerinnen und Alphawölfin-nen in einer American Bar nach Feierabend das intensive Gespräch mit ihrer Freundin entdeckt – und das dreht sich bei einem Cocktail oder Glas Champagner meist nicht um DAX oder Dolce.

Die berühmteste Bar gibt es nur im Film: „Ricks Café Americaine“ in „Casablanca“. Sie ist Archetyp, Quintessenz aller Bars. Aber nicht nur in den Gralsstätten des gepflegten Trinkens, in der „Oak Bar“ des Plaza-Hotels in New York, in „Harry’s New York Bar“ in Paris, im Münchner „Schumann’s“ oder der winzigen „Loos- Bar“ in Wien werden die besten Drehbücher des realen Lebens geschrieben. Auch alle an-deren kleinen und großen, gestylten oder de-signten, berühmten oder unbekannten Bars bieten die perfekte Bühne für jenes Kammer-spiel, das Leben heißt. Warum? Weil der Mensch sich hier selbst näher ist; weil er sich in dieser Atmosphäre aus Gelassenheit und Ruhe in seine Seele blicken lässt.

die bAr: trAumhölle – grossstAdthöhle

Ob Hotelbars, 24-Stunden-Flughafen-Bars, Cafébars, Strandbars, Schneebars oder die komfortabler möblierten Lounges und Clubs: Dieser Bereich der Gastronomie, in dem – außer Oliven und Erdnüssen – ausschließlich Flüssiges konsumiert werden sollte, boomt. Hocker, Theke und ein Drink,

das ist ein Minimalismus mit Zukunft. Der Grund: Es ist in den kalten Zeiten der Mensch auf der Suche nach Leben. Auf dieser Suche gründet sich die Bar und machte sie zum zeitweiligen Hauptwohnsitz von Intellektuellen und Dichtern. James Joyce trieb es hierher, Luis Bunuel beschrieb seine Idealbar als „Schule der Einsamkeit“. Sie müsse „ruhig sein, möglichst düster und sehr bequem“, behauptete Ernest Hemingway. In dieser „Traumhölle“, so Heiner Müller, werden das Herz leicht und die Gedanken frei. Melancholie lässt sich hier inszenieren. In der holzgetäfelten Bar mit dunklen Ledersesseln verdrängt Weltschmerz den hippen Szenescherz, der heute E-Commerce-Gambler, Net-Surfer, Web-Designer und Art-Direktoren ebenso wie Ärzte, Anwälte, Journalisten, Models und Künstler in die „angesagteste Szene“-Bar treibt. Deren Aura verhält sich zur American Bar wie ein Smart zum Bentley. Und doch geht es auch hier wieder um das eine: um Kommunikation am Tresen. Verbal, nonverbal, völlig egal!

der ideAle bArmAnn ist entertAiner, beichtvAter und philosoph in einem

Das Zentrum der Bar und der Konversa-tion – auch wenn Lounge und Club mit Polstersesseln dagegen aufbegehren – bleibt die Theke. Klassisch aus Mahagoni und poliertem Messing, modern aus gehärtetem Glas und kühlem Edelstahl. Manchmal ist sie poppig gelb zur Aerodynamik geformt wie bei Marc Newsons „Pod Bar“ in Tokio oder sie schmiegt sich weich in einen Raum wie jene, von Philippe Starck gestylte „Felix“-Bar im 28. Stock des Hotels Peninsula in Hongkong. Immer aber bildet der Bartresen eine Grenze! Hinter dieser Grenze ist „sein“ Platz: Der Platz des in makellosem Weiß uniformierten Barkeepers, der mit silbern glänzenden Instrumenten darauf wartet, den modernen Menschen zu verarzten.

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Zum Barmann muss man geboren sein! Ein typischer Barmann ist Entertainer, Beichtva-ter und Philosoph in einem. Er hat die ruhige Hand eines Chirurgen beim Griff nach Flaschen und Gläsern. Diskretion, Perfektion, Humor und Small Talk mit einer Portion Tiefgang beherrscht er perfekt. Und nie verliert er die Nerven! Auch nicht, wenn ein Gast ihm – wie James Bond – alchemistische Anweisungen gibt: „Ausgezeichnet“, sagt 007, „aber wenn Sie dazu einen Wodka nehmen, der nicht aus Kartoffeln, sondern aus Getrei-de hergestellt ist, werden Sie merken, dass er noch besser schmeckt.“ Ein guter Barmann drängt sich nicht auf; und nur Stammgäste dürfen „ihn“ beim Vornamen nennen. Viele Gäste beginnen mit ihm ein Gespräch über Drinks, und am Ende kommt immer ein Gespräch über Menschen heraus. Nicht nur im Wein, auch im Drink liegt Wahrheit.

Apropos Wahrheit: Die American Bar ist kein Ort der Prostitution oder des Exhibitio-

nismus. Deshalb muss der Barkeeper aufpas-sen, sonst wird er schnell zum Therapeuten ohne Kassenzulassung. Fragt man einen der berühmtesten Barmänner der Republik, Charles Schumann in München, zu dem Problem gesuchter und gewollter Nähe, gibt’s eine klare Antwort: „Wenn Sie einem Gast nur einmal das Gefühl geben, dass Sie sein Beichtvater sind, werden Sie es ihr Leben lang sein. Sie müssen Ihre Gäste zu Respekt und Distanz erziehen, sonst werden Sie zum Skla-ven. Entsetzlich sind diese Verbrüderungs-typen. Diese Art von peinlicher Kameraderie gehört in die Eckkneipe.“ Stimmt!

zAuberwort: cocktAil Und noch etwas unterscheidet die Bar von den schnöden Nasszellen des Alkoholkon-sums: „Barflies“ wissen genau, wann sie den Abflug machen, denn nie sollte es hier Ziel sein, den Promille-Gipfel zu erklimmen. Deshalb heißt das Zauberwort „Cocktail“.

Und Cocktails bedeuten die hohe Kunst des Mixens; wobei in der American Bar die Kreationen des Barkeepers immer auf der Basis harter Stoffe wie Scotch oder Bourbon-Whiskey, Gin oder Wodka kreiert werden. Süßliche, grell farbige Crocodile Dundees, Planter Punchs und Caipirinhas gehören eher in vom Lifestyle angetrunkene Design- und Szenebars. Passionierte Barflies greifen ohnehin zu Klassikern: Cocktails nach klassi-scher Rezeptur, Martini, Malt-Whisky, Pils, Champagner, basta! Sich mit solchen Drinks in sich selbst zurückzuziehen und langsam bei sich anzukommen, das ist es, was jene Stunden in einer Bar so wertvoll macht.

Der Barbesuch als Selbstfindung! Er wärmt selbst coole Businessmen – von innen. Oder, wie Billy Wilder behauptet: „Egal wie das Wetter ist: Raus aus den nassen Klamotten und rein in ’nen trockenen Martini.“

Text: Pascal Morché

eine bAr muss ruhig sein, möglichst

düster und sehr bequem.

Ernest Hemingway

Good Godfrey’s Die Good Godfrey’s Bar and Lounge im

Waldorf Hilton im Londoner Covent Garden trägt den Namen von Bandleader Howard Godfrey, der mit den „Waldorfians“ große

Erfolge in den 1920ern feierte.

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Downstairs at Harrison’s Das Downstairs at Harrison’s ist eine neue

Cocktailbar und Teil eines Restaurants in Balham im Süden von London. Die

Gestaltung ist inspiriert von New Yorker Untergrundbars und soll mit den Ledersitzen und der Verwendung dunkler Hölzer an Bars

längst vergangener Tage erinnern.

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S. 20 – 23 Unternehmen der Zukunft Marc Krause

S. 24 – 25 Perspektivenwechsel Daniel Zihlmann

S. 34 – 35 Einplanen Nachweise auf der Seite

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S. 46 – 49 Für morgen S. 46 – 48 Fissler S. 48 Foto Pfleiderer GmbH S. 49 Foto Jaschke

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Autoren dieser AusgAbe

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