Russland Heute

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MITTWOCH, 7. SEPTEMBER 2011 Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich Initiator Schluss mit dem Drama um den WTO-Beitritt Russlands und keine Angst vor Gazprom, meint Manager Klaus Mangold. S. 10 POINTIERT Wladimir und die Nachtwölfe G ar rebellisch gab sich Pre- mier Wladimir Putin jüngst bei den Nachtwölfen, der größten russischen Biker-Gang. Auf einer dicken Dreirad-Harley rollte er gemeinsam mit Nacht- wölfe-Boss Chirurg vor den rus- sischen Rockern vor, die sich in Noworossijsk zum 16. Jahrestref- fen versammelt hatten. Wladimir Putin erklärte die Nachtwölfe zu seinen Brüdern und setzte sich ratternd an die Spitze ihrer Mo- torrad-Kolonne. Stehen aber Biker-Gangs nicht für Rebellion, Freiheit und Rock’n’Roll, eine brisante Mi- schung, die oft in Anarchie und Kriminalität ausartet? Denkste: Die meisten Nachtwölfe sind er- folgreiche Geschäftsleute oder ehemalige Afghanistan-Vetera- nen; und sie stehen für „gesun- den Lifestyle ohne Alkohol und Drogen, Patriotismus und Frei- heit“. Unabhängig davon, was die Hells Angels dazu sagen wür- den: Wenn die Nachtwölfe noch die richtige Distanz zur Politik finden, ist Russland wohl in der Demokratie angekommen. Alexej Knelz CHEFREDAKTEUR „Stabilisiert sich die Lage noch weiter, könnte Russland uns die Überraschung des Jahrzehnts be- scheren“, sagt Peter Reichel, der einen 28 Millionen Euro schwe- ren Fonds der Berenberg Bank für Global Emerging Markets verwaltet. Mit Hoffnung blicken Reichels Kollegen auf die Präsidentschafts- wahlen Anfang 2012. Sie erwar- ten eine neue Welle von Reformen, die Russlands Wirtschaft endlich unabhängiger vom Öl- und Gas- export machen könnte. Aber nicht nur Fondsmanager bli- cken nach Osten: Die Saisonali- tät des russischen Aktienmarktes bietet findigen Kleinanlegern große Chancen. Der jährliche Aus- verkauf von Aktien beginnt Ende April. Wer im September inves- tierte und im darauffolgenden Mai verkaufte, konnte in den letzten zehn Jahren ein knappes Viertel Dividende einstreichen. Sie begann ihr Studium, kurz nachdem Stalin gestorben war. Und es war ihr Glück: Die Philo- sophin Nelly Motroschilowa, heute 77, wurde zu einer Vermittlerin der westeuropäischen Philosophie in Russland. Heidegger, Husserl und Kant beschäftigten sie ein Leben lang. Ihr jüngstes Projekt: eine deutsch- russische Ausgabe von Kants Wer- ken, die Motroschilowa zusam- men mit deutschen Kant-Exper- ten erarbeitet hat. Motroschilowa ist Idealistin, eine Ikone ihrer Generation, die dem totalitären Stalinismus von der Schippe sprang und den libera- len Geist der 60er-Jahre über die Jahrzehnte trug. Die russische Wirklichkeit macht ihr zu schaf- fen: „Offener, durch nichts ver- deckter Zynismus ist ein Zeichen für Antizivilisation.“ Und emp- fiehlt wahre Ideale, anstatt sich hinter Begriffen zu verstecken. WIRTSCHAFT SEITE 3 GESELLSCHAFT SEITE 8 FEUILLETON SEITE 11 Reform Kein Bier mehr am Kiosk für Nachtschwärmer Familie Gegen den Demografiekollaps Poesie Vor 70 Jahren starb Marina Zwetaje- wa. Eine Hommage INHALT SEITEN 2 UND 10 SEITE 2 SEITE 12 August 1991: Gorbatschow fest- gesetzt, Panzerkolonnen auf den Straßen Moskaus und Hundert- tausende Menschen, die gegen den Putsch der alten kommunistischen Garde demonstrieren. Russische Kommentatoren machen sich zwanzig Jahre später über die zit- ternden Hände des Putschisten- anführers Gennadij Janajew lus- tig und lassen den Putsch ausse- hen, als sei er von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. „Zwei Sekunden hätten gereicht, um ein Streichholz anzuzünden, dann wäre es zur Katastrophe ge- kommen“, erzählt jedoch Major Walentin Nikitin, der damals mit einer Kolonne schwer bewaffne- ter Panzerwagen nach Moskau geschickt wurde. Er erinnert sich vor allem an die Planlosigkeit der Führung. „Handle den Umstän- den entsprechend“, erklärten sie Nikitin, dessen Kolonne in einem Menschenmeer versank. Der junge Major behielt die Nerven, andern- orts kam es zu Zusammenstößen, drei Demonstranten starben. Warum diese drei zu Märtyrern für ein freies Land wurden und heute fast vergessen sind, erklärt Konstantin von Eggert. Erntezeit an der Börse Freiheit heißt Verantwortung Schwere Wiedergeburt DAS THEMA LANDWIRTSCHAFT DEUTSCHE BAUERN VERSUCHEN IHR GLÜCK IN RUSSLAND Moskau, August 1991. Das friedliche Bild lässt vergessen, dass dem Land ein Bürgerkrieg drohte. Die deutschen Felder waren ihm zu klein, heute ist Christian Kowalczyk verant- wortlich für 20000 Hektar Land. Nicht nur ihn zieht es nach Russland: Auslän- dische Fonds investieren in eine Branche, die in den nächsten Jahren die Bedürfnisse der russischen Mittelschicht befriedigen soll. SEITEN 6 UND 7 CORBIS/FOTO SA ITAR-TASS VOSTOCK-PHOTO DMITRI DIVIN Als die Wasch- maschine den Geist aufgab, kam Ingenieur Patschikow eine geniale Idee. Sie brachte ihm weltweiten Erfolg. S. 5 Simulator PRESSEBILD

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die Ausgabe vom 7. September

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MITTWOCH, 7. SEPTEMBER 2011 Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich

InitiatorSchluss mit dem Drama um den WTO-Beitritt Russlands und keine Angst vor Gazprom, meint Manager Klaus Mangold.S. 10

POINTIERT

Wladimir und die Nachtwölfe

Gar rebellisch gab sich Pre-mier Wladimir Putin jüngst bei den Nachtwölfen, der

größten russischen Biker-Gang. Auf einer dicken Dreirad-Harley rollte er gemeinsam mit Nacht-wölfe-Boss Chirurg vor den rus-sischen Rockern vor, die sich in Noworossijsk zum 16. Jahrestref-fen versammelt hatten. Wladimir Putin erklärte die Nachtwölfe zu seinen Brüdern und setzte sich ratternd an die Spitze ihrer Mo-torrad-Kolonne. Stehen aber Biker-Gangs nicht für Rebellion, Freiheit und Rock’n’Roll, eine brisante Mi-schung, die oft in Anarchie und Kriminalität ausartet? Denkste: Die meisten Nachtwölfe sind er-folgreiche Geschäftsleute oder ehemalige Afghanistan-Vetera-nen; und sie stehen für „gesun-den Lifestyle ohne Alkohol und Drogen, Patriotismus und Frei-heit“. Unabhängig davon, was die Hells Angels dazu sagen wür-den: Wenn die Nachtwölfe noch die richtige Distanz zur Politik � nden, ist Russland wohl in der Demokratie angekommen.

Alexej Knelz

CHEFREDAKTEUR

„Stabilisiert sich die Lage noch weiter, könnte Russland uns die Überraschung des Jahrzehnts be-scheren“, sagt Peter Reichel, der einen 28 Millionen Euro schwe-ren Fonds der Berenberg Bank für Global Emerging Markets verwaltet.Mit Hoffnung blicken Reichels Kollegen auf die Präsidentschafts-wahlen Anfang 2012. Sie erwar-ten eine neue Welle von Reformen, die Russlands Wirtschaft endlich unabhängiger vom Öl- und Gas-export machen könnte.Aber nicht nur Fondsmanager bli-cken nach Osten: Die Saisonali-tät des russischen Aktienmarktes bietet findigen Kleinanlegern große Chancen. Der jährliche Aus-verkauf von Aktien beginnt Ende April. Wer im September inves-tierte und im darauffolgenden Mai verkaufte, konnte in den letzten zehn Jahren ein knappes Viertel Dividende einstreichen.

Sie begann ihr Studium, kurz nachdem Stalin gestorben war.Und es war ihr Glück: Die Philo-sophin Nelly Motroschilowa, heute 77, wurde zu einer Vermittlerin der westeuropäischen Philosophie in Russland. Heidegger, Husserl und Kant beschäftigten sie ein Leben lang.Ihr jüngstes Projekt: eine deutsch-russische Ausgabe von Kants Wer-ken, die Motroschilowa zusam-men mit deutschen Kant-Exper-ten erarbeitet hat. Motroschilowa ist Idealistin, eine Ikone ihrer Generation, die dem totalitären Stalinismus von der Schippe sprang und den libera-len Geist der 60er-Jahre über die Jahrzehnte trug. Die russische Wirklichkeit macht ihr zu schaf-fen: „Offener, durch nichts ver-deckter Zynismus ist ein Zeichen für Antizivilisation.“ Und emp-� ehlt wahre Ideale, anstatt sich hinter Begriffen zu verstecken.

WIRTSCHAFT SEITE 3

GESELLSCHAFT SEITE 8

FEUILLETON SEITE 11

Reform Kein Bier mehr am Kiosk für Nachtschwärmer

Familie Gegen den Demografiekollaps

Poesie Vor 70 Jahren starb Marina Zwetaje-wa. Eine Hommage

INHALT

SEITEN 2 UND 10

SEITE 2 SEITE 12

August 1991: Gorbatschow fest-gesetzt, Panzerkolonnen auf den Straßen Moskaus und Hundert-tausende Menschen, die gegen den Putsch der alten kommunistischen Garde demonstrieren. Russische Kommentatoren machen sich zwanzig Jahre später über die zit-ternden Hände des Putschisten-anführers Gennadij Janajew lus-tig und lassen den Putsch ausse-hen, als sei er von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. „Zwei Sekunden hätten gereicht, um ein Streichholz anzuzünden, dann wäre es zur Katastrophe ge-kommen“, erzählt jedoch Major Walentin Nikitin, der damals mit einer Kolonne schwer bewaffne-ter Panzerwagen nach Moskau geschickt wurde. Er erinnert sich vor allem an die Planlosigkeit der Führung. „Handle den Umstän-den entsprechend“, erklärten sie Nikitin, dessen Kolonne in einem Menschenmeer versank. Der junge Major behielt die Nerven, andern-orts kam es zu Zusammenstößen, drei Demonstranten starben. Warum diese drei zu Märtyrern für ein freies Land wurden und heute fast vergessen sind, erklärt Konstantin von Eggert.

Erntezeit an der Börse

Freiheit heißt Verantwortung

Schwere Wiedergeburt

DAS THEMA

LANDWIRTSCHAFTDEUTSCHE BAUERN VERSUCHEN IHR GLÜCK IN RUSSLAND

Moskau, August 1991. Das friedliche Bild lässt vergessen, dass dem Land ein Bürgerkrieg drohte.

Die deutschen Felder waren ihm zu klein, heute ist Christian Kowalczyk verant-wortlich für 20�000 Hektar Land. Nicht nur ihn zieht es nach Russland: Auslän-dische Fonds investieren in eine Branche, die in den nächsten Jahren die Bedürfnisse der russischen Mittelschicht befriedigen soll. SEITEN 6 UND 7

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EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAUPolitik

WITALIJ MELIK-KARAMOWOGONJOK

Im August 1991 befehligte der 33 Jahre alte Major Walentin Nikitin das 2. Bataillon des 1. motorisierten Schützen-regiments der Division Taman. Und marschierte auf Moskau.

Der 18. August � el auf ein Wo-chenende. Ich war zu Hause, als ein Melder die Nachricht brach-te, die Einheit sei in Alarmzustand versetzt worden. Sofort fuhren alle zum Standort. Am frühen Morgen erfolgte der Marschbe-fehl, wir fuhren in Richtung Hauptstadt. Eine konkrete Ge-fechtsaufgabe gab es nicht, aber man hatte mir mitgeteilt, dass mein Bataillon das Hauptpostamt, das Zentrale Telegrafenamt und die Redaktion der Zeitung Kom-somolskaja Prawda blockieren sollte.

Menschen über MenschenMit neun Schützenpanzerwagen, zwei Lastwagen, einem Fahrzeug für Technische Hilfeleistung und zwei Feldküchen machte ich mich auf den Weg zum Zentralen Te-legrafenamt, einige hundert Meter vom Kreml entfernt. Ein Vertre-ter der Stabsführung des Militär-bezirks saß mit in meinem Panzerwagen. Ich gab Befehl, den Abstand zwi-schen den Fahrzeugen auf 50 Zen-timeter zu verringern, damit sie nicht von der Menschenmenge voneinander abgeschnitten wur-den. Die beiden Lastwagen mit der Munition ließ ich in der Mitte fahren. Auch die Panzerwagen waren mit kompletten Kampfsät-zen bestückt. Ich hatte so viel Mu-nition mitgenommen, wie wir transportieren konnten. In der Nähe der Metrostation Ma-jakowskaja ging der Stabsvertre-ter verloren. Als er mitbekam, was sich zusammenbraut, sprang er vom Wagen und haute ab. Ich habe ihn nie wiedergesehen, obwohl ich ihm bis heute gern ins Gesicht spu-cken würde. Vom Regimentskom-mandeur bekam ich nur zu hören: „Handle den Umständen entspre-chend.“ Um mich herum: Men-schen über Menschen.

Knapp am Unglück vorbeiIch hatte den Fehler gemacht, die Kanister mit dem Benzinvorrat am Aufbau des Schützenpanzers anzuschnallen. Einer aus der Menge machte einen Kanister los. Der Mann kam mir betrunken vor, auf jeden Fall nicht ganz normal. Er schraubte den Kanister auf und begoss meinen Wagen mit Ben-zin. Zwei Sekunden hätten genügt, um ein Streichholz anzureißen. Wäre der Wagen mit der Muniti-on in Flammen aufgegangen, hätte es ein furchtbares „Feuerwerk“ und viele Opfer gegeben. Ich sprang vom Wagen und stieß den Burschen mit den Füßen bei-seite. Die Jungs von der Aufklä-rungskompanie versuchten, nie-manden näher als zehn Meter an das Fahrzeug heranzulassen. Aber es kostete uns größte Mühe.

Ein Streichholz - und es wäre zur Katastrophe gekommen

Jahrestag Vor 20 Jahren putschte die alte Garde gegen Gorbatschow – das Land stand am Rande eines Bürgerkriegs

August 1991, vor dem Obersten Sowjet: Der Präsident der russischen Teilrepublik Boris Jelzin hält eine Rede von einem Panzerfahrzeug.

Ausnahmezustand in Moskau: In der Nähe des Kremls verhandeln aufgebrachte Bürger mit der Besatzung eines Schützenpanzerwagens.

Eine riesige Menschenmenge wohnt der öffentlichen Beisetzung dreier junger Männer bei, die getötet wurden, als sie versuchten, eine Panzerkolonne aufzuhalten. Boris Jelzin erklärte die ehemals zaristische Flagge in Weiß, Blau und Rot zur neuen russischen Nationalfahne.

Die Menschenmenge war unbe-rechenbar, die Leute hatten vor nichts Angst, legten sich direkt vor die Räder, sprangen auf die Fahrzeuge. Vom Regimentskom-mandeur hörte ich wieder nur: „Entscheide je nach Situation.“ Auf dem Puschkin-Platz gab es kein Durchkommen mehr. Ich be-schloss zu wenden, um über eine Parallelstraße zum Telegrafenamt

zu kommen. Als wir wendeten, sprangen vier kräftige junge Kerle auf unseren Wagen, sie waren viel-leicht bekifft oder betrunken. Ich sagte: „Schreit laut, dass wir in die Division zurückkehren.“ Die haben tatsächlich gebrüllt, dass die Leute uns nicht anrühren und ruhig wenden lassen sollen. Auf der Höhe des Theaters MChAT versperrte uns die Menge erneut den Weg. Diesmal ging es weder vor noch zurück. Plötzlich klet-terte ein junger Mann mit einem Lautsprecher auf meinen Wagen und schrie: „Leute, Jelzin bittet euch, sofort zum Weißen Haus zu

kommen. Es soll gestürmt wer-den.“ Dann rannte er los und die Menge, die gar nicht richtig ver-stand, was vor sich ging, hinter-drein. Vielleicht war der extra für so etwas geschult oder von jeman-dem beauftragt, mir hat er jeden-falls mächtig geholfen. So erreich-ten wir das Telegrafenamt. Wissen Sie, was ich verblüffend fand? Eigentlich wollte die Bevöl-kerung doch Demokratie und eine neue Regierung, aber die Leute waren uns gegenüber nicht feind-selig. Alte Frauen brachten den Soldaten Essen. Oft mussten sie sogar ablehnen, es waren einfach zu viele Torten und Süßigkeiten. Ich achtete streng darauf, dass ihnen niemand Wodka zusteckte. Unangenehme Zwischenfälle hat es aber doch gegeben. Irgendwel-che Leute haben die Soldaten getreten und provoziert. Ich hatte Schießverbot erteilt. Selbst für den Fall, dass die Mann-schaft in eine brenzlige Situation geraten sollte. Abends kamen drei Männer und boten uns Geld. Die Herren waren gut angezogen, ihre Autos hatten ausländische Kenn-zeichen, damals eine Seltenheit. Wir sollten in den besten Hotels untergebracht werden, wenn wir zu Jelzin überlaufen würden. Aber mein Befehlshaber war weder Jelzin noch das Staatsko-

mitee für den Ausnahmezustand. Ich hatte einen Befehl des Regi-mentskommandeurs auszuführen. Die Männer versuchten mich damit zu ködern, dass ein Batail-lon unserer Division das Angebot schon angenommen hätte. In der Nacht kamen viele Leute und lobten uns dafür, dass wir

uns nicht provozieren ließen. Es war nicht leicht. Ich habe zum Bei-spiel von hinten einen Schlag mit einem Kugellager abgekriegt. Einer aus unserer Kompanie hat ihm gleich die Arme auf den Rü-cken gedreht. Dann kamen plötz-lich aus einer Toreinfahrt Leute in Zivil. Sie haben ihn verprügelt, auf die Fahrbahn geworfen und einen Krankenwagen gerufen. Da ist mir klar geworden, dass nicht nur wir hier standen.

Die Feigheit der GeneräleAm Morgen des 20. August erhielt ich Befehl, die Gorki-Straße zu blockieren. Dann kam die Mel-dung, dass sich vom Roten Platz her eine riesige Menschenmenge näherte. Der Befehl lautete: Auf keinen Fall durchlassen! Eine be-waffnete OMON-Polizeieinheit nahm vor den Schützenpanzern Aufstellung. In meiner Nähe sah ich zwei Polizeigeneräle. Aus dem Stab erhielt ich keinerlei Befehle mehr. Und viele, so viele Menschen kamen auf uns zu. Plötzlich machten sich die OMON-Kräfte aus dem Staub. Auch die beiden Polizeigeneräle stiegen in ein Auto und rasten davon. Ich stand ganz allein da, und die Menschenmenge kam immer näher. 300 oder 400 Meter trennten die ersten Demonstran-ten noch von uns. Da hab ich eine Gasse freigemacht, damit der Zug weitermarschieren konnte. Die Demonstranten hielten eine end-los lange Fahne hoch. Als sie an mir vorbeikamen, dachte ich, dass das jetzt schon ernsthafte Leute waren, nicht mehr jugendliche Störenfriede. Von einigen beka-men wir Schimpfworte zu hören, aber andere dankten uns, weil wir den Weg freigegeben hatten. Es dauerte bestimmt 40 Minuten, bis alle vorbeigezogen waren. An-schließend habe ich die Schützen-panzerwagen abgezogen. Abends kam der Abmarschbefehl.Solche himmelschreienden Fak-ten wie die Feigheit der Generäle und des Oberstleutnants aus dem Stab des Militärbezirks und dazu noch das völlige Sich-selbst-über-lassen-Sein vergisst man nicht. Im Rückblick begreife ich, dass jener Augenblick entscheidend war, als die Menschenmenge vom Roten Platz herangezogen kam. Hätte ich damals auch nur einen einzigen Schuss über die Köpfe der Menschen abgegeben …

1991 und die demografi schen Folgen

Das Ende der UdSSR hatte katastrophale Folgen für die Demografie in Russ-land. Mit der Perestroika brach die Lebenserwartung ein, ebenso die Geburten-rate. Jährlich schrumpfte die Bevölkerung um Hunderttausende Menschen, 2009 wurde der Rückgang erstmals kompensiert – durch Einwanderung.

QUELLE: ROSSTAT

Abends kamen gut angezogene Männer und boten uns Geld, wenn wir zu Boris Jelzin überlaufen würden.

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3Russland Heute www.russland-heute.de

eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, Moskau wirtschaft

Bier frei für die kleinen Brauereienreform Ein neues Gesetz schränkt den Bierverkauf ein und verbietet Bierwerbung im Fernsehen und auf der Straße

wladiMir ruwinskijRuSSland HEutE

in russland gilt Bier nun offiziell als alkohol. das eröffnet neue chancen für kleine Brauereien, deren Marktanteil bei weniger als zehn Prozent liegt.

Den Großbrauereien in Russland, die hauptsächlich von ausländi-schen Unternehmen kontrolliert werden, geht es an den Kragen. Präsident Dmitri Medwedjew hat ein Gesetz unterzeichnet, dem-zufolge Bier nunmehr zu den Al-koholika zählt. Bislang galt es in Russland als „Lebensmittel“, weshalb es prak-tisch zu jeder Uhrzeit, an jedem Ort und mit laxer Alterskontrol-le verkauft werden konnte. Die von Medwedjew 2009 gestartete Anti-Alkohol-Kampagne berei-tet dieser Tradition ein Ende.

die rechnung ging nicht aufInnerhalb der vergangenen 15 Jahre stieg laut Verband der Alkoholproduzenten der Bierkon-sum in Russland um das Vierfa-che. Anstelle von Erfrischungs-getränken konsumieren die Rus-sen in großen Mengen Bier – eine Flasche kostet etwa 30 Rubel (75 Cent), wenig mehr als eine Cola. Von 2000 bis 2009 verdoppelte sich die Bierproduktion auf 1,2 Milliarden Dekaliter, wodurch Russland in die Troika der welt-weit führenden Staaten aufrück-te, hinter China und den USA. Gleichzeitig stellte sich ein von der Regierung erhoffter Neben-effekt jedoch nicht ein: Der Kon-sum von harten Alkoholika – in erster Linie Wodka – hat sich nur unwesentlich verringert.

Experten sprechen mittlerweile von einer „Alkoholisierung der Bevölkerung“. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation stirbt zurzeit jeder fünfte Russe an den Folgen des Alkoholmiss-brauchs – weltweit liegt die Quote bei Männern bei 6,2 Prozent.Schon in den letzten Jahren schränkte der Staat die Bierre-klame ein, und seit 2005 ist es

untersagt, den Gerstensaft an Minderjährige zu verkaufen. Das Verbot wurde allerdings kaum eingehalten, der Bierkonsum stieg weiterhin und erreichte im Vor-krisenjahr 2008 ein Niveau von 80 Litern pro Kopf.Mit den neuen Verordnungen, die 2013 in Kraft treten, folgt Russ-land dem Vorbild vieler Länder Europas und der USA. Der Stra-

ßenverkauf von Bier wird kom-plett untersagt, Geschäfte dür-fen ab 23 Uhr überhaupt keinen Alkohol mehr anbieten. Bier darf dann nur noch zu Hause und in Gaststätten getrunken werden. Die wichtigste Einschränkung ist jedoch das totale Werbeverbot für Bier im Fernsehen und auf der Straße. „Der Bierkonsum ist durch die massive Werbung ge-waltig gestiegen“, erklärt der Lei-ter des Zentrums für Nationale Alkoholpolitik Pawel Schapkin.

harte zeiten für kioskeDie neuen Verbote treffen die Großbrauereien und kleine Ein-zelhändler: 25 Prozent des Bieres werden auf der Straße verkauft. Die Vereinigung der Kleinunter-nehmer Opora Rossii befürchtet nun, dass die Besitzer von Kios-ken fast die Hälfte ihres Erlöses einbüßen werden. Maxim Kljagin, Analyst der Investmentgesellschaft Finam, schätzt, dass dagegen kleine Bier-brauer von dem neuen Gesetz pro-fitieren. Denn das von den Groß-brauereien produzierte Bier ist vor allem in Flaschen abgefüllt und enthält Konservierungsstof-fe. Die kleinen Brauereien dage-gen liefern frisches Bier nach dem Vorbild von Deutschland und Tschechien.

Mehr FrischgebrautesIn der letzten Zeit sind die Rus-sen laut Kljagin auf den Ge-schmack von Frischgebrautem gekommen – Tendenz steigend. Doch dieser Markt ist eng mit einer Bierkneipenkultur verbun-den, die in Russland noch wenig ausgeprägt ist. Nach Einschät-zung von Finam wird sich der

Markt in dem Maße entwickeln, wie das Einkommen der Bevöl-kerung wächst. Bislang besucht nur ein geringer Teil Cafés, Knei-pen oder Restaurants. Der Direktor der privaten Bier-brauerei Tinkoff aus Sankt Petersburg, Anatolij Schamaldi-now, geht davon aus, dass es noch zu früh ist, über einen möglichen Boom in der russischen Kneipen-landschaft zu sprechen – zu-nächst müssten die administra-tiven Hürden für deren Eröffnung gesenkt werden.

die internationalen zulieferer für den suchoi superjet 100

Paul duvernet, dMitri rodionowRuSSland HEutE

russlands Flugzeugindustrie, die seit dem kollaps der sowjetunion darbt, ist in die schlagzeilen zurückgekehrt – in positiver und negativer weise.

trie, die seit den 90er-Jahren auf ihre Wiederauferstehung wartet, war die Stimmung im Keller. Die Russen begründen ihre Hoff-nung auf den Suchoi Superjet 100, ein Passagierflugzeug mit 75 bis 95 Sitzen. Die Produktion des Jets

Die einen schimpften über den Einfluss der Banken auf die Flug-zeugindustrie. Andere prophezei-ten bis 2025 einen russischen An-teil von zehn Prozent am welt-weiten Luftfahrtverkehr. Doch die Stimmung war überwiegend optimistisch auf dem Internatio-nalen Lufttransport-Forum Ende April in Uljanowsk. Dann schlug die Nachricht ein: Am Abend des 20. Juni stürzte eine Tupolew Tu-134 sowjetischer Bauart beim Versuch, in dichtem Nebel zu landen, auf eine Straße in der Nähe der Stadt Petrosa-wodsk ab. 47 Menschen starben. Inzwischen ist klar, dass nicht technische Mängel, sondern ein Versagen des Piloten das Unglück herbeiführten. Aber bei den Ver-tretern der russischen Flugindus-

gilt als Schlüsselfaktor für die Zu-kunft des Luftfahrtsektors. Der Suchoi Superjet 100 ist das erste russische Flugzeug, das voll-ständig in der postsowjetischen Ära entwickelt wurde. Gleichzei-tig wird eine große Anzahl aus-

ländischer Bauteile eingesetzt, zum Beispiel ein in Frankreich produzierter Motor oder das Fahr-werk aus den USA. Die für die Vermarktung verantwortliche Gesellschaft SuperJet Internati-onal ist ein Joint Venture, in dem

die Russen nur 49 Prozent halten – die Mehrheit gehört der italie-nischen Alenia Aeronautica. Im April 2011 passierte der Su-perjet mit den ersten kommerzi-ellen Flügen bei der armenischen Fluggesellschaft Armavia einen wichtigen Meilenstein. Die Unternehmensführung schätzt das Marktvolumen auf über 800 Flugzeuge, bisher gibt es aber nur 22 Festbestellungen (von Gazprom Avia und eine aus Indonesien) und an die 200 Absichtserklärungen aus Lateinamerika und den GUS-Staaten. In Europa hat Suchoi die Kon-kurrenten Embraier aus Brasili-en und Bombardier aus Kanada noch nicht überwunden. Flugge-sellschaften zögern angesichts einer Maschine, bei der es noch Betriebsprobleme gibt und die mit langen Lieferzeiten aufwartet.2010 wurden nur sieben Superjets gebaut, aber das Unternehmen ist optimistisch, dass es in diesem Jahr 30 werden. In Zukunft könn-te die Zahl auf 50 bis 60 Flugzeu-ge erhöht werden.Einen wichtigen Schritt erwartet Suchoi mit Ungeduld: Bis Ende 2011 will die Europäische Agen-tur für Flugsicherheit den Super-jet zertifizieren.

Hoffen auf den neuen Superjetzivile luftfahrt Ein neuartiges Passagierflugzeug soll der russischen Flugzeugindustrie belebende Impulse geben

noch ein schnelles Bier nach der schule – damit soll 2013 schluss sein.

Prozent des russischen Biermarktes werden von den internationalen Un-ternehmen Carlsberg, InBev, Heine-ken, Efes und SABMiller kontrolliert.

Milliarden Dekaliter betrug die Bier-produktion in Russland im Jahr 2009. Damit nahm das Land den dritten Platz hinter China und den USA ein.

Liter reinen Alkohols trank der Durch-schnittsrusse 2009 laut Gesundheits-ministerin. Allerdings bewerten man-che Experten diese Zahl als zu hoch.

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4 www.russland-heute.de Russland Heute

eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, Moskauwirtschaft

neujahrsrallye an Moskaus BörsenBörse Der Aktienhandel in Russland ist wenig ausgereizt – darin stecken Chancen für findige Anleger

warten auf den tiefstand, dann kaufen: Broker in stankt Petersburg

Ben aris füR RusslAnD heute

russische wertpapiere sind volatil. doch wertverfall und -wachstum folgen im jahres-zyklus einfachen regeln. wer sie kennt, kann am aktienmarkt gut verdienen.

Die Saisonalität des russischen Aktienmarktes ist so stark aus-geprägt, dass sie eine kinderleich-te Investmentstrategie ermöglicht, die die Ergebnisse fast jedes bedeutenden Investmentfonds der Schwellenmärkte überträfe. Man müsste sich nur die Mühe machen, den Fluss des Geldes in seinen ver-schiedenen Jahresetappen zu ana-lysieren und aufzubereiten.In den vergangenen fünfzehn Jah-ren habe der russische Aktien-markt, nur mit zwei Ausnahmen, alljährlich einen Ausverkauf um die Maifeiertage erlebt, sagt Ale-xander Krapiwko, Aktienfonds-manager bei Renaissance Asset Managers in Moskau.Von der Regelmäßigkeit dieser Korrekturen können Anleger pro-fitieren. Investiert man am 1. Sep-tember 100 Dollar in einen Index-Tracker-Fonds und verkauft die Anteile am 1. Mai des folgenden Jahres, hat man durchschnittlich 24 Dollar mitgenommen. So war es jedenfalls in den letzten zehn Jahren. Der große Sell-Off beginnt Ende April.

geldregen im ersten QuartalDer russische Markt ist weitaus unbeständiger als seine westlichen Pendants, wodurch er sensibler auf das regelmäßige Auf und Ab des Investitions- und staatlichen Kapitalflusses reagiert. Es gibt fast keine institutionellen Inves-toren für langfristige Anlagen, die auch einmal einen Kurs unter die Tiefstgrenze fallen lassen würden. Die meisten – Banken vor Ort und ausländische Hedgefonds – ver-treten einen kurzfristigen Stand-punkt und machen sich davon, wenn der Verkauf beginnt.Genau diese Volatilität bewirkt, dass der Markt sich an den saiso-nalen Kapitalzuweisungen orien-tiert. Der russische RTS-Index sei in neun der letzten zehn Jahre regelmäßig im ersten Quartal

gestiegen, erläutert Krapiwko. Aus ganz einfachen Gründen: Der Rest des im Dezember getätigten föderativen Haushaltstransfers erreicht den Markt im Januar. Ebenfalls zu Jahresbeginn wird verstärkt in Schwellenländer-Fonds eingezahlt, im Spätmärz sind dann neue Gelder aus russi-schen Rentenfonds verfügbar. Hinzu kommt, dass im ersten Quartal neue Aktienplatzierun-gen (IPOs) vorgenommen werden, um die zusätzliche Liquidität der Schwellenmarkt-Fonds zu nutzen und überschüssige Gelder in den Markt zu pumpen. Gewinnmit-nahmen Ende April, wenn die Be-richtssaison der Fonds ansteht, lösen den Beginn der Aktienver-käufe aus.

weihnachtsrallye 2011?In den Sommermonaten ist der Markt ruhig, denn die Urlaubs-zeit lässt das Handelsvolumen schrumpfen und die Aktienkurse infolge des Nachfragemangels ver-fallen. Allerdings können die Kurse in Erwartung des Septem-bers, wenn die Russen aus ihrem Sommerurlaub zurückkehren,

tiM goslingfüR RusslAnD heute

deutsche Fondsmanager rechnen damit, dass nach den Präsidentschaftswahlen 2012 und möglichen reformen auch die russischen aktien neu bewertet werden.

„Die Regierung ist offenbar be-reit, nach der Wahl eine Reihe ent-schlossener Reformen einzulei-ten“, glaubt Odenijas Dscharapow. Er managt in Russland für die DWS, einen Ableger der Deutschen Bank, Investitionen von rund einer Milliarde Euro. Durch größere staatliche Transparenz und Re-chenschaftspflicht werde sich nicht nur der Abschlag, mit dem russische Werte gehandelt wer-den, sondern auch die Abhängig-keit der russischen Wirtschaft von Energieexporten verringern.Peter Reichel, der den 28 Millio-nen Euro schweren Global Emer-ging Markets-Fonds der Beren-berg Bank managt, sieht das ähnlich. „Seit Jahren warten Investoren auf solche Reformen. Durch kürzlich beschlossene Pro-gramme wie Präsident Medwed-jews 10-Punkte-Plan scheint eine

fondsmanagerblicken nach Osten

Realisierung dieser Signale dies-mal viel wahrscheinlicher, beson-ders vor dem Hintergrund der so-liden Wirtschaftslage.“Dscharapow bestätigt, dass diese Einschätzung von einer wachsen-den Zahl deutscher Anleger ge-teilt werde, die dem russischen Markt mittlerweile größeres Ver-trauen entgegenbringen: „Sie wol-len langfristig vom Wirtschafts-boom profitieren und sich nicht nur auf Ölwerte konzentrieren.“Reichel weiß: „Deutsche gelten als risikoscheu, nahezu jede Anlage birgt für sie Risiken. Deshalb mischen die Anleger russische Aktien in der Regel zur Diversi-fizierung bei.“ Als im Mai die Aktienmärkte in den Keller gin-gen, hätten die deutschen Anle-ger jedoch die Nerven behalten und kaum Geld abgezogen. Eini-ge hätten sogar, überzeugt vom langfristigen Potenzial, in der Baisse zugekauft. „Russland bietet zurzeit einen enormen Ausgabeabschlag gegen-über allen anderen Schwellen-märkten“, argumentiert er. „Fällt das Risiko noch weiter, könnte das Land uns die Überraschung des Jahrzehnts bescheren.“

Für großanleger und kleininvestoren – die abenteuerliche geschichte der Börsen in russlandDie erste Börse Russlands entstand 1731 in Sankt Petersburg. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts galt dann die Mos-kauer Börse als eine der einflussreichs-ten Handels- und Industrieorganisatio-nen des Landes. Und das, obwohl sie sich gegenüber einer Vielzahl von Konkurrenten behaupten musste, denn die Wirtschaftsreformen der 1860er-Jahre hatten in Russland die Gründung von fast einhundert Handelsplätzen zur Folge. Als 1917 die Oktoberrevolu-

tion hereinbrach, existierten 115 Bör-sen. Die Sowjets stellten jegliche Bör-sentätigkeit ein, erkannten in den 1920er-Jahren jedoch, dass die Börse zwar ein „Übel“, aber ein unverzicht-bares war. Innerhalb von zehn Jahren etablierten sich erneut etwa einhun-dert Handelsplätze, die allesamt Staatsunternehmen oder Kooperativen waren und ausschließlich Waren und Rohstoffe handelten. Mit dem Macht-antritt Stalins wurden die Börsen ent-

zent männlich und zwischen 20 und 40 Jahre alt. Die ältere Generation misstraut Aktien in hohem Maße, seit in den 1990er-Jahren viele Anleger ihre Ersparnisse durch Investitionen in Finanzpyramiden und andere dubiose Unternehmungen verloren. Aus die-sem Grund kauft der russische Durch-schnittsaktionär seine Wertpapiere nie direkt an der Börse und vertraut sich Investmentgesellschaften an, die seine Depots verwalten.

entstanden in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre. RTS wurde von Anfang an für ausländische Börsenteilnehmer konzipiert, selbst die Quotierungen erfolgen in Dollar. Eine Fusion von RTS und MICEX Ende 2011 soll die Handels-bedingungen für internationale Inves-toren weiter verbessern. Das Wertpapier-Engagement der rus-sischen Bevölkerung ist weitaus gerin-ger als in Europa und in den USA. Der Durchschnittsaktionär ist zu 90 Pro-

zahlen

24 Dollar Gewinn konnte in den letzten zehn Jahren ein Anleger

machen, der zum 1. September 100 Dollar investierte und seine Anteile zum 1. Mai wieder verkaufte.

88 Prozent verlor der rus-sische Aktienmarkt 1998 nach der Rubel-

krise. Sein Allzeithoch erreichte der RTS mit 2487 Punkten im Mai 2008.

wieder steigen. Im letzten Quar-tal des Jahres kommt es zu einer regelrechten „Weihnachtsrallye“, da Russen im Dezember das meis-te Geld ausgeben. Ein Teil davon fließt in die Aktienmärkte. Vor den Duma-Wahlen im Dezem-ber und der Präsidentschaftswahl im März 2012 wird es in diesem Jahr zu besonders hohen Staats-ausgaben kommen. Die diesjäh-rige Weiße-Nächte-Rallye dürfte also noch opulenter ausfallen.

gültig abgeschafft, da die Ökonomie vollständig zur Planwirtschaft über-ging. Absatz und Bedarf waren nun von vornherein festgelegt. Bis zum Ende der 1980er-Jahre existierte in der Sowjetunion kein einziger offener Handelsplatz. Heute agieren als größte Wertpapier-börsen das Russische Handelssystem RTS (Russian Trading System) und die Interbanken-Devisenbörse MICEX (Interbank Currency Exchange). Beide

säsonalität am rts-aktienindex

jahrindex

jahresanfang(Punkte)

index ende april(Punkte)

zuwachs(Prozent)

jahres-tief am

jahrestief(Punkte)

differenz zum april(Prozent)

2000 175.26 226.87 29,4 21.12.2000 132.07 -42

2001 143.29 180.68 26,1 03.10.2001 174.20 -4

2002 256.75 386.10 50,4 06.08.2002 313.99 -19

2003 359.07 422.37 17,6 17.07.2003 427.64 1

2004 567.25 631.11 11,3 28.07.2004 518.15 -18

2005 614.11 670.36 9,2 21.10.2005 - -

2006 1 125.60 1 657.28 47,2 14.06.2006 1 274.39 -23

2007 1 921.92 1 915.27 - 0,3 30.05.2007 1 724.69 -10

2008 2 290.51 2 122.50 - 7,3 24.10.2008 549.43 -74

2009 631.89 832.87 31,8 13.07.2009 835.61 0

2010 1 444.61 1572.84 8,9 25.05.2010 1 226.57 -22

2011 1 770.28 2 026.94 14,5 - - -Quelle: BlOOmBeRg, VtB CApitAl

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5Russland Heute www.russland-heute.de

eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, Moskau wirtschaft

wirtschafts- kalender

foruMneugier – koMPetenz – erfahrung24. SEPTEMBER, BERLIN, RUSSISCHES HAUS

Das Forum „Neugier – Kompetenz – Erfahrung. Deutschland und Russland im wissenschaftlichen Dialog“ lädt junge Wissenschaftler zum Austausch.

www.go-east-generationen.de ›russisches-haus.de ›

Messeindustrial trade fair27. BIS 30. SEPTEMBER, MoSkAU, CRoCUS ExPo INTERNATIoNAL ExHIBITIoN CENTRE

Die ITFM ist die führende Industrie-messe Russlands und zeigt Innovatio-nen in den Bereichen Industrieauto-mation, Oberflächentechnik, Bewe-gungstechnik und Intralogistik.

www.itfm-expo.ru ›

fachtagungagriBusiness – investitions-standorte in osteuroPa29. SEPTEMBER, FRANkFURT, kFW

Agrarmärkte, Agrarstrukturen und Agrarpolitik. Investoren berichten über ihre Erfahrungen in Osteuropa, Experten erklären die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen.

www.dlg.org/fachtagung_osteuropa.html ›

delegationsreiseder russische nordwesten17.-20. okToBER, SANkT PETERSBURg, LENINgRAdER gEBIET, NoWgoRod

Der Nordwesten zählt zu den wirt-schaftsstärksten Regionen, schon heu-te sind hier 500 deutsche Firmen prä-sent. Die Reise richtet sich an mittel-ständische Unternehmen aus NRW.

www.nrw-international.de ›

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alexej knelzRUSSLANd HEUTE

vor zwölf jahren stand georgi Patschikow vor einer kaputten waschmaschine und überlegte: was tun? heute entwickelt seine software-firma technische anleitungen in 3d – weltweit.

Profil gEoRgI PATSCHIkoW

virtuelle anleitung zum anpacken

Auf dem Bildschirm von Georgi Patschikow erscheint eine große weiße Museumshalle. Auf Podes-ten stehen ein Rennwagen, ein großer Holzteller auf Rädern, ein Flugzeugtriebwerk. Alles an-schaulich dreidimensional.Flink greift Patschikow mit dem Mauszeiger den Holzteller auf Rä-dern, der sich als Panzerfahrzeug Leonardo da Vincis mit Kanonen und metallischer Hülle entpuppt. „Siehst du, hier dreht sich dieses Zahnrad, und das treibt gleich-zeitig den Turm an.“ Nach zehn Sekunden zoomt er eine Holz-schnitzmaschine heran: „Hier setzt du waagerecht den Holzroh-ling ein und hier senkrecht von oben den Stichel. An diesem Knopf machst du die Maschine an. Je län-ger du jetzt die Maustaste ge-drückt hältst, desto tiefer wird der Einschnitt im Holz. Schau mal! Wuuuusch!!“, zischt Patschikow begeistert.Patschikow ist Gründer und Ge-schäftsführer von Parallel Gra-phics. Die Software-Firma ent-wickelt virtuelle Handbücher – animierte Reparaturanleitungen und technische Dokumentationen in 3D. Die Frage, auf die er Ant-worten gibt, stellt er sich seit sei-ner Kindheit: „Wie funktioniert das eigentlich?“

eine kaputte waschmaschine verändert die weltPatschikow sitzt freundlich lächelnd in einem Asia-Café im Zentrum Moskaus. Sein Alter lässt sich durch seine jugendliche Art kaum bestimmen. „Wie fühlst du dich heute?“, steht auf Englisch auf seinem Comicfratzen-Shirt.1989 gründeten Georgi und sein Bruder Stepan, beide Software-Ingenieure, die Firma ParaGraph. „Damals waren wir weltweit die Ersten, die den Alltag auf dem Rechner simulierten, lange vor Second Life“, erzählt Patschikow stolz. Sie entwickelten eine virtuelle Umgebung, in der jeder Nutzer mit einem Alter Ego über den Roten Platz spazieren konn-te. „Jeder Avatar hatte eine

Sprechblase über dem Kopf, in die er hineinchatten konnte.“ So innovativ das Ganze auch war, der Erfolg blieb aus. „Nach einer Weile ließen alle User ihre Avatare ste-hen und beschränkten sich aufs Chatten – zwischenmenschliche Kommunikation war eben doch das Wichtigste“, lernte Patschi-kow. Keiner wusste so recht, was man mit 3D-Grafik alles anstel-len kann. Der Markt war noch nicht da.Als Patschikow 1999 in eine neue Wohnung zieht, geht seine Wasch-maschine kaputt. Zusammen mit einem Kollegen nimmt er das Gerät auseinander, „bis auf die letzte Schraube“. Als sie die Ma-schine wieder zusammensetzen und einschalten, funktioniert sie zwar, aber fünf Schrauben sind übrig. „Wir wussten überhaupt nicht mehr, wo sie hingehören: Die Ge-brauchsanweisung war auf Fran-zösisch, es gab keine Übersetzung. Und obwohl wir beide Ingenieu-re sind, waren wir völlig aufge-schmissen“, erinnert sich Patschi-kow. Die Waschmaschine bringt den Programmierer auf die geni-ale Idee: „Eine animierte Repa-raturanleitung in 3D, die die ein-zelnen Arbeitsschritte nachein-ander erklärt, übersetzt in mehrere Sprachen – das wäre die Rettung für alle Techniker!“Im gleichen Jahr gründet er Par-allel Graphics. Flugs legt sein Team die Projektdokumentation auf. Für Russland agieren sie

antizyklisch: „Hierzulande lau-fen die Innovationsprozesse genau spiegelverkehrt: Der Russe erfin-det etwas und macht sich erst hin-terher Gedanken, was er damit überhaupt anstellen kann und wo es einen Markt dafür gibt.“ Pat-schikow hingegen weiß, für wel-che Zielgruppe er tüftelt.Nach einer zweijährigen Entwick-lungsphase bringt Parallel Gra-phics Cortona3D heraus, eine Software, die technische Beschrei-bungen einzelner Arbeitsabläufe in dreidimensionale Animationen umwandelt. Patschikows erster großer Kunde wird 2001 der US-Flugzeugbauer Boeing: „Boeing unterhält in Mos-

kau ein Design Center, in dem die Jungs den russischen Markt nach Innovationen und neuen Talenten scannen“, erzählt er. Nach seiner Präsentation bieten ihm „die Jungs“ einen Exklusivvertrag über fünf Jahre an. Die Zusammenarbeit ist äußerst erfolgreich. „Just an dem Tag, als der Vertrag mit Boeing auslief, klopfte Airbus an die Tür“, lacht Patschikow. Weitere Größen fol-gen, darunter General Electric, Honda und Siemens. Für den Busi-ness Jet, das neue Kleinflugzeug der Japaner, gestaltet Parallel Graphics die komplette technische Dokumentation. Und 2011 unter-schreibt Patschikow ein General

Partnership mit Siemens. Seine virtuelle Aufbereitung von technischen Produkten wird in das Programmpaket Team Center des Elektronikriesen integriert.Der Nutzen für die Industrie, so Patschikow, sei enorm: „Durch unsere Software hat General Elec-tric 70 Prozent der Ausgaben für die technische Dokumentation eingespart“, sagt er. Die Software ermögliche auch, ein Produkt frü-her auf den Markt zu bringen, weil sie es bereits in der Entwicklungs-phase zur Gänze darstellen kann.Außer in der Wirtschaft kann Cortona3D auch für die Ausbil-dung an technisch ausgerichteten Schulen eingesetzt werden. „In Zukunft wird jeder Autome-chaniker, jeder Feinelektoroniker auf einem Tablet-PC die einzel-nen Arbeitsschritte bequem ab-rufen, um sie dann umzusetzen“, schwärmt Patschikow. Um von seinem Traum, dem „Exploratorium“, zu erzählen, klappt er noch einmal seinen Com-puter auf. Er zoomt jetzt auf ein Triebwerk, greift es mit dem Mauszeiger, baut es virtuell aus-einander und setzt es wieder zusammen, lässt die Turbinen rotieren. „Stell dir ein virtuelles Museum vor, in dem alle techni-schen Erfindungen der Mensch-heit versammelt sind. Und du kannst durchgehen und jede einzelne bedienen, auseinander-nehmen und wieder zusammen-setzen.“ Und die Antwort auf die Frage finden: Wie funktioniert das eigentlich?

komplexes einfach erklären – das ist das erfolgsgeheimnis von georgi Patschikow.

cortona3d: wenn technische zeichnungen laufen lernenCortona3D ist eine Software, die den Entwicklungsprozess technischer Dokumentationen automatisiert. Die Anwendungsbereiche für die Software sind nahezu grenzenlos: Vom Fou-caultschen Pendel bis zum Wasser-kraftwerk kann man beliebige techni-sche Mechanismen simulieren. Alles, was die Software dazu braucht, sind die technischen CAD-Daten, die in das gängige S1000D- oder ATA2200-Format umgewandelt und hinterher visualisiert werden. Der Animations-prozess läuft komplett automatisch ab. Hinterher lassen sich die Daten in Reparatur- und Wartungsanleitungen integrieren – als Videosequenzen, die den jeweiligen Arbeitsprozess Schritt für Schritt aufzeigen.

FIRMENgRüNdER PARALLEL gRAPHICS

Georgi Patschikow wurde 1953 im ge-orgischen Tiflis geboren. Er studierte Wirtschaftskybernetik in Moskau. Bis 1988 arbeitete er als Software-Ingeni-eur im Ministerium für Gasindustrie. 1986 eröffnete er mit seinem Bruder und dem Schachspieler Garri Kaspa-row den ersten Computerclub der UdSSR. 1989 gründeten die Brüder ParaGraph, die der US-Softwareriese Silicon Graphics 1997 für 57 Mio. Dol-lar kaufte. Seine heutige Firma Parallel Graphics kooperiert u.a. mit Siemens PLM. Umsatz 2010: 4 Mio. Euro.

Biografie

Beruf: software-entwickler

alter: 58

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6 www.russland-heute.de Russland Heute

eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, Moskaudas thema

heidi Beharussland heute

Bekannte Bilder vom russischen land: einzelne kühe, zerstörte kolchosen und verwilderte Felder. in anderen gegenden stecken derweil investoren Millionen in neue Betriebe.

grossBetrieB und selBstversorger

die russische agrarwirtschaft ist nach dem absturz

der 90er-Jahre wieder auf dem aufsteigenden ast

landwirtschaFt in russland

zwischen kriegen und kolchosen – die russische landwirtschaft seit 1900

Einsam grast eine schwarzbunte Kuh am Straßenrand im Südwes-ten Russlands, 100 Kilometer von der Stadt Kursk entfernt. Die Landwirtschaftsberater Klaus John und Sergej Jarowoj sind auf dem Weg zu einem Betrieb ihres Arbeitgebers Prodimex. Wiesen, Sonnenblumenfelder und ernte-fertiges Getreide säumen die holp-rige Landstraße. John deutet auf das Tier und sagt: „So sieht die russische Milchwirtschaft aus.“ Ein paar Kilometer weiter steht wieder eine Kuh. Nicht nur mit Milch versorgen sich viele Russen selbst, auch Kraut und Kartoffeln bauen noch viele auf ihren Datschen an. Mehr als die Hälfte des russischen Rind-fleischs stammt aus eigener Schlachtung, über 90 Prozent der Kartoffeln aus den Gärten.

kredite statt subventionenAuf den Dörfern sammeln Kin-der täglich die Kühe, um sie als Herde auf die Weide zu treiben. „Als ob Peter die Ziegen auf der Alm hütet. Das schaut idyllisch aus, aber es ernährt kein 147-Mil-lionen-Land“, sagt John. Russland muss jährlich eine Million Ton-nen Schweinefleisch allein aus den EU-Staaten importieren.

Um Autarkie ging es Präsident Dmitri Medwedjew deshalb auch in seiner Doktrin zur Lebensmit-telsicherheit. Darin erklärte er, dass bis zum Jahr 2020 Fleisch zu 85 Prozent und Milch zu 90 Pro-zent aus heimischer Produktion stammen sollen. Das entspräche einer Steigerung um 20 Prozent. Der Staat hilft mit billigen Kre-diten – vor allem für die Tierhal-tung. Bisher flossen aus Moskau rund sieben Milliarden Euro jähr-lich in den Agrarsektor, wesent-lich weniger als in der Europä-ischen Union – Brüssel zahlt 100 Milliarden pro Jahr an die Land-wirte. Aber: „In Russland kann man schon jetzt zu Weltmarkt-

preisen produzieren“, sagt John. Die russische Landwirtschaft sei durchaus auch ohne Subventio-nen konkurrenzfähig. Dennoch gehört das Land derzeit zu den weltweit größten Agrar-importeuren. Mit einem Kuhbe-stand von elf Millionen ist man noch weit entfernt von den 42 Mil-lionen Milchkühen, die es bei Zu-sammenbruch der Sowjetunion gab.Milch, Soja und Rindfleisch werde man noch lange Zeit einführen müssen, meinen Agrarexperten. In zehn Jahren könnte sich Russ-

land aber mit Schweinefleisch selbst versorgen. Im vergangenen Jahr wuchs die Schweinefleisch-produktion um 8,6 Prozent. Auch bei Geflügel gab es einen Zuwachs von 375 000 Tonnen, etwa zehn Prozent. Getreide und Raps werden schon jetzt im Überschuss produziert und ausgeführt. 2009 wurden 108 Millionen Tonnen Getreide geern-tet, 2010 brach die Erntemenge wegen Dürre und Waldbränden auf 60 Millionen Tonnen ein, 2011 erwartet man aber wieder gute Erträge. Damit ist das Niveau von 1990 mit 117 Millionen Tonnen fast wieder erreicht. Zum Ver-gleich: In Deutschland werden etwa 45 Millionen Tonnen Getrei-de jährlich eingefahren.

400 Prozent aufwertungWer derzeit in den russischen Agrarsektor investiert, erwartet hohe Wertsteigerungen. Im Juli kaufte ein tschechisch-holländi-scher Fonds das Unternehmen RAV Agro-Pro, dem 160 000 Hek-tar Land im fruchtbaren Schwarz-erdegebiet gehören. Der Fonds rechnet mit 400 Prozent Aufwer-tung in den nächsten Jahren. In russischen Fachmagazinen für Agrarwirtschaft liest man von In-vestitionen in neue und bestehen-de Betriebe. Auch die Unterneh-men rund um die Landwirtschaft versuchen, sich besser aufzustel-len: 2008 schlossen sich fünf deut-sche Saatguthersteller strategisch zur German Seed Alliance zusam-men mit regionalem Schwerpunkt Russland.

es muss nicht immer assam oder ceylon sein, der anbau von tee ist auch in russland lukrativ – krasnodar ist das nördlichste teeanbaugebiet der erde.

die hälfte des russischen rindfleischs stammt aus eigener schlachtung, Kartoffeln und Kraut aus den datschen.

Öko-Farmen wie die konowalowo sind der neue agrarische trend.

Doch viel liegt in der russischen Landwirtschaft noch brach: „Die meisten Betriebe arbeiten ineffi-zient“, sagt Sergej Jarowoj. „In der Schwarzerderegion könnten wir bis zu 40 Prozent mehr erwirt-schaften. Wenn John und Jarowoj

zu den Betrieben hinausfahren, erwartet sie oft eine Überra-schung: Wo die Fahrer der Un-krautspritze eine Reihe vergessen haben, sprießt alles, nur keine Zu-ckerrübe. Um die Mittagszeit ste-hen die Mähdrescher stundenlang still: Pause. Im Vergleich zu Mit-teleuropa kostet ein Mähdrescher in der Russischen Föderation deut-lich mehr bei der Anschaffung, erntet durchschnittlich aber nur die Hälfte. Mit solchen Effizienz-verlusten rechnet man, das Ge-schäft lohnt sich trotzdem.

Felder so groß wie landkreiseEin weiterer Grund für die Inef-fizienz ist die Struktur der Agrarwirtschaft: Die Selbstver-sorger sind zu klein, die bestehen-den Agrarunternehmen zu groß. Für eine Holding mit Feldern so ausgedehnt wie deutsche Land-kreise ist es schwierig, jeden Teil-betrieb zu steuern oder mit gro-ßen Ertragsschwankungen zu wirtschaften. Börsennotierte Hol-dings schütten außerdem ihre Gewinne an die Aktionäre aus,

Um 1900 war Russland größter Ge-treideexporteur der Welt: Fast ein Drittel des Weltexports kam aus dem Zarenreich. Der Erste Weltkrieg, Revo-lution und jahrelanger Bürgerkrieg führten zu einer Entvölkerung der Dörfer und starken Einbrüchen der landwirtschaftlichen Produktion. Erst in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre stiegen die Erträge wieder. 1929 ent-schied Stalin, den gesamten Agrar-sektor zu kollektivieren. Viele Bauern schlachteten ihre Pferde, Kühe und Schweine allerdings lieber, anstatt sie an die überall gebildeten Kolchosen abzuliefern. Dies hatte einen neuerli-chen Einbruch der landwirtschaftli-

chen Produktion zur Folge, besonders in der Viehwirtschaft. Durch den ver-stärkten Einsatz von Maschinen er-reichte die Getreideproduktion 1940 wieder das Volumen der Vorkriegs-zeit. Der Zweite Weltkrieg ließ die Produktion von Fleisch und Getreide um die Hälfte einbrechen. Anfang der 80er-Jahre war die Sow-jetunion weltgrößter Produzent von Weizen, Roggen, Gerste und Baum-wolle, obwohl die staatlich gesteuer-ten Kolchosen und Sowchosen ineffi-zient arbeiteten.Nach dem Ende der Sowjetunion zer-fielen Kolchosen und Sowchosen – im Jahr 1998 produzierte Russland nur

halb so viel Getreide wie 1990. Erst in jüngerer Zeit konnte dieser Erdrutsch aufgehalten werden. 2008 wurde mit 108 Millionen Tonnen erstmals wieder mehr als 1990 geerntet.In der Viehwirtschaft war der Fall noch tiefer: Vielerorts wurden ganze Bestände geschlachtet, um schnelle Gewinne zu machen. Die Branche hat sich bis heute nicht davon erholt: Der Kuhbestand liegt bei 11 Millionen, das sind 31 Millionen weniger als noch in den 80er-Jahren.Heute sind in der Landwirtschaft zehn Prozent der Bevölkerung beschäftigt, ihr Umsatz betrug 2009 1,53 Trillionen Rubel (38 Milliarden Euro).

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7RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE

EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU Das Thema

MODERNE LITERATURWas wird in Russland gelesen?

Wo bleiben die jungen Tolstois und Dostojewskis? Das Thema zur Frankfurter Buchmesse.

Thema der nächsten AusgabeNoch frischer als aus dem Druck – das Russland HEUTE E-Paper

russland-heute.de/e-paper

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Stefan Dürr ist seit zwei Jahrzehnten in der russischen Landwirtschaft tätig, sei-ne Firma Ekoniva gehört heute zu den größten Agrarholdings des Landes. Wie hat er die Krisen überstanden, und was reizt ihn so an diesem Land?

IM BLICKPUNKT

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Es muss nicht immer Assam oder Ceylon sein, der Anbau von Tee ist auch in Russland lukrativ – Krasnodar ist das nördlichste Teeanbaugebiet der Erde.

LJUDA LIFTSCHIKOWAFÜR RUSSLAND HEUTE

Die bayerischen Felder waren ihm zu klein, Brandenburg zu unbelebt. Vor sechs Jahren wanderte Christian Kowalczyk aus. Im westrussischen Sewsk hat er gefunden, was er suchte.

Im verdreckten blauen Lada Niva fährt Christian Kowalczyk auf die Felder, Acker� ächen, so groß wie ein bayerischer Landkreis. „Ich liebe den stinkigen, dreckigen Wagen“, sagt er. Sein schickes neues Familienauto will nicht so recht zu ihm passen. Krawatte und Anzug trägt er nur, wenn es un-bedingt sein muss, sein Standard-dress: ausgewaschenes T-Shirt, ausgebeulte Wanderschuhe und eine kurze Hose. Die braunen Haare trägt er kurz und praktisch. Für Mode ist seine russische Frau Anja Baranowa zuständig, dazu hat der selbstbewusste Landwirt keine Zeit.Der gebürtige Franke wuchs in einer Apothekerfamilie auf, als Kind half er auf dem Nachbar-hof. Später studierte er im frän-kischen Triesdorf Landwirtschaft und arbeitete danach auf einem landwirtschaftlichen Betrieb in Brandenburg. Aus purem Zufall heuerte er vor sechs Jahren bei einem russischen Agrarunterneh-men mit 500 000 Hektar Land an. Nach Wirtschaftskrise und Lohn-ausfällen macht er sein eigenes Ding – „am Ende der Welt“.Kowalczyks neue Heimat, die 9000-Einwohner-Gemeinde Sewsk, liegt im armen Westen Russlands, unweit der ukraini-schen Grenze. Bis zur nächstgrö-ßeren Stadt geht es zwei Autostun-den über löchrige Teerpisten. Wo jetzt Raps, Winterweizen und Braugerste sprießen, wucherten vor Kurzem noch Brennnesseln, Ackerwinde und junge Birken. 20 Jahre lag alles brach. „Wir haben ganz von vorne angefangen in Sewsk“, sagt Kowalczyk und ist stolz, dass er keine alte Kolchose übernommen hat, sondern einen ganz neuen Betrieb aufbaut. Gemeinsam mit seinem Partner Eckhart Hohmann bewirtschaf-tet er im Auftrag eines Moskauer Investors 20 000 Hektar Land. Schwarze Zahlen schreibt die Ko-walczyk-Farm trotz der ersten guten Ernten nicht. Noch muss in-vestiert werden.

Er mag es schwierig200 Kilometer südlich von Sewsk beginnt die Schwarzerderegion mit sehr guten Böden und viel Sonne. Dort könnte er es einfa-cher haben. Kowalczyk aber liebt die westrussische Wildnis, die er und seine etwa 100 russischen Mit-arbeiter immer noch nicht kom-plett erschlossen haben. „In den fruchtbaren Gegenden ist das Land schon verteilt“, sagt er. „Die Böden hier sind schlechter, aber

Bauer sucht Frau und Land Porträt Ein deutscher Landwirt baut einen Betrieb in Russland auf

dafür regnet es genug und die Brände im vergangenen Sommer haben bei uns nicht so viel Scha-den angerichtet.“ Die Au� egetaste seines Handys drückt Kowalczyk so schnell wie jeder Russe, meist noch mitten im Satz. Wenn er mit seinen Mitar-beitern russisch spricht, � icht er

mit nahezu muttersprachlichem Geschick Schimpfworte ein, die man in der Zeitung nicht schrei-ben darf. An die Umgangsformen auf dem russischen Dorf und unter den Mähdrescherfahrern habe er sich erst gewöhnen müssen, aber: „Wer an den richtigen Stellen � ucht, kommt mit den Menschen hier besser zurecht“, sagt der 35-Jährige lachend mit fränki-schem Dialekt. Ohne deftige Spra-che würde er von den Arbeitern

nicht ernst genommen. Einen Sprachkurs hat Kowalczyk nie belegt. Sein erster Chef in Russ-land sagte zu ihm damals: „Das Sprechen lernst du auf dem Acker.“ Er hat recht behalten. Mit seinen wenigen Brocken Rus-sisch lernte Christian Kowalczyk in einem kleinen Dorf auch seine Frau Anja kennen. „Es war wie ein Zauber, denn man trifft auf dem Land nicht viele Ausländer“, sagt die studierte Agrarökonomin. Vor zwei Jahren fuhr das Paar auf einem Mähdrescher zum Standes-amt, das erste deutsch-russische Kind kam am 26. August zur Welt. „Wenn man eine Russin heiratet, tut man sich leichter mit dem Ein-gliedern“, sagt Kowalczyk. Im Sewsker Kleinstadtleben sei es dennoch schwer, sich einzubrin-gen, selbst für seine Frau.

Düngung, Grammatik, SarrazinDie Kowalczyks wohnen in der Wohnung Nummer 23 im ersten Stock eines dreigeschossigen Hau-ses mit russischem Standardtrep-penhaus: hellblau gestrichene Wände und abgenutzte Betonstu-fen. „Die Tapete kommt noch nicht herunter“, beschreibt Kowalczyk sein bescheidenes Heim. Wenn er über sein Leben in Russland er-zählt, lehnt er sich entspannt zu-rück. Im Wohnzimmerregal der Kowalczyks steht zwischen den Buchtiteln „Düngung“ und „Stan-dardgrammatik Russisch“ auch „Deutschland schafft sich ab“. Hat Kowalczyk den langen rus-sischen Winter satt, und ist auf dem Hof nicht viel zu tun, fährt er für kurze Zeit zurück nach Deutschland oder macht Urlaub: Neuseeland, Argentinien, Brasi-lien, natürlich, um sich dort mit seiner Frau die Farmen anzu-schauen. Strand gibt es höchstens zwei Tage zwischendurch. Kowal-czyk lebt für die Landwirtschaft, und er ist angekommen: „In Russ-land wird dem deutschen Bauern alles geboten, wovon er in Deutsch-land zu wenig hat: Ackerland und Frauen.“

Einen Sprachkurs hat Kowalczyk nie belegt. Sein Chef sagte zu ihm: „Russisch lernst du auf dem Acker.“

für schlechte Zeiten bleibt da kein Polster. Besonders deutlich wurde das in der Finanzkrise 2008 und ihren Folgen. Einige Holdings konnten monatelang keine Gehäl-ter zahlen. Agrarexperten wer-ben daher um Stabilität von unten: Kleine Selbstversorger sollten sich zu mittelgroßen Familienbetrie-ben zusammenschließen und ihre Produkte vermarkten.

Hohe Löhne gegen Landflucht Doch viele Eltern sehen für ihren Nachwuchs keine Zukunft auf dem Land, wie Olga Jujukina. Ihr Sohn ist mit Kühen, Traktoren und Heueinfahren aufgewachsen. Nun wird er in der Stadt studie-ren. „Er soll Manager werden“, sagt die Mutter. Die Agronomen der großen Unternehmen beklagen eine Über-alterung in der ländlichen Regi-on. „Uns fehlt es an ausgebildeten Kräften, die mit den landwirt-schaftlichen Maschinen und neu-ester Technologie umgehen kön-nen“, sagt Alexander Musnik vom Agrarbetrieb Soldatskaja in der Nähe der Stadt Kursk. Nach ihrem Studium wollen nur wenige zu-rück aufs Land. „Nicht einmal Kinos gibt es und nur wenige Restaurants, außer-dem leben alle unsere Freunde in der Stadt“, erklärt Hochschulab-solvent Sergej Jarowoj. Er arbei-tet in der Großstadt Woronesch, in sein Heimatdorf fährt er nur übers Wochenende. Auch Absol-venten der Agraruniversitäten lockt selbst ein höheres Gehalt nicht wieder aus den Zentren in die Peripherie. Wer auf dem Dorf wohnt, wird oft abwertend als „Derewentschina“ (Dorftrottel) oder „Kolchosnik“ bezeichnet.

Deshalb wird um Fachkräfte aus dem In- und Ausland geworben: „Für gut ausgebildete Russen lohnt es sich � nanziell nicht, ins Ausland zu gehen“, sagt John. Um-gekehrt ist es für Ausländer inte-ressant, in Russland anzuheuern – nicht nur wegen des Geldes: „Ich bin hierher gekommen, weil das Leben einfach spannender ist“, sagt Torbjörn Karlsson. Der Schwede ist nicht allein: Abends treffen sich Agrarfach-leute aus Deutschland, Südafrika und der Schweiz zum Feierabend-bier in Woronesch, dem Sitz ihrer Unternehmen. Die Gesprächsthe-men: Getreidepreise, Feuch-tigkeitswerte der Böden und turbulente Erlebnisse mit der rus-sischen Straßenpolizei. Jeder ar-beitet für eine andere Holding, doch man tauscht sich aus, die Konkurrenz ist nicht groß. Es scheinen genug Land und Gewin-ne für alle da zu sein.

Christian Kowalczyk

Nach dem Studium der Landwirt-schaft arbeitete Christian Kowalczyk zunächst auf einem Betrieb in Bran-denburg. Vor sechs Jahren ging er nach Russland, wo er für das Agrarun-ternehmen Ekoniva tätig war. Dann verließ er die Firma, um seinen eige-nen Betrieb aufzubauen. Seit zwei Jahren bewirtschaftet Kowalczyk zu-sammen mit einem deutschen Partner 20�000 Hektar Land im Gebiet Brjansk an der ukrainischen Grenze.

BIOGRAFIE

Das sind die Elemente, die Bauer Kowalczyk glücklich machen: unend-liche Felder, blauer Himmel, der Mähdrescher im wogenden Korn.

HERKUNFT: COBURG

ALTER: 35

BERUF: LANDWIRT

Millionen Dollar flossen 2010 aus dem Ausland in den Agarsektor.

Millionen Hektar groß war 2010 die Anbaufläche in Russland.

Millionen Tonnen Getreide erntete Russland 2008. 2010 waren es wegen Dürre nur 60 Millionen.

Prozent mehr Geflügel und 8,6 Prozent mehr Schweinefleisch wur-den 2010 produziert.

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8 www.russland-heute.de Russland Heute

eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, Moskaugesellschaft

jelena nowikowarussland heute

Mit dem „Muttergeld“ versucht der staat, die geburtenrate zu erhöhen. aber viele machen lieber karriere. und bei der zahl der abtreibungen hält das land einen traurigen weltrekord.

Mutterglück muss nicht immer das Höchste der Gefühle für eine Frau sein. Schon im sowjetischen Film „Warten wir noch bis Montag“ sagt die Schülerin Nadja im Un-terricht, für sie bestehe das größ-te Glück darin, einmal Mutter von vier Kindern zu werden. Diese Aussage versetzt ihre Lehrerin, eine unerschütterliche Verfechte-rin der Sowjetideologie, in Rage, weil eine rechtschaffene Genos-sin ihre Erfüllung gefälligst in der Arbeit und im Aufbau des Kom-munismus zu finden habe. Inzwischen ist der Film über vier-zig Jahre alt; das Land hat sich radikal verändert und mit ihm auch der Lebensstil der Menschen. Doch noch immer treffen Mütter mit vielen Kindern auf Lächeln und Ablehnung. Und das, obwohl die Geburtenraten dramatisch sinken und staatliche Program-me und Anreize dem entgegen-wirken sollen.

individualismus statt kindMaria Ipatowa, 25, hat zwei Söhne und denkt mit ihrem Mann über ein drittes Kind nach. „Mein äl-terer Sohn war nach der Geburt sehr schwach, und die Ärzte mein-ten, er würde vielleicht nicht über-leben. Deshalb wollen wir viele Kinder. Ein Einzelkind wird zum Egoisten, zwei Kinder sind Riva-len, und erst drei Kinder bilden eine Familie“, erläutert Maria Ipa-towa ihr Weltbild.Allerdings teilen nicht viele diese Meinung. Jahr für Jahr gibt es we-niger Familien, die sich für Kin-der entscheiden. Lediglich drei Prozent aller Paare haben mehr als zwei Kinder, aber 48 Prozent, fast die Hälfte aller Paare, über-haupt keine. Hauptgründe sind die finanzielle und zeitliche Be-lastung, die Kinder auf die Eltern ausüben. Der Trend zum Ausleben des In-dividualismus verschiebt Heirats- und Geburtstermine zu höheren Altersjahrgängen. Manche heira-ten gar nicht, und viele verzich-ten auf Kinder. Dieser Trend hat auch das moderne Russland erfasst. Die Moskauerin Anna Kule-schowa, 30-jährige Mutter von drei Töchtern, berichtet: „Ich komme aus der Plattenbausiedlung Tschertanowo. In unserer Nach-barschaft gibt es viele Familien mit Kindern. Wir unterstützen uns gegenseitig. Doch außerhalb un-seres Zirkels wirft man uns vor, dass wir uns überall vordrängen, faul sind und Kinder in die Welt setzen, um davon zu leben und nicht arbeiten zu müssen.“ Kule-schowa ist promovierte Sozialwis-senschaftlerin und ging schon wieder arbeiten, als ihre jüngste Tochter drei Monate alt war.

Muttergeld und land für einen reichen kindersegen

demografie Paare ohne Kinder, steigende scheidungsraten – russland hat ähnliche Probleme wie europa

Wiktoria Jakowlewa ist 34 Jahre alt, seit fünf Jahren verheiratet – und kinderlos. „Mein Mann und ich haben einen Kredit für eine Wohnung aufgenommen“, begrün-det Jakowlewa ihre Kinderabsti-nenz. „Wir müssen die Hypothek abbezahlen und viel arbeiten. Ich möchte kein Kind in die Welt set-zen, das von einer Tagesmutter aufgezogen wird und seine Mut-ter nur am Abend sieht. Doch lei-der ist es in unserer Gesellschaft sehr schwierig, gleichzeitig arbei-ten zu gehen und Mutter zu sein“, erklärt sie weiter.

drei von vier ehen scheiternZwar gibt es keine Daten über Scheidungen bei kinderreichen Familien, doch die Statistik zeigt, dass jährlich rund eine Million Ehen in Russland geschlossen und 700 000 Paare geschieden werden, also fast drei von vier Ehen scheitern. Zum Vergleich: In Deutschland ließen sich 2009 etwa 191 000 Paare

scheiden, allerdings heirateten auch nur 376 000.Psychologen und Soziologen schla-gen schon seit Langem Alarm und sprechen von einer „Krise“ oder sogar der „Abschaffung“ der In-stitution Familie. Dabei geht es

nicht nur um die Scheidungssta-tistik. Immer mehr Paare leben inzwischen ohne Trauschein zusammen. Ein weitverbreiteter Trend sind auch die alleinerziehenden Müt-ter. Mehr als 30 Prozent der rus-

sischen Kinder kommen unehe-lich zur Welt. Rechnet man die stark sinkenden Geburtenzahlen hinzu, entsteht ein beängstigen-des Bild. In Russland hat die Durchschnitts-familie nur noch 1,59 Kinder (1,36 in Deutschland) – 1990 waren es noch 1,9. Um die normale Repro-duktion – das heißt, die der hei-mischen Bevölkerung ohne Berücksichtigung von Aus- oder Einwanderung – langfristig auf einem konstanten Niveau zu hal-ten, geht man in modernen Ge-sellschaften davon aus, dass etwa 2,1 Kinder pro Frau geboren wer-den müssen. Es gibt viele Gründe für den Rück-gang der Geburten. Nach Anga-ben des russischen Meinungsfor-schungsinstituts VTsIOM haben sich rund 31 Prozent der Russen aufgrund finanzieller Schwierig-keiten und mangelnder staatlicher Unterstützung gegen ein Kind ent-schieden. Die Unvereinbarkeit von Karriere und Kindern stellt ein weiteres Problem dar. Jede fünf-te junge Frau zwischen 24 und 35 Jahren möchte beruflich erfolg-reich sein und ihre Zeit nicht am Herd bei den Kindern verbringen. Der Mangel an Kindergärten und hohe Kosten für Tagesmütter ver-schärfen die Situation noch. Die fallende Geburtenrate ist auch der Zahl der Schwangerschaftsabbrü-che geschuldet. Sie liegt mit 60 Prozent in Russland weltweit an der Spitze.Der Staat versucht gegenzusteu-ern und fördert junge Familien zum Beispiel durch das sogenann-te „Mutterkapital“. Hierbei win-ken 365 000 Rubel (etwa 9000 Euro) für die Geburt des zweiten und dritten Kindes. Solche staat-lichen Maßnahmen haben zwar seit 2006 zu einem Anstieg der Ge-burtenrate um 22 Prozent geführt, sie konnten die demografische Entwicklung grundsätzlich jedoch nicht aufhalten. Im vergangenen Jahr erinnerte sich die russische Regierungspar-tei Einiges Russland an die Kin-derlosensteuer, die in der UdSSR von 1941 an galt und noch bis 1992 in Kraft war. Kinderlose Männer zwischen 20 und 50 Jahren und kinderlose verheiratete Frauen zwischen 20 und 45 Jahren muss-ten sechs Prozent ihres Lohnes als Kinderlosensteuer abführen. Erst ein eigenes oder adoptiertes Kind erlöste sie von der Steuer. Doch die neue Zeit verbietet solche Zwangsmaßnahmen. Die Idee blieb auf der Vorschlagsebene stecken.

Familienleben und scheidungen: eine russische statistik

eheschließungen und scheidungen*

Vom Plattenbau zum eigenheim – ab drei kindern gratisDas größte Problem für Familien in Russland ist der Wohnraum: Der Miet-markt ist chaotisch, Wohnungen zu teuer, Kredite nur mit hohen Zinsen zu haben. Ein am 17. Juni 2011 beschlos-senes Bodengesetz ermöglicht nun zumindest Familien mit drei oder mehr Kindern den kostenlosen Erwerb einer Parzelle, die als Bauland für die Errichtung eines Eigenheims genutzt werden kann. Dabei handelt es sich um Grundstücke aus staatlichem und kommunalem Besitz. Allerdings müs-sen die genauen Parameter noch in weiteren Gesetzen beschlossen wer-

den. Eine Vorreiterrolle bei der Initiati-ve, kinderreichen Familien ein Stück Land zur Verfügung zu stellen, spielte die Region Iwanowo. 65 Prozent der Gesamtbevölkerung sind dort Frauen. „Für uns ist das eine sehr erfreuliche Nachricht, die wir als ernst zu neh-menden Fortschritt bei der Entwick-lung des Eigenheimbaus in Russland bewerten. Der Staat hat damit den Schwerpunkt eindeutig auf kleinteili-ges Bauen gesetzt“, erklärt Jelena Nikolajewa, Präsidentin der Nationa-len Agentur für niedrigetagige Bebau-ung und Eigenheimbau.

auch in russland prägen alleinerziehende Mütter immer häufiger das straßenbild.

In der nächsten Ausgabewarum russen früh heiraten

Scheidungen: „Nach wie vielen Jahren gemeinsamer Ehe haben Sie sich ge-trennt?“ (Quelle: Rosstat)

Scheidungsgrund: „Nennen Sie die Hauptgründe für Ihre Trennung.“ (Quelle: VTsIOM)

Anzahl der Kinder: „Wie viele Kinder haben Sie?“

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9RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE

EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU Reisen

Unterirdische SpiegelbilderTourismus Metrofahren lohnt sich in Moskau ganz besonders. Nicht nur, weil man dadurch den Staus entgeht

Reise Wer den Reiseführer links liegen lässt, kann in der russischen Hauptstadt so manche Überraschung erleben

Art Déco 33 Meter unter der Erde – Majakowskaja ist eine der schönsten Metrostationen Moskaus. Anlässlich des 75. Metrojubiläums 2010 gaben hier Studenten des Gnessin-Musikinstituts ein Konzert.

ALJONA LEGOSTAJEWAFÜR RUSSLAND HEUTE

Von unterirdischen Palästen für das Volk träumten die Sowjets. 80 Jahre nach Baubeginn besitzt die Moskauer Metro 182 Stationen und ist ein Museum der russischen Geschichte.

Schon 1902 hatten zwei Ingenieu-re der Moskauer Stadt-Duma den Bau einer Metro vorgeschlagen. Doch die Duma lehnte ab – schließ-lich residierte die reiche Bourgeoi-sie im Zentrum, deren Häuser dem Bau hätten weichen müssen. In den nächsten 30 Jahren wurden min-destens fünf weitere Projekte für eine Moskauer Metro aus verschie-denen Gründen verworfen. Der Bau begann schließlich 1931, und am 15. Mai 1935 wurde Mos-kaus Untergrundbahn in Betrieb genommen: Die ersten Passagiere betraten die Rolltreppen und nah-men begeistert auf den weichen Sitzen der neuen Waggons Platz (in den Straßenbahnen gab es nur Holzbänke). Mittlerweile verfügt die Moskau-er Metro über mehr als 300 Schie-nenkilometer, zwölf verschiedene Linien und 182 Stationen. 6,5 Mil-lionen Passagiere nutzen sie täg-lich. Bis 2020 sollen 120 Kilometer hinzukommen und ein dritter „Umsteigering“.1955 wurde die Metro zu Ehren Lenins umbenannt, Darstellungen des Arbeiterführers säumen auch

heute noch vielen Stationen, bei-spielsweise als Mosaike in der Bau-manskaja und Kiewskaja sowie aus Fliesen im Durchgang zwischen den Stationen Borowizkaja und Bi-blioteka imeni Lenina.„Die Entwicklungswege unserer Kunst und Architektur über und unter der Erde verliefen absolut identisch. Alles, was über der Erde passierte, fand auch unter der Erde seinen Niederschlag. Das gab es nie: schlechte Architektur unten

und gute oben“, erklärt der Chef-architekt der Moskauer Metro Ni-kolaj Schumakow. „Die ersten Metrostationen, die bis Mitte der 50er-Jahre entstanden, sind reiche „Paläste für das Volk“, große Architektur für einen gro-ßen Staat. Beeindruckende Bei-spiele sind die Stationen Majakows-kaja und Nowokusnezkaja, in denen man sich unbedingt die De-ckenmosaike „Ein Tag im Land der Sowjets“ und „Die heroische

Arbeit der Sowjetbürger im Hin-terland“ ansehen muss.Die Zeit des unter- und überirdi-schen Prunks endete 1955 mit dem Parteierlass „Über die Beseitigung von Ausschweifungen bei Planung und Bau“. Unter der Losung „Ki-lometer statt Architektur“ entstan-den einheitliche Stationen ohne Stuck, Mosaike und Säulen. Einen Eindruck von der Architektur die-ser Zeit verschaffen die Stationen Twerskaja und Kitaj-Gorod.

DIANA LAARZRUSSLAND HEUTE

Neben Rotem Platz, Mausoleum und Kreml hat Moskau auch anderes zu bieten: Eisbaden im Silberwäldchen, ein 360- Grad-Kino oder die deutsche Kirche St. Peter und Paul.

„Kinopanorama“ Filme auf einer 360-Grad-Leinwand.Oft verirrt sich gerade mal eine Handvoll Besucher zu den Vor-stellungen. Sie sitzen auf Bänken in der Mitte des runden Kinos, rumpeln mit dem Zug durch si-birische Wälder, vorbei an Holz hackenden Männern. Der Ton fällt manchmal aus, das wacklige Bild ebenso. Doch dafür bringt das „Kinopanorama“ seine Besucher

Natürlich muss man als Tourist den Roten Platz gesehen haben. Gerade zu die bunten Kuppeln der Basilius-Kathedrale, rechts Le-nins Mausoleum vor erdrücken-den Kremlmauern, links die Fas-sade des Edelkaufhauses GUM. Doch wie weiter? Immer den Emp-fehlungen des Reiseführers hin-terher? Lieber der Nase nach. Für den Moskau-Besucher lohnt sich ein Blick über den Index seines Handbuches. Er könnte sich zum Beispiel in einem Kino wieder-� nden, das schwindlig macht. In das Allrussische Ausstellungs-zentrum WWZ verirrt sich so manch ein Moskau-Besucher. Mit seinen pompösen Bauten gilt es als Inbegriff der Sowjetästhetik. Doch selbst die meisten Moskauer wis-sen nicht, dass dort im „Kinopa-norama“ cineastische Raritäten ge-zeigt werden. Wenn der Tonarm vom Plattenspieler genommen und das Licht gedimmt wird, beginnt eine Zeitreise in die Vergangen-heit. Schon 50 Jahre lang zeigt das

Lust auf eine Partie Riesenschach? Moskauer Spieler im Gorki-Park

in ein Land, das es nicht mehr gibt. So ganz anders als die pul-sierende Millionenmetropole die-ser Tage.

Moskau ist immer schnell, manch-mal schneller, als es guttut – das spürt jeder Besucher nach dem ersten Tag. Und sehnt sich nach Ausgleich. Das Ufer der Moskwa etwa verwandelt sich in lauen Sommernächten in eine Tanzbüh-ne. Am südlichen Rand des Gor-ki-Parks versammeln sich Mos-kauer jeglichen Alters, und selten ist die Stimmung so entspannt und friedlich wie hier. Tagsüber ver-bergen die Städter sich hinter ver-steinerten Gesichtern, aber hier jauchzen sie ausgelassen bei Sir-taki, Irish Dance und Hustle. Wer einmal anfängt zu tanzen, hört so schnell nicht wieder auf.

Geheimnisse unter der ErdeNach dem Besuch im Kreml soll-te man nicht versäumen, bei den Patriarchenteichen ein wenig auf den Spuren von Bulgakows „Meis-ter und Margarita“ zu wandeln. Wenn es kalt wird, verstecken sich Ortskundige nicht nur in der Tret-jakow-Galerie, sie härten sich im „Silberwäldchen“ (Serebrjany Bor) beim Eisbaden ab.Manche Moskauer Besonderheit liegt gut verborgen unter der Erde. So der „Bunker 42“ unter der Metrostation Taganka. Was sich hinter dem unscheinbaren Haus mit der Nummer 11 versteckt, ahnten 40 Jahre lang selbst die Nachbarn nicht. In den 1950ern hatte Stalin vier Röhrenbunker in den Untergrund bohren lassen, um im Falle eines Atomangriffs der USA die Kommunikation auf-rechtzuerhalten. Fernschreiber und Generatoren heizten die Tem-

Sirtaki tanzen im Gorki-Park, frösteln im Stalin-Bunker

Mehr über die deutschen Spuren in Moskau auf www.russland-heute.de

Am Ufer der Moskwa jauchzen die sonst verschlossenen Moskauer ausgelassen bei Irish Dance und Hustle.

Die dritte Etappe beim Metrobau, die „Wiedergeburt“, setzte mit dem Umbau der Station Worobjowy Gory (Sperlingsberge) 2002 ein. Bei der Planung wurde auf den Archi-tekturkanon der 30er- und 40er-Jahre Bezug genommen, und bei der Ausgestaltung zog man erneut Künstler heran. So schmücken die Station Sretens-kij Bulvar Silhouetten von Pusch-kin, Gogol und Timirjasew sowie eine Moskauer Stadtansicht. Ein schwarz-weißes Wandbild in der Station Dostojewskaja erinnert an Helden der Romane „Der Idiot“, „Die Dämonen“, „Schuld und Sühne“ und „Die Brüder Karama-sow“. Pastorale Landschaftsmo-saike säumen die Station Marina Roschtscha.2004 wurde im Norden von Mos-kau das erste Einschienen-Trans-portsystem in Russland eingeführt – eine überirdische Linie in sechs bis zwölf Metern Höhe, die ihre Fahrgäste noch schneller ans Ziel bringt. In den nächsten Jahren soll die Ar-chitektur der Moskauer Metro den Menschen nähergebracht werden. „Wir wollen einige Stationen ge-wissermaßen entkleiden“, sagt Schumakow. „Dabei versuchen wir, den Fahrgästen die Kons-truktionen möglichst vollständig zu zeigen – denn die Baumateria-lien Eisen und Beton, aus denen die Stationen bestehen, haben für sich ihren ganz eigenen Reiz.“

peratur auf 30 Grad, heute frös-teln Besucher in 60 Metern Tiefe bei 16 Grad. Viel ist nicht übrig geblieben von dem technischen Wunderwerk. Dafür können die Gäste Unifor-men anlegen, Kalaschnikows in die Hand nehmen und am Schreib-tisch vor einem Porträt Leonid Breschnews posieren. Und wenn das Licht ausgeht, rote Warnleuch-ten blinken und eine Lautspre-cherstimme verkündet, Moskau sei soeben zerstört worden, be-kommt man eine Ahnung von der Zeit, in der die Menschen sich auf ein Leben 60 Meter unter der Erd-ober� äche vorbereiteten.Auch deutsche Spuren gibt es in Moskau. In der „Nemezkaja Slo-boda“ (Deutsche Vorstadt) im Nord-osten siedelten die Deutschen seit dem 16. Jahrhundert. Ihr Erbe ist allgegenwärtig. Die Schokoladen-fabrik Roter Oktober auf einer Insel mitten auf dem Fluss Moskwa – heute Treffpunkt der Kunst- und Partyszene – wurde von den Deut-schen Ferdinand von Einem und Julius Geis gegründet. Den Grund-stein für die evangelische Peter-und-Paul-Kirche legte 1818 Kaiser Friedrich Wilhelm III. Bis heute treffen sich dort die Nachfahren der deutschen Auswanderer. Besonderer Tipp: Der deutsche Ar-chitekt Peter Knoch bietet fach-kundige Führungen durch die Hauptstadt mit viel Insiderwis-sen: www.ga-moskau.com.

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eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, MoskauMeinung

Russland Heute: Die deutsche Ausgabe von Russland Heute erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion der tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich. Verlag: Rossijskaja Gaseta, ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation tel. +7 495 775-3114 fax +7 495 988-9213 e-mail [email protected]

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Dynamische Partnerschaft

Zur Zeit bewegen sich die deutsch-russischen Beziehungen und die Partnerschaft zwischen EU und Russland auf einem Niveau, das mehr Normalmaß beschreibt, als dass es eine dynamisch orientier-te Zukunftsstrategie beinhaltet. Können wir damit in die nächs-ten Jahre gehen?In der Russischen Föderation wer-den die kommenden Monate durch die Wahl der Duma und des Prä-sidenten geprägt sein. In Deutsch-land sind wir stark mit uns selbst und den Verwerfungen an den internationalen Finanzmärkten beschäftigt. Ähnliches gilt für die EU. Die Weltlage lässt aber keine langsamere Gangart im deutsch-russischen Dialog zu.In zu vielen Bereichen haben wir keine durchgängige Orientierung. Die europäische Energiepolitik braucht neue Impulse hinsichtlich des starken Partners Russland. Gerade Deutschland muss Russ-land wieder in den Fokus rücken, weil wir durch die Förderung der erneuerbaren Energien bis zu 30 Prozent mehr Gas aus der Russi-schen Föderation benötigen.Es ist abzusehen, dass dies die Dis-kussion über Abhängigkeiten be-leben wird. Dem muss schon jetzt mit einem konstruktiven Ansatz der Partnerschaft entgegengetre-ten werden. Energie wird weiter-

Wir brauchen endlich einen Bei-tritt Russlands zur World Trade Organization WTO, wir brauchen ein neues Partnerschafts- und Ko-operationsabkommen mit der EU und einen neuen Geist globalen Denkens. Das Drama der 18-jäh-rigen Verhandlungen über den WTO-Beitritt sollte schnellstens beendet werden! EU und Bundesregierung sind auch bei der Erleichterung der Reisebedingungen von Bürgern aus der EU und Russischen Fö-deration gefordert.

Wir verlieren wertvolle Zeit angesichts der dramatischen Um- und Neugestaltung der Weltwirt-schaft. Diesen Herausforderun-gen der Globalisierung müssen sich Verantwortliche aus Politik und Wirtschaft stellen, um die Früchte des dynamischen Aus-tauschs der letzten Jahre zwischen Europa und Russland nicht zu gefährden.

Der Autor ist Aufsichtsratsvor-sitzender bei TUI. 2000 bis 2010 stand er dem Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft vor.

hin im Mittelpunkt der deutsch-russischen und der europäisch-russischen Beziehungen stehen. Hinzu kommt, dass Russland in Zukunft als Lieferant von Metal-len und Seltenen Erden an Ge-wicht gewinnt. Ohne eine gesicherte, politisch ab-gefederte Rahmenvereinbarung werden viele Investoren zögern,

die Geschäfte auszubauen. Dies gilt auch für Investitionen in Transportwege, wo wir mit der North-Stream-Pipeline in kurzer Zeit eine hervorragende neue Ver-sorgungsader erschlossen haben.South Stream muss folgen. Die Unsicherheiten bezüglich der Na-bucco-Pipeline sollten im Rahmen der immer größer werdenden

Kürzlich habe ich festgestellt, dass nur wenige Russen jemals vom „Tag der Staatsflagge der Russi-schen Föderation“ am 22. August gehört haben. Und noch weniger erinnern sich daran, was zur Ein-richtung dieses Feiertags geführt hat. 1994 eingeführt, erinnert er an das Scheitern des Putsches gegen Gorbatschow, an jenes Ereignis, das eines der düstersten und zugleich vielversprechends-ten jener Tage war.Dmitri Komar, Ilja Kritschewski und Wladimir Usow wurden durch Querschläger getötet oder von Truppentransportern, die über den Gartenring rollten, zu Tode gequetscht. Die drei gehör-ten zu jenen, die versuchten, die Panzer auf ihrem Vormarsch zum Weißen Haus aufzuhalten – dem Amtssitz der Russischen Födera-tion und dem Zentrum der Oppo-sition gegen die Putschisten. Später stellte sich heraus, dass die Offiziere und ihre Männer keine

Die helDen von 1991 sinD vergessen

klaus Mangold Manager

konstantin von eggertJournalist

direkte Weisung hatten, doch an jenem chaotischen Abend des 21. August war das keineswegs klar. Noch am selben Tag brach der Putsch zusammen. Am 22. August gingen die Moskauer zu Hundert-tausenden auf die Straße, um die drei jungen Männer zu ehren. Und an jenem Tag wurde eine riesige weiß-blau-rote Trikolore über der Menge entfaltet und zum Weißen Haus getragen, wo Präsident Boris Jelzin sie später offiziell zur neuen Staatsflagge Russlands erklärte. Am 24. August wurden die drei Männer mit allen Ehren bestat-tet, und Michail Gorbatschow ver-lieh ihnen posthum den goldenen Stern „Held der Sowjetunion“.Als ich kürzlich aus purer Neu-gier nach ihren Namen im Inter-net suchte, waren die häufigsten Treffer im russischen Netz Fra-gen wie: „Wer sind diese Leute?“ oder „Sagen euch diese Namen was?“. Ein ähnliches Ergebnis er-brachte die Suche nach dem „Tag der Staatsflagge“.Scheinbar haben die Russen einen der ruhmreichsten Momente ihrer Geschichte fast ganz vergessen.

Ich könnte es verstehen, wenn diese Ereignisse mehr Hass und Verzweiflung hervorriefen: Der Zusammenbruch der Sow- jetunion war schließlich für viele ein schmerzvolles Ereignis. Mich verblüfft die Gleichgültig-keit. Die Meinungsforscher bestä-tigen meine Vermutung: Die Gleichgültigkeit ist das Ergebnis der zynischen und desillusionier-

ten Haltung, die die russische Ge-sellschaft durchdringt. Das staat-lich kontrollierte Fernsehen för-dert sie fleißig, damit die Menschen sich möglichst überhaupt keine Gedanken über Politik machen. „Nichts wird je aufgrund von Ideen oder Idealen getan. Alles, was getan wird, geschieht auf-grund von Gier oder einer ande-

immer mehr russen wenden sich gegen den Zynismus, suchen nach einer neuen Bedeutung ihrer existenz als Bürger.

ren Form von persönlichem Inte-resse“ – ist die in der russischen Gesellschaft verankerte Einstel-lung, über alle ethnischen, sozia-len und Altersgrenzen hinweg.Keiner von uns, der die Ereignis-se in jenem August miterlebt hat, wird sich je dieser zynischen Beurteilung anschließen. Ich arbeitete damals für eine Moskau-er Zeitung, und für mich war es eine Zeit der Hoffnung und des Idealismus, eine Zeit der grenzen-losen Horizonte und des Gefühls, einen Moment zu erleben, in dem Geschichte geschrieben wird. Russland knüpfte 1991 an seine vorsowjetische Vergangenheit an und wurde doch zu einem ganz neuen Land. Nie zuvor hatte es die Demokratie zu seiner verfas-sungsmäßigen Grundlage erklärt, nie hatte es in diesen Grenzen existiert und in einer solchen demografischen Zusammenset-zung. Zum ersten Mal seit 300 Jah-ren war Russland kein Großreich mehr. Man begann, einen moder-nen Nationalstaat aufzubauen und ein Jahrhundert verpasster Gele-genheiten wettzumachen.

Offenbar findet die Vorstellung immer mehr Akzeptanz, dass die-ser fast vergessene Jahrestag auch eine Quelle von Inspiration und Stolz sei, dass man diese Ereig-nisse als Wendepunkt sehen könn-te, an dem Russland begann, ein freies Land zu werden. Präsident Dmitri Medwedjew scheint ähn-licher Ansicht zu sein. Immer wie-der bezieht er sich auf 1991 als einen Meilenstein der russischen Geschichte, angefangen von sei-ner letzten Neujahrsansprache bis zu seinem Interview im Juni für die Financial Times.Man sagt, es tue einem russischen Politiker nicht gut, die glorreiche Vergangenheit zu beschwören. Ich bin da nicht so sicher. Immer mehr Russen wenden sich gegen den Zy-nismus der letzten Jahrzehnte, su-chen nach einer neuen Bedeutung ihrer Existenz als Bürger. Diese Menschen sind die Zukunft des Landes, wenn es denn eine hat.

Der Autor schrieb in den 90er- Jahren für die Zeitung Iswestija.

Dieser Beitrag erschien zuerst beiria novosti.

Transportkapazitäten bald geklärt werden.Auch der russische Handelspart-ner braucht Klarheit. Wenn Un-ternehmen wie Gazprom in Deutschland große Summen in-vestieren wollen, müssen wir sie unterstützen, anstatt ihnen Bar-rieren in den Weg zu stellen. Die jetzt beginnende Diskussion über die wettbewerbsrechtliche Dimension des Vorgehens lässt die große strategische Bedeutung des Projekts zu Unrecht in den Hin-tergrund treten. Gazprom – wie auch RWE und andere – braucht für sein Vorgehen politische Berechenbarkeit und rechtliche Absicherung. Auch hier ist die EU-Kommission gefordert, sowohl im Bereich des Wettbewerbsrechts als auch in der Abfederung der Investitionsentscheidungen. Wir müssen die russischen Investitio-nen bei uns als auch die europä-ischen Investitionen in Russland auf breiter Basis schützen.Das zweite große Thema ist die Modernisierung der russischen Wirtschaft. Hier ist Russland in den letzten Jahren nicht weiter-gekommen, zum Teil sogar zu-rückgefallen. Das Land setzt noch immer zu einseitig auf den Ex-port von Rohstoffen und Energie. In vielen Bereichen liegt die rus-sische Industrie 20 Jahre hinter seinen wichtigsten Wettbewerbern zurück. Diese Herausforderung muss eine neue russische Regie-rung annehmen.

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EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU Feuilleton

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KLASSIKZWEITES RUSSISCHES KAMMERMUSIKFEST HAMBURG7. BIS 18. SEPTEMBER, HAMBURG

In diesem Jahr steht Samuil Feinberg (1890-1962) im Fokus des Festivals, dessen Werke renommierte Musiker wie der Pianist Victor Bunin und der Cellist David Geringas interpretieren.

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Sergei Prokofjew (1891-1953), der Schöpfer von „Peter und der Wolf“, komponierte mit „Krieg und Frieden“ nach dem Roman von Leo Tolstoi seine bedeutendste Oper.

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„Die Reise nach Petuschki“ von Wenedikt Jerofejew ist Kult. Eine Art sowjetisches „On the road“ über ei-nen versoffen-verzweifelten Philoso-phen auf dem Weg zu seiner Liebsten.

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LESENSWERT

Was hinter der Berliner Mauer steht

Fünfzig Jahre nach dem 13. August hat Russland die Schlüsseldokumente für die

Entscheidung zum Mauerbau freigegeben. In vier Bänden wer-den die bislang streng geheimen Gesprächsprotokolle des sowje-tischen Partei- und Staatschefs Nikita Chruschtschow mit hoch-rangigen westlichen und östli-chen Politikern von 1955 bis 1964 vom Historiker Gerhard Wettig in Zusammenarbeit mit dem Russischen Staatsarchiv heraus-gegeben. Pünktlich zum Jubiläum des Mauerbaus hat Wettig die Dokumente zu den dramatischen Monaten der Berlin-Krise zwi-schen 1960 und 1962 ediert. Chruschtschow, so veranschau-lichen sie, erwies sich als Politiker, der von seinen persönlichen und ideologischen Ansichten be-stimmt war. Und erst recht von seinen Emotionen. Er bezeichne-te US-Präsident John F. Kennedy im Vorfeld eines Treffens als „Hurensohn“ und war der Ansicht, mit dem in seinen Augen noch unerfahrenen Politiker ein leichtes Spiel zu haben. Kennedy blieb jedoch in der Berlin-Frage hart, selbst als der Kremlchef mit Krieg drohte. Die DDR war deshalb nur noch durch die Schließung der Grenzen vor dem Zusammenbruch zu retten. Wenig später musste Chruschtschow im Gespräch mit SED-Chef Walter Ulbricht jedoch frustriert fest-stellen, dass der ostdeutsche Staat ob seiner wirtschaftlichen Schwäche auch nach dem Mauerbau nicht ohne sowjetische Panzer zu halten war. Wettig gelingt es, erstmals detailliert zu zeigen, wie hinter den verschlos-senen Türen des Kremls Politik gemacht wurde. Wie spannend die Lektüre von Akten sein kann, belegt dieses Buch.

Matthias Uhl

RUTH WYNEKENFÜR RUSSLAND HEUTE

„In der Gegenwart und in der Zukunft ist für mich kein Platz“, sagte Zwetajewa, und tatsäch-lich vergingen nach ihrem Tod Jahrzehnte, bis die Welt die Dichterin wiederentdeckte.

„Ich würde gerne auf dem Chlys-ten-Friedhof von Tarussa unter einem Holunderstrauch liegen, in einem jener Gräber mit den sil-bernen Tauben, dort, wo die größ-ten und rötesten Walderdbeeren wachsen.“ Marina Zwetajewa schrieb es im Exil. Tarussa an der Oka, 100 Ki-lometer südlich von Moskau, war der Ort ihrer Kindheit, jener üppigen, wilden Sommer, die mit einem Schicksalsschlag abrupt endeten: Sie ist 14, als die Mutter an Tuberkulose stirbt.Der Schlusspunkt ihrer Biogra-� e, die den Stoff für eine griechi-sche Tragödie hergibt: ein Grab im tatarischen Jelabuga, weitab von der Idylle ihrer Kindheit. Zwetajewa war an diesem trost-losen Ort gestrandet, nach jahre-langen Irrfahrten. Am 31. August 1941 nahm sie sich das Leben. 1892 als Tochter eines Kunstpro-fessors und einer deutschstämmi-gen Pianistin geboren, wuchs Ma-rina in Moskau auf. Sie sprach � ießend Französisch und Deutsch, begleitete die kranke Mutter nach Italien, lebte in Internaten in der Schweiz und in Freiburg.

Gegen Vulgarität und Diktate1919 schrieb sie in ihr Tagebuch: „In mir sind viele Seelen. Doch meine Hauptseele ist deutsch. In mir sind viele Ströme, doch mein Hauptstrom ist der Rhein. … Wenn man mich fragt: ‚Wer ist Ihr Lieb-lingsdichter‘, verschlucke ich mich zuerst, dann schleudere ich gleich ein Dutzend deutscher Namen auf einmal hervor.“ Heine, Hölderlin und Goethe, vor allem Rilke, gehörten zu ihren Lieblingen und poetischen Part-nern. Doch auch im Exil in Ber-lin, Prag und Paris, in das sie ab 1922 die Umbrüche in Russland trieben, verließ die Sehnsucht nach der Heimat sie nie.Wo und wie sie auch lebte (jedoch stets unter dem Existenzmini-mum), focht sie gegen Vulgarität und Diktate, war nur ihrem Gewissen verp� ichtet. Ihr Leben und Werk sind Ausdruck von Pro-vokation und radikaler Wahrhaf-tigkeit, ihre großen Themen: Liebe und wieder Liebe, die Kunst, der leidenschaftliche Kon� ikt zwi-

Wie ein Komet, der zur Erde stürzte

Todestag Vor 70 Jahren starb Marina Zwetajewa, die große russische Dichterin

die Höhen, Unruhen und Abgrün-de der großen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts.Im Juni 1939 reiste die Dichterin mit ihrem 16-jährigen Sohn Georgij, von düsteren Vorahnun-gen gequält, nach 17 Jahren Exil zurück in die Sowjetunion. Zwei Jahre zuvor waren ihre Tochter Ariadne als überzeugte Kommu-nistin und ihr Mann Sergej Efron, der in die Schlinge des sowjeti-schen Geheimdienstes geraten war, heimgekehrt.

Keiner aus der Familie ahnte das Ausmaß des Stalinterrors. Die Re-alität belehrte sie eines Besseren: Im August 1939 wird Ariadne ver-haftet, im Oktober Sergej Efron. Zwetajewa irrt mit Georgij von Provisorium zu Provisorium. Den Alltag dominieren Existenzangst, die Verantwortung für den hoch-begabten Sohn und die Unmög-lichkeit, auch nur eine einzige Ge-dichtzeile drucken zu dürfen. Dann fallen deutsche Bomben auf Moskau, überstürzt entscheidet sie sich für die Evakuierung; nach zwölf Tagen Schifffahrt erreichen Mutter und Sohn Tatarstan.Als die Bäuerin am 31. August 1941 nach Hause kommt, stößt sie gegen einen Stuhl, darüber hängt ihre Mieterin, das Haar grau, das Gesicht von Entbehrungen ge-zeichnet, die Hände abgearbeitet und gelb vom Rauchen. Die Sil-berringe findet die Polizei, die zwei Stunden später eintrifft, nicht mehr – sie sind gestohlen. In der Schürze der 49-jährigen steckt ein Notizbüchlein mit dem Wort Mordwinien – dort vermu-tete sie ihre Tochter im Lager.

Ruhm zum 100. Geburtstag Die Verhaftung der Angehörigen, Demütigungen durch Behörden und Kollegen und Streitereien mit dem pubertären Sohn hatten die Kräfte der Dichterin verzehrt, doch den letzten, tödlichen Schlag versetzten ihr, das wissen wir heute, die „Organe“. Als „Remi-grantin“ und Ehefrau eines ehe-mals weißen Offiziers stand sie per se unter Verdacht und wurde überwacht. Der Geheimdienst wollte sie zur Mitarbeit erpres-sen. Zwetajewa lehnte ab. „Selbst-mord gibt es nicht, es gibt nur Mör-der“, schrieb sie über die Dichter-kollegen Jessenin und Majakowskij, die aus dem Leben schieden. Oder getrieben wurden. Ab den 60er-Jahren wurde die Dichterin in ihrer Heimat zöger-lich veröffentlicht, zum 100. Ge-burtstag 1992 gab es einen Zweta-jewa-Boom, der über die Öffnung ihres Archivs im Jahre 2000 hin-aus anhielt. Ihre Tagebücher, die ihres Sohnes, der Schwester Anas-tasija und der umfangreiche Brief-wechsel der Dichterin sowie ihrer Tochter sind nun ungekürzt ver-öffentlicht, doch die Forschung hält nicht Schritt, denn Zwetaje-was Werk ist ein Kosmos. Als Ariadne Efron 1955 aus dem Lager entlassen wurde, fand sie kein einziges Grab: Hinter den Mauern des Geheimdienstes war im Herbst 1941 ihr Vater erschos-sen worden, ihr Bruder � el 1944 mit 19 Jahren an der lettischen Front, das Grab der Mutter war nicht mehr zu identi� zieren. Es gibt nun eine Gedenkstätte in Jela-buga – und einen Gedenkstein in Tarussa, dem Sehnsuchtsort der Dichterin. Denn der Weg von Dichtern gleicht dem von Kome-ten – unvorhersehbar und „maß-los in einer Welt nach Maß …“

Klage des Zorns und der Liebe!Klage des Zorns und der Liebe! Salz, das auf Augen ruht! Oh, und Böhmen in Tränen!Oh, und Spanien im Blut!

O schwarzer Berg, der du dasLicht verdunkelt hast!Zeit ist, Zeit, dem Schöpfer Hinzuwerfen den Pass.

Ich weigre mich zu lebenIm Tollhaus, unter Vieh.Ich weigre mich, ich heuleMit den Wölfen nie.

Ich weigre mich zu schwimmenAls Hai des Lands, stromabDen Strom gebeugter Rücken – Ich weigre mich, lehn ab.

Ablehn ich, dass ich höre,Ablehn ich, dass ich seh.Auf diese Welt des IrrsinnsGibt es nur eins: ich geh.

Paris, März – Mai 1939 Marina Zwetajewa: Vogelbeerbaum.

Ausgewählte Gedichte, herausgegeben von Fritz Mierau,

Verlag Klaus Wagenbach, 1968/1986

schen irdischer Existenz und me-taphysischem Sein. Sie war ein Komet, der zur Erde stürzte. Rilke hat es gewusst. Seine Elegie an sie beginnt: „O die Verluste ins All, Marina, die stürzenden Sterne!“ Die Zwetajewa verdichtete nicht nur Innenwelten, sondern das Wesen ihrer Zeit in Wortschöp-fungen und Rhythmus zu univer-sellen und starken poetischen Bil-dern. Wie im Brennglas bündeln sich in ihrem Schicksal und Werk

Gerhard Wettig: Chruschtschows Westpolitik 1955–1964. Band III: Kulmination der Berlin-Krise. Oldenbourg Verlag, 656 S.

Denkmal für die Dichterinvor dem Zwetajewa-Museum in Moskau

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EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAUPorträt

ANASTASIA GOROKHOVARUSSLAND HEUTE

Was konnte Kant den Sowjet-bürgern, was kann er den heutigen Russen sagen? Nelly Motroschilowa ist seit einem halben Jahrhundert die Postbotin westlicher Denker.

Sie geht nachdenklich auf und ab, während sie spricht. Manchmal bleibt sie stehen und sieht direkt in die ängstlichen Augen der Stu-denten, die voller Ehrfurcht an ihren Lippen hängen und gleich-zeitig versuchen, jedes ihrer Worte mitzuschreiben. An ihren dünnen Fingern – große, schwere Silberringe mit Edelstei-nen besetzt, dazu immer eine pas-sende Kette und ein farblich abgestimmtes Jacket. Ein blonder, modischer Pagenschnitt und leuch-tend blaue Augen – selbstverständ-lich geschminkt. Die schwierigs-ten Theorien Kants und Hegels er-klärt sie so, als sei die deutsche klassische Philosophie ein Kinder-spiel. Frau Professorin Nelly Mo-troschilowa hat die Gabe, kompli-zierte Dinge mit einfachen Worten zu erklären und die scheinbar sinn-losesten Dinge mit Sinn zu füllen. Und das mit beinahe achtzig. Über die Gänge des Instituts für Philosophie der Russischen Aka-demie der Wissenschaften geht sie seit knapp fünfzig Jahren mit dem-selben festen Schritt, seit 25 als Leiterin der Abteilung für west-europäische Philosophie.

Ikone der Sechziger„Dabei war ich die ersten zwei Jahre meines Studiums sicher, dass ich die falsche Fachrichtung ge-wählt habe“, sagt Motroschilowa, während sie jetzt den dunklen Flur ihres Sommerhauses aus weißem Stein, fünfzig Kilometer nordöst-lich von Moskau, betritt. Von einem verliebten Mitschüler ließ sie sich zum Philosophiestu-dium verleiten. Die Romanze ver-ging, die Philosophie blieb. Für immer. Motroschilowa studierte in den Jahren nach Stalins Tod, einer Zeit der Liberalisierung, in der es plötz-lich wieder möglich wurde, sich ohne ideologische Scheuklappen mit der Philosophie des Westens zu beschäftigen. Ein Kollege hat Motroschilowa einmal zur „Ikone der Sechziger“ erkoren, der Gene-ration, die den liberalen Geist der Sechzigerjahre bis in die Neunzi-gerjahre trug. In jedem Fall aber wurde Motroschilowa zur „Post-botin“ der westeuropäischen Phi-losophie in Russland.Besonders die großen deutschen Denker hatten es ihr angetan: Hus-serl, Hegel, Kant und Heidegger. Viele ließen sich damals nur im

Die Philosophin aus LiebePhilosophie Dem Zynismus ihrer Zeitgenossen setzt Nelly Motroschilowa die Kritik der reinen Vernunft entgegen

Nelly Wassiljewna Motroschilowa wur-de 1934 in dem Dorf Starowerowo in der Ukraine geboren. 1936 siedelt ihre Familie nach Moskau über. 1956 schließt Motroschilowa ihr Studium der Philosophie an der Lomonossow-

Nelly Motroschilowa

KURZVITA

GEBURTSORT: STAROWEROWO

GEBURTSJAHR: 1934

BERUF: PHILOSOPHIN

manchmal zur Beratung hinzuge-zogen, aber nur die bequemen. Und auch die lässt man nicht ausreden“, erklärt die Professorin etwas re-signiert. „Das Versteckspiel hin-ter Begriffen ist eine Art Tarnung der Politik, ein Alibi.“

Nachbarn hinter hohen MauernNelly Motroschilowa spaziert lang-sam auf einem holprigen, steini-gen Weg in Richtung der neu ge-bauten Häuser in der Nachbar-schaft. Sie stehen hinter hohen Zäunen, doch ihre Größe lässt sich nicht gänzlich verbergen. „Jeder weiß, dass diese Villen Beamten gehören. Die haben sie wohl kaum mit ihrem offiziellen Gehalt bauen können. Leider sind das genau die Menschen, die wir ständig sehen: im Fernsehen, in der Zeitung, auf den Straßen. Es scheint so, als gäbe es nur sie“, sagt sie. Doch der Schein trügt, weiß die Philosophin. Die Statistik zeige deutlich: Vierzig Prozent der Be-völkerung sind redliche Steuer-zahler. Sie nennt sie „die Armen“, die nur Nachteile haben und sich durchs Leben schlagen müssen. Menschen wie Nelly Motroschilo-wa, mit deren Wissen und Errun-genschaften wohl kaum ein Be-amter mithalten kann. Menschen, die die Welt besser machen. Leicht gebückt kehrt Nelly Wassiljewna zu ihrem Sommerhaus zurück, für das sie ihr ganzes Leben lang ge-arbeitet hat.

Motroschilowa lehrt in Moskau Philosophie. Unten: die rus-sisch-deutsche Kant-Ausgabe

Universität ab. 1963 promoviert sie am Institut für Philosophie, 1970 folgt die Habilitation „Erkenntnis und Gesell-schaft“ über die Philosophie im 16. und 17. Jahrhunderts. 1975 wird Motroschilowa Professorin. Seit 1986 leitet sie den Bereich der Philosophiegeschichte sowie die Sek-tion für westeuropäische Philosophie an der Russischen Akademie der Wissenschaften. Motroschilowa wurde mehrfach in Russland ausgezeichnet, zudem ist sie Preisträgerin der Alexander von Humboldt-Stiftung. 2005 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz. Neben Deutsch spricht sie fließend Englisch und Französisch.

Tuschling, Philosophieprofessor in Marburg, arbeitet sie seit 1990 an einer weltweit einzigartigen Aus-gabe von Kants Werken in russi-scher und deutscher Sprache. Ein-zigartig ist das Projekt nicht nur aufgrund der Zweisprachigkeit, sondern weil einige der ursprüng-lichen Übersetzungen, etwa von der „Kritik der reinen Vernunft“, korrigiert und dabei von groben Fehlern gesäubert wurden. Das Ergebnis sind vier Bände, der fünf-te folgt in diesem Jahr.

„Zeichen von Antizivilisation“Motroschilowa betont, wie wich-tig das Mammutwerk heute sei. „Kant erinnert uns daran, dass

‚Freiheit‘ immer mit ‚Verantwor-tung‘ verbunden ist. Und das wird heute oft vergessen“, erklärt sie. Die Anerkennung für diese und all ihre anderen Arbeiten bekam sie 2005 aus Deutschland in Form des Bundesverdienstkreuzes.Jeder weiß, wann man einen Arzt aufzusuchen hat, einen Rechtsan-walt oder einen Psychotherapeu-ten. Aber wann braucht man Phi-losophen? Nelly Motroschilowa sagt: „In Zeiten wie diesen, wenn jegliche Moral den Bach herunter-geht.“ Diese Zeit beschreibt sie in ihrem jüngsten Buch „Zivilisati-on und Barbarei in einer globalen Krisenepoche“. Die Datscha-Idylle um sie herum kann sie nicht von den Gedanken über die Zukunft der Zivilisation ablenken. „Offener, durch nichts verdeckter Zynismus ist ein Zei-chen für eine Antizivilisation. Das ist ein globales Problem, auch wenn es in Russland besonders sichtbar ist“, urteilt sie. Den Zynismus habe bei den Russen der Zerfall der So-wjetunion hervorgerufen und fest verankert, insbesondere in den Machtetagen. Die Geisteswissenschaftler könn-ten der Gesellschaft die Orientie-rung zurückgeben, die sie so drin-gend brauche, doch man ließe sie nicht. „Man versteckt sich hinter Begriffen wie ‚Innovation‘ und ‚Modernisierung‘, die zeigen sol-len, dass man sich auf Wissen stützt. Wissenschaftler werden

Original auftreiben, und so muss-te Motroschilowa ihr Schuldeutsch auspacken, was sie mit der Zeit zu einem � ießenden Deutsch perfek-tionierte. Auf Deutsch tauscht sie sich nun schon seit mehreren Jahr-zehnten mit ihrem langjährigen Freund und Kollegen Jürgen Ha-bermas aus.Jetzt, im heißen Moskauer Som-mer, ruht sie sich etwas aus auf ihrer schokoladenfarbenen Wohn-zimmercouch neben dem Kamin. Draußen zwitschern Vögel, der akkurat gemähte Rasen und die Blumenbeete erinnern an deutsche Vorgartentradition. Motroschilo-wa erzählt von ihrem Lebenswerk: Gemeinsam mit Burkhard

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