s60 70fach r2 2011 - UZHc2383c8c-1916-4e...Martin Seligman hat seine Präsidentschaft der American...

8
reportpsychologie ‹36› 2|2011 60 Willibald Ruch René T. Proyer Universität Zürich, Schweiz Positive Psychologie: Grundlagen, Forschungs- themen und Anwendungen WOGE WOGE s60_70fach_r2_2011_s60_70fach_r2_2011 20.01.11 09:33 Seite 60

Transcript of s60 70fach r2 2011 - UZHc2383c8c-1916-4e...Martin Seligman hat seine Präsidentschaft der American...

Page 1: s60 70fach r2 2011 - UZHc2383c8c-1916-4e...Martin Seligman hat seine Präsidentschaft der American Psychological Association (1998) der Aufgabe gewidmet, den Fokus der Aufmerksamkeit

repo

rtps

ycho

logi

e‹3

6› 2

|201

1

60

Willibald RuchRené T. ProyerUniversität Zürich, Schweiz

Positive Psychologie: Grundlagen, Forschungs-themen und Anwendungen

WO

GE

WO

GE

s60_70fach_r2_2011_s60_70fach_r2_2011 20.01.11 09:33 Seite 60

Page 2: s60 70fach r2 2011 - UZHc2383c8c-1916-4e...Martin Seligman hat seine Präsidentschaft der American Psychological Association (1998) der Aufgabe gewidmet, den Fokus der Aufmerksamkeit

repo

rtps

ycho

logi

e‹3

6› 2

|201

1

61

Einleitung Grundlagen der Positiven PsychologieDie Positive Psychologie wurde als eine eigene For-schungsrichtung innerhalb der Psychologie vor mittler-weile mehr als zehn Jahren aus der Taufe gehoben.Martin Seligman hat seine Präsidentschaft der AmericanPsychological Association (1998) der Aufgabe gewidmet,den Fokus der Aufmerksamkeit auf die positiven As-pekte menschlichen Lebens zu richten. Fragen wie etwajene nach den Grundlagen für ein »gutes Leben« oderdie Lebenszufriedenheit begünstigenden Eigenschaftenund/oder (Lebens-)Bedingungen rücken verstärkt insZentrum der Aufmerksamkeit. Zielpersonen sind nichtMenschen in Krisen oder mit psychischen Beeinträchti-gungen, sondern Menschen, die ihr Wohlbefinden undihre Zufriedenheit über einen neutralen Mittelpunktihrer subjektiven Befindlichkeit hinaus verbessern möch-ten. Wie noch zu zeigen sein wird, handelt es sich da-bei um eine von der Psychologie vernachlässigte The-matik. Die Psychologie als Wissenschaft kann nicht nurwichtige Beiträge leisten, um psychische Beeinträchti-gungen zu lindern oder zu kurieren, sondern muss auchDeterminanten der Zufriedenheit beschreiben, messenund letztlich Interventionen für Gesunde wie auch psy-chisch Kranke entwickeln, um deren Zufriedenheit zusteigern bzw. zu stabilisieren.Demgemäß lässt sich das Credo der Positiven Psycho-logie einfach zusammenfassen: Ziel ist es, das zu erfor-schen und zu kultivieren, was das Leben am meisten le-benswert macht. Aus Donald Cliftons Sicht (vgl. z.B.Buckingham & Clifton, 2001) würde das Paradigma von»Build what’s strong« jenes von »Fix what’s wrong«, daslange Zeit (auch in der öffentlichen Wahrnehmung) do-miniert hat, ersetzen. Dabei sind beispielsweise Themenwie Charakterstärken, Tugenden, Talente, positive Emo-tionen, subjektives und psychisches Wohlbefinden oderLebenszufriedenheit angesprochen. Dass es in der Psy-chologie um mehr geht als »nur« um die Wiederher-stellung eines akzeptablen Zustandes für Menschen,die sich in psychischen Krisen befinden, ist keine neueErkenntnis. So hat etwa Marie Jahoda bereits 1958 in ih-rem Bericht an die Joint Commission on Mental Illnessand Health, die u.a. durch das National Institute ofMental Health (sic!) finanziert wurde, festgehalten, dassdie Abwesenheit von Krankheit zwar eine notwendige,aber keine hinreichende Bedingung für seelische Ge-sundheit (»mental health«) ist. Auch Vertreter der Hu-manistischen Psychologie, wie Abraham Maslow undCarl Rogers sowie der Logotherapie Begründer ViktorFrankl, haben wichtige Beiträge zum Verständnis posi-tiver Aspekte menschlichen Lebens geleistet und damitzentrale Grundlagen für die Positive Psychologie ge-schaffen. Im Unterschied zu diesen historischen Vor-läufern legt die Positive Psychologie ihr Hauptaugen-merk auf empirische Forschung und möchte wissen-schaftliche Belege für den Beitrag positiver Eigenschaf-ten zum allgemeinen Wohlbefinden von Menschensammeln. Schon früh wurde auch in der Philosophiedem Streben nach Glück und der Frage, wie dieses er-reicht und aufrechterhalten werden kann, Aufmerk-samkeit zugewendet. Hedonismus oder Eudaimonie

wurden dort als Prinzipien beschrieben, die zu einemguten Leben führen können—wenn auch auf sehr un-terschiedliche Weise.Sieht man sich die Themen an, zu denen in der Psy-chologie gearbeitet wird, so kann man ein »Ungleich-gewicht« wahrnehmen, und zwar in dem Sinn, dassForschung und Praxis sich in den letzten Jahrzehnteneher mit den negativen Aspekten menschlichen Erle-bens und Verhaltens als mit den positiven beschäftigthaben. Myers (2000) weist etwa darauf hin, dass in denletzten 30 Jahren in der psychologischen Literatur ca. 46000 Artikel über Depressionen und nur gerade ca. 400über Freude zu finden sind. Dieses Missverhältnis zeigter auch für viele andere Bereiche (etwa beim Vergleichzwischen Angst und Lebenszufriedenheit). Dass sichdaran, trotz der aktuellen Forschungsbemühungen,nicht allzu viel geändert zu haben scheint, zeigt Ta-belle 1, in der wir für den vorliegenden Beitrag die ent-sprechenden Zahlen für einige der bei Myers berichte-ten Schlüsselworte für den Zeitraum 2001 bis 2010, – undseparat für 2010 – aus zwei zentralen Datenbanken zu-sammengestellt haben.

Tabelle 1 zeigt, dass sich, bezogen auf das von Myers imJahr 2000 beschriebene Ungleichgewicht bei der Aus-wahl von Themen, zu denen in der Psychologie publi-ziert wird, sowohl in (vorwiegend) englischsprachigenals auch in deutschsprachigen Publikationen für denZeitraum nach 2000 keine wesentlichen Änderungenfinden ließen. Die Leistungen, welche die Psychologiein den stark beforschten Gebieten (vor allem im Bereichder Klinischen Psychologie) erbracht hat, sind beein-druckend, aber dennoch kann man aus diesen und an-deren Vergleichen die Forderung ableiten, sich glei-chermaßen mit den positiven wie auch mit den negati-ven Aspekten menschlichen Erlebens und Verhaltensauseinanderzusetzen.Die Positive Psychologie hat sich im englischsprachigenRaum schon weitestgehend professionalisiert. Mittler-weile gibt es eine Gesellschaft zu Forschung und Praxisder Positiven Psychologie, die International PositivePsychology Association (IPPA; www.ippanetwork.org/),sowie eine Reihe von Zeitschriften, die als Quellen fürArbeiten aus der Positiven Psychologie genutzt werden

Tabelle 1. Gegenüberstellung ausgewählter Forschungsthemen in psychologischen Fachzeitschriften in primär englischer und deutscher Sprache im Zeitraum2001 bis 2010 (Auswahl aus Myers, 2000).

2001-2010 nur 2010

ISI Web of Knowledge anxiety vs. life satisfaction

19403 1593 2137 210.

fear vs. courage 5708 95 594 7.

PsyndexAngst vs.Lebenszufriedenheit

2286 418 108 18.

Furcht vs. Mut 298 166 12 5.

Anmerkung Für ISI alle Gebiete der Psychologie. Psyndex: Abfrage eingeschränkt auf deutsche Sprache. Abruf am 11. 11. 2010.

r e p o r t fachwissenschaftlicherteil

s60_70fach_r2_2011_s60_70fach_r2_2011 20.01.11 09:33 Seite 61

Page 3: s60 70fach r2 2011 - UZHc2383c8c-1916-4e...Martin Seligman hat seine Präsidentschaft der American Psychological Association (1998) der Aufgabe gewidmet, den Fokus der Aufmerksamkeit

repo

rtps

ycho

logi

e‹3

6› 2

|201

1

62

können, zum Beispiel »Applied Psychology: Health andWell-Being«, »Journal of Happiness Studies« oder »TheJournal of Positive Psychology«. Einzelne Universitätenbieten Master-Programme in Positiver Psychologie an,etwa die University of Pennsylvania oder die School ofPsychology an der University of East London einen Mas-ter of Applied Positive Psychology. In Europa gibt es allezwei Jahre eine European Conference on Positive Psy-chology (2012 in Moskau geplant).

Themen der Positiven PsychologieZiel der Positiven Psychologie ist eine Komplettierungder Psychologie und eine verstärkte Berücksichtigungbislang vernachlässigter Bereiche. Ganz klassisch stehenauch hier zunächst die Beschreibung und Messung so-wie auch die Entwicklung und Evaluation von Inter-ventionen (»positive Interventionen«, vgl. Ruch &Proyer, 2011) im Zentrum der Aufmerksamkeit. Seligman(2000) nennt als wichtigste Themen der Positiven Psy-chologie: (1) das positive Erleben (z.B. Zufriedenheit;vergangenheits-, gegenwarts- und zukunftsorientiertepositive Emotionen), (2) positive Traits (z.B. Tugenden,Charakterstärken oder Talente) und (3) positive Institu-tionen. Letztere beschreiben Rahmenbedingungen vonInstitutionen, die ein Wachstum erlauben (z.B. Familien,Wohngegenden, Schulen, Medien oder Betriebe). Ge-mäß Seligman ist das Erleben positiver Emotionen einzentraler Baustein für ein erfülltes Leben. Dazu gehörenAspekte, wie etwa das Erleben positiver Emotionen beiVergnügungen, Genuss und Genießen, reichliche Be-lohnungen bei Selbstverwirklichung, die Ausübung dereigenen besonders herausragenden Stärken (sogenannteSignaturstärken) und schließlich der Gebrauch dieserStärken im Dienst einer höheren Sache, um Bedeutungzu erlangen (s.a. die weiteren Ausführungen zu Cha-rakterstärken und Tugenden weiter unten).

Das gute Leben in der Positiven PsychologieDie alte Frage der Philosophie, wie man ein gutes Le-ben erreichen kann, ist ein zentrales Thema der Positi-ven Psychologie. Fasst man aktuelle Arbeiten zusam-men, so wird das gute Leben unter anderem wie folgtbeschrieben: mehr positive als negative Emotionen er-leben, Lebenszufriedenheit erreichen, Engagement zei-gen und aktiv sein, positive Beziehungen pflegen, sichfür eine Gemeinschaft einbringen, Gesundheit und Si-cherheit erleben sowie die Identifikation und der Einsatzeigener Stärken und Talente im Alltag. Der Begriff dessubjektiven Wohlbefindens ist hier von besonderer Be-deutung. Darunter versteht man im Wesentlichen dashäufige Erfahren positiver Emotionen (hoher positiverAffekt), ein niedriges Niveau an negativen Emotionen(niedriger negativer Affekt) sowie Lebenszufriedenheitals eher kognitive Komponente des Wohlbefindens(Diener, Oishi & Lucas, 2009). Bei Letzterer kann nochzwischen allgemeiner sowie bereichsspezifischer Zu-friedenheit (z.B. Arbeit, Familie, Freizeit, Gesundheitetc.) unterschieden werden.Peterson, Park und Seligman (2005) haben sich derFrage, wie man ein gutes Leben erreichen kann, auf an-derem Weg angenähert. Sie beschreiben drei soge-

nannte Orientierungen zum Glück (»Orientations toHappiness«). Zum einen nennen sie das »Life of Plea-sure« (das vergnügliche Leben), das im Wesentlichen ei-nem hedonistischen Prinzip folgt und darauf abzielt,Schmerzen zu minimieren und Vergnügungen zu maxi-mieren. Weiter führen sie das »Life of Meaning« an (dasbedeutsame Leben). Dabei geht es darum, seine eige-nen Stärken und Tugenden zu erkennen, zu pflegenund zugunsten eines höheren Ziels einzubringen; esfolgt einem eudaimonischen Prinzip. Während die bei-den genannten Orientierungen ihre Wurzeln in philo-sophischen Überlegungen und Theorien haben und vonder Psychologie aufgegriffen wurden, handelt es sich beider dritten Orientierung um eine genuin psychologi-sche. Das »Life of Engagement« (das engagierte Leben)basiert auf Csikszentmihalyis Arbeiten zum Flow (Csiks-zentmihalyi, 1990, 2007). Hier geht es um das völligeAufgehen in einer Tätigkeit, bei der man seine Fähig-keiten einbringen kann, die Zeit um sich herum vergisstund daraus dann Gefühle der Zufriedenheit empfindenkann. Peterson und Kollegen legten 2005 einen Frage-bogen zur Erfassung der drei Orientierungen vor (»Ori-entations to Happiness Scale«, OTH), welcher auch indeutscher Sprache verfügbar ist (Ruch, Harzer, Proyer,Park & Peterson, 2010). Es konnte gezeigt werden, dassalle drei Orientierungen positiv mit dem Wohlbefindenund der Lebenszufriedenheit zusammenhängen (Peter-son, Ruch, Beermann, Park & Seligman, 2007). Die ver-gleichsweise niedrigsten Korrelationen werden dabeiregelmäßig für das vergnügliche Leben gefunden. Pe-terson und Kollegen belegen empirisch, dass jene Per-sonen, die ein volles Leben führen (»full life«), alsohohe Ausprägungen in allen drei Orientierungen haben,am zufriedensten sind. Jüngst wurde in der Arbeits-gruppe um Seligman eine vierte Orientierung als Er-weiterung diskutiert: das »social life«. Dazu stehen aberempirische Studien noch aus, wenngleich es in der Po-sitiven Psychologie einiges an Forschung zur Rolle so-zialer Beziehungen gibt (vgl. z.B. Keyes & Haidt, 2003).

Charakterstärken und Tugenden als wichtige Themen der Positiven PsychologiePawelski (2003) schreibt »[…] Positive psychology is anew and rapidly expanding field focused on the empi-rical study of human flourishing. One of its central mis-sions is the development of an operationalized classifi-cation of the strengths and virtues that constitute cha-racter. The aim is to foster the identification, measure-ment, and cultivation of these strengths and virtues.«Diesem Ziel haben sich vor allem Christopher Petersonund Martin Seligman angenommen und 2004 eine Klas-sifikation von Charakterstärken und Tugenden vorgelegt.Dazu haben sie eine umfangreiche Sichtung philoso-phischer, religiöser sowie psychologischer Literatur vor-genommen. Darüber hinaus wurden auch Tugendkata-loge, wie sie von bestimmten Organisationen erstelltwerden (z.B. Pfadfinder oder gemeinnützige Vereine),sowie Quellen aus der populären Kultur (z.B. Sammlungpositiver Eigenschaften, die Superhelden zugeschrie-ben werden) mit berücksichtigt. Damit eine Eigenschaftals eine Charakterstärke in die Klassifikation aufge-

AdresseProf. Dr. Willibald RuchUniversität ZürichPsychologisches InstitutPersönlichkeitspsychologieund DiagnostikBinzmühlestraße 14/78050 Zürich T +41 (0)44 – 635 75 20F +41 (0)44 – 635 75 29E [email protected]/perspsy/home/

s60_70fach_r2_2011_s60_70fach_r2_2011 20.01.11 09:33 Seite 62

Page 4: s60 70fach r2 2011 - UZHc2383c8c-1916-4e...Martin Seligman hat seine Präsidentschaft der American Psychological Association (1998) der Aufgabe gewidmet, den Fokus der Aufmerksamkeit

repo

rtps

ycho

logi

e‹3

6› 2

|201

1

64

nommen wurde, musste sie zehn Kriterien erfüllen.Dazu gehörte unter anderem, dass Charakterstärkenauf verschiedene »Erfüllungen« (»fulfillments«) wirken,welche ihrerseits das »gute Leben« ausmachen (für an-dere wie für sich selbst), oder dass, auch wenn durch dieStärken wünschenswerte Resultate erzielt werden, dermoralische Wert in der Stärke selbst liegt, auch wenndiese keine offensichtlichen, lohnenden Resultate her-vorbringt, oder dass die Stärke im Verhalten eines Indi-viduums messbar (Gedanken, Gefühle, Handlungen)und Trait-ähnlich sein muss, indem Konsistenz und Kon-tingenz vorhanden sind. Entstanden ist daraus in einemmehrstufigen Prozess die »Values in Action Classificationof Strengths« (VIA). Peterson und Seligman verstehenunter Charakter Persönlichkeitsmerkmale, anhand derensich interindividuelle Unterschiede beschreiben lassen,die sich in Gedanken, Gefühlen und Handlungen zeigenund die zwar stabil sind, aber, da sie unter anderem vonder aktuellen Lebenssituation abhängen (z.B. Möglich-keiten zum Besuch von Schulen, Verfügbarkeit von Ar-beit, politische Stabilität, unterstützende und stabilefamiliäre Verhältnisse, Vorbilder, Mentoren etc.), auchmodifizierbar sein sollten. Der Charakter wird als die innere Determinante desguten Lebens verstanden. In Tabelle 2 werden 24 Cha-rakterstärken beschrieben, die wiederum sechs hierar-

chisch höher stehenden Tugenden zugeordnet werden.Bei den in Tabelle 2 dargestellten Stärken und Tugendender VIA-Klassifikation ist wichtig anzumerken, dass essich dabei um eine theoretisch hergeleitete Zusammen-stellung handelt, die als Vorschlag verstanden werdensollte, um eine Diskussion über die Rolle von Stärkenund Tugenden in der Psychologie zu beginnen. Hier hatdie Psychologie, historisch gesehen, Nachholbedarf, dasie der Forschung zum Charakter für lange Zeit nur we-nig Beachtung geschenkt hat. So hat etwa Gordon All-port (1937) argumentiert, dass Charakter ein wichtigerBegriff für die Ethik sei, für die Psychologie allerdingsnicht relevant. Kritik wurde bei der Erfassung moralischbewerteter Eigenschaften, auch bezogen auf den ange-nommenen starken Einfluss sozialer Erwünschtheit sowieauf die von Hartshorne und May (1928, 1929) beschrie-bene mangelnde Konsistenz von verschiedenen Maßenfür Ehrlichkeit, angebracht. In der aktuellen Literaturwerden diese Kritikpunkte differenzierter betrachtet,z.B. durch Re-Analysen zu den Daten von Hartshorneund May (vgl. z.B. Epstein, 1979, 1980; Paunonen, 2003)oder empirische Ergebnisse, anhand deren gezeigt wer-den kann, dass Maße für soziale Erwünschtheit mit imSelbstbericht erhobenen Charakterstärken in einem ähn-lichen Ausmaß korrelieren, wie man das für andere Per-sönlichkeitsmerkmale findet. Bei Ruch, Proyer, Harzer,

Tabelle 2 Übersicht über die 24 Charakterstärken und sechs Tugenden der Values-in-Action-Klassifikation

Tugend 1: Weisheit und Wissen (kognitive Stärken, die den Erwerb und den Gebrauch von Wissen beinhalten)Kreativität: neue und effektive Wege finden, Dinge zu tunNeugier: Interesse an der Umwelt habenUrteilsvermögen und Aufgeschlossenheit: Dinge durchdenken und von allen Seiten betrachtenLiebe zum Lernen: neue Techniken erlernen und Wissen aneignenWeitsicht: in der Lage sein, guten Rat zu geben

Tugend 2: Mut (emotionale Stärken, die mittels der Ausübung von Willensleistung internale und externale Barrieren zur Erreichung eines Zieles überwinden)

Tapferkeit (Mut): sich nicht Bedrohung oder Schmerz beugen, Herausforderungen annehmenAusdauer (Hartnäckigkeit, Beharrlichkeit, Fleiß): beendigen, was begonnen wurdeEhrlichkeit (Integrität): die Wahrheit sagen und sich natürlich gebenTatendrang (Vitalität): der Welt mit Begeisterung und Energie begegnen

Tugend 3: Menschlichkeit (interpersonale Stärken, die liebevolle menschliche Interaktionen ermöglichen)Fähigkeit, zu lieben und geliebt zu werden: menschliche Nähe herstellen und schätzen könnenFreundlichkeit (Großzügigkeit): Gefallen tun und gute Taten vollbringenSoziale Intelligenz (soziale Kompetenz, Gefallen tun und gute Taten vollbringen): sich der eigenen Motive und Gefühle und der von anderen bewusst sein

Tugend 4: Gerechtigkeit (Stärken, die das Gemeinwesen fördern)Teamwork (Bürgerverantwortung, Teamfähigkeit): gut als Mitglied eines Teams arbeitenFairness: alle Menschen nach dem Prinzip der Gleichheit und Gerechtigkeit behandelnFührungsvermögen: Gruppenaktivitäten organisieren und ermöglichen

Tugend 5: Mäßigung (Stärken, die Exzessen entgegenwirken)Vergebungsbereitschaft und Gnade: denen vergeben, die einem Unrecht getan habenBescheidenheit und Demut: das Erreichte für sich sprechen lassenVorsicht (Besonnenheit, Umsicht): nichts tun oder sagen, was später bereut werden könnteSelbstregulation: regulieren, was man tut und fühlt

Tugend 6: Transzendenz (Stärken, die uns einer höheren Macht näher bringen und Sinn stiften)Sinn für das Schöne und Exzellenz: Schönheit in allen Lebensbereichen schätzenDankbarkeit: sich der guten Dinge bewusst sein und sie zu schätzen wissenHoffnung (Optimismus): das Beste erwarten und daran arbeiten, es zu erreichenHumor: Lachen und Humor schätzen, Leute gerne zum Lachen bringenReligiosität und Spiritualität: kohärente Überzeugungen über einen höheren Sinn des Lebens haben

s60_70fach_r2_2011_s60_70fach_r2_2011 20.01.11 09:33 Seite 64

Page 5: s60 70fach r2 2011 - UZHc2383c8c-1916-4e...Martin Seligman hat seine Präsidentschaft der American Psychological Association (1998) der Aufgabe gewidmet, den Fokus der Aufmerksamkeit

repo

rtps

ycho

logi

e‹3

6› 2

|201

1

66

Park, Peterson und Seligman (2010) fand sich etwa einMedian von .09 für Korrelationen zwischen der Lügen-skala aus Eysencks EPQ-R und den Charakterstärken ausdem VIA-IS (die Korrelationen lagen zwischen -.09 fürBindungsfähigkeit und .43 für Vorsicht). Darüber hinausfanden sich in der Studie auch gute Übereinstimmungenzwischen selbst eingeschätzten Charakterstärken undentsprechenden Bekanntenbeurteilungen (Median = .40;Werte zwischen .26 für Ehrlichkeit und .69 für Religio-sität). Zusammenfassend kann man die VIA-Klassifika-tion als eine Art »Anti-DSM« verstehen, als eine Klassi-fikation von positiven menschlichen Eigenschaften imGegensatz zu einer Sammlung von Symptomen oderProblemen.

Die Messung von CharakterstärkenMit dem Values-in-Action Inventory of Strengths (VIA-IS) haben die amerikanischen Autoren einen reliablenund validen Fragebogen vorgelegt, der die Erfassung derindividuellen Ausprägung einer Person für jede der 24Stärken anhand von in Summe 240 Items erlaubt. Diedeutsche Fassung des Fragebogens wurde von unsererArbeitsgruppe entwickelt (Ruch, Proyer, Harzer et al.,2010). Interessierte können den Fragebogen über dieWebseite www.charakterstaerken.org kostenfrei bear-beiten. Alle Teilnehmer erhalten nach Abschluss derTestbearbeitung eine individualisierte Ergebnisrück-meldung. Darüber hinaus steht über die Webseite aucheine Version für Kinder und Jugendliche (10–17 Jahre) zurVerfügung.In der Arbeit mit dem VIA-IS interessiert zunächst dasallgemeine Profil (die Skalen haben zufriedenstellendeReliabilitäten und hinreichend niedrige Interkorrelatio-nen, sodass Profilinterpretationen zulässig scheinen),aber auch die Rangreihe der Stärken ist von Bedeutung.Den drei bis sieben am höchsten ausgeprägten Stärkenkommt eine besondere Bedeutung zu. Es handelt sichdabei um sogenannte Signaturstärken. Das sind dieStärken, die besonders typisch sind für eine Person, beidenen sie selbst sagen würde: »Das bin wirklich ich!«Jene Stärken als Signaturstärken zu bezeichnen, welchedie höchsten Ausprägungen (Mittelwerte) aufweisen, istlediglich eine Approximation. Peterson und Seligman(2004) beschreiben verschiedene Kriterien, die zutreffenmüssen, damit man wirklich von einer Signaturstärkesprechen kann. Sie nennen unter anderem das Gefühl,während der Ausübung der Stärke aufgeregt zu sein,eine steile Lernkurve bei Gelegenheiten, bei denen dieStärke eingesetzt werden kann, oder die intrinsischeMotivation, die Stärke auszuüben. Eine effiziente Me-thode zur Bestimmung der Signaturstärken, die aller-dings nur als Individualtest durchführbar ist, ist ein vonPeterson (2003) entwickeltes strukturiertes Interview(das VIA-SI). Für jede Stärke erfragt der Interviewer zu-nächst, wie die Respondenten »üblicherweise« in einembestimmten Setting (diese Stärke betreffend) reagie-ren. Wenn sie diese Stärke über längere Zeitspannenzeigen, werden drei Folgefragen gestellt: a) wie sie selbst diese Stärke benennen würden, b) ob diese Stärke (wie auch immer bezeichnet) wirklich

charakteristisch für sie als Person ist und

c) ob Freunde und Familienangehörige zustimmen würden, dass diese Stärke die Person wirklich gut beschreibt. Damit eine Stärke als eine Signaturstärkeverstanden werden kann, muss die Person die meisteZeit über im Sinne dieser Stärke handeln, muss ihr einen positiven Namen geben (in dem ihr wirklicherInhalt zum Ausdruck kommt), und die unter b) undc) genannten Aspekte müssen zutreffen. Üblicherweise werden zwischen drei und sieben Signaturstärken angenommen. Verglichen mit demVIA-IS gibt es zum VIA-SI erst wenige Studien. Im deutschen Sprachraum gibt es erste, sehr ermutigende Ergebnisse (siehe vorläufig Schmid,Ruch & Proyer, 2007).

Anwendungen der Positiven Psychologie: Positive Interventionen und mehrEines der bedeutsamsten Ergebnisse in Bezug auf Cha-rakterstärken ist deren positive Beziehung zur Lebens-zufriedenheit (vgl. Park, Peterson & Seligman, 2004;Peterson et al., 2007); die einzige Ausnahme ist dabeiBescheidenheit (in manchen Studien). Dazu liegen Da-ten aus verschiedensten Ländern mit unterschiedlichenStichproben (Kinder, Jugendliche, Erwachsene) sowieunterschiedlichen Messinstrumenten vor. Vielleichtnoch zentraler ist allerdings, dass (mit leichten Varia-tionen) immer dieselben fünf Stärken die höchsten Kor-relationskoeffizienten aufweisen. Dabei handelt es sichum Bindungsfähigkeit (»love«), Dankbarkeit (»grati-tude«), Enthusiasmus (»zest«), Hoffnung/Optimismus(»hope«) und Neugier (»curiosity«). Aus diesem Befund ergibt sich die Frage, ob diese Stär-ken vielleicht eine besondere Bedeutung haben könn-ten, wenn man an positive Interventionen denkt. Umdies empirisch zu prüfen, wurde das »Zürcher StärkenProgramm« (Z.S.P.) initiiert (Proyer, Ruch & Buschor,2010). Ziel war es dabei, zwei Experimentalgruppen zu-sammenzustellen, von denen eine fünf hoch mit Le-benszufriedenheit korrelierende Stärken und die an-dere fünf niedrig mit Lebenszufriedenheit trainierensollte. Erwartet wurde, dass sich ein Anstieg in der Le-benszufriedenheit nur für die Gruppe mit den hochkorrelierenden Stärken finden würde. Dazu wurde fürjede der Stärken eine Übung entwickelt und ein Trai-ningsabend für Gruppen von ca. 60 Personen gestaltet.Zentrale Elemente des Trainingsabends waren dabei:(1) theoretische Wissensvermittlung in der Gruppe (ak-tuelle wissenschaftliche Forschungsergebnisse zu ein-zelnen Stärken werden für ein Laienpublikum aufberei-tet und dargestellt), (2) Durchführung einer Übung inder (Klein-)Gruppe (z.B. Austausch mit anderen Teil-nehmern zu spezifischen Themen, gemeinsame Diskus-sion, o.Ä.) sowie (3) Durchführung einer Übung zuHause. Dazu erhielten die Teilnehmern ein Übungsta-gebuch, in dem sich die genaue Instruktion für dieÜbung fand sowie eine Reihe von Fragen zur Evaluationder Übung (z.B. Dauer, Intensität, subjektiv erlebteWirksamkeit, Abweichungen von der Instruktion etc.).Der Trainingszeitraum betrug dabei zwölf Wochen, unddie Teilnehmer hatten in der Regel zwei Wochen Zeit,um eine Übung durchzuführen. Die Ergebnisse zeigen,

s60_70fach_r2_2011_s60_70fach_r2_2011 20.01.11 09:33 Seite 66

Page 6: s60 70fach r2 2011 - UZHc2383c8c-1916-4e...Martin Seligman hat seine Präsidentschaft der American Psychological Association (1998) der Aufgabe gewidmet, den Fokus der Aufmerksamkeit

repo

rtps

ycho

logi

e‹3

6› 2

|201

1

68

dass es tatsächlich nur in der Gruppe mit den hochkorrelierenden Stärken zu einem signifikanten Anstieg inder Lebenszufriedenheit gekommen ist. Darüber hinauskonnte gezeigt werden, dass auch einige andere Stär-ken, wie etwa (vor allem) Selbstregulation, aber auchAusdauer, einen wichtigen Beitrag zum Trainingserfolggeleistet haben. Das bedeutet, dass sich über StärkenInterventionen durchführen lassen, die sich positiv aufdie Lebenszufriedenheit der Teilnehmer auswirken. Se-ligman und Kollegen konnten 2005 in einer umfangrei-chen Studie zeigen, dass die Identifikation der eigenenSignaturstärken anhand des VIA-IS und das bewussteEinsetzen dieser auf eine neue Art und Weise im Alltagfür eine Woche zu einem signifikanten Anstieg in derLebenszufriedenheit in einem Zeitraum von sechs Mo-naten nach Durchführung der Übung und einer Reduk-tion in der Depressivität ebenfalls in einem Zeitraumvon sechs Monaten nach der Übungsdurchführung ge-führt haben. Diese Ergebnisse konnten im Wesentlichenunlängst auch für den deutschen Sprachraum repliziertwerden (Proyer, Ruch, Gander & Wyss, in Vorb.). Dasbedeutet, dass Charakterstärken eine besondere Stel-lung in Bezug auf positive Interventionen zuzukommenscheint und diese nützlich sind, um die Lebenszufrie-denheit effektiv zu erhöhen.

Zur Wirksamkeit positiver InterventionenKürzlich wurde die erste Metaanalyse zu positiven In-terventionen veröffentlicht (Sin & Lyubomirsky, 2009).Die Autorinnen definieren positive Interventionen alsBehandlungsmethoden oder willentliche Aktivitäten,die darauf abzielen, positive Gefühle, Verhaltensweisenoder Kognitionen zu kultivieren (Übers. d. Verf.). Siekonnten insgesamt 51 Studien identifizieren, die ver-schiedene Einschlusskriterien erfüllten (z.B. empirischeStudie, Daten vor und nach der Durchführung warenvorhanden oder Vergleich zu einer Kontrollgruppe wirdberichtet). Als zentrales Ergebnis fanden sich mittlere Ef-fekte im Ausmaß von r = .29 für einen Anstieg in der Le-benszufriedenheit und von r = .31 für eine Reduktion derDepressivität. In der Arbeit von Sin und Lyubomirskyfinden sich noch zahlreiche praxisrelevante Hinweise da-rauf, unter welchen Bedingungen solche Interventionenbesonders effektiv sind (z.B. Einzelsettings, längereDauer der Interventionen etc.). Neben den bei Sin undLyubomirsky genannten Punkten scheinen vor allemauch individuelle Präferenzen für einzelne Übungeneine wichtige Rolle für den Trainingserfolg und die Mo-tivation, die Übung auch über einen längeren Zeitraumdurchzuführen, zu spielen (Schueller, 2010).Anwendungsgebiete der Positiven Psychologie sind nichtauf den Bereich der positiven Interventionen beschränkt,wie sie etwa im Rahmen von Coaching umgesetzt wer-den könnten. Darüber hinaus werden Anwendungen inder Psychotherapie (Positive Psychotherapy; Frank, 2010;Seligman, Rashid & Parks, 2006) diskutiert. Weiter sindin den letzten Jahren auch wesentliche Beiträge in viel-fältigen Bereichen entstanden, die der Forschungsrich-tung zugeordnet werden können, wie etwa Arbeitenzum positiven Altern oder die Forschung zu Weisheitoder Humor. In unserer Arbeitsgruppe haben wir ein

Projekt mit dem Laufbahnzentrum der Stadt Zürich so-wie der Fachgruppe Diagnostik des SchweizerischenDienstleistungszentrums Berufsbildung, Berufs-, Stu-dien- und Laufbahnberatung (SDBB) ins Leben gerufen.Über eine Webseite können Berufs- sowie Karriere- undLaufbahnberater die Jugendfassung des VIA-IS kosten-los für Beratungszwecke einsetzen. Die Rückmeldungwurde an die Bedürfnisse für Fragestellungen dieser Artangepasst. Begleitend dazu wurde ein Manual zur Arbeitmit Charakterstärken in der Laufbahnberatung zusam-mengestellt (Jungo, Ruch & Zihlmann, 2008), in dem sichetwa berufstypische Profile finden oder erste Ergebnissezu Studien zum Zusammenhang von Charakterstärkenund Berufsinteressen berichtet werden.

Zur Rolle positiver Emotionen: Ein Wirkmechanismus für positive Interventionen?Forschungsarbeiten zu positiven Interventionen sindwesentlich mit den Arbeiten von Barbara Fredricksonund ihrer »broaden-and-build theory of positive emoti-ons« verbunden. Fredrickson (1998, 2001) geht dabei da-von aus, dass nur negative Emotionen mit spezifischen»action tendencies« einhergehen, also sehr spezifischenVerhaltensweisen, die in bedrohlichen Situationenschnell abrufbar sein müssen, etwa die Bereitschaft, zukämpfen, vor einer Gefahr zu fliehen oder beim Verzehrverdorbener Speisen Ekel zu empfinden. Negative Emo-tionen engen das aktuelle Gedanken-Handlungs-Re-pertoire ein. In lebensbedrohlichen Situationen kanndies zu einer erhöhten Verfügbarkeit einer rettendenHandlung führen und so Unversehrtheit oder Überlebensichern.Der wesentliche Unterschied zu positiven Emotionen istnun, dass diese nicht in lebensbedrohlichen Situationenauftreten. Ein Prozess, der zu einem schnellen, ent-schiedenen Handeln führt, mag in Situationen, in denenman Freude oder Zufriedenheit empfindet, nicht unbe-dingt erforderlich sein. In ihrer Broaden-and-build-Theorie geht Fredrickson davon aus, dass das Erlebenpositiver Emotionen zu einer Erweiterung des Hand-lungsrepertoires führt. In einer Reihe von Studienkonnte sie diese Effekte auch empirisch zeigen, etwa fürgesteigerte Kreativität in Situationen, in denen positiveEmotionen erlebt werden, oder dafür, dass Menschenan mehr Handlungsmöglichkeiten denken. Ein weitererAspekt der Theorie ist, dass Menschen diese Erfahrun-gen nutzen können, um weitere Ressourcen aufzu-bauen, die sie in ihrem Alltag einsetzen können. Wennman also beispielsweise eine schwierige Situation amArbeitsplatz durch Humor auflockern und lösen kann(positive Emotionen erleben), dann sollte das dazu füh-ren, dass »der Einsatz von Humor am Arbeitsplatz« indas persönliche Handlungsrepertoire aufgenommenwird. Als letzten Aspekt beschreibt Fredrickson einepositive Aufwärtsspirale. Wenn also die neuen Res-sourcen im Alltag gepflegt und eingesetzt werden, solldies das Auftreten von positiven Emotionen erleich-tern, wodurch der Prozess wieder von vorne beginnenkann. Es gibt zahlreiche empirische Belege, welche dieAnnahmen der Theorie stützen (s. z.B. Fredrickson &Branigan, 2005; Tugade & Fredrickson, 2004).

s60_70fach_r2_2011_s60_70fach_r2_2011 20.01.11 09:33 Seite 68

Page 7: s60 70fach r2 2011 - UZHc2383c8c-1916-4e...Martin Seligman hat seine Präsidentschaft der American Psychological Association (1998) der Aufgabe gewidmet, den Fokus der Aufmerksamkeit

repo

rtps

ycho

logi

e‹3

6› 2

|201

1

69

r e p o r t fachwissenschaftlicherteil

Die Erforschung von positiven Emotionen ist ein zen-trales Thema in der Positiven Psychologie, da diese einenwesentlichen Beitrag zum Wohlbefinden leisten kön-nen. Ein möglicher Erklärungsansatz für die Wirkungpositiver Interventionen könnte in der Wirkung positi-ver Emotionen liegen. Manche der Übungen zielen auchdezidiert auf das Erleben bzw. Sich-wieder-in-Erinne-rung-Rufen positiver Emotionen ab.

Abschließende BemerkungenIm vorliegenden Beitrag konnte nicht das gesamte Feldder Positiven Psychologie in all seinen Facetten voll-ständig beschrieben werden. Es sollte aber ein Aus-schnitt vorgestellt werden, der die Relevanz der For-schung in diesem Bereich unterstreicht. Die PositivePsychologie sieht sich nicht als Gegenmodell zur »busi-ness as usual psychology,« sondern als eine For-schungsrichtung, welche die Psychologie komplettierenmöchte und den positiven Aspekten des menschlichenErlebens und Verhaltens stärkere Aufmerksamkeit in

unserer Disziplin zukommen lassen möchte — und dasfernab von Ideen aus der Psychologie als Happyologieoder simplifizierten Patentrezepten zum guten Leben,wie sie in der – vor allem nicht psychologischen – Rat-geberliteratur weitverbreitet sind. Unter dem gemein-samen Dach der Positiven Psychologie findet die For-schung zu Themen, die bislang nicht im Mainstream derAufmerksamkeit der Psychologie als Disziplin standen,verstärkte Aufmerksamkeit. Unter anderem kann manhier Forschung zu Humor, dessen Messung sowie hu-morbasierten Interventionen nennen (vgl. Proyer, Ruch,& Müller, 2010; Ruch, 2008; Ruch, Proyer & Weber,2010; Sommer & Ruch, 2009, oder ähnliche Beiträge zumSinn für das Schöne oder zur Dankbarkeit).An verschiedenen Orten wurde argumentiert, dass dasendgültige Ziel der Positiven Psychologie ist, sich selbstwieder überflüssig zu machen. Das wäre dann erreicht,wenn es in der Psychologie selbstverständlich wird,dass Forschung zu positiven und negativen Bereichendes Lebens gleich wichtig nebeneinanderstehen.

Within psychology, positive psychology is a movement that aims to study what makes life mostworth living. Characteristics and conditions that enable the »good life« are described and assessed.Theory and practice do not target clinical populationsbut address persons that are somewhere in themiddle range of a continuum of well-being and thatwant to improve their satisfaction with life. One important task of positive psychology is the develop-ment of positive interventions. These are aimed at enhancing the well-being of participants. The broaden-and-build theory of positive emotions is introduced as one example of a theory developedfrom positive psychology. Additionally, the role ofcharacter strengths and virtues is discussed. The Values-in-Action classification is described in detailand presented as a sort of »Anti«-DSM; i.e., a catalogue of positive characteristics of human beingsinstead of a list of symptoms.

A B S T R A C T

Die Positive Psychologie versteht sich als jene For-schungsrichtung innerhalb der Psychologie, die sichzum Ziel gesetzt hat, zu erforschen, was das Leben ammeisten lebenswert macht. Eigenschaften und Bedin-gungen, die zu einem guten Leben beitragen, sollen be-schrieben und gemessen werden. Forschung und Praxisorientieren sich nicht an klinischen Fragestellungen,sondern an Personen, die im Mittelbereich eines Kon-tinuums des Wohlbefindens angesiedelt sind und ihreZufriedenheit verbessern wollen. Eine wichtige Auf-gabe ist die Entwicklung von positiven Interventionen,die darauf abzielen, das Wohlbefinden der Teilnehmerzu steigern. Die Broaden-and-build-Theorie positiverEmotionen wird als ein Beispiel für eine Theorie aus derPositiven Psychologie vorgestellt. Darüber hinaus wirdvor allem auch auf die Bedeutung der Forschung zu Cha-rakterstärken und Tugenden eingegangen. Hier wirddie Values-in-Action-Klassifikation genauer beschrie-ben und als eine Art »Anti-DSM« (ein Katalog an posi-tiven Eigenschaften von Menschen anstelle von Symp-tomen) dargestellt.

Z U S A M M E N F A S S U N G

O B E R B E R G177 X 60

s60_70fach_r2_2011_s60_70fach_r2_2011 20.01.11 09:33 Seite 69

Page 8: s60 70fach r2 2011 - UZHc2383c8c-1916-4e...Martin Seligman hat seine Präsidentschaft der American Psychological Association (1998) der Aufgabe gewidmet, den Fokus der Aufmerksamkeit

Allport, G. W. (1937). Personality: A psychological interpretation. New York: Holt, Rinehart & Winston.Buckingham, M. & Clifton, D. O. (2001). Now, discover your strengths. NewYork: The Free Press.Csikszentmihalyi, M. (1990). Flow: The psychology of optimal experience.New York: Harper Collins.Csikszentmihalyi, M. (2007). Flow: Das Geheimnis des Glücks (13. Aufl.).Stuttgart: Klett-Cotta.Diener, E., Oishi, S. & Lucas, R. E. (2009). Subjective well-being: The scienceof happiness and life satisfaction. In S. J. Lopez & C. R. Snyder (Eds.)., OxfordHandbook of Positive Psychology (2nd ed.; pp. 187-194). New York: OxfordUniversity Press.Epstein, S. (1979). The stability of behavior: I. On predicting much of thepeople most of the time. Journal of Personality and Social Psychology, 37,1097-1126.Epstein, S. (1980). The stability of behavior: II. Implications for psychologi-cal research. American Psychologist, 35, 790-806.Frank, R. (2010). Wohlbefinden fördern. Positive Therapie in der Praxis.Stuttgart: Klett-Cotta.Fredrickson, B. L. (1998). What good are positive emotions. Review of Ge-neral Psychology, 2, 300-319.Fredrickson, B. L. (2001). The role of positive emotions in positive psycho-logy: The broaden-and-build theory of positive emotions. American Psycho-logist, 56, 218-226.Fredrickson, B. L. & Branigan, C. (2005). Positive emotions broaden the sco-pe of attention and thought-action repertoires. Cognition and Emotion, 19,313-332.Hartshorne, H. & May, M. A. (1928). Studies in the nature of character (Vol.1: studies in deceit). New York, Macmillan.Hartshorne, H. & May, M. A. (1929). Studies in the nature of character (Vol.2: studies in service and self-control). New York: Macmillan.Jahoda, M. (1958). Current concepts of positive mental health. New York:Basic Books.Jungo, D., Ruch, W. & Zihlmann, R. (2008). Das VIA-IS (»Values in ActionInventory of Strengths«), ein Instrument zur Erfassung von Charakterstärken.Informationen und Interpretationshilfen für die Berufs-, Studien- und Lauf-bahnberatung. Bern: SDBB Verlag.Keyes, C. L. M. & Haidt, J. (Eds.) (2003). Flourishing: Positive psychologyand the life well lived. Washington DC: American Psychological Association.Myers, D. G. (2000). Hope and happiness. In M. E. P. Seligman (Ed.), The sci-ence of optimism and hope. Research essays in honor of Martin E. P. Selig-man (pp. 323-336). Philadelphia, London: Templeton Foundation Press.Park, N., Peterson, C. & Seligman, M. E. P. (2004). Strengths of characterand well-being. Journal of Social and Clinical Psychology, 23, 603-619.Paunonen, S. V. (2003). Big Five factors of personality and replicated predicti-ons of behavior, Journal of Personality and Social Psychology, 84, 411-424.Pawelski, J. O. (2003). The promise of positive psychology for the assessmentof character. Journal of College and Character. http://journals.naspa.org/cgi/viewcontent.cgi?article=1361&context=jcc

Peterson, C. (2003). The Values-in-Action Structured Interview (VIA-SI). Cin-cinnati: The VIA Institute on Character.Peterson, C., Park, N. & Seligman, M. E. P. (2005). Orientations to happi-ness: the full life vs. the empty life. Journal of Happiness Studies, 6, 25-41.Peterson, C., Ruch, W., Beermann, U., Park, N. & Seligman, M. E. P. (2007).Strengths of character, orientations to happiness, and life satisfaction. TheJournal of Positive Psychology, 2, 149-156.Peterson, C. & Seligman, M. E. P. (2004). Character strengths and virtues: Ahandbook and classification. Washington, DC: American Psychological Asso-ciation.Proyer, R. T., Ruch, W. & Buschor C. (2010). The Zurich Strengths Program(Z.S.P.): Specific strengths enhance satisfaction with life. Manuskript zur Ver-öffentlichung eingereicht.Proyer, R. T., Ruch, W., Gander, F. & Wyss, T. (in prep). A replication and ex-tension of earlier findings in online intervention programs from positive psy-chology. Manuscript in preparation.Proyer, R. T., Ruch, W. & Müller, L. (2010). Sense of humor among the el-derly: Findings with the German version of the SHS. Zeitschrift für Geronto-logie und Geriatrie, 43, 19-24.Ruch, W. (2008). Psychology of humor. In V. Raskin (Ed.), A Primer of HumorResearch (pp. 17-100). Berlin: Mouton de Gruyter.Ruch, W., Harzer, C., Proyer, R. T., Park, N. & Peterson, C. (2010). Ways tohappiness in German-speaking countries: The adaptation of German paper-pencil and online version of the Orientations to Happiness Scale. EuropeanJournal of Psychological Assessment, 26, 224-231.Ruch, W. & Proyer, R. T. (2011). Positive Interventionen: StärkenorientierteAnsätze. In R. Frank (Hrsg.), Therapieziel Wohlbefinden (2. akt. Aufl., S. 83-92). Berlin: Springer.Ruch, W., Proyer, R. T., Harzer, C., Park, N., Peterson, C. & Seligman, M. E.P. (2010). Adaptation and Validation of the German Version of the Values inAction Inventory of Strengths (VIA-IS) and the Development of a Peer-RatingForm. Journal of Individual Differences, 31, 138-149.Ruch, W., Proyer, R. T., & Weber, M. (2010a). Humor as character strengthamong the elderly: Theoretical considerations. Zeitschrift für Gerontologieund Geriatrie, 43, 8-12.Ruch, W., Proyer, R. T. & Weber, M. (2010b). Humor as character strengthamong the elderly: Empirical findings on age-related changes and its contri-bution to satisfaction with life. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 43,13-18.Schmid, M., Ruch, W. & Proyer, R. T. (2007). Identifying the strengths ofcharacter of vocational counselors and management consultants by compa-ring results from a questionnaire and a structured interview. 10th Congress ofthe Swiss Society of Psychology (SSP), September 13th and 14th, 2007, Zu-rich, Switzerland.Schueller, S. M. (2010). Preferences for positive psychology exercises. TheJournal of Positive Psychology, 5, 192-203.Seligman, M. E. P. (2000). Positive psychology. In J. E. Gillham (Ed.), The sci-ence of optimism and hope. Research essays in honor of Martin E. P. Selig-man (pp. 415-429). Philadelphia, London: Templeton Foundation Press.Seligman, M. E. P., Rashid, T. & Parks, A. C. (2006). Positive Psychotherapy.American Psychologist, 61, 774-788.

Seligman, M. E. P., Steen, T.A., Park, N. & Peterson, C.(2005). Positive psychologyprogress: Empirical validationof interventions. AmericanPsychologist, 60, 410-421.Sin, N. L. & Lyubomirsky, S.(2009). Enhancing well-being and alleviating depres-sive symptoms with positivepsychology interventions: Apractice-friendly meta-analy-sis. Journal of Clinical Psy-chology, 65, 467-487.Sommer, K. & Ruch, W.(2009). Cheerfulness. In S. J.Lopez (Ed.), The encyclopediaof positive psychology (Vol. I,pp. 144-148). Chichester: JohnWiley & Sons.Tugade, M. M., & Fredrick-son, B. L. (2004). Resilient in-dividuals use positive emoti-ons to bounce back from ne-gative emotional experiences.Journal of Personality and So-cial Psychology, 86, 320-333.

L I T E R A T U R

repo

rtps

ycho

logi

e‹3

6› 2

|201

1

70

ANZEIGEPID

s60_70fach_r2_2011_s60_70fach_r2_2011 20.01.11 09:33 Seite 70