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Sandra JanßenPhantasmen

»Wissenschaftsgeschichte«herausgegeben von

Michael Hagner und Hans-Jörg Rheinberger

Sandra JanßenPhantasmen

Imagination in Psychologie und Literatur

1840 – 1930

Flaubert – ◊echov – Musil

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2013www.wallstein-verlag.de

Vom Verlag gesetzt aus der Adobe GaramondUmschlag: Susanne Gerhards, Düsseldorf,

unter Verwendung der Zeichnung »L’Œuf« von Odilon RedonDruck: Hubert & Co, Göttingen

ISBN (Print) 978-3-8353-1254-8ISBN (E-Book, pdf ) 978-3-8353-2349-0

Gedruckt mit Unterstützung der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer & Ehemaligen

der Freien Universität Berlin e. V.

Zugl. Diss. Freie Universität Berlin und Université de Paris 8 Saint-Denis (2006)

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Inhalt

Imagination als Phantasma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Erster Teil Psychologien des Phantasmas

Geschichte(n) des Selbstverlusts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

I. Gedanken-Bilder und Alienation (1840-1870) . . . . . . . . . 28

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28Ungewollte Halluzinationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30Jean Étienne Dominique Esquirol | Alexandre Brierre de Boismont, Jules Baillarger | Halluzinationstheorien in Deutschland | Die Debatte in der Société médico-psychologique

Bebildernde Träume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39François-Pierre-Gonthier Maine de Biran, Louis-Jacques Moreau de la Sarthe | Albert Lemoine | Jacques-Joseph Moreau de Tours | Alfred Maury | Léon d’Hervey de Saint Denys

Teilhabende Träume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61Carl Gustav Carus | Arthur Schopenhauer | Karl Albert Scherner

Alienation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70Alienation | Die Seelenvermögen | Gedanken und Bilder

II. Zirkulierende Vorstellungsbilder und Desaggregation (1870-1900) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89Vagabundierende Vorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . 93Hippolyte Taine | Théodule Ribot | Wilhelm Wundt | Ernst Mach | Henri Bergson

Zerfahrene Träume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114Halluzinationstheorien | Traumtheorien

Parasitäre Reminiszenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124Jean-Martin Charcot | Pierre Janet | Josef Breuer, Sigmund Freud

Desaggregation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137Das Subjekt des Positivismus | Übertragbare Bilder

inhalt

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III. Bild-Objekt und Depersonalisation (1900-1930) . . . . . . . . 155

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155Belebte Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157Théodule Ribot | Ludivic Dugas | Jean Philippe | Henri Bergson

Sinnvolle Träume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167Nicolas Vaschide, Eugène-Bernard Leroy, Justine Tobolowska, Henri Delacroix, Marcel Foucault | Albert Kaploun | Maurice Halbwachs | Paul Valéry

Ichhafte Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184Pierre Janet | Konstantin Oesterreich

Repräsentierte Affekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194Sigmund Freud: Entwurf einer Psychologie | Die Traumdeutung | Theorie des Phantasmas | Theorie des Objekts | Zweite Topik

Wahrnehmbare Gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215Kurt Koffka, Wolfgang Köhler, Max Wertheimer | Ernst Cassirer

Gemeinte Gegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223Edmund Husserl | Theodor Lipps

Depersonalisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232Psyche und Realität | Die Subjektivität und ihr Anderes | Phantasma und Funktion

Nach 1930 – Phantasmatisch dasein . . . . . . . . . . . . . . 265

Entwicklungen, Verschiebungen, Brüche (1840-1930) . . . . . . . . . 268

Zweiter Teil Poetiken des Phantasmas

Wissendes Phantasieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

I. Gustave Flaubert Willentliche Halluzinationen eines alienierten Gott-Autors . . . . 289

Alienist Flaubert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289Flauberts Halluzinationen | Halluzinieren als Kunst

La Tentation de saint Antoine – Phantasmatismus . . . . . . . . 302Trois Contes – Sehend glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . 328La légende de saint Julien l’Hospitalier | Un cœur simple | Hérodias | Das Phantasma in den Trois Contes

Metabolische Wahrheit der Einbildungskraft . . . . . . . . . . 348

inhalt

7

II. Anton P. Čechov Herrliche Visionen eines Schreibautomaten . . . . . . . . . . . . 359

Psychiater Čechov. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359Der Blick des Arztes auf die Psyche | Exkurs: Literatur der Desaggregation in Deutschland und Frankreich

Spat’ chočetsja – Macht der Vorstellungen . . . . . . . . . . . . 373Gusev – Visionäre Erinnerungen . . . . . . . . . . . . . . . . 379Na podvode – Zufälle des Gedächtnisses . . . . . . . . . . . . 386Dušečka – Beeindruckbare Seele . . . . . . . . . . . . . . . . 391Archierej – Erinnerungen an das andere Ich . . . . . . . . . . . 395Suggestivität eines maschinellen Schreibens . . . . . . . . . . . 399

III. Robert Musil Gedankenphantasien eines Kämpfers mit dem Unpersönlichen . . 413

Psychologe Musil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413Die Apperzeptor-Theorie | Weitere psychologische Konzepte | Psychologie und Literatur

Vereinigungen – Unpersönliches Glück . . . . . . . . . . . . . 425Die Vollendung der Liebe | Poetik der Vereinigungen

Tonka – Ihr sagen, wer sie ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449Die Amsel – Dem ichigen Anderen erzählen . . . . . . . . . . 461Dichtung als lebensgebende Einfühlung . . . . . . . . . . . . 469

Für eine Psychologiegeschichte der Literatur . . . . . . . . . . . . . 480

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491

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Imagination als Phantasma

Eine »reine« Imagination kann es nicht geben. Sie ist ein Verhalten, das jeweils von seinem sozialen Horizont mitbestimmt wird, und mithin ein historisches Phänomen, wie Jean Starobinski feststellt. Und so beschließt er seine »Grundlinien für eine Geschichte des Begriffs der Einbildungskraft« mit der Formulierung eines literaturwissenschaftlichen Desiderats: »[Nous] voyons se dessiner une tâche critique qui ne se limiterait pas à l’analyse de l’univers imaginé, mais qui observerait la puissance imaginante dans sa situa-tion relative au sein du contexte humain où elle surgit.«1 Es gilt also, nicht nur die Geschichtlichkeit der Erzeugnisse der Imagination wahrzunehmen, sondern die des Phänomens Imagination selbst, seine Bedingtheit durch Umstände, die über die Individualität des Imaginierenden hinausgehen, und daraus ein literaturwissenschaftliches Werkzeug zu gewinnen.

Diese Aufgabe stellt sich die vorliegende Arbeit. Doch wird sie die Pro-blematik der Einbildungskraft in einem ganz bestimmten Kontext anspre-chen: Verschiebt sich nämlich die Aufmerksamkeit vom Produkt auf das Verfahren der Imagination, gelangt man fast notwendig zu dem Wissens-feld, auf dem diese definiert wird, der Psychologie. Zumindest gilt dies für das 19. und frühe 20. Jahrhundert, einen Zeitraum, in dem das Wissens-objekt Einbildungskraft auch zum Gegenstand eines wissenschaftlichen In-teresses wird (und bei der Konstituierung dieser Wissenschaft sogar eine nicht unerhebliche Rolle spielt). Denn was könnte für die Weise, in der imaginiert wird, bedeutsamer sein als die Annahmen darüber, was Imagi-nation ist und wie sie arbeitet. Die wissenschaftliche Psychologie aber ent-wickelt sich nicht zuletzt deshalb, weil psychische Vorgänge immer stärker als der Macht von Bewusstsein und Vernunft entzogene erscheinen; es liegt darin eine Quelle von Faszination und Beunruhigung, die zu bewältigen ist. In einem psychologischen Kontext wird es somit immer schwieriger, von Imagination im Sinne einer ›Einbildungskraft‹ zu sprechen, da sie, wenn man sie als geistiges Vermögen versteht, eine Macht des Bewusstseins über sich selbst voraussetzt, die beginnt, problematisch zu werden.

Aus diesem Grund wird Imagination im Folgenden mit einem Begriff bezeichnet, der dieser besonderen historischen Bedingtheit Rechnung tragen soll: als Phantasma. Dieser Terminus impliziert keine Voreingenommenheit zugunsten der Psychoanalyse; er bietet sich sogar gerade aufgrund seiner Etymologie und nicht etwa wegen seines aktuellen Gebrauchs an, auch wenn

1 Starobinski, Jean: L’œil vivant II: La relation critique, Paris 1970, S. 194-195.

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dieser Gebrauch immer noch an einer allgemeineren Bedeutung teilhat, die eine ihrer selbst enteignete Subjektivität voraussetzt. Im deutschen und franzö-sischen Sprachraum (den Kulturräumen, die den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit bilden) ist die Entwicklung des Begriffs weitgehend vergleichbar. In Frankreich ist das Vorkommen von »fantasme« in der Bedeutung von »Phan-tom« für das Mittelalter belegt, das Wort taucht aber erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts wieder auf, wo es den Sinn von »Halluzination« annimmt. In Deutschland begegnet man dem Begriff in der Mitte des 18. Jahrhunderts, wo er gleichzeitig ein Produkt der Einbildungskraft und ein Gespenst bezeich-nen kann; in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhält er die gleiche Bedeu-tung wie in Frankreich. Den ersten Schritt seines Eingangs in die Psychologie stellt demnach die Medizinisierung des Übernatürlichen dar. Die Bedeutung von »Halluzination« behält das Phantasma während des ganzen 19. Jahrhun-derts, vor allem im deutschen Sprachraum, wo es erst später durch jenen Ter-minus ersetzt wird. Es ist allerdings zu beobachten, dass diese durchweg sinnes-physiologische Definition sich allmählich in die Richtung des Psychischen verschiebt: So spricht Wilhelm Wundt bereits von »Phantasmen des Traumes«, während für Edmund Husserl der Begriff nur noch die Quasi-Empfindun-gen bezeichnet, die das Material jeglicher imaginären Vorstellung bilden. Daneben ist in beiden Ländern im späteren 19. Jahrhundert das Auftauchen einer weiteren Bedeutung festzustellen, die das Phantasma einer unkontrol-lierten Träumerei gleichsetzt; in Frankreich findet man sie 1891 bei Joris-Karl Huysmans. Von dort aus kann sich dann im 20. Jahrhundert die Auffassung des Terminus als einer mit Begehren konnotierten Träumerei entwickeln (obwohl die frühe Psychoanalyse diesen Begriff noch nicht verwendet).

Es ist zuzugeben, dass der Begriff »Phantasma«, bevor er den Stellenwert erlangte, der ihm in der Psychoanalyse mittlerweile zukommt, zu keiner Zeit eine einflussreiche psychiatrische oder psychologische Kategorie dargestellt hat (und auch dieser Stellenwert ist ihm erst zu einer späteren als der hier untersuchten Zeit, mit Jacques Lacan, zugewachsen).2 Im psychologischen Diskurs ist der Begriff also eher unterschwellig präsent. Gerade das könnte ihn aber für das hier verfolgte Ziel nützlich machen: Erstens liefert er einen Arbeitsbegriff, der geeignet ist, ein Untersuchungsfeld zu beschreiben, das sich nicht auf ein bestimmtes Phänomen einengen lässt; zweitens verdeut-licht er, durch die heterogenen Bedeutungen, die er innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums angenommen hat, hindurch, nicht nur die allmähliche Psychologisierung der Imagination, sondern auch die beständige Variation des Interesses an ihr. Es geht demnach nicht um die Geschichte eines Be-

2 Die frühen Freud-Übersetzungen ins Französische verwenden das Wort ebensowenig wie das deutsche Original, während es heute die Standardübersetzung für »Phantasie« ist.

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griffs; doch indem man der Fluktuation seines Signifikats einen symptoma-tischen Wert zuerkennt, lassen sich die Wissensfelder bestimmen, die zu verschiedenen Zeiten der Entwicklung der Psychologie zur Auffassung der Imagination beitragen. So werden Halluzinationen, Träume und Träumerei im gesamten untersuchten Zeitraum als Gruppe verwandter Phänomene betrachtet.3 Welche von diesen aber zu einem gegebenen historischen Zeit-punkt eine besondere Erklärung zu erfordern scheinen, variiert. In diachro-ner Perspektive kann also einerseits von einer Einheit der Fragestellung ge-sprochen werden, nämlich von der Eigenschaft einer Bilder erzeugenden Funktion, sich der Herrschaft des Subjekts so weitgehend zu entziehen, dass sie eine medizinische oder psychologische Erklärung verlangt, und anderer-seits von einer Heterogenität der Konzeptualisierungen dieser Funktion. Damit sollte die Verwendung des Begriffs Phantasma gerechtfertigt sein, und er wird im Weiteren so gebraucht werden, dass seine Bedeutung für die jeweilige Präzisierung, die ein historisches Denkmodell ihm geben kann, offenbleibt. Und insofern als das Phantasma eine Funktion bezeichnet, ver-steht sich von selbst, dass zumindest im psychologiehistorischen Teil dieser Untersuchung nicht von Inhalten die Rede sein kann: Nicht um eine Be-trachtung des Imaginären einer Epoche soll es gehen, sondern um eine Un-tersuchung der Definitionen des Imaginierens, die man in ihr findet. Allein von dieser Seite her werden demnach die Formen in den Blick ge nommen, die das Imaginieren in einer selbstreflexiven literarischen Praxis annimmt, die beim Phantasieren bereits eine klare Vorstellung davon hat, was Phanta-sieren bedeutet – das heißt, mit welcher Art von psychischem Vorgang man es dabei zu tun bekommt.

Der Überblick über die verschiedenen Bedeutungen des Wortes hat eine Besonderheit zutage treten lassen, die auch für die Theorie des Phantasmas im eben definierten weiteren Sinne angenommen werden soll: eine Entwick-lung vom Pathologischen zum Psychologischen. Das bedeutet, dass sie an einer Logik teilhat, die das Entstehen der modernen Psychologie überhaupt bestimmt; wie Michel Foucault hervorhebt, entwickelt diese ihr positives Wissen über die Psyche aus deren Dysfunktionen heraus. Daher besteht sie als Wissenschaft aus nichts anderem als »einer Reflexion über die Wider-

3 Dieselbe Gruppierung legt Tony James (der belegt, dass sie bereits im 19. Jahrhundert so vorgenommen wurde) seiner ähnlich angelegten Studie zugrunde. James sieht die Vergleichbarkeit dieser Phänomene jedoch vor allem in den Zuständen, die sie voraus-setzen, und berücksichtigt deshalb auch Somnambulismus und Ekstase. Das bedeutet allerdings, den Aspekt des bildlichen Vorstellens zu vernachlässigen und verhindert eine klare Unterscheidung zwischen der Verfasstheit des Subjekts auf der einen und der Funktion der Einbildungskraft auf der anderen Seite. Vgl. Tony James: Vies secondes, Paris 1997, S. 13, 273.

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sprüche des Menschen mit sich selbst«.4 Genau das spiegelt die Theoretisie-rung der Imagination im Sinne eines psychisch konditionierten Phantasmas anstatt in der Form der Einbildungskraft als eines freien Geistesvermögens wider. So wird, im Rahmen einer Psychologie, welche die Unsicherheit in Bezug auf das eigene Selbst abbildet, das Phantasma als Ausdruck einer Ge-gensubjektivität verstanden, die dem Ich nichtsdestoweniger noch angehört, und eben dadurch eine Art Dysfunktion darstellt, die man von nun an im Verständnis des Subjekts selbst verankert.

Ebenso wie die Konzeption des Phantasmas historischen Wandlungen unterworfen ist, wird folglich auch die Frage der Subjektivität immer wieder neu aufgeworfen: Eines der Hauptziele dieser Untersuchung ist, zu zeigen, dass der Begriff des »Selbstverlusts«, je nach den Voraussetzungen, die einer psychologischen Theorie zugrunde liegen, die unterschiedlichsten Bedeutun-gen annehmen kann. So wird sich erweisen, dass es nicht dasselbe ist, in sich einem Fremden zu begegnen, sich in unpersönliche Bewusstseinselemente zu verlieren oder der Objektivität seiner selbst nicht mehr habhaft zu werden, da jedes einer anderen gedanklichen Ordnung folgt. Tatsächlich kann das Phantasma, wenn es einer psychischen Eigengesetzlichkeit folgt, nur von der Problematik einer es bedingenden Subjektivität aus gedacht werden; die der Psychoanalyse, die das Ich seiner Macht beraubt, indem sie es seinen Trieben ausliefert, ist dabei nur eine mögliche Variante. Da das Phantasma immer auch die Möglichkeit einer imaginativen Selbstrepräsentation beinhaltet, welche die subjektive Instanz in ein wahrnehmendes und ein wahrgenom-menes Ich spaltet, bietet es sogar einen besonders geeigneten Raum für die Erforschung der Widersprüche des Subjektiven. An dieser Stelle ist anzu-merken, dass die Begriffe »Subjekt« und »Subjektivität«, analog zu dem des Phantasmas, im Folgenden in einer Weise gebraucht werden, die eine An-näherung an eine veränderliche Problematik darstellt und folglich keine festgelegte Definition impliziert. Sie werden zudem ausschließlich in einer Weise verwendet, die das denkende Ich nicht mehr als die gesicherte Instanz betrachtet, welche die klassische Philosophie gekannt haben mag – in eben der zwiespältigen Dimension also, die nach Foucaults Beschreibung die raison d’être der wissenschaftlichen Psychologie ausmacht. Auf diese Begriffe zu verzichten, ist nicht angezeigt: Man würde sich eines Mittels berauben, diese Ambiguität zu beschreiben, die voraussetzt, dass keine der entgegen-gesetzten Instanzen – man nenne sie provisorisch Ich und Selbst – auf den Status einer reinen Objektivität reduziert wird, und dass sie wechselweise dazu beitragen, die Erfahrung zu bestimmen, die man von sich haben kann.

4 Michel Foucault: »La psychologie de 1850 à 1950« [1957], in: Dits et écrits, 1954-1988, I, Paris 1994, S. 121-122; vgl. ders., Maladie mentale et psychologie, Paris 1997, S. 87-88.

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Sie werden also in einer Weise eingesetzt, die Positivität und Negativität des Subjektiven als gleichermaßen konstitutiv für ›das Subjekt‹ betrachtet; mit Marcel Gauchet könnte man hierin sogar eine Vertiefung des Subjektbegriffs selbst erkennen.5

Dem sei noch hinzugefügt, dass, selbst wenn die Entstehung der wissen-schaftlichen Psychologie für die Form, welche die Fragestellungen bezüglich des Phantasmas und des Subjekts annehmen, wesentlich ist, die Institutio-nalisierung dieser Wissenschaft im gegebenen Kontext nicht interessiert. Betrachtet werden ausschließlich wissenschaftliche Konzepte, was auch die Referenz auf Praktiken ausschließt, zumindest solange diese in die Bildung eines Konzepts nicht direkt involviert sind. Und da die Psychologie als »eine Tochter von Philosophie und Physiologie« anzusprechen ist, können die zu untersuchenden Texte ebensogut psychiatrische wie philosophische sein, so-fern sie zum psychologischen Projekt der Konzeptualisierung des Phantas-mas Relevantes beitragen.6 In diesem fluktuierenden, sich letztlich bis zur Literatur erstreckenden Wissensfeld konstituiert die wissenschaftliche Psy-chologie sich ohnehin nur allmählich.

Nicht eine Geschichte der Psychologie soll also rekonstruiert werden, sondern eine Geschichte der ›psychologischen Ideen‹, wie sie sich um die Problematik des Imaginären herum anordnen lässt. Das wird bisweilen eine Gruppierung von Texten nach sich ziehen, die eigenwillig erscheinen mag, besonders im Fall des beginnenden 20. Jahrhunderts, einer Zeit, zu der die Psychologie sich bereits in verhältnismäßig heterogene und voneinander unabhängige Disziplinen ausdifferenziert hat. Das macht es aber letztlich nur interessanter, herauszufinden, welche Verbindungen etwa zwischen hyste-rischem Anfall und Traum oder zwischen der Freud’schen Phantasie und der Gestalt im Sinne der Gestaltpsychologie auf einer theoretischen Ebene beste-hen können. Es sind die Verwandtschaften der Gleichzeitigkeit in den Phan-tasmakonzepten und Subjekttheorien, die das bevorzugte Untersuchungs-objekt dieser Arbeit abgeben. Diese Herangehensweise relativiert bis zu einem gewissen Grade, wenn nicht die Hierarchien, so doch die Unabhängigkeit bestimmter Theorien voneinander, deren Wahrnehmung heute weitgehend von der Geschichte ihrer kritischen Rezeption bestimmt wird. Von dieser abzusehen – was in Anbetracht der Zahl historischer Quellen, die in die Synthese eingegangen sind, zwingend war –, mag gewagt erscheinen, insbeson-

5 Marcel Gauchet: »L’idée d’une histoire du sujet«, in: La condition historique, Paris 2003, S. 262.

6 Vgl. Elmar Holenstein: »Die Psychologie als eine Tochter von Philosophie und Physio-logie«, in: Ernst Florey / Olaf Breidbach (Hrsg.), Das Gehirn, Organ der Seele? Zur Ide-engeschichte der Neurobiologie, Berlin 1993, S. 289-308.

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dere für so stark rezipierte Bereiche wie die Psychoanalyse oder die Phäno-menologie. Es ist zu hoffen, dass dieser Mangel auch eine Tugend beinhaltet: die eines neuen und besonders aufmerksamen Blicks auf die Texte. Sie ganz wörtlich nehmend, sollte dieser in ihnen das zutage fördern, was sie mit Texten vergleichbar macht, mit denen sie gewöhnlich nicht in Verbindung gebracht werden. Diese Herangehensweise identifiziert in jedem Text eine gewisse Anzahl von Schlüsselkonzepten, analysiert deren System von Wechselbezie-hungen und ist dabei auch für ihre bildliche oder metaphorische Dimension empfänglich; denn nicht zuletzt diese dürfte es sein, die es möglich macht, von einer Theorie des Phantasmas aus zu imaginieren.

Das impliziert, literaturwissenschaftliche Verfahrensweisen auf die Lek-türe wissenschaftlicher Texte auszuweiten – ohne dies, wie betont sei, zum Kernanliegen dieser Lektüre zu machen. Es geht nicht darum, diesen Texten eine versteckte Literarizität zu unterstellen; von Interesse wird in erster Linie die Positivität der Wissenskonfiguration sein, die sie herstellen. Damit sollen zugleich bestimmte, für nicht wenige literaturwissenschaftliche Arbeiten zum Verhältnis von Literatur und Wissenschaftsgeschichte charakteristische Pro-bleme vermieden werden. Ein erstes wäre die Praxis, das analysierte literari-sche Werk auf eine Gruppe von Texten zu beziehen, die als Quellen betrachtet werden können oder zumindest der inneren Logik des literarischen Textes gemäß ausgewählt wurden; ein zweites die Verbindung eines literarischen Werks mit nur einer Wissensdisziplin (im Bereich der Psychologie meist mit der Psychoanalyse). Wenn diese Praktiken hier als problematisch bezeichnet werden, dann nicht, um sie als solche zu disqualifizieren, sondern um zu zei-gen, dass bei einem solchen Vorgehen die literarischen Texte niemals wirk-lich einer Konfiguration von Wissen als epistemischer (im Sinne einer histo-rischen Epistemologie) gegenübergestellt werden. Denn erstens wäre diese unabhängig von den konkreten Referenzen eines literarischen Textes, und zweitens ginge sie über den Rahmen bestimmter Schulen hinaus, deren innerer Zusammenhang ohnehin auf der Hand liegt. Um aber legitimerweise behaup-ten zu können, dass man die literarischen Verfahrensweisen des Imaginierens einem psychologischen Diskurs über die Imagination gegenüberstellt, ist es notwendig, diesen Diskurs mit einer breit angelegten wissensgeschichtlichen Untersuchung erst zu belegen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung sollten einen von den Interessen der Literaturinterpretation unabhängigen Eigen-wert haben und eine Gesamtheit oder ein System des Denkens beschreiben, das über eine innere Kohärenz verfügt und über die engen Grenzen institu-tionell etablierter Wissensfelder hinausgeht.

So erklärt sich die Aufteilung der Studie in zwei klar voneinander getrennte Teile, deren erster psychologische Definitionen des Phantasmas behandelt, also die wechselnden Konfigurationen wissenschaftlicher Konzepte bezüglich

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der Imagination und der Verfasstheit des Subjekts, während der zweite sich mit literarischen Formen des Phantasmas auseinandersetzt, mit der Art, in der Schriftsteller sich dieses Wissen zu eigen machen und literarisch ins Werk setzen, das heißt ästhetisch produktiv werden lassen. Insofern behandelt dieses Buch zwei verschiedene Fragestellungen: eine historisch-epistemologi-sche und eine literarisch-ästhetische, letztere allerdings mit einem Akzent auf den Wissenselementen, die zu ihrer historischen Bedingtheit beitragen.

Damit ist natürlich eine methodische Vorentscheidung getroffen. Um, mit Michel Pierssens gesprochen, im literarischen Text das »Wissen am Werk« (savoirs à l’œuvre) zu zeigen, dürfte es unerlässlich sein, zuerst das betreffende Wissen, sofern es ein wissenschaftliches oder para-wissenschaftliches ist, in seiner eigenen, von der literarischen verschiedenen Ordnung zu beschreiben; danach erst lässt sich analysieren, in welcher Weise literarisches Wissen an ihm partizipiert.7 Das setzt nicht voraus, dass Literatur nur sein passiver Empfänger wäre, denn sie schreibt diskursive Muster auf ihre Weise fort. Ob das Wissen im Text arbeitet oder der Text mit dem Wissen arbeitet, ist kaum zu entschei-den, schmälert jedoch nicht die Gewissheit, dass dieses Ins-Werk-Setzen selbst dann, wenn es sich ein bereits geformtes Wissen aneignet, an der Eigen-ständigkeit und Kreativität des sich darauf beziehenden ästhetischen Entwurfs nichts ändert. So sollen die literarischen Analysen einerseits zeigen, wie tief zeitgenössisches psychologisches Gedankengut in der jeweiligen Poetik eines Autors verwurzelt ist, andererseits aber, wie sehr dieser imstande ist, durch literarische Inszenierung neue Dimensionen daran aufzudecken. Nicht so sehr als ein anderes Gebiet, sondern als ein anderer Modus des Wissens wird Literatur im Folgenden gelten; da die Spielregeln der Wissenschaft nicht die ihren sind, kann es sich auch gar nicht anders verhalten. Der Notwendigkeit argumentativer Konstruktion eines logischen Gebäudes auf der einen Seite steht auf der anderen die Forderung nach Kohärenz im ästhetischen Entwurf (bezüglich der Form) und in der Plausibilität eines individuellen Erlebens (bezüglich des Inhalts) gegenüber. Beides kann nur zu qualitativ verschiede-nen Formen des Wissens führen, selbst wenn es sich – wie bewiesen werden soll – vom Grundsatz her um das gleiche Wissen handelt.

Aus der Wissenskonstellation, die im Folgenden untersucht werden soll, ergibt sich, dass die literarischen Autoranalysen den Status von Beispielfällen haben. Es wäre natürlich möglich, die Inszenierungen des Phantasmas nach dem Prinzip einer Überblicksstudie zu beschreiben, die dessen verschiedene

7 Pierssens meint allerdings weniger die Aneignung eines wissenschaftlichen Wissens durch die Literatur als ein Wissen im Zwischenraum zwischen Konzepten und Gegenständen. Vgl. Michel Pierssens: »Épistémocritique«, in: Savoirs à l’œuvre: essais d’épistémocritique, Lille 1990, S. 7-15.

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literarische Formen so versammeln würde, wie es für die wissenschaftlichen Theorien von Imaginationsphänomenen der Fall sein wird. Der Ansatz der Werkanalyse wurde jedoch bewusst gewählt, da dies in besonderer Weise zu zeigen erlaubt, dass ein ästhetisches Projekt, selbst wenn es an einem Wissens-feld teilhat, dessen Gestalt vornehmlich vom wissenschaftlichen Diskurs be-stimmt wird, und somit als eine von der Konstellation der psychologischen Theorien ihrer Zeit geprägte ›Psychopoetik‹ gedeutet werden kann, zugleich eine aktive und produktive Weise darstellt, sich in dieses Diskursfeld einzu-schreiben. Das Sich-Kreuzen individueller und kollektiver Denkformen auf-zuzeigen, ist eines der Hauptziele dieser Arbeit, und keine der beiden Formen soll auf die je andere reduziert werden. In diesem Sinne unterscheiden sich literarische Projekte von wissenschaftlichen nur durch ihre ästhetische Quali-tät, die insofern eine größere Individualität implizieren dürfte, als sie – zu-mindest hinsichtlich des in Anspruch genommenen psychologischen Wissens – im Gegensatz zur wissenschaftlichen Psychologie keinem Argumentations- und Rechtfertigungszwang unterliegt. Denn dieser setzt eine Vernetzung jeder Einzelleistung mit anderen voraus, was die Annahme nahelegt, dass die Denk-gemeinschaft aufseiten der Wissenschaft eine engere und intensivere sein muss. Das erlaubt, an den Bereich der Literatur anders heranzugehen, indem man die Besonderheit einer individuellen ›Poetik‹ des Wissens gegenüber der Kollektivität seiner wissenschaftlichen Erzeugung betont.8

Offensichtlich ist schließlich, dass alle Überlegungen, die hier im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Literatur angestellt werden können, von dem konkreten Gebiet geprägt werden, dem die Arbeit sich widmet. Die Psychologie ist insofern ein besonderes Wissensgebiet, als die Erklärung eines Erlebens, die sie anbietet, immer auch die Form dieses Er-lebens mitbestimmt. Damit soll nicht behauptet werden, dass es Invarianten

8 Dieser Ausdruck ist also nicht im Sinne von Joseph Vogls Konzept einer Poetologie des Wissens zu verstehen, oder doch nur im Sinne seiner Annahme, dass jeder literarische Text eine eigene solche Poetologie schreibe. Sicherlich stellt auch der wissenschaftliche Diskurs selbst eine Inszenierung dar, die sowohl narrativen als auch rhetorischen Regeln gehorcht und damit tendenziell seine eigenen Forderungen nach Faktizität und Logik untergräbt. Demgegenüber soll hier jedoch die Verschiedenheit der jeweils angestrebten Wissensordnungen, das heißt vor allem der Formen, die sie sich willentlich geben, be-tont werden, aufseiten der Wissenschaft also die logische Konsistenz. Insofern als mit der hier gewählten Verwendung des Begriffs tatsächlich eine literarische, wenngleich wissensfundierte Poetik gemeint ist, setzt sich die vorliegende Untersuchung auch von Jacques Rancières »poétique du savoir« ab, die eine gewissermaßen negative Poetik be-zeichnet, nämlich die Selbstkonstitution der Wissenschaft als Nicht-Literatur. Vgl. Joseph Vogl: »Für eine Poetologie des Wissens«, in: Karl Richter (Hrsg.), Die Literatur und die Wissenschaften 1770-1930, Stuttgart 1997, S. 107-127; Jacques Rancière: Les mots de l’his-toire. Essai de poétique du savoir, Paris 1992, S. 21.

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menschlichen Verhaltens und menschlicher Erfahrung nicht gäbe; doch die folgenden Analysen werden zeigen, dass die Wechselfälle der psychologischen Theorie nicht unbedingt angetan sind, sie hervortreten zu lassen. Und natür-lich muss der Umstand, dass das Erleben vom Wissen beeinflusst wird, auch für das Phantasma gelten. Es ist ein bekanntes Phänomen, dass man anders träumt, wenn man Bekanntschaft mit einer neuen Theorie des Traumes macht – und wenn es auch nicht das ist, was dieses Buch beweisen soll, so lässt sich immerhin aufzeigen, dass literarische Autoren sehr häufig eigene Erfahrungen anhand des psychologischen Wissens ihrer Zeit beschreiben. Deshalb kann es nicht erstaunen, dass die Erfahrungen literarischer Figuren, die zwangsläufig theoretischer sind als die wirklichen, die Züge der zu ihrer Zeit gängigen Theorie des Phantasmas tragen. Es wird sich jedoch erweisen, dass die der Figur zugeschriebene Psychologie zugleich die Verfahrensweisen ihrer literarischen Repräsentation affiziert; zumindest gilt das für eine moderne Literatur, die nach Stilformen sucht, die dem dargestellten Erleben entspre-chen. Vor allem trifft es auf kurze Prosa zu, die für experimentelle Formen des Stils besonders offen ist, ohne dafür die Objektivität der dargestellten fiktionalen Welt preiszugeben. Aus diesem Grund sind die meisten der im zweiten Teil untersuchten Texte Erzählungen oder Novellen; sie werden die These belegen, dass das literarische Imaginäre die Inszenierung eines Phan-tasmas sein kann, das seinen Ursprung psychologischem Wissen verdankt.

Aus der eben beschriebenen Konstellation von Wissensdiskursen ergibt sich die Struktur des Buchs: nicht nur seine Gliederung in zwei Hauptteile, sondern ebenso seine diachrone Anlage. Die eine liegt gewissermaßen quer zur anderen: Ist das Zusammenfassen der psychologiehistorischen Kapitel einerseits durch die Absicht begründet, die Einheit eines Wissensgebiets trotz der Diskontinuitäten, die es charakterisieren, zu gewähren, soll die Abfolge der literaturwissenschaftlichen Kapitel andererseits nicht verbergen, dass jedes von ihnen an die ihm entsprechende wissensgeschichtliche Periode eng gebunden ist. Je nachdem, ob man als Leser/in zuerst die Entwicklung des psychologiehistorischen Arguments oder aber die Verbindung zwischen Literatur und Wissenschaft verfolgen möchte, mag man sich entweder an die vorgegebene Reihenfolge der Kapitel halten oder jedes Kapitel des zweiten Teils direkt nach dem ihm entsprechenden des ersten lesen.

Erster Teil

Psychologien des Phantasmas

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Geschichte(n) des Selbstverlusts

Das Phantasma, verstanden im eben ausgeführten Sinne, beschreibt eine Struktur der Abwesenheit, das Auftauchen bildlicher Vorstellungen aus einem nicht erschließbaren Bereich der Psyche. Zur Beschreibung seiner epistemo-logischen Funktion könnte man auf Michel Foucaults Begriff des »Unge-dachten« (impensé ) zurückgreifen, dieser »hartnäckigen Exteriorität«, die dem Menschen ein eigenes Denken vorführt, das er doch nicht denkt; mit Marcel Gauchet wiederum könnte man es ein »Unreflektiertes« (irréf léchi ) nennen, das dem Unterfangen einer reflexiven Konstituierung der Subjek tivität immer schon vorausgeht und es zu keinem Ende kommen lässt.1 In diesem Sinne ließe das Phantasma sich als ein »Unvorgestelltes« bezeichnen, als Zeichen einer mentalen Aktivität des Imaginierens, die nicht von sich weiß und nach einer transzendentalen Begründung verlangt. Oder, psychologischer formu-liert: Es verlangt eine Konzeptualisierung des Subjekts als eines, das nicht über sich verfügt, dessen Darstellung als ein gegliedertes, einer Eigenlogik folgen-des psychisches System. Und insofern als das Phantasma ein Begriff varia-blen Inhalts ist, zeichnet sich bereits ab, dass die Subjekttheorien, in die es sich integriert, ebenfalls wechselnde sein müssen. Das bedeutet nicht, dass diese ausschließlich anhand seiner formuliert werden, doch es bildet für sie einen privilegierten Gegenstand.

Einer der theoretischen Bezugspunkte, von denen aus dieses Verhältnis beschrieben werden soll, ist Michel Foucaults Archäologie des Wissens, selbst wenn durchaus nicht all ihre Prämissen übernommen werden. Fruchtbar er-scheint vor allem die Möglichkeit einer zeitlichen Stratifizierung, die sie impliziert. Diese liegt auch der vorliegenden Arbeit zugrunde, soll jedoch nicht so absolut gefasst werden, wie es in Foucaults Les mots et les choses der Fall war. Insbesondere die der Foucault’schen Archäologie zugehörigen Begriffe Isomorphismus und Verlagerung (décalage) sind geeignet, die Phänomene zu erfassen, die im Folgenden beschrieben werden sollen: etwa den Umstand, dass einerseits in einem bestimmten Stadium psychologischer Theorienent-wicklung eine hysterische Pose und eine Halluzination als Zeugnis ein und derselben psychischen Dysfunktion gewertet werden können, während an-dererseits das Halluzinieren zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten durchaus kein identisches Leiden impliziert. So verstanden, bedeutet Archäo-logie ein Verfahren der Gruppierung bestimmter Elemente, die einem zeit-

1 Michel Foucault: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966, S. 333-339; Gauchet: »L’idée d’une histoire du sujet«, S. 260.

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gleichen Theoriekontext angehören, der als dominant, aber nicht als absolut zu verstehen ist. Folglich ist auch die daraus hervorgehende Diskontinuität nicht als radikale, sondern als aus partiellen, nicht zwingend synchronen Transformationen entstehende zu denken.2

Nicht konform mit Foucault geht diese Arbeit darin, dass sie nicht im glei-chen Maße von Erkenntnis als individueller Denkleistung absieht, das heißt von der Instanz des Autors. In diesem Punkt positioniert sie sich näher an Thomas S. Kuhn, für den Wissensparadigmen kollektive Konstruktionen darstellen, deren Initiatoren identifizierbar bleiben. Es wird sich allerdings erweisen, dass individuelle intellektuelle Entwicklungen in hohem Maße von zeitgenössischen Wissenskonstellationen abhängen. Dies ist an den (auch von ihnen selbst meist nur mühsam gerechtfertigten) Diskontinuitäten innerhalb des Werks einzelner Autoren abzulesen, die klar zutage treten, wenn man sie hinsichtlich der Simultaneität betrachtet, mit der ähnliche Fragestellungen bei ihren Zeitgenossen auftauchen. Ein »Paradigmenwechsel« in Kuhns Sinne ergibt sich also nicht notwendig zwischen bestimmten Forscherindividuen, sondern – und sogar meistens – im Laufe der Tätigkeit Einzelner. Wie fest-zustellen sein wird, kann eine solche Veränderung für jeden Forscher eben-sosehr als Entwicklungsschritt innerhalb seiner persönlichen Theoriebildung wie als Teilhabe an einer neuen Denkordnung beschrieben werden, die keines-wegs nur ihn betrifft. Es muss also weder, wie bei Foucault, die intellektuelle Motivation eines epistemischen Wandels ausgeblendet werden, noch ist es nötig, den Wandel ganz auf individuelle Erkenntnisleistungen zurückzuführen, wie Kuhn es tut. Kuhn selbst nimmt an, dass die Unzulänglichkeiten eines gegebenen Denkmodells diesem so grundlegend inhärent sind, dass sie eine Gleichzeitigkeit in den Bemühungen um seine Überwindung bewirken.3 Dann besteht jedoch keine Notwendigkeit mehr anzunehmen, dass nicht auch die intellektuelle Dimension des Wandels selbst eine kollektive sein könnte: Ob ein neu entstehendes wissenschaftliches Theorem auf eine indi-viduelle Erkenntnis oder aber auf einen autorunabhängigen Diskurswandel zurückginge, dürfte dann unentscheidbar bleiben.

Eine solche Perspektive beinhaltet eine weitere Voraussetzung: die Unmög-lichkeit, Wissensbestände zu hierarchisieren. Wie die folgenden Untersuchun-gen nahelegen werden, liegt die ›Größe‹ einer wissenschaftlichen Erkenntnis-leistung oft weniger in ihrer Neuheit als in ihrer Komplexität, im Grad der Elaboriertheit, der sie von anderen, zeitgleich entstandenen unterscheidet. Das lässt sich etwa am Werk Sigmund Freuds nachvollziehen, das ohne Zweifel zu den wichtigsten des frühen 20. Jahrhunderts zählt und dennoch

2 Vgl. Michel Foucault: L’archéologie du savoir, Paris 1969, S. 209-210, 228-229.3 Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 21970 [1962], S. 65.

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ein Großteil seiner innovativen Konzepte mit anderen Theorien seiner Epo-che teilt. Demnach ist in der hier eingenommenen Perspektive nicht die Originalität von Ideen von primärem Interesse, und auch nur bedingt deren Ursprung, sondern vielmehr die Frage, was sie in einem gegebenen Kontext funktional werden lässt. So sind viele der im Weiteren als ›neu‹ bezeichneten Theoreme dies für sich genommen sicherlich nicht, können aber dann dafür gelten, wenn sie in einem bestimmten, in sich kohärenten System von Frage-stellungen einen neuartigen operativen Wert erhalten. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Determination durch ein gegebenes Denksystem oder Paradigma für absolut zu halten sei, dass nichts außerhalb seiner gedacht werden könne. Dass es hingegen den Grad der Aufmerksamkeit definiert, der bestimmten Problematiken dafür zukommt, dass sie die Grundprämissen dieses Systems zu illustrieren vermögen, ist sehr wohl anzunehmen.

Tatsächlich muss man sogar davon ausgehen, dass die Dominanz eines herr-schenden Denkmodells keine unbegrenzte ist, denn sonst stünde man wieder der Aporie einer bedingungslosen, absoluten und folglich unerklär lichen Dis-kontinuität gegenüber. Ohne die Möglichkeit der Distanznahme zu einem gegebenen Paradigma – und läge diese nur in dem Versuch, dessen Erklärungs-vermögen über sich selbst hinaus auszudehnen – könnten auch seine Beschrän-kungen nicht aufgedeckt und damit das ausgelöst werden, was man mit Kuhn eine »Revolution« des epistemologischen Fundaments nennen mag. Wenn hier also im Wesentlichen ein diskontinuierliches Modell der Wissensgeschichte vertreten wird, sollen damit die evolutiven Aspekte in nerhalb dessen, was für jeden beschriebenen Zeitabschnitt als grundlegendes psychologisches Denk-modell vorgestellt wird, nicht geleugnet werden. Wie sich erweisen wird, fällt ein herrschendes Paradigma nicht dann, wenn die für das nachfolgende Denk-modell grundlegenden Konzepte auftauchen, sondern in dem Moment, in dem diese in einer Weise systembildend zusammen treten, die das bisherige Modell diskreditiert. So ist beispielsweise die Idee, der zufolge sich Vorstellungsbilder von der Erinnerung bis zur Halluzination nur nach ihrer Intensität unter-scheiden, bereits ab den 1850er Jahren präsent, doch erst nach 1870 wird hier-von ausgehend auch zwischen Pathologie und Normalität des Vorstellens sowie zwischen Traum- und Wachzustand eine nur graduelle Unterscheidbarkeit angenommen. Oft sogar sind es die bei behaltenen Fragestellungen, welche die Verschiebungen in den Grundannahmen kenntlich machen, etwa die Deutun-gen der Hysterie als Produkt akzidentell-traumatischer Erinnerungen oder aber endogener unbewusster Phantasien, die Freud 1893 und 1908 anbietet; überhaupt sind Neuinterpretationen von Pathologien in dieser Hinsicht sehr aussagekräftig. Dass also selbst in einer sich kontinuierlich entwickelnden Geschichte des psycho logischen Wissens Brüche und Umwälzungen ange-nommen werden müssen, sollen die folgenden Analysen zeigen.

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Natürlich bildet auch die Theorie des Phantasmas nach der hier vorge-schlagenen Definition eine solche Kontinuität der Fragestellung, die sich durch die verschiedenen darauf gegebenen Antworten hindurch fortsetzt. Noch exakter wäre es wohl, zu sagen, dass im Begriff des Phantasmas unterschied-liche Fragestellungen zusammenlaufen; die wichtigsten seien an dieser Stelle kurz skizziert. Aufgrund seiner Herkunft aus einer psychiatrischen Problema-tik ist die (zeitlich) erste sicherlich die Kontroverse um seine Bewertung als entweder krankhaftes oder aber normales Phänomen; in dem Maße, wie sich die psychopathologischen Phänomene den normalen annähern, rückt diese Frage jedoch aus dem Fokus. Sie ist verbunden mit einer zweiten, durchgän-gigeren, welche ihrerseits die bei weitem divergentesten Antworten hervor-ruft: der Frage nach dem physischen oder psychischen Charakter des Phan-tasmas, oder genauer, nach dem Zusammenspiel von Körperlichem und Seelischem, das seiner Entstehung zugrundegelegt wird. Hier schließt sich drittens das Problem der Dynamik des Phantasmas an: Wenn dieses in einer autonomen Aktivität besteht, deren Status zwischen Subjektivität und Ob-jektivität unsicher ist, muss erklärt werden, was sie auslöst und wie das Phan-tasma sich dem machtlosen Subjekt aufdrängen kann – ein Problem, welches das des Unbewussten beinhaltet, sich aber nicht darauf reduzieren lässt. Komplementär dazu gehört schließlich, viertens, die Frage nach dem Selbst-verhältnis, das durch das Phantasma ermöglicht wird: Denn es ist gerade seine nur partielle Alterität, die dem Ich sein verborgenes Gesicht entdecken, eine Dimension seiner selbst eröffnen kann, die es nicht (oder nicht mehr) kannte und die ihm so zu unvermuteten schöpferischen Fähigkeiten, verbor-genen Erinnerungen oder unbewussten Trieben Zugang gewährt. Dies im-pliziert letztlich, dass das Phantasma die Identität des Subjekts in der Zeit sowohl bestätigen als auch in Frage stellen kann.

Auf diese Weise fügt sich das Phantasma in eine Reihe von Konzeptualisie-rungen des Selbstverlusts oder zumindest einer zweifelhaften Subjektivität ein. An diesen orientiert sich die Dreiteilung der vorliegenden Arbeit: Jeder dieser Teile präsentiert ein Modell, das man als Ichpathologie bezeichnen könnte, das aber – von der Negativität her, wie es der Entstehungslogik der Psycho-logie entspricht – ein positives Subjektmodell entwirft. Daraus folgen von-einander abweichende Konzeptionen des Phantasmas – sofern nicht umge-kehrt die Ichtheorien aus Letzteren hervorgehen. Die Theorie des Phantasmas entwickelt sich nacheinander innerhalb dreier verschiedener Rahmen, die als ein Denken der Alienation, der Desaggregation und der Depersonalisation zu beschreiben sind. Natürlich handelt es sich bei diesen Begriffen um Extra-polationen: Es soll nicht behauptet werden, dass deren empirische Korrelate in den entsprechenden Zeiträumen den einzigen Gegenstand psychologischer Reflexion abgäben. Dennoch wird zu zeigen sein, dass der Umstand, dass sie

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zu bestimmten historischen Zeitpunkten als zentrale Reflexionsgegenstände in Erscheinung treten, von einem Organisationsprinzip der psychologischen Re-flexion zeugt, das erlaubt, ihre Bedeutung auch auf einer allgemeineren Ebene zu verorten. Die drei Zeitabschnitte, die im Weiteren unterschieden werden sollen, seien hier bereits einleitend skizziert und an bestimmte Eckdaten ge-bunden, die für die vorgeschlagene Periodisierung signifikant sind.

Das erste Kapitel ist der Zeit von 1840 bis 1870 gewidmet, die sich als diejenige beschrei ben lässt, in der medizinisches und philosophisches Wissen zum Bereich der Psychologie zu konvergieren beginnen. In diesem Kontext stellt vor allem die Halluzination eine theoretische Herausforderung dar, da in ihr die Imagination als ideelles Vermögen und die Körperlichkeit der Wahr-nehmung zusammentreffen. In einer noch vom Idealismus geprägten Auf-fassung wird an der Dualität von Körper und Geist festgehalten und das Körperlichwerden des Imaginierten – selbst im Traum – als eine Entfrem-dung gedacht, die, wie es der (aus dem Französischen übernommene) Begriff Alienation zum Ausdruck bringt, auch eine Entfremdung des Selbst im Wahn-sinn bedeutet. Dieser Begriff fasst daher das in dieser Konzeption implizierte Subjektmodell zusammen: Das Subjekt spaltet sich in ein ›eigentliches‹, geistig konnotiertes, und ein ›fremdes‹, anderes, körperlich konnotiertes auf, etwa wenn es träumt. Die Form des Phantasmas steht in Analogie dazu: Es setzt sich aus einem gedanklichen und einem bildlichen Teil zusammen, wobei davon ausgegangen wird, dass der bildliche, physische den ideellen, geistigen Teil verkörperlicht, dabei aber entstellt. Auch wenn nur unter Vorbehalt behauptet werden soll, dass sich um das Jahr 1840 eine wesentliche Zäsur im psychologischen Diskurs ereignet, kann das Erscheinen von Jean-Étienne Dominique Esquirols Des maladies mentales von 1838 als signifikanter Aus-gangspunkt markiert werden, da dieses Werk als Auslöser der Debatte um die Halluzination fungiert.

Das zweite Kapitel erfasst einen Umbruch, der um 1870 stattfindet und das psychologische Denken bis zur Jahrhundertwende bestimmt. Die Beob-achtung, dass zwischen den Halluzinationen und den bloßen Vorstellungs-bildern nur ein gradueller Unterschied besteht, stellt die Trennbarkeit und Gegensätzlichkeit von Körper lichem und Psychischem in Frage. Die Unter-suchung der physiologischen Bedingungen mentaler Phänomene, insbe-sondere des Reflexbogens und der unterschiedlichen Funktionen der Hirn-regionen, tritt in den Vordergrund. Hierdurch kommt es zur Etablierung des psychophysischen Parallelismus als eines Leitmodells, in dem jedes Denken mit einem körperlichen Prozess korreliert sein muss – was manche Autoren sogar dazu bringt, das Bewusstsein als letztlich entbehrliche Begleiterschei-nung dieses Prozesses aufzufassen. Damit wird die Einheit des Geistigen endgültig zerstört und die Annahme eines (physiologischen) Unbewussten

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unausweichlich.4 Die Ichproblematik dieser Zeit ist folglich eine der Einheit des Subjekts und soll mit dem Begriff der Desaggregation beschrieben wer-den: Wie kann sich das Ich einer zeitlich konstanten Identität versichern, und wie verhindern, dass es sich in ein doppeltes oder gar dreifaches Bewusst-sein zersetzt? Im Rahmen dieser Problematik bezieht sich die Theorie des Phantasmas vor allem auf die unsichere Verfügbarkeit von Erinnerungen und die Verwandlung unbewusster Erinnerungen in Bewegung, wie sie für die Hys-terie charakteristisch sind. Wenn der Wendepunkt zu diesem Zeitraum hier im Jahr 1870 verortet werden soll, so lässt sich dies am Erscheinen von Hippolyte Taines De l’intelligence festmachen, eines Werks, das geistige Aktivität auf den Sensualismus gründet und das Bewusstsein als einen Kampfplatz von Vorstel-lungsbildern begreift, die miteinander um Aufmerksamkeit konkurrieren.

Um 1900 erfolgt ein weiterer fundamentaler Wandel im psychologischen Denken. Das dritte Kapitel beschreibt die neue Konzeption des Psychischen, die sich nun etabliert: Gegen die Desaggregationsidee wird versucht, eine neue Einheit des Subjektiven zu denken, wenngleich eine, welcher der Rückweg zum Idealismus des 19. Jahrhun derts nicht mehr offensteht. Sie beruht statt-dessen auf Funktionalität: Mag die Einheit des Ich auch nicht mehr gegeben sein, so lässt sie sich doch herstellen, notfalls sogar gegen diejenigen psychi-schen Kräfte, die dem widerstehen, wie bei Freud. So erklärt sich das in die-sem Zeitraum sehr ausgeprägte Interesse für Neurosen und Obsessionen. Die Logik des fortwäh renden Herstellens von Subjektivität aus der Objek-tivität und umgekehrt bildet den Grundstein der Subjekttheorie dieser Zeit. Dies zeigt sich insbesondere an der Krankheit der De personalisation, die als psychopathologisches Paradigma des frühen 20. Jahrhunderts gewertet wer-den soll, insofern als sie, als eine Art pathologisch gewordener phänomeno-logischer Reduktion, die Nichtkonvergenz zwischen wahrnehmendem Ich und objektiviertem Selbst auf den Begriff bringt. Die Theorie des Phantas-mas reiht sich hier ein, denn es impliziert nun eine Beziehung zum Imagi-nierten als Objekt, die diesem ein Eigenleben verleiht, welches sich letztlich auch gegen das Subjekt selbst wenden kann, wie in den Obsessionen. So lässt sich das Phantasma dieser Zeit als eine unbestimmt zwischen der Objek-tivität der Sache und der Subjektivität ihrer Repräsentation verharrende Pseudo-Präsenz beschreiben. Natürlich liefert hier das Erscheinen von Freuds Traumdeutung 1900 das für die Wende entscheidende Datum; doch Edmund Husserls Logische Untersuchungen und Théodule Ribots Essai sur l’ima gi nation

4 Laut Marcel Gauchet können die Jahre von 1870 bis 1900 als »Goldenes Zeitalter« der Psychophysiologie und der Reflextheorie gelten, die eine Kontinuität zwischen nerv-licher und zerebraler Aktivität feststellt und damit die Annahme eines »zerebralen Unbewussten« erfordert. Marcel Gauchet: L’inconscient cérébral, Paris 1992, vgl. S. 171.

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créa trice sind für das neue Denken ähnlich emblematisch. Der historische Durchgang wird, arbiträrerweise vielleicht, mit dem Jahr 1930 beschlossen – es sei denn, man sähe mit Foucault das Erscheinen von Ludwig Binswangers Traum und Existenz als Ausgangspunkt für eine neue Bestimmung der Ima-gination, diesmal als ›ontologischer‹, an. Für die auf jenes Jahr folgende Peri-ode sollen immerhin einige hypothetische Überlegungen angeboten werden, die das dritte Kapitel beschließen.

Natürlich stimmen die hier vorab skizzierten epistemischen Modelle nicht exakt mit den angeführten Daten überein; diese sollen zunächst nur als In-dizien für den Zeitpunkt gelten, an dem sich ein neues Denkmodell heraus-kristallisiert. Zweifellos wird mit dieser Periodisierung die Geschichte der Psychologie auch nicht neu geschrieben. Ziel dieses ersten Teils dieser Arbeit ist vor allem, nachzuweisen, dass das psychologische Denken jedes dieser Zeiträume als ein kohärentes System beschrieben werden kann, dessen Logik selbst scheinbar konträre Positionen integriert, und dass die Ersetzung des Systems zum gegebenen Zeitpunkt im Ganzen geschehen muss, um eine erneute Herstellung konzeptueller Kohärenz auf veränderter Basis zu ermög-lichen. Das bedeutet zudem, dass die Rede vom epistemischen Fundament keine verborgene Struktur bezeichnen kann, von der die Erkenntnissubjekte selbst nichts wüssten: Gemeint ist mit diesem Begriff ebensosehr das, was Wissen strukturiert, wie das strukturierte Wissen selbst. Für die Praxis der folgenden Analysen heißt dies, dass so weit wie möglich mit den von den untersuchten Autoren selbst verwendeten Begriffen gearbeitet wird, eine übergeordnete Begrifflichkeit jedoch dort Verwendung findet, wo strukturell vergleichbare Modelle sich unterschiedlicher Termini bedienen.5 Es geht also primär um Konzept-, nicht um Begriffsgeschichte.

Die drei Kapitel dieses Teils sind parallel aufgebaut: Einem ausführlicheren historisch-beschreibenden Teil, der verschiedene im analysierten Zeitraum theoretisches Interesse erregende Erscheinungsweisen des Phantasmas auf-fächert und Evolutionslinien aufzeigt, folgt jeweils ein systematischer Teil. Jeder dieser systematischen Teile ist nach einer der genannten ›Ich-Patho-logien‹ betitelt und sucht den je vorangehenden historischen Überblick zu verdichten, den ihm zugrundeliegenden Zusammenhang herauszuarbeiten. Erkennbar werden soll so, dass sich zwischen einem ›nahsichtigen‹ Blick auf den Aufbau der Texte und einer stark abstrahierenden epistemologischen Lektüre klare Verbindungslinien herstellen lassen.

5 Obwohl sie Foucaults Ansatz grundsätzlich nahesteht, folgt diese Arbeit ihm demnach nicht darin, nach diskursiven Regeln im Sinne eines »Vorbegrifflichen« ( préconceptuel ), seinen Anwendern nicht Präsenten zu suchen, da es ihr gerade darum geht, diskursiv Strukturiertes und erkenntnistheoretisch Motivierbares nicht als Gegensatz zu begrei-fen. Vgl. Foucault, L’archéologie, S. 79-84.

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I. Gedanken-Bilder und Alienation (1840-1870)

Einleitung

Um festzustellen, was im ersten der hier untersuchten Zeiträume als Phantas-ma bezeichnet werden kann, ist ein erneuter Blick auf die Begriffsgeschichte des Wortes hilfreich. Als »phantasme« bezeichnet das französische medizini-sche Wörterbuch zu Beginn des 19. Jahrhunderts die »écarts de l’imagination qui lui font reproduire les objets propres à exciter le sens de la vue, quoique ces objets ne soient pas présens«.1 Es hat also hier die Bedeutung von Hallu-zination. Letzteren Begriff führt Jean-Étienne Dominique Esquirol 1817 in den medizinischen Diskurs ein und liefert dabei eine theoretische Begrün-dung für das Phänomen, an die ein von den 1830er Jahren an wachsendes und (in Deutschland wie Frankreich) seinen Höhepunkt in den beiden fol-genden Jahrzehnten erreichendes allgemeines Interesse für die Halluzination anknüpft.2 Vermutlich durch Esquirols Einfluss verstetigt sich der Gebrauch dieses Begriffs in Frankreich schnell, während die Verwendung des Wortes »Phantasma« für dasselbe Phänomen in Deutschland fester etabliert zu sein scheint, jedenfalls noch bis ins spätere 19. Jahrhundert üblich bleibt.3

Nur wenig später kündigt sich indessen ein Rückzug des Phantasmas in die Innerlichkeit an. Als Indiz für den sich wandelnden Gebrauch des Be-griffs selbst lässt sich dessen Verwendung bei Arthur Schopenhauer werten, der die »leibhaftig[e] und von der Wirklichkeit ununterscheid bar[e]«, also offenbar als Halluzination zu verstehende »Vision« einem »bloßen Phantas-ma« gegenüberstellt, das demnach wohl eine Phantasievorstellung von weni-ger als sinnlicher Stärke bezeichnet.4 Von der Verinnerlichung des Phantas-mas zeugt aber auch der Umstand, dass sich der Halluzinationsdiskurs nach und nach zum Traum hin verschiebt. In allen Halluzinationstheorien seit Esquirol ist der Traum schon präsent, wenn nicht gar ein obligatorischer Bezugspunkt. Und genau in der Mitte des Zeitraums zwischen 1840 und

1 Dictionnaire des sciences médicales, Paris 1812-22, hier: XLI, 1820, S. 203. Im Folgenden DSM.

2 Vgl. Kurt Wietrzychowski: Beitrag zur Geschichte der Theorie der Halluzinationen, München 1961, S. 9; James, Vies secondes, S. 75-76.

3 Vgl. Wietrzychowski, Theorie der Halluzinationen; Allgemeine Encyklopädie der Wissen-schaften und Künste, 3. Section, XXI, Leipzig 1846; Allgemeine deutsche Real-Encyklopä-die für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon, XI, Leipzig 1846.

4 Arthur Schopenhauer: »Versuch über das Geistersehn und was damit zusammen-hängt«, in: Parerga und Paralipomena [1851], Sämtliche Werke, IV, Frankfurt a. M. 1989, S. 348.

einleitung

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1870 löst er die Halluzination als Leitreferenz des Phantasmatischen ab. So findet 1855 nicht nur eine Diskussion in der Société Médico-psychologique statt, welche die wichtigsten Halluzinations-Spezialisten der Zeit versammelt; es erscheint auch das Werk, das kurz zuvor für die Beantwortung einer von der Académie des sciences morales et politiques ausgelobten Preisfrage zum Traum ausgezeichnet worden war.5 Das Verhältnis kehrt sich um: von Hallu-zinationen spricht man nun fast nur noch im Rahmen von Traumstudien. Dass die wichtigen Traumtheorien dieser Zeit in den 1860er Jahren erscheinen, weist in die gleiche Richtung. Doch behalten Traum und Halluzination zwi-schen 1840 und 1870 gemeinsam einen paradigmatischen Wert für das Phan-tasma: Sie stehen in einer engen Verbindung, die durch eine Ambivalenz zwischen Pathologischem und Normalem gekennzeichnet ist.

Wie sich zeigen wird, kann aufgrund dieser Ambivalenz der Begriff der aliénation als Schlüsselkonzept sowohl für die Halluzinations- als auch die Traumtheorien dieser Zeit gelten, ein Begriff, der in der französischen Psy-chiatrie den Wahnsinn bezeichnet, im 19. Jahrhundert aber weit über den psychiatrischen Diskurs hinaus von Bedeutung ist. Der nicht erst seit Es-quirol topische Vergleich des Traumes mit dem Irrsinn, von Jacques-Joseph Moreau de Tours in der Jahrhundertmitte bis zum Postulat einer völligen Identität beider getrieben, trägt die Alienation über den Weg des Phantasmas bis ins Innerste des vermeintlich ›normalen‹ Subjekts selbst hinein. Michel Foucaults Feststellung, dass mit Philippe Pinel und Samuel Tuke zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Neudefinition des Wahnsinns erfolgte, durch die der Irre nicht mehr als das Andere der Gesellschaft, sondern als das Andere seiner selbst galt,6 lässt sich hinzufügen, dass der Wahnsinn als Selbstenteig-nung im neunzehnten Jahrhundert noch weiter verinnerlicht und auch dem ›normalen‹ Subjekt zugemutet wird, nämlich wenn es träumt. Dass das Phan-tasma dem Ich somit ein entfremdetes, wenn nicht gar verrücktes Inneres enthüllt, erfordert jedoch ein Subjektmodell, das imstande ist, diesem Um-stand Rechnung zu tragen. Diese Aufgabe fällt dem Konzept der »Seelenver-mögen«, darunter insbesondere der Einbildungskraft, dem Gedächtnis und dem Willen zu, denen im Gesamtmodell einer Psyche, die das Fremde im Eigenen birgt, zentrale Rollen zugewiesen werden.

5 Albert Lemoine: Du sommeil au point de vue physiologique et psychologique, Paris 1855; vgl. Susanne Goumegou: Traumtext und Traumdiskurs: Nerval, Breton, Leiris, München 2007, S. 96. Die vorliegende (in ihrer französischen Originalfassung zeitgleich entstan-dene) Studie teilt mit Goumegous Arbeit einen großen Teil der Materialbasis und geht auf der historisch-deskriptiven Ebene (zumindest für die Zeit von 1840 bis 1870) folg-lich häufig mit ihr konform. Die Quellen sollen hier allerdings auf ein systematischeres epistemologisches Fundament gestellt werden.

6 Michel Foucault: Histoire de la folie à l’âge classique, Paris 1972, S. 597, vgl. S. 637.