Schreiben auf Jüdisch? Writing in Jewish?

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This article was downloaded by: [Northeastern University] On: 14 November 2014, At: 00:26 Publisher: Routledge Informa Ltd Registered in England and Wales Registered Number: 1072954 Registered office: Mortimer House, 37-41 Mortimer Street, London W1T 3JH, UK The Germanic Review: Literature, Culture, Theory Publication details, including instructions for authors and subscription information: http://www.tandfonline.com/loi/vger20 Schreiben auf Jüdisch? Writing in Jewish? Amir Eshel Published online: 30 Mar 2010. To cite this article: Amir Eshel (2000) Schreiben auf Jüdisch? Writing in Jewish?, The Germanic Review: Literature, Culture, Theory, 75:2, 91-98, DOI: 10.1080/00168890009597412 To link to this article: http://dx.doi.org/10.1080/00168890009597412 PLEASE SCROLL DOWN FOR ARTICLE Taylor & Francis makes every effort to ensure the accuracy of all the information (the “Content”) contained in the publications on our platform. However, Taylor & Francis, our agents, and our licensors make no representations or warranties whatsoever as to the accuracy, completeness, or suitability for any purpose of the Content. Any opinions and views expressed in this publication are the opinions and views of the authors, and are not the views of or endorsed by Taylor & Francis. The accuracy of the Content should not be relied upon and should be independently verified with primary sources of information. Taylor and Francis shall not be liable for any losses, actions, claims, proceedings, demands, costs, expenses, damages, and other liabilities whatsoever or howsoever caused arising directly or indirectly in connection with, in relation to or arising out of the use of the Content. This article may be used for research, teaching, and private study purposes. Any substantial or systematic reproduction, redistribution, reselling, loan, sub-licensing, systematic supply, or distribution in any form to anyone is expressly forbidden. Terms & Conditions of access and use can be found at http://www.tandfonline.com/ page/terms-and-conditions

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Schreiben auf Jüdisch? Writing inJewish?Amir EshelPublished online: 30 Mar 2010.

To cite this article: Amir Eshel (2000) Schreiben auf Jüdisch? Writing in Jewish?, TheGermanic Review: Literature, Culture, Theory, 75:2, 91-98, DOI: 10.1080/00168890009597412

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THE GERMANIC REVIEW

Schreiben Writing

auf Judisch? in Jewish?

AMIR ESHEL

erusalem irn Winter. Nachrnittags fiihrt der aus der Bukowina stammende J Aharon Appelfeld den ungarisch-judischen Schriftsteller Imre KertCsz durch die StraRen des judischen Viertels. Als beide in einer Synagoge den Betenden zusehen, bemerkt KertCsz: “Ich bin ein anderer Jude. Was fur einer denn? Ein Keinerlei-Jude. Schon seit langern suche ich weder Heirnat noch Identitat. Ich bin anders als sie, anders als die anderen, anders als ich.”’ “Ich bin Jude”, folgte kurzlich ein anderer ungarisch-jiidischer Schriftsteller, Gyorgy Konrhd, “ich bin anders als die anderen. Wenn ich mich zu meinern Judentum bekenne, so bekenne ich mich eher zu meinem Anderssein als zur Gemeinschaft mit einem Volk, dessen Religion der Monotheismus ist.”’ Judesein als bewuBtes Anders- sein, als Selbstentwurf einer unaufhebbaren Differenz, nicht zuletzt zu anderen Juden; Judesein als die Abwesenheit von Angleichung, von moglicher oder gewunschter vollstandiger Assimilation.

KertCsz und Konrhd sprechen am Ende des 20. Jahrhundert aus der Perspek- tive ihrer Erfahrung, ihres Selbstverstandnisses. Ihre Reflexionen des modernen judischen Daseins, nicht zuletzt als europaische Schriftsteller spricht fur viele an- dere. Auch fur solche, die sich ihrer jiidischen Herkunft friiher stellen muhen: Ob Marcel Proust oder Franz Kafka, Bruno Schulz, Paul Celan, Elias Canetti oder Edrnond JabCs: ihr Judesein IaBt sich kaurn auf einen Nenner bringen, ihre Literatur und die Weise in der darin jene Herkunft reflektiert und literarisch transfonniert wird ebenso wenig. Doch, wie ist dieses Selbstverstandnis, das so empfundene, selbstgewahlte Anderssein dennoch zu begreifen? Wie ist die Wahl einer komplexen, widerspriichlichen Nicht-Identitat durch Menschen zu verste- hen, die gewiB nicht vie1 vorn traditionellen Judenturn hielten? Wie ist das An- derssein als eine bezeichnende Form judischen Selbstverhaltnisses zu verstehen? Worin besteht das unterscheidende Moment fur Autoren, die sich bewuRt zum Ju- dentum bekennen, allerdings einem Judentum, das in keiner Identitat aufgeht, sich in keinern Synonym auflost?

Das vorliegende Thernenheft stellt Beitrage jiingerer amerikanischer, deut- scher und israelischer Wissenschafter vor, deren Arbeit dem Komplex der

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deutsch-judischen Literatur und Kultur gewidmet ist. Unter dem Titel Schreihen auf jiidisch? Writing in Jewish? wenden sich die Beitrage der Frage zu, ob und wie die Kategorie “Judisch” in der Literatur- im engerem und in der Geschichts- und Kulturwissenschaft im breiteren Sinne an Prazision und Konturen gewinnen kann. Bei der Suche nach einem koharenten Begriff einer ‘judischen Literatur’ handelt es sich, wie Hana Wirth-Nesher deutlich formulierte, um eine zumindest seit der Aufklarung stattfindende, unentschiedene, vielleicht nicht zu entschei- dende Disku~s ion .~ Nicht vom abstrakten, essentialistischen oder gar ideologi- schen Standpunkt her wird im folgenden die Frage nach dem Judischen gestellt. Ebensowenig wird nach Formen der Reprasentation ethnischer, religioser oder kultureller ‘Inhalte’ gesucht. Allen hier versammelten Beitragen ist die Einsicht gemein, daB die Literatur der modernen judischen Schriftsteller eben auf keine festumrissene Identitat schliel3en laBt, auf keine alle einschlieBende Weltan- schauung reduziert werden kann. Ihnen liegt die Annahme zugrunde, daB sich diese Literatur nicht in eine homogene religiose Uberzeugung zuriickubersetzen laat; daB diese Literatur eben die Stelle markiert, an der das literarische Wort nicht weiter subsumierbar bleibt, dabei aber das Judesein, haufig das Anderssein der Autoren, gerade dadurch zum Ausdruck bringt.

Den AnstoB fur dieses Heft gaben zunachst zwei Kritiken, die ich im Zusam- menhang des Erscheinens von Klaus Brieglebs Bei den Wassem Babels. Heinrich Heine. Jiidischer Schrifrsteller in der Moderne las.4 Dabei fie1 mir auf, daB sich die Kritiker kaum veranlaBt sahen, Brieglebs Versuch, das Judische als eine po- etische, philosophische und historische Kategorie in der Literatur zu denken, emst zu nehmen. Vielmehr beschrankten sie sich darauf, die Kategorie und die Lekture zu desavouieren: “Judischer Schriftsteller?”5 fragte Benedikt Erenz in der Literaturbeilage der Zeit: “So wie Reinhold Schneider ein katholischer Schriftsteller war? Oder mehr wie Goethe ein evangelischer? Keller ein schweiz- erischer? War, ist Heines Schreiben judisch? Wie schreibt man auf judisch? Immer Arger rnit den Adjektiven”. Gerhard Kaiser stellte, bezogen auf Brieglebs Titel, apodiktisch fest: ,,Heine war ein deutscher Schriftsteller in der Moderne mit judischem Hintergrundcc [meine Hervorhebung, A. E.].‘

Immer Arger rnit den Adjektiven? Besonders rnit dem bestimmten? Als diese Kritiken erschienen sind, habe ich mich intensiv rnit der Rhetorik der Zeit in der Lyrik judischer Dichter, die im Angesicht der Shoah schrieben, befaat.’ Dabei versuchte ich das Judische als eine brauchbare, wenn auch zu reflektierende philologische Kategorie zu venvenden und ihrem unubersehbaren Verhaltnis zur modemen Poetik judischer Lyriker nachzugehen. Meine Pramisse war, daB diese Autoren, wie seinerzeit Heine, nicht ausschlieBlich deutsche Lyriker “mit Judi- schem Hintergrund” waren. Zwar schrieben sie Deutsch und waren in der deutschen Sprache und Kultur beheimatet, ihre Lyrik ist jedoch, ohne das Judi- sche zu beriicksichtigen, kaum lesbar. Wahrend des Schreibens wurde mir jedoch deutlich, daB das Judische nicht allein in der Figuration einzelner Motive, in der Auswahl der Stoffe oder in der thematischen Gestaltung bestehen kann. Vielmehr kann in dieser Lyrik eine Rhetorik horbar werden, die poetisch - etwa durch

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eigentumliche temporale Strukturen und komplexen Allegorien - der Zasur un- serer Zcit, der Shoah, jiidisch gedenkt.

Im Laufe des Schreihens und danach konnte ich jedoch feststellen, daB sich manche Autoren der Celan-Forschung berufen sehen, ahnlich wie im Falle Heines oder Kafkas, die Lekture des Jiidischen als ideologisch motiviert und dabei verkennend-reduktiv zu disqualifizieren.x So stellte beispielsweise kurzlich Christine Ivanovii- in einem Beitrag zur Celan Rezeption in den USA fest, daB John Felstiners Celans Monographie “moralische Intention” aufweist, die “von der amerikanischen Position” her verstanden werden kann:Y Felstiners “Analy- severfahren” sei, so IvanoviC, “von der amerikanischen Position (und von der amerikanischen Geschichte her)” einsehbar. Ja, Felstiners Lekture sei lediglich aufgrund seines “ideologische[n] Standpunkt[s]” zu erkliiren: Felstiner, der “zur ,Rettung”’ Celans angetreten sei. mulJte ihn also - hier ist der apodiktische Ton bezeichnend - ”gerade darin verfehlen”. “’ Doch, mit welcher Begriindung laBt sich eine Lekture des Judischen, anders etwa als die von IvanoviC unternommene Aufdeckung der Bezuge zur russischen Literatur, von vorne herein als ideolo- gisch motiviert diskreditieren? Wer bestimrnt, uber eine Fehllekture? Hier ist es auffallig, daB eine Komparatistin und Germanistin, die ansonsten mit hochster Prazision forrnuliert, zur nebulosen jedoch vielsagenden Ausdrucksweise (“von der amerikanischen Geschichte her einsehbare”) als ein Argument gegen eine ihres Erachtens das Judische uberbetonende Lesart greift. Ohne die Grenzen einer jeden, immer schon voraussetzenden Deutung erkennen zu wollen, sug- geriert hier Ivanovit, daB ein anierikanisch-judischer Literaturwissenschafter - anders etwa als ein deutscher oder europaischer - verstandlichenveise Celans Lyrik nicht korrekt zu lesen imstande ist. Ahnlich wie Benedikt Erenz und Ger- hard Kaiser, wenn auch rafinierter im Stil, blendet IvanoviE die Tatsache aus, daB die Relativierung und Hinterfragung des Judischen gerade im Falle deutsch- judischer Schriftsteller auf ein durchaus nicht unproblematisches Herausstre- ichen des Deutschen hinauslauft.

Das Unbehagen bezuglich des Adjektivs judisch, die Hinterfragung einer Lek- ture, weil sie angeblich ideologisch motiviert ist, kann zum Teil mit dem natio- nalsozialistischen MiBbrauch des Begriffs ‘Judische Literatur’ erklart werden. Galt doch diese Literatur fur die volkische Germanistik als Synonym einer ent- arteten, dekadent-pazifistischen Kunstform. I I Es ist somit verstandlich, daB kurz- lich Ernst Gombrich mit scharfer Polemik auf die Gefahren einer Stilisierung der deutsch-judischer Kultur hinwies: Jeder Gebrauch des Begriffs ‘Judische Li- teratur’ ruft UnmiBverstandlich auch den antisemitischen Diskurs in seinen radikalsten Formen in Erinnerung.’* Unter dem Deckmantel eines von der Reli- gion und dem Vorstellungsraum ‘Nation’ befreiten literaturwissenschaftlichen Diskurs hat jedoch die Nachkriegsgermanistik von der Beschaftigung mit dem wie auch immer komplexen, gar widerspriichlichen Selbstverstandnis judischer Schriftsteller als Juden weitgehend abgesehen. Diese Haltung scheint sich je- doch in den letzten Jahren allmahlich zu andern: Wahrend sich friihere Versuche, das Judische in der deutsch-judischen Literatur ausfindig zu machen haufig auf

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die AuRenseiterrolle des Juden konzentrierten,’3 verstarkt sich nun zunehmend die Suche nach einer genaueren Bestimmung des imtierenden Adjektivs.

Ausgehend von der Definition Hans Otto Horchs und Itta Shedletzkys - deutsch-judische Literatur sei das “literarische Werk judischer Autoren in deutscher Sprache, in dem explizit oder implizit judische Substanz erkennbar ist”14- stellte Hans J. Schiitz 1992 seine deutsch-judische Literatur im Uberblick vor.“ Er bot hierin einen fluchtigen Uberblick an, ohne jedoch die konzeptionelle Frage zu stellen, worin genau das Judische in der Literatur der unzahligen vorgestellten Autoren besteht. Als Thomas Nolden 1995 seine Studie uber das Werk jungerer judischen Autoren vorlegte, wahlte er hierfur den schlichten Titel “Junge Jiidische Literatur.”I6 Nolden verzichtete bewuRt auf die Fragen “was ist judische Literatur?’ und “wer ist judischer Autor?’ mit dem pragmatischen Ver- merk, jiidische Autoren seien solche, die sich als Juden bezeichnen, “entschei- dende Jahre” ihres Lebens in Deutschland oder Osterreich verbrachten, und in deutscher Sprache schrieben.” Schliefilich, in seinem kurzlich erschienen Buch, Von Kafia zu Celan, geht Dieter Lamping soweit von einem eigenen “jiidischen Diskurs” judischer Autoren zu sprechen, ja gar von “judischer Literatur” in deutscher Sprache.Is All diesen Versuchen liegt eine Vorstellung des Judischen zugrunde, die eine weitgehend umrissene, stetige Einheit suggeriert. Dabei wer- den vollig unterschiedliche Gestalten wie Jean Amkry und Man& Sperber, Robert Menasse und Rafael Seligmann unter der Einheitskategorie des Judischen behandelt, haufig ohne die zum Teil erheblichen Differenzen auch im Laufe des Lebens einzelner Autoren zu beachten. Ofters verwandelt sich hierbei das Judi- sche in eine ahistorisch imaginierte abgeschlossene Figur, die uber Zeit und Ort hinweg immer dieselbe Konstitution aufweist.

Ganz anders als dieser Hang zur Fixierung des Judischen in einem selbstindi- gen Diskurs - liegt nicht gerade das Besondere dieser Literatur in ihrer Weigerung jeder eindimensionalen Ubersetzung? - gehen die Herausgeber des Yale Companion to Jewish Writing and Thought in German Culture, Sander L. Gilman und Jack Zipes in ihrer Einleitung vor. Sie verweisen darauf, daB jeder Versuch einer statischen Definition des Judischen fraglich erscheinen muR. l 9

Und doch, auch wenn solche essentialistischen Kategorien wie ‘Jude’ und ‘Deutscher’ gerade aus der Perspektive der Zeit nach der Emanzipation nur in ihrer Widerspriichlichkeit und Briichigkeit erkannt werden sollen, bieten viele der im Band enthaltenen Eintrage deutliche Hinweise auf die konkrete Signatur des Judischen. Ahnlich gehen die Autoren des vorliegenden Heftes vor. Sie stellen die Frage nach dem Judischen gerade hinsichtlich des Werkes von Au- toren, deren Werk sich, wie bei Imre KertCsz und Gyorgy Konrad nicht auss- chliejlich und definitorisch als Judisch bezeichnen IaRt. Dennoch fragen sich die hier versammelten Autoren hinsichtlich des Werkes von Karl Kraus, Franz Kafka, Grete Weil und Aharon Appelfeld, was die Kategorie des Judischen konkret verspricht, was sie verschweigt.

In seinem Beitrag uber Karl Kraus geht Paul Reitter auf das Werk eines Autors ein, dessen publizistische Arbeit haufig als nicht ganz frei von antisernitischen

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Wendungen oder als ein Ausdruck judischen Selbsthasses angesehen werden kann. Ein Umstand, den Benjamin, Kafka und Scholem nicht daran hinderte, Kraus als judischen Autor zu bezeichnen. Um jedoch das Judische im Falle Kraus lesbar zu machen, soll, so Reitter, vom Inhaltlichen abgesehen werden. Ausgehend vom Terniinus “Judische Mimesis” konzentriert er sich auf die besondere journalistische Form, die Kraus entwickelte und kultivierte: Da nam- lich das journalistische Schreiben weitgehend als eine Form ‘jiidischen Schreibens’ galt, vermochte es Kraus dieses Vorurteil rhetorisch gegen sich zu wenden, urn dem Genre neue, bisher unbekannte asthetische Horizonte zu eroff- nen. Reitter zeigt, wie das beriichtigte ‘Mauscheln’ in Kraus’ journalistischem Schreiben als eine Form judischer Mimesis zu betrachten ist. So gelesen ist es weniger Ausdruck von Selbstferne oder Verinnerlichung des Vorurteils, als vielmehr eine Facette inodernen judischen Verhaltnisses zur Sprache. Kein Wun- der also, daB Kraus’ Schreibweise Menschen wie Berthold Viertel dazu bewegte, Kraus in seiner Ubertriebenheit. Unduldsamkeit, Rachsucht und Halsstarrigkeit, als einen, so wortlich, “Erzjude” zu bezeichnen.

In ihrem Beitrag iiber Franz Kafkas Ein Landurzr setzt sich Rochelle Tobias mit der Deutung des Arztes als eine Metapher judischer Folklore - hier ist die der Figur des Zudiks gemeint - auseinander. Anders als solche friihere Versuche in der Erzahlung das Folkloristische zu entdecken, beobachtet Tobias in Kafkas Figuren Aspekte des uberlieferten Ur-Heilers, des gekommenen Erlosers, nam- lich Christus. In Kafkas Landurzt, so Tobias, werden sowohl Patient als auch Arzt in dem doppelten Aspekt der Figur Christus - als Heiler und Verletzter - fi- guriert. Dabei nimmt die christliche dialektische Spannung zwischen Korper und Geist eine allegorische Form an: Indem der Arzt den Tod allegorisch darstellt, hilft er seinem Patienten beim Sterben. Durch das Erzahlen gibt er einer sonst un- greifbaren geistigen Wirklichkeit, namlich dem Tod, eine bildhafte Gestalt. To- bias pladiert dafiir den Geist in diesem Text nicht als ewiges Leben, sondern als ewigen Tod zu deuten. Das Erziihlen riickt in den Mittelpunkt des Verhaltnisses zwischen Arzt und Patient, auch wenn es einen vor dem Tod nicht retten, nicht erlosen kann. Hier ninimt das Erzahlen eine neue Form an: Es stillt das rastlose Sehnen des Geistes nach Ewigkeit. Diese Ewigkeit oder, mit Hegel gesprochen, diese schlechte Unendlichkeit kann in den endlosen Wanderungen des Arztes beobachtet werden. Kafkas Text kehrt dabei die christliche Dialektik urn und 1aBt die Spannung zwischen Materie und Geist ungeliist: Der Patient stirbt, und der Arzt ist zum Wandern verdammt. Keine Heilung wird folglich zu erwarten sein, nur das fortdauernde Erziihlen als ein Verlangen nach ewigem Leben.

Im Mittelpunkt des Beitrags von Stephan Braese steht Grete Weils Erziih- lungsband Happy, sugte der Onkel, der im Sommer 1968 erschien. Die drei Erzahlungen schildeni die Erlebnisse und Eindrucke einer deutschen Judin wahrend einer Reise in die USA. Braese stellt den Band in den Kontext der Po- sitionen, die sich in der kritischen Offentlichkeit Westdeutschlands in Hinblick auf die USA seit Anfang der 60er Jahre auszubilden begonnen hatten. Als ein li- teraturpolitisch prominentes Beispiel fur die weitverbreitete Reserve gegenuber

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den USA unter dem Eindrck ihres militiirischen Engagements in Vietnam wahlt er die Princetoner Tagung der Gruppe 47, deren Vorgeschichte und Verlauf un- trennbar sind von der entschiedenen Kritik vieler ihrer Mitglieder vor allem an der Politik der USA gegenuber Vietnam, aber auch gegenuber der eigenen afroamerikanischen Minderheit. Diese Positionen teilt auch die Ich-Erzahlerin der drei Texte Weils; ja, als ehemalige Verfolgte der NS-Rassenpolitik wahnt sie sich in besonderer Weise mit den Afroamerikanern etwa Harlems solidarisch. In der direkten Konfrontation jedoch erweist sich dieser Fluchtpunkt der eigenen Existenz - die NS-Verfolgungserfahrng - als eine durchaus ambivalenter Aus- gangspunkt: Denn mit der Erinnerung an die Zeit der eigenen Verfolgung 1st zu- gleich die Einsicht in eigenes Versagen vor und nach 1933, aber auch in die letzt- lich einverstandige Teilhabe am aktuellen status quo der westlichen Welt verknupft. Diese Einsicht macht die Briichigkeit offenkundig, die nur beschrank- te Belastungsfiihigkeit jener eigenen politischen Positionen, die neben und mit der Studentenbewegung entwickelt worden waren.

Braese charakterisiert diese Auseinandersetzung der Ich-Erzahlerin als eine radikale ‘Selbstbegegnung’, die Weil in diesen Texten wagt und der west- deutschen Offentlichkeit auf dem Hohepunkt der antiautoritken Bewegung vor Augen stellt. Zum Aspekt des ‘Judischen’ an diesem Schreiben auRert sich Braese erkennbar zuriickhaltend; als eines seiner herausragenden Momente be- zeichnet er die Tatsache, daR auch diese Erziihlungen Weils in ihrem Kern von der westdeutschen Kritik unbegriffen blieben. Diese Erfahrung bildet zweifellos einen gemeinsamen Nenner im Schreiben aller judischen Autoren deutscher Sprache, die gerade uber eine explizite poetische Thematisierung ihrer Verfol- gungserfahrung mit den Deutschen endlich in ein Gesprach zu kommen ver- suchten.

David Suchoff weitet in seinem Beitrag den Horizont der grundlegenden Frage Schreiben auf Jiidisch? uber die Dimension des Deutschen aus. Er wendet sich dem Werk von Aharon Appelfeld zu. Ein Autor, der wie viele deutsch-judische Autoren aus der Bukowina stammt. Doch, auch wenn Appelfeld der Tradition deutsch-judischer Literatur, besonders dem Werk Franz Kafkas zutiefst verpflichtet bleibt, schreibt er seine Romane und Novellen auf Hebraisch. Su- choffs Aufsatz bietet eine Analyse von Appelfelds Roman Tor ha-pela ’of (The Age of Wonders), wobei dem Verhaltnis zwischen Moderne und der deutsch- judischen Erfahrung, wie sie sich in der Gegenwartskultur Israels niederschlagt, zentrale Bedeutung zukommt. Bruno, Appelfelds Protagonist, wachst in einer as- similierten judischen Familie in Osterreich auf. Im Verlauf seines Lebens kehrt Bruno von seinem neuen Zuhause in Jerusalem nach Osterreich zuriick. Dort ver- sucht er sich einen giiltigen Begriff der Tradition der deutsch-judischen Kultur zu machen. Dies vor allem durch den EinfluR, den das Werk Franz Kafkas auf seinen Vater - ebenso ein Schriftsteller - ausubte. Von beachtlicher Ein- dringlichkeit ist dieser Ruckblick schon deshalb, weil Bruno aus der Perspektive seines Daseins als Israeli geschildert wird.

Die Vielfalt sprachlicher, kultureller und geographischer Koordinaten fuhrt

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Bruno zur konsequenter Hinterfragung solcher fixierten Vorstellungen wie ‘Deutsch’, und ‘Judisch’. Gerade die Erfahrung des Vaters, der in einer das Judi- sche ablehnenden Umgebung aufwuchs, macht fur Bruno deutlich, daB in einer sich stets auflosenden, sich andernden Realitat solche klar umrissene ‘Iden- titaten’ kaum haltbar sind. Wie in den Schriften des verehrten Kafkas fuhrt fur Bruno jeder Versuch, das Bezeichnete und das Bezeichnende, die ‘Identitat’ mit ihrer geistigen und materiellen ‘Entsprechung’ auseinanderzuhalten, in die h e . Kafkas Judentum war, so die Erkenntnis, ebenso konstitutiv wie sein Deutsch- oder Tschechesein. Seiner ‘Identitat’ seine Literatur ist somit durch vie1 mehr als die eine oder andere Einzelidentitat bestimmt. Durch die Lekture des Werkes und der Figur Franz Kafkas sowohl ‘Deutsch’ als auch ‘Judisch’ und zwar in einer Weise, die beide nicht auseinanderdividieren laBt, wirft gerade Appelfelds he- braischer Roman die Frage, ob man ‘auf Judisch’ schreiben kann, von neuem auf. Denn, als Folge solcher Rhetorik wie, “war . . . Heines (aber auch Kafkas, Celans) Schreiben judisch?’ oder “Heine war ein deutscher Schriftsteller . . . mit judischem Hintergrund’, kann nun gefragt werden, was es denn eigentlich heiBt, ‘auf Deutsch’ zu schreiben. Worin besteht das ‘Deutsche’ fur Autoren und Au- torinnen, die man als ‘Deutsch’ zu bezeichnen geneigt ist.

DaB die Antwort auf diese Fragen nicht selbstverstandlich ist, belegen die vor- liegenden Beitrage; ebenso, daR die Aufgabe der Literatunvissenschaft gerade im Lesen dieses Unuberlesbaren besteht. Schreiben auf Jiidisch? kann mit der Auf- forderung nach einer Lekture des doppelten, wenn nicht polysemischen Charak- ters der Literatur envidert werden. So konnen auch die prazisen, unvergeRlichen Zeilen Paul Celans gelesen werden:

Unlesbarkeit dieser Welt. Alles doppelt.

Die starken Uhren Geben der Spaltstunde recht, Heiser.

Du, in dein Tiefstes geklemmt, Entsteigst dir fur immer.

ANMERKUNGEN

1. Imre KertCsz, Ich--ein mderer. (Berlin: Rowohlt, 1998). 1 13. 2. Gyorgy Konrad. “Im Angesicht Gottes,” in Jiidisches Sriidrehild Budupesr. Hrsg. von Peter

3. Vgl. Hana Wirth-Neshcr, “Defining the Indefinable: What is Jewish Literature?’ In dies. Ed.:

4. Klaus Briegleb, Bei den Wassem Bubels. Heinrich Heine. judische Schriftsreller in der Mo-

5 . Siehe ders.: Eine Nachlese. Die Zcit, 19. 12. 1997, 46. 6. Siehe ders.: Der Full Heine oder der Didrer. Heine? In Merkur 587, Fcbruar 1998, 171-175,

Haber. (Frankfurt am Main: Judischer Verlag, 1999). 269.

What is Jewish Lirerurure? (PhiladelphidJerusaIem: The Jewish Publication Society. 1994), 3.

derne. (Miinchen: DTV 1997).

hier 173.

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7. Amir Eshel. Zeir der Ztisur: Jiidische Dichter im Angesichr der Shoah. (Heidelberg: Univer- sitatsverlag C, Winter 1999).

8. Vgl. Hierzu Beda Allemanns konsequent-verzwickter Abwehrversuch einer ‘judaistischen’ Lekture des Werkes Kafkas, ders: Fragen an die judaistische Kafka-Deutung am Beispiel Benjamins, in Karl Erich Grozinger, StLphan Mos&s, Hans Dieter Zirnmermann, Frunz Knfka und das Judenium. (Frankfurt am Main: Judischer Verlag bei Athenaeum. 1987). 35-70.

9. John Felstiner, Paul Celan. Poet, Survivor; Jew. (New Haven: Yale University Press. 1995). 10. Christine IvanoviC, “Celan in den USA. Marginalien zur Celan-Forschung der letzten Jahre aus

AnlaD von J. Felstiners Celan-Biographie”, in Celan-Jahrbuch 7 (1997/98) (Heidelberg: Univer- sitatsverlag C, Winter 1999). 327-342, hier 340.

11. Vgl. Konrad Kwiet, Gunter E. Grimm, Hans-Peter Bayerdorfer, Einleitung, in Gunter E. Grimm, Hans-Peter Bayerdorfer, Im Zeichen Hiobs. Jiidische Schrifhreller und deursche Literatur im 20. Jahrhundert. (Konigssteifls.: Athenaum, 1985). 41-48.

12. Ein ausfuhrlicher geschichtlicher Uberblick zum Begriff der “deutsch-jiidischen Literatur”, unter tesonderer Beriicksichtigung des antisemitischen Diskurses liefert Andreas B. Kilcher, Was ist “deutsch-jiidische Literatur”? Eine historische Diskursanalyse, Weimarer Beitrage 411999, S. 485-517.

13. Vgl. Dazu Marcel Reich-Ranicki, Uber Ruhestorer. Juden in der deurschen Lireratur. (Miinchen: Piper, 1973) und Hans Mayer. Aussenseiter. (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1975).

14. In Neues Lexikon des Judentums. Hrsg. Von Julius H. Schoeps, (Guterslohbliinchen: Bertels- mann Lexikon Verlag, 1992). 291.

15. Hans J. Schutz, Juden in der deutschen Literatur Eine deursch-jiidische Literarurgeschichre im Uberblick. (MiinchenlZurich: Piper, 1992).

16. Thomas Nolden, Junge judische Literatur. (Wurzburg: Konigshausen & Neumann, 1995). 17. Thomas Nolden, Ebenda, 9. 18. Dieter Lamping, Von Ka@ bis Celan. Judischer Diskurs in der deiiischen Literatur des 20.

19. Vgl. Sander L. Gilman and Jack Zipes, Yale Companion to Jewish Writing and Thought in Jahrhunderrs. (Gottingen: Vanderhoeck & Ruprecht, 1998). 12.

German Culture, 10961996. (New Haven: Yale University Press, 1997). XVII.

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