Sozialer Abstieg und Ausgrenzung

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9 Sozialer Abstieg und Ausgrenzung Soziologische und mediale Aspekte der Wahrnehmung und Wertung sozialer Lagen. Kulturtheoretische Arbeit. Mentorat: Prof. Dr. Nicolaj van der Meulen. Eingereicht am 09. März 2009.

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Soziologische und mediale Aspekte der Wahrnehmung und Wertung sozialer Lagen. Kulturtheoretische Arbeit. Entstanden am Institut Visuelle Kommunikation, HGK FHNW, Basel, 2009.

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  • 9Sozialer Abstieg und Ausgrenzung

    Soziologische und mediale Aspekte der Wahrnehmung und Wertung sozialer Lagen. Kulturtheoretische Arbeit. Mentorat: Prof. Dr. Nicolaj van der Meulen. Eingereicht am 09. Mrz 2009.

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    Einleitung

    Die soziale Frage ist wieder aktuell. Hatte die moderne Industriegesellschaft doch das Proletariat berwunden und glaubte sich der Frage nach der Existenz und Wirkkraft sozialer Klassen1 entledigt zu haben, so war in den letzten Jahrzehnten eine neue Ent-wicklung zu beobachten, in der viele Soziologen und Politiker den Beginn oder zu-mindest die Gefahr einer neuen Spaltung der Gesellschaft sehen.2 Im Begriff der Prekaritt ist eine vielschichtige Problematik benennbar geworden. Dahinter verbirgt sich nicht nur die Aussichtslosigkeit ferner Randgruppen, nicht das Elend einiger weniger, sondern ein Gefge aus Furcht, Scham, Abgrenzung und andauerndem Ringen mit den Folgen einer sich verndernden Industrie- und Erwerbsgesellschaft. Sptestens seit den Geschehnissen der jngeren Vergangenheit in Wirtschaft wie So-zialpolitik sind die Effekte auch in der sich stets in Sicherheit whnenden Mitte der Gesellschaft deutlich zu spren.3

    Der lckenlose Lebenslauf 4, die zur Institution erwachsene unbefristete Festan-stellung, die Stabilitt und Planungssicherheit der vergangenen Jahrzehnte scheinen immer mehr in das Reich einer Wunschvorstellung abzudriften, deren Erfllung immer Wenigeren zu Teil wird. Phasen der Arbeitslosigkeit werden zur Regel5 und damit qualitative Schwankungen der Lebensumstnde. Doch die Wertvorstellungen der Gesellschaft, die sich diese Instabilitt zwecks ihres eigenen konomischen Fort-bestehens abverlangt, verweilen in einer Vergangenheit, in der Worte wie Vollbeschf-tigung weniger utopisch klangen und die Grnde fr sozialen Abstieg eher aus persn-lichen Umstnden des Einzelnen ableitbar schienen6. Aus diesen Ideen einer pros- perierenden Nachkriegszeit erwchst heute eine Angst vor der Unsicherheit der eigenstndigen wirtschaftlichen Existenz und aus dieser ein Druck, der gesellschaft-liche Brche und Konflikte fast zwangslufig nach sich zieht.7 Vorurteile und Klischees nisten sich ein, genhrt von einer undifferenziert berichtenden und darstellenden Medienwelt.8 Scham und Unverstndnis bedingen Distanzierungsreaktionen und psychosoziale Folgen im Anblick des drohenden oder erfahrenen sozialen Abstiegs.9

    Im Rahmen dieser Arbeit mchte ich ber einen Blick auf den Zusammenhang zwischen Arbeit und sozialer Integration und Teilhabe hinfhren auf die diversen Formen sozialen Abstiegs und das Phnomen der gesellschaftlichen Exklusion. Anschliessend soll die Rolle der Medien im Kontext gesellschaftlicher Ausgrenzungs-dynamiken betrachtet werden. Wie werden soziale Probleme thematisiert? Wie thema-tisieren Betroffene ihre Situation selbst? Letzteres soll an ffentlichen Kampagnen und einer konkreten Schnittstelle10 zwischen gesellschaftlichem Drinnen und Draus-sen, der Strassenzeitung reflektiert werden. So sollen gesamthaft Erkenntnisse gewon-nen werden, wie eine visuelle Intervention im Rahmen einer praktischen Arbeit mit den bestehenden Widerstnden umgehen oder sogar arbeiten kann, um zu einer differenzierteren Wahrnehmung der aktuellen sozialen Problematik von sozialer Unsicherheit, Abstieg und Ausschluss anzuregen.

    1 Vogel, APuZ3334/2008, S. 13

    2 Huster/Boeckh 2008, S. 51

    3 ebd.

    4 Promberger, APuZ4041/2008, S. 12

    5 Frese, APuZ4041/2008, S. 12

    6 Drre, APuZ3334/2008, S. 3

    7 Huster/Boeckh 2008, S. 41

    8 Champagne 1997, S. 60 ff.

    9 Mohr/Richter, APuZ4041/2008, S. 27, 28

    10 Huster/Boeckh 2008, S. 585

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    1. Erwerbsgesellschaft und Integration

    Der Begriff der Integration ist im ffentlichen Diskurs eher mit der Frage nach der Integration von Zuwanderern in unsere Gesellschafts- und Wertesysteme konnotiert. Dass Integration aber auch fr den Einheimischen, gar fr einen selbst keine gegebe-ne Selbstverstndlichkeit sein knnte, ist eher den Wenigsten bewusst. Umso hrter ussert sich die existenzielle Dimension der Teilhabe 11 am gesellschaftlichen Leben, wenn sie durch das individuelle Schicksal tatschlich in Frage gestellt scheint.

    In diesem ersten Teil soll der Zusammenhang zwischen sozialer Integration und Erwerbsarbeit aufgezeigt werden, wie er sich in der Industriegesellschaft entwickelt und in der Erwerbsgesellschaft der zweiten Hlfte des 20. Jahrhunderts etabliert hat. Darauf folgend werden gesellschaftliche und sozialpolitische Vernderungen der letzten Jahrzehnte angesprochen, die diese Integrationsleistungen zunehmend ero-dieren lassen. Wie dieser Konflikt zu exkludierenden Wirkungen fhrt, wird daraufhin an den Wirkungen von fehlenden oder unsicheren Erwerbsttigkeiten verdeutlicht.

    1.1. Integrationsleistung der ArbeitDie Begriffsgeschichte der Arbeit ist wohl eher mit Aspekten wie Mhsal und

    Plage12 verbunden, hat aber im Laufe der Jahrhunderte diverse Wandlungen und Umwertungen erfahren. Nicht erst mit der mnchischen Idee, man knne sich durch Arbeit und Gebet (lat. ora et labora ) den sicheren Einzug ins Himmelreich verdienen, entwickelte sich in der Gesellschaft die Vorstellung, dass Arbeit nicht nur der Selbst-erhaltung zutrglich ist. Denn darber hinaus sei sie auch fhig, Sinn zu vermitteln. In neuerer Zeit verbreitete sich die Auffassung, Arbeit sei ein kreativer Akt, der es dem Menschen ermgliche, sich vom Tier zu unterscheiden, Ordnung erzeuge und Gemeinschaft herstelle.13

    Die Wichtigkeit dieser sozialen Dimension von Arbeit nahm ihren Anfang in der Arbeitsteilung und der damit zwangslufig einhergehenden Kooperation zur Steigerung der Effizienz.14 Familienproduktionen, Grosshaushalte, Hofhaltungen oder Dorfverbnde, in denen arbeitsteilig produziert und nach mehr oder weniger hier-archisch differenzierten Mustern konsumiert wird, bilden sich als frhe Formen solcher Kooperationen heraus. Mit dem Beginn der industriellen Revolution kommt es in der Folge zur rumlichen Trennung von Produktion und Konsumtion/Repro-duktion, zur Trennung von Betrieb und Haushalt.15 Mit der Etablierung der kapita-listischen Industriegesellschaft erhlt die Arbeit also ber die reine Existenzsicherung durch den Tausch von Arbeit gegen Lohn16 hinaus eine rumlich-zeitlich strukturie-rende Wirkung, die den Tag klar in Arbeitszeit und Freizeit aufteilt.17 Die meisten ausser Haus erwerbsttigen Menschen sind auf Grund dieser Teilung in zwei meist separate Beziehungsgeflechte integriert. Neben Familie und Nachbarschaft, Verwandt- und Freundschaftsbeziehungen verbindet sie ihre berufliche Ttigkeit mit Arbeitskol-legen und Vorgesetzten in ihrer betrieblichen Lebenswelt.18

    Diese Integrierung in Beziehungsgeflechte durch Arbeit gewhrleistet, dass ein Mensch gesellschaftlich als wertvolles, normales, seine Aufgaben, Rollen und Funktionen erfllendes Subjekt19 wahrgenommen wird. Arbeit wird dadurch nicht nur zum Existenz sichernden sondern durch Kooperation, Kommunikation und Be-ziehungsbildung auch zu einem Medium, das Identitt in Form sozialer Anerkennung zu stiften in der Lage ist. Die also durch Erwerbsteilhabe gewonnene soziale Anerken-nung wird neben dem Produzentenstolz zur Grundlage der Ausbildung des Selbst-wertgefhls von Arbeitnehmern in Arbeitsgesellschaften.

    11 Stichweh 2002, S. 4

    12 Promberger, APuZ4041/2008, S. 8

    13 ebd.

    14 Marx 2008, S. 918 ff.

    15 Promberger, APuZ4041/2008, S. 9

    16 Marx 2008, S. 1985 ff.

    17 Promberger, APuZ4041/2008, S. 8

    18 ebd., S. 9

    19 ebd.

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    Zusammenfassend lsst sich sagen, dass die Strukturierungsleistungen von Erwerbsarbeit sich gesamthaft durch eine Ausdifferenzierung von Wahrnehmung und Bewertung von Rumen, Zeiten und Beziehungen ussern.20 Beispiele hierfr sind: Verwandlung von Natur durch Arbeit in ein Produkt; Ausbildung berufsbedingter Verhaltensweisen; Unterscheidung zwischen Freizeit und Arbeitszeit, Wohn- und Ar-beitsraum; Raumklassifizierung wie Jagdraum, Weideraum, Ackerbauraum, Hofraum, Hausraum, Kulturland, Wildnis; Stadt, Betrieb und Wohnviertel; menschlich/gemein-schaftlich geeignete und ungeeignete, gewhlte und umstrittene, aufgeherrschte und normierte Zeiten des Tages, der Woche, des Jahres, etc.; Unterscheidung Arbeitsverhlt- nis und private Beziehungen, berufliche und private Kommunikation; Definition von z.B. Gesellschaft, Gemeinschaften, Markt.

    Diese Differenzierungs- und Strukturierungsleistungen bestimmen in der heutigen Arbeitsgesellschaft die Wahrnehmung unserer Wirklichkeit und bilden als gesellschaftlich etablierte Muster eine der Grundlagen fr Stabilitt durch einen Konsens der Werte und Vorstellungen. Im Idealfall einer gesicherten Teilhabe an diesen Leistungen ergibt sich neben dem fortlaufenden Gelderwerb zur Sicherung der Existenz im Jetzt eine zukunftsorientierte Haltung des Arbeitnehmers durch die ermglichte Planungssicherheit. Dies fhrt darber hinaus zu positiven Effekten auf Psyche und Gesundheit und stabilisiert so rckwirkend Leistungsfhig- wie -willigkeit.21

    Es wird also deutlich, dass heute regelmssige Erwerbsarbeit und die damit einherge-hende Verfgbarkeit von Einkommen und Vermgen in zentraler Weise die Teilhabe- und Verwirklichungschancen eines Menschen22 bestimmen. Diese Leistungen und Vorzge sind das Fundament der idealen Vorstellung vom Normalarbeitsverhltnis und einem spezifischen Arbeitnehmerstatus, der sich unter den historischen Bedin-gungen des Fordismus herausbilden konnte.23

    1.2. Gesellschaftliche und sozialpolitische Entwicklungen im spten 20. Jahrhundert

    1.2.1. Individualisierung sozialer Problematik in der Nachkriegszeit

    Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs und der berwindung er ersten mage-ren Jahre des Wiederaufbaus kam es in der jungen Bundesrepublik Deutschland zu einem rasanten Wachstum der Wirtschaft. Dieses nahm so berraschende Dimensio-nen an, dass es als das so genannte Wirtschaftswunder in die Geschichte einging. Der Bedarf an Arbeitern war schier grenzenlos und Gastarbeiter wurden heiss umwor-ben, um den Hunger des Marktes nach Arbeitskrften berhaupt stillen zu knnen. Die prosperierende Wirtschaft der Nachkriegszeit fhrte in den 1960er Jahren zu einem Ergebnis, das Karl Marx noch fr undenkbar gehalten hatte: ein Kapitalismus ohne industrielle Reservearmee.24 Ein wahrer Fahrstuhleffekt setzte ein, der sich deutlich in einer zum Aufstieg tendierenden sozialen Dynamik niederschlug. Die er-starkte Position der Gewerkschaften und der vorangetriebene Ausbau des Sozialstaats fhrten zur fast vollstndigen Beseitigung von sozialer Ungleichheit als gesellschaft-liches Problem.25 Der whrend der Besatzung gepflegte Amerikanismus brachte nach dem Vorbild des New Deal und mit dem Fordismus einen ungeahnten Wohlstands-gewinn und (die) Kanalisierung der Klassenkmpfe in institutionelle Bahnen.26 Durch die Garantie sozialer Rechte und Partizipationsansprche gelang es den pre-kren Charakter von Lohnarbeit, wie er in den Proletariatsdebatten des Vorkriegska-pitalismus seinen Ausdruck fand, zu entschrfen.27 Durch diese Gestaltung der gesell-schaftlichen Rahmenbedingungen wurde die Armut auf ein Minimum reduziert.

    20 Promberger, APuZ4041/2008, S. 8

    21 ebd., S. 11

    23 Huster/Boeckh 2008, S. 282

    23 Kraemer 2008, S. 144

    24 Drre, APuZ3334/2008, S. 3

    25 Huster/Boeckh 2008, S. 49

    26 Candeias 2008, S. 124

    27 Drre, APuZ3334/2008, S. 3

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    Wenn auch nicht vollstndig beseitigt, wurde sie doch mehr und mehr das Problem gesellschaftlicher Randschichten und verschwand auf dem Hhepunkt des wirtschaft-lichen Aufschwungs gnzlich aus der Agenda des ffentlichen Diskurses, da Armut im Allgemeinen als berwunden galt.28

    Soziale Missstnde wurden nicht mehr als das Ergebnis struktureller Einflsse gelesen, sondern als Resultat des individuellen Schicksals. Armut und die Formen ihrer Manifestation erfuhren eine starke Marginalisierung, traten sie doch hauptsch-lich ausserhalb der tariflich und gesetzlich geschtzten Lohnarbeit in Erscheinung. Die Betroffenen bildeten eine Minderheit, denen eine Nhe zu den 5% der Bevlkerung des unteren Randes der Gesellschaft, die als sozial verachtet galten, unterstellt wurde.29

    Die individualisierte Verantwortung fr die Armut der Angehrigen gesellschaftlicher Randbereiche, die bestenfalls als Hilfsbedrftige galten, machte jene schnell zur Pro-jektionsflche fr negative Klassifikationen und Schuldzuschreibungen. Auch heute dient dieses Bild marginaler Armut weiterhin als Basis fr individualisierende Prob-lemdeutung sozialer Missstnde.30

    1.2.2. Ausdifferenzierung sozialer Lagen zum Ende des 20. Jahrhunderts

    In den 1970er Jahren kristallisierte sich unbersehbar der Beginn einer Krise des fordistischen Systems heraus, was trotz eines stetig steigenden Wirtschaftswachs-tums zu einer ebenso steigenden Arbeitslosigkeit fhrte.31 In dieser Entkopplung von Wachstum und Beschftigung begann sich der permanente Sockel von Arbeitslosigkeit herauszubilden, der unsere Gesellschaft bis heute begleitet. Dessen Zusammensetzung umfasste neben einem variierenden Anteil von vorbergehend Erwerbslosen auch immer mehr Langzeitbetroffene.32

    Folgt man der Marxschen Theorie, so lsst sich die steigende Arbeitslosigkeit bei steigendem Wachstum durch den Akkumulationsprozess des Kapitals in der sich einpendelnden Wirtschaftsentwicklung des jungen Deutschlands erklren. Dieser Prozess bedingt, dass wirtschaftlicher Fortschritt mit einem stndigen Aufnehmen und Freisetzen von Arbeitskrften einhergeht. So teilt die moderne Industrie die Arbeiterbevlkerung in unbeschftigte und beschftigte Hnde33: Die pltzliche und ruckweise Expansion der Produktionsleiter ist die Voraussetzung ihrer pltzlichen Kontraktion; letztere ruft wieder erstere hervor, aber die erstere ist unmglich ohne disponibles Menschenmaterial, ohne eine vom absoluten Wachstum der Bevlkerung unabhngige Vermehrung von Arbeitern. Sie wird geschaffen durch den einfachen Prozess, der einen Teil der Arbeiter bestndig freisetzt , durch Methoden, welche die Anzahl der beschftigten Arbeiter im Verhltnis zur vermehrten Produktion ver-mindern.34Aus dieser Annahme lsst sich eine zwangslufige Existenz eines solchen Sockels strukturell bedingter Arbeitslosigkeit als Ergebnis konomischer Wachstums-prozesse ableiten.

    Parallel entstandenen aus den 1968er Bewegungen Gruppierungen wie die Vertreter der so genannten Alternativen konomie, die vermehrt die autoritren und hierarchischen Strukturen dieser Normarbeitsgesellschaft kritisierten und sogar ex-plizit die Forderung nach Autonomie und einer damit verbundenen Mglichkeit zur privaten wie wirtschaftlichen Selbstverwirklichung formulierten.35 Bisherige gesell-schaftliche Schichtungsmodelle beruhten vor allem auf zwei Grundannahmen: Zum Einen gingen sie aus vom Normalfall der Status-Konsistenz, also von klaren Zusam-menhngen zwischen beispielsweise Bildungsstand und entsprechender Berufsausbung. Zum Anderen basierte die Bewertung sozialer Schichtungen nicht auf dem Stand des Einzelnen in der Berufs- und Einkommenshierarchie, sondern wenn auch unausge-

    28 Huster/Boeckh 2008, S. 580

    29 Drre. APuZ3334/2008, S. 3

    30 ebd., S. 4

    31 Candeias 2008, S. 124

    32 Huster/Boeckh 2008, S. 50

    33 Marx 2008, S. 1184

    34 ebd.

    35 Gschel 2008, S. 112

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    sprochen auf der angenommenen Normalfamilie als kleinste Einheit. Aus eben diesen Gesellschaftsmodellen erwuchs das klassische und anzustrebende Normarbeits-verhltnis als Leitbild fr Arbeits- und Sozialgesetzgebung und zur Definition von normaler und guter Arbeit. Es ist die Idee des mnnlichen Ernhrers im Rollengef-ge der traditionellen geschlechtlichen und familiren Arbeitsverteilung.36

    Mit der Bildungsexpansion der 1960er Jahre und der zunehmenden Vernde-rung von Biografieverlufen (beeinflusst durch Faktoren wie Familienplanung, Abkehr von Ehe und Familie als Lebensziel, vernderte Rollenbilder, Karriereplanung, Mobi-litt) wurden derlei homogenisierenden Gesellschaftsmuster den sich abzeichnenden Entwicklungen nicht mehr gerecht.37 Doch die Auflsungsbestrebungen gegen das bisherige kapitalistische System fhrten nicht zur Zerstrung desselben, sondern entwickelten sein immenses Integrationspotential.38 Neoliberale Bemhungen instru- mentalisierten diese Flexibilisierungsdynamiken zur Einschrnkung des Sozialstaats und seiner Interventionsprinzipien zu Gunsten des Wettbewerbs.39 In den folgenden Jahren entstandene Modelle zur Analyse von Lebensstilen, -lagen und Milieus deuten meist bereinstimmend auf eine Diversifizierung von Soziallagen, eine Auflsung schichtspezifischer Subkulturen wie auch eine Pluralisierung und Individualisierung von Milieus und Lebensstilen hin.40

    Mit dem Ausgang der 1980er Jahre beginnt sich die bis dahin den sozialen Kapitalismus prgende und zur gesellschaftlichen Mitte hin gerichtete Dynamik der Gesellschaft unter dem Druck konomischer Globalisierung und der deutschen Wie-dervereinigung allmhlich zu verkehren.41 Was zuvor und in einem positiven Bestreben als Autonomie beansprucht wurde, gert zum Zwang, sich selbst zu aktivieren, die sozialen Risiken selbst zu tragen und Schutzrechte aufzugeben.42 Diese Entwicklung prgt bis heute wirtschafts-, arbeitsmarkt- und sozialpolitische Debatten durch eine problematische Verschmelzung von marktliberale(n) und libertre(n) Ideen.43

    Der strukturell vorhandene Sockel der Arbeitslosigkeit wirkte bei der Durch-setzung von Marktinteressen zunehmend als Druckmittel. Mit dem Erreichen eines gewissen Niveaus knnen Arbeitgeber zunehmend freier beispielsweise die Entlohnung ihrer Angestellten oder die Arbeitszeitregelungen gestalten. Die durch den Druck der Erwerbslosigkeit44 ermglichte berarbeit des beschftigten Teils der Arbeiterklasse schwellt die Reihen ihrer Reserve, whrend umgekehrt der vermehrte Druck, den die letztere durch ihre Konkurrenz auf die erstere ausbt, diese zur berarbeit und Unter-werfung unter die Diktate des Kapitals zwingt.45 Mit den sozialpolitischen Entwicklungen, deren vorlufiger Gipfel in Deutschland mit Hartz IV eine Art Label erhielt, wandelte sich der Sozialstaat von einem status- zu einem Existenz sichernden.46 Mit der Hartz VI-Gesetzgebung, die Arbeitslosigkeit zumindest implizit als individuelle Fehlanpassung an den Arbeitsmarkt47 begreift, entstand ein Symbol fr den jederzeit mglichen Abstieg ohne Auffanglinie, dessen disziplinierende(r) Effekt strenger Zumutbarkeit eher die Noch-Beschftigten als die Arbeitslosen48 erreicht. Unter diesen Begnstigungen von Standortkonkurrenzen, Tarifdumping und Reallohnverlusten ermglichte Fixierungen von interessenspolitischen Rckschritten in zahlreichen Betriebsvereinbarungen er-schttern heute auch den gewerkschaftlich organisierten Kern der Arbeitnehmer durch die stete Befrchtung, den Anschluss an die Mittelschichten zu verlieren.49

    36 Kraemer 2008, S. 144, 145

    37 Huster/Boeckh 2007, S. 46

    38 Groeschel 2008, S. 112

    39 ebd.

    40 Huster/Boeckh 2008, S. 48

    41 Drre, APuZ3334/2008, S. 4

    42 Gschel 2008, S. 112

    43 Brinkmann/Drre/Rbenack 2005, S. 128

    44 Blien, APuZ4041/2008, S. 4

    45 Marx 2008, S. 1188

    46 Brinkmann/Drre/Rbenack 2005, S. 134

    47 Promberger, APuZ4041/2008, S. 13

    48 Bescherer, APuZ3334/2008, S. 24

    49 Drre, APuZ3334/2008, S. 5

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    1.2.3. Herrschaft der Instabilitt

    Das Wegbrechen berbetrieblicher Sicherungen und der dadurch verstrkte Druck der industriellen Reservearmee50 als disziplinierendes Element der Arbeitsge-sellschaft sorgen dafr, dass sich qualitative Arbeitsansprche in Betrieben und Verwaltungen kaum noch Geltung verschaffen knnen.51 Die durch die sozialpoliti-schen wie wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte gesteigerten Risiko-potentiale52, die den sozialen Abstieg als persnliches Schicksal in den Bereich eines jederzeit Mglichen gerckt haben, haben zu einer gesellschaftlichen Grundstimmung der Unsicherheit gefhrt.53 Das Gefhl einer stndigen Konkurrenz und der eigenen Ersetzbarkeit fhrt zwangslufig zu einer Subjektivierung der Arbeit und dem Druck, sich unter schwierigen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt bestmglich vermarkten zu mssen, ohne dass damit ein tatschlicher Rckgewinn an Sicherheit einher geht.54

    Der neue Kapitalismus diktiert den Teilhabenden seine zentralen Anforderungen: Selbstkonomisierung, strategische Vermarktung des Ich, Selbst-Rationalisierung, Eigenverantwortlichkeit frs Scheitern.55

    Nach reprsentativen Umfrageergebnissen des ARD DeutschlandTrend im Februar 2009 gaben 37% der befragten Erwerbsttigen an sich Sorgen um ihren Ar-beitsplatz zu machen.56 In den Jahren zuvor hatte das Soziokonomische Panel (soep)57 in Berlin in Umfragen von 2000 auf 2005 eine Steigerung um 11% auf einen ersten historischen Hchststand von mehr als 26% registriert.58 Der Soziologe Pierre Bour-dieu verfolgte und dokumentierte hnliche Entwicklungen seit Beginn der 1990er-Jahre in seinem Heimatland Frankreich und beteiligte sich prgend an den Debatten zu sozialen Vernderungen und der Entstehung von Ungleichheit. 1997 usserte er, in der sich verbreitenden Furcht ein Herrschaftsmittel zu erkennen, das auf der Er-richtung einer zum allgemeinen Dauerzustand gewordenen Unsicherheit fusst und das Ziel hat, die Arbeitnehmer zur Unterwerfung, zur Hinnahme ihrer Ausbeutung zu zwingen.59 Er sieht in der Einfhrung bzw. Durchsetzung einer fortschreitenden Flexibilisierung von Arbeitsverhltnissen klar konomisch motivierte Strategien, die in den sozialpolitischen Debatten der letzten Dekade im Begriff der Prekarisierung zusammengefasst werden.60

    Prekarisierung beschreibt die Erosion des Normarbeitsverhltnisses und seiner Rahmenbedingungen, die sich durch Stabilitt, Kontinuitt und eine klare Struktu-rierung auszeichnen, untersttzt durch arbeitsrechtliche und soziale Absicherungs-einrichtungen.61 Dieser Verlust von Sicherheitsgarantien wird in prekren Arbeitsver-hltnissen meist zustzlich begleitet von niedriger Entlohnung, unklaren oder zu- mindest unregelmssigen Arbeitszeiten und unvorhersehbarer Dauer der Anstellung. Die rasante Durchsetzung dieser Prekarisierungsstrategien unter dem Druck des Ri-sikos der Arbeitslosigkeit oder auch nur des Statusverlusts fhrt so zu einer fortschrei-tenden Diversifizierung von Soziallagen62 durch die Demontage eben der Leistungen, die das Normalarbeitsverhltnis auch als Medium gesellschaftlicher Integration defi-nieren. Es kommt zur Entkopplung von sozialen (z.B. das Erzeugen sozialer Anerken-nung) und konomischen Funktionen (z.B. Existenzsicherung).63 Erwerbsttigkeit sichert heute nicht mehr zwangslufig ein ausreichendes Lohnniveau fr die wirt-schaftliche Eigenstndigkeit, wie die sogenannte Gruppe der working poor belegt.64

    In der Angst vor einer Deklassierung ist der Arbeitnehmer so zu immer weit-greifenderen Zugestndnissen bereit. Sinkende Lhne (2006 verdiente bereits jeder siebte Vollzeitarbeitnehmer weniger als zwei Drittel des Medianlohns65) und rechtliche Deregulierung zeigen diese Entwicklung deutlich. So basiert das Job-Wachstum der zurckliegenden Jahre in EU-Staaten nachweislich auf einem erheblichen Zuwachs

    50 Marx 2008, S. 1190

    51 Brinkmann/Drre/Rbenack 2005, S. 95

    52 ebd., S. 134

    53 Drre, APuZ3334/2008, S. 3

    54 Burzan, APuZ3334/2008, S. 6, 7

    55 Grschel 2008, S. 113

    56 vgl. Schnenborn 2009

    57 www.diw.de/soep

    58 Burzan, APuZ3334/2008, S. 11

    59 Bourdieu 1998, S. 100

    60 ebd.

    61 Kraemer 2008, S. 140

    62 Blien, APuZ4041/2008, S. 6

    63 Brinkmann/Drre/Rbenack 2005, S. 132

    64 Huster/Boeckh 2008, S. 283

    65 Drre, APuZ3334/2008, S. 5

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    von unsicheren, wenig geschtzten Arbeitsverhltnissen.66 In diesen deregulierten und materiell knappen Zonen des Arbeitsmarktes finden sich immer hufiger auch qualifizierte Facharbeiter und Fachangestellte67, womit das Problem der Prekarisierung keines der gesellschaftlichen Randbereiche sondern zunehmend auch eines der Mitte unserer Arbeitsgesellschaft ist.

    Die hier beschriebenen Entwicklungen haben dazu gefhrt, dass Leben und Arbeiten mehr und mehr zur Brde erzwungener Mobilitt und Individualitt wer-den. Das Diktat des Relativen und das Lob der Beweglichkeit entwickeln sich zu Leitbildern sozialer und wirtschaftlicher Organisation.68

    1.3. Sozialer Abstieg und PrekarittDas Angstbild des sozialen Abstiegs ist Mittel der Durchsetzung wirtschaftlicher

    Flexibilisierung. Im Folgenden soll dieses Angstbild betrachtet werden am Extremfall eines vollstndigen Ausscheidens aus der Erwerbsttigkeit und dessen Folgen. Im Anschluss ist die homogenisierte Vorstellung eines Untens in Form einer Neuen Unter-schicht als Ort sozialer ngste und Verunsicherung69 eingehender zu errtern. Wie homogen ist diese Unterschicht? Oder konstituiert sich ihre Existenz gar erst aus deren Annahme als Gegenpol zur Normalitt? Welche Folgen haben diese Klassifizierungen fr die Betroffenen und wie ergeben sich Exklusionspotenziale aus den vereinfachten und vorgeprgten Bildern als Ursprung von Abgrenzungsreaktionen? Die Rolle der Medien in der Konstruktion einer Art Unterschichtsidentitt soll ebenfalls bewertet werden.

    1.3.1. Das Fehlen von ArbeitBereits in den 1930er-Jahren untersuchten Forscher der Universitt Wien die

    Arbeitslosigkeit in einem kleinen Dorf in sterreich, dessen Einwohner durch die Schliessung der ortsansssigen Textilfabrik in Folge der Weltwirtschaftskrise nahezu alle arbeitslos geworden waren. Die sogenannte Marienthal-Studie wies bei den Ar-beitslosen Verluste der rumlichen und zeitlichen Orientierungsfhigkeiten, vermehr-te Suchterkrankungen, soziale, psychische und gesundheitliche Probleme und Verein-zelung nach, ebenso wie einen Verlust der Selbstwirksamkeit , also der Empfindung, selbst sein Leben und Seine Situation beeinflussen zu knnen.70

    Auch im ausgehenden 20. Jahrhundert wurden angesichts der anhaltenden und steigenden Arbeitslosigkeit die Folgen des Fehlens von Arbeit fr den Einzelnen in der Erwerbsgesellschaft wieder eingehender untersucht. Die Wissenschaft musste sich der Frage stellen, warum Arbeitslosigkeit trotz wohlfahrtsstaatlicher Kompensa-tion ein soziales Problem bleibt.71

    Werfen wir also einen Blick auf den Extremfall des vollstndigen Verlustes von Arbeitsverhltnissen. Bourdieu ussert auf Basis seiner zahlreichen soziologischen Beobachtungen, dass sich in prekarisierten Lagen beinahe berall identische Wir-kungen zeigen, die aber beim Arbeitslosen am deutlichsten zutage treten: die De-strukturierung des unter anderem seiner zeitlichen Strukturen beraubten Daseins und der daraus resultierende Verfall jeglichen Verhltnisses zur Welt, zu Raum und Zeit.72

    Natrlich treten solche fatalen Entwicklungen nicht schlagartig ein. Manche Menschen erleben die erste Woche der Arbeitslosigkeit geradezu als eine Art Urlaub.73 Das Fehlen von Einkommen und der daraus resultierende Geldmangel erhht oftmals kurzfristig die Motivation eine neue Stelle zu finden, doch stellen sich die angespro-chenen psychisch verheerenden Folgen74 sehr bald ein. Gerade hier zeigt sich eine paradoxe Wirkung der Arbeitslosigkeit, die darin besteht, dass Erwerbslose mit grosser Motivation zur Arbeit, die in ihrem Leben eine zentrale Rolle spielte, meist am Strks-

    66 Brinkmann/Drre/Rbenack 2005, S. 131

    67 Vogel, APuZ3334/2008, S. 15

    68 ebd., S. 14

    69 ebd.

    70 Promberger, APuZ4041/2008, S. 17

    71 ebd., S. 8

    72 Bourdieu 1998, S. 96

    73 Frese, APuZ4041/2008, S. 23

    74 ebd.

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    ten von den psychischen Folgen betroffen sind. Die aber- und abermalige Ablehnung von Bewerbungen und Enttuschung von Hoffnung trifft scheinbar also am Hrtesten gerade diejenigen, die den gesellschaftlichen Forderungen aus eigenem Antrieb zu entsprechen suchen.75 Die enttuschte Kontrollhoffnung76 zu Beginn der Erwerbs-losigkeit kann also die Ausbildung von Depressionen deutlich frdern.

    Das Ausscheiden aus dem Arbeitsalltag beendet jedoch nicht nur die Struktu-rierungs- und Differenzierungsleistungen der Arbeit, die zu Anfang bereits herausge-stellt worden waren. Sie entlsst den Menschen auch aus der Sinnproduktion, die mit der Arbeit einhergeht.77 Gerade die Sinnhaftigkeit belegt in einschlgigen Studien da, wo Arbeit fehlt, jedoch den ersten Rang unter den Kriterien zur Bewertung einer Ttigkeit. Hier wird eben diese Sinnprgnanz beispielsweise als Erfolgsfaktor von Freiwilligeninitiativen festgestellt.78 Mit dem Wegfall des Arbeitsorts als Gefss einer separaten Beziehungsstruktur entfallen auch die aus der Arbeitswelt herrhrenden Kooperations- und Kommunikationsstrukturen und die damit verbundene nahrum-liche Anerkennung.79

    Der Verlust von Strukturen und Sinnhaftigkeit ussert sich wie beschrieben in den meisten Fllen in einer Beeintrchtigung des Gemtszustandes. Viele Betroffene bilden eine andauernde Niedergeschlagenheit aus, die sich bis zu tiefen Depressionen steigern kann. Dies zeigt sich deutlich in der Tatsache, dass die Behandlungsquote mit Antidepressiva bei Erwerbslosen um 77% hher liegt als bei Erwerbsttigen.80

    Diese Beeintrchtigung ussert sich in langsameren Bewegungen, langsamer Geh-geschwindigkeit, verringertem Interesse am Leben usw.81 Auch Schmerzsymptoma-tiken knnen sich einstellen neben erhhten Wahrscheinlichkeiten, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden. Nachweislich leidet auch das Immunsystem des Men-schen in andauernden Stresssituationen erheblich. Psychosomatische Strungen und starke Beeintrchtigungen des Wohlbefindens manifestieren sich also auch stark krperlich oder fhren selbst bei vorher unaufflligen Individuen bis hin zu einer psychiatrischen Aufflligkeit.82 Auch negative Gewohnheiten wie erhhter Alkohol-konsum oder Tablettenmissbrauch bilden sich hufig aus oder erfahren eine deutliche Verstrkung.83

    Das eigene Gefhl der Nutzlosigkeit fhrt bei andauernder Erwerbslosigkeit zustzlich zu Rckzugsreaktionen. Bereits frh stellt sich ein Gefhl der Scham ein, denn noch nicht einmal einen Ausbeuter zu finden, mit anderen Worten sozial ber-flssig und unerwnscht zu sein, bezeichnet einen Zustand der Deprivation und des fast vollstndigen Verlustes sozialer Anerkennungschancen.84 Diese Reaktion inten-siviert sich in dem Mass, in dem die Ausbeutung (im Sinne des kapitalistischen Aus-tauschverhltnisses von Mehrwert85) aus den zuvor dargelegten Entwicklungen resul-tierend als Privileg wahrgenommen wird. Der Anteil der Erwerbslosen, der im sozialen Umfeld die eigene Erwerbslosigkeit nicht bekannt werden lassen mchte, hat zwischen 1986 und 2003 deutlich von 13 auf 25 Prozent zugenommen.86 Gerade bei lteren Arbeitslosen zeichnen sich nach mehr als 12 Monaten Arbeitslosigkeit deut-liche Rckzugs- und Distanzierungsreaktionen ab. Reaktionen wie diese gefhrden auch Familienbeziehungen und damit das verbliebene Beziehungsnetz des Betroffenen.87

    All diese Reaktionen knnen in einen gefhrlichen Zirkel mnden: Je lnger die Erwerbslosigkeit andauert, je grsser die finanziellen Einschrnkungen sind, desto grs-ser wird die Bedrohung gerade jener Ressource, welche die Person fr den Wiedereinstieg bentigt88. Betroffene zeichnen sich mit der Zeit zunehmend durch eine hhere exter-nale Kontrolle aus89, die dazu fhrt, dass sie auf Grund einer starken Beeintrchtigung der Fhigkeit Zukunftsprojekte zu entwerfen90 kaum noch zu mobilisieren sind.

    75 Frese, APuZ4041/2008., S. 24

    76 Mohr/Richter, APuZ4041/2008, S. 28

    77 Promberger, APuZ4041/2008, S. 12

    78 Wehner, APuZ4041/2008, S. 46

    79 Promberger, APuZ4041/2008, S. 12

    80 Mohr/Richter, APuZ4041/2008, S. 26

    81 Frese, APuZ4041/2008, S. 23

    82 ebd., S. 22

    83 ebd., S. 23

    84 Kocyba 2008, S. 67

    85 vgl. Marx 2008

    86 Mohr/Richter, APuZ4041/2008, S. 27, 28

    87 Promberger, APuZ4041/2008, S. 12

    88 Mohr/Richter, APuZ4041/2008, S. 29

    89 ebd., S. 28

    90 Bourdieu 1998, S. 98

  • 19

    1.3.2. Neue Unterschicht und Prekariat

    Auch wenn die Gesellschaft und gerade die deutsche Politik lange die Existenz einer neuen Unterschicht nicht anerkennen wollte, so ist heute nicht mehr zu verdrn-gen, dass es so etwas wie ein Unten in der Gesellschaft gibt.91 Doch dieses Unten leitet sich nicht etwa aus einer neuen Form des Proletariats ab. Die Arbeitslosen unse-rer Zeit unterscheiden sich in der Art und Weise, wie sie wahrgenommen werden und sich selbst wahrnehmen, erheblich von dem, was Marx im Begriff einer industriellen Reservearmee92 zusammenfasst. Zwar betont er auch bei diesen die Prekaritt ihrer sozialen Position, erklrt ihre Existenz und soziale Lage zum Resultat einer kapitalis-tischen Verwertungslogik und sprach den unfreiwilligen Mitgliedern dieser Armee einen, wenngleich abgeschwchten, Akteurstatuts zu.93 Der Selbstrespekt des Indus-trieproletariats im 19. Jahrhundert manifestierte sich noch in der Arbeiterbewegung und befrachtete die soziale Klasse mit allerlei Heilserwartungen oder politischen Verbesserungsphantasien94, die ihre Kraft aus dem Bewusstsein erwuchs, dass die Arbeiter eine nicht zu vernachlssigende Leistung der Arbeitswertlehre erbrachten, die die ausgebeutete Lohnarbeit zur entscheidenden Quelle gesellschaftlichen Reich-tums erklrte.95

    Demgegenber tritt heute das Prekariat. Ohne jeglichen Selbstrespekt dient es eher als neue Projektionsflche politischer Ressentiments und sozialer Resignation und erscheint als Ort sozialer Aussichtslosigkeit.96 Sie sind die Vertreter der neuen Unterschicht, die sich nicht mehr allein durch Ausbeutung, sondern wesentlich durch Ausgrenzung beziehungsweise durch eine Gemengelage aus Ausbeutung und Aus-grenzung definiert.97 Im Kern besteht diese Unterschicht aus den berflssigen des Marxschen Ausbeutungssystems. Es sind Menschen, die kaum Chancen auf eine stabile Beschftigung haben und dort, wo sie Arbeit finden, zumeist unter der Be-dingung des hire and fire leben, deren Situation hochgradig prekr ist.98

    Dabei zeichnet sich diese im neuen Unterschichtsbegriff zusammengefasste Gruppe nicht durch ein gemeinsames Selbstverstndnis aus, die sie von sich aus als Klasse prgen wrde. Ihre Existenz bildet sich nicht wie in der Arbeiterbewegung und dem vielbeschworenen Klassenkampf in Form sozialer Kmpfe ab, sondern letztlich in den Effekten statistischer Analyse. Die neue Unterschicht erscheint als Konstrukt wissenschaftlicher Beschreibung, als Beispiel dafr, dass sich Gesellschaft aus dem Wissen ber sich selbst konstituiert.99 Der Begriff wird Mittel zur Differenzierung, Kategorisierung und Identifikation und liefert die Basis fr die Zuordnung von Wer-tungen, wie Individuen und Kollektive sein sollen und wollen oder eben nicht (sein drfen).100 So erzeugte Fremdzuschreibungen und Selbstidentifikationen unterwer-fen die betreffenden Individuen bestimmten Rastern und Ordnungen und machen die Unterschicht prsent und handhabbar.

    Charakteristisch fr das Bild der neuen Unterschicht ist daher auch die Abgrenzung zum Rest der Gesellschaft. Als empirischer Beleg dafr, wie man nicht sein soll und will erfhrt die gesellschaftlich gedachte Normalitt eine Stabilisierung und Legitimierung.101

    Aus den Vorstellungen und individualisierten Perspektiven der modernen Ar-beits- und Leistungsgesellschaft leiten sich so die sozialen Vorbehalte ab, die den Mitgliedern dieser Unterschicht stillschweigend unterstellen, dass sie den Anforde-rungen der Normalitt nicht nur nicht gewachsen seien, sondern aufgrund moralischer Defekte auch wesentlichen Anteil an der Verfestigung dieser Situation htten, was die negative Wertschtzung ihnen gegenber rechtfertigt.102 Die vermeintlich nur banale Unterschichtsdiagnose wirkt gegen die sie Betreffenden auf eine krnkende, Ausschlusserfahrung reaktualisierende und verstrkende Weise.103 Denn aus der

    91 Candeias 2008, S. 121

    92 vgl. Marx 2008, S. 1184 ff.

    93 Kocyba 2008, S. 72, 73

    94 Vogel, APuZ3334/2008, S. 14

    05 Kocyba 2008, S. 69

    96 Vogel, APuZ3334/2008, S. 14

    97 Kocyba 2008, S. 72

    98 ebd.

    99 Danilina 2008, S. 13

    100 ebd.

    101 ebd., S. 19

    102 Kocyba 2008, S. 73

    103 ebd.

  • 20

    neoliberal beeinflussten Perspektive scheint die Schlussfolgerung zu lauten, dass der Mensch, der einen Mangel an Initiative zeige, an Anpassungsfhigkeit, Dynamik, Mo-bilitt und Flexibilitt scheinbar objektiv seine Unfhigkeit beweise ein freies und rationales Subjekt zu sein.104 Denn er scheint nicht dazu in der Lage sein Leben an betriebswirtschaftlichen Kriterien auszurichten. Dieses Fehlen an Orientierung der Prekarier an den gesellschaftlichen Leitlinien lsst aus der normativen Perspektive der Mehrheitsgesellschaft zu wnschen brig.105 Dieser Eindruck wird diskursiv mit moralisch ethischen Defiziten verkoppelt, anschaulich verdichtet auch in den Medi-en106, was Abkopplungsvorgnge vom gesellschaftlichen Ganzen weiter provoziert. 1.3.3. Abgehngtes Prekariat

    Das extremste Beispiel fr diese Abkopplung bildet wohl das so genannte ab-gehngte Prekariat. Diese Gruppe zeigt als anonymisierte, zersplitterte Masse, ein Exemplum der negativen Individualisierung , die in Begriffen des Mangels Mangel an Ansehen, Sicherheit, gesicherten Gtern und stabilen Beziehungen durchdekli-niert107 werden kann. Die gesellschaftliche Zuschreibung sieht sie nicht mehr aus konomischen Grnden abgehngt, sondern glaubt sie verloren fr die Gesellschaft, weil (sie) seelisch nicht mehr erreichbar108 sind. Auf sie findet der ganze Katalog der Merkmale Anwendung, der sich in der gesellschaftlichen Problematisierung der (neuen) Unterschicht definiert. Ihre Arbeitslosigkeit wird als Arbeitsverweigerung mit Stichwrtern der Faulheit und der Sozialschmarotzer in Verbindung ge-bracht.109 Falsche Erziehung, Unterschichtenfernsehen, falsche Ernhrung, mangelnde Bewegung, Drogen- und Alkoholmissbrauch werden zu Eckpfeilern ihrer Konstrukti-on, begrndet in ihren fehlerhaften Charaktereigenschaften der Disziplin- und Perspektivlosigkeit, der Resignation. Das im Diskurs dieser Form von Prekaritt hin-zugefgte abgehngt erzeugt das Bild von den Verlorenen, berflssigen, ber-zhligen, berschssigen, Nutzlosen. Vor allem verbindet sich dieser Begriff mit der Vorstellung von Unumkehrbarkeit der Zug ist abgefahren, die Abgehngten bleiben auf der Strecke stehen.110 In ihnen revitalisiert sich das tief verankerte Stereotyp des Parasiten, das sich wrtlich sogar in einem 2005 publizierten Bericht des deutschen Bundesministerium fr Wirtschaft und Arbeit wiederfindet, der die angebliche Unter-schichtsmentalitt von Missbrauch, Abzocke und Selbstbedienung im Sozialstaat anprangert.111 Dabei verwandeln nachweislich nur kleine Minderheiten, die keine realistische Chance auf Integration in regulre Erwerbsarbeit haben () den objek-tiven Mangel an Chancen in eine auch subjektiv gewollte Orientierung auf ein Leben jenseits von regulrer Arbeit.112

    104 Habermann 2008, S. 57

    105 Vogel, APuZ3334/2008, S. 14

    106 Wollrad 2008, S. 37

    107 Vogel, APuZ3334/2008, S. 14

    108 Wollrad 2008, S. 39

    109 Danilinia 2008, S. 16

    110 Wollrad 2008, S. 37

    111 ebd., S. 39

    112 Drre, APuZ3334/2008, S. 4

  • 21

    1.3.4. Prekre Beschftigungssituationen

    Doch prekre Situationen finden sich lngst nicht nur am am unteren Ende der sozialen Hierarchie.113 Durch die bereits beschriebenen Prekarisierungsprozesse bilden sich zahlenmssig und trotz konjunktureller Belebung expandierende[n] Gruppen, die ber lngere Zeitrume hinweg auf die Ausbung unsicherer, niedrig entlohnter und gesellschaftlich gering angesehener Arbeiten angewiesen sind114, heraus. So hat der Anteil regulrer Beschftigungen seit Mitte der 1970er Jahre von 80% auf unter 63% zugunsten prekrer Beschftigungen abgenommen.115 Dies zeigt sich in der Senkung des gesamten Niveaus sozialer Rechte und der Durchsetzung neuer Formen der Arbeit und Subjektivitt116 als die Entwicklung einer Zwischen-zone uneindeutiger Erwerbsverlufe, unsicherer sozialer Perspektiven und rascher biographischer Vernderungen117 unter dem Druck hoher Arbeitslosigkeit. Hier erfolgt die Entlohnung oft auf extrem niedrigem Niveau, das eine Sicherung des Lebensun-terhalts durch Erwerbsarbeit fr die Beschftigten ganzer Branchen zunehmend unrealistisch macht.118 Der Druck der Prekarisierung fhrt zu einer Haltung, die davon ausgeht, dass man dankbar zu sein hat, berhaupt einen Job haben, auch wenn das Einkommen kaum eine rudimentre Sicherung der Existenz gewhrleisten kann. Heute sind entsprechend drei Viertel der Erwerbsverlufe diskontinuierlich, also wechseln zwischen Arbeit, Phasen der Arbeitslosigkeit, befristeter Beschftigung, ar-beitsmarktpolitischen Massnahmen, prekrer Selbststndigkeit, Sozialhilfe, Arbeit, etc.119 hin und her. Diese perforierten Biografien120 sind Zeugnis eines nicht mehr sporadisch oder periodisch, sondern dauerhaft gefhrten Kampfes der Betroffenen um die Aussicht auf stabile Beschftigung und gegen berufliche bzw. arbeitsweltliche Ausgrenzungsdynamiken121 als Grenzgnger in einem Bereich prekrer Inklusion.122 Das Aufgeben der Suche nach einem rechtlich gesicherten Normalarbeitsplatz in Anbetracht der Dauerhaftigkeit einer prekren Situation fhrt dabei schnell zu einer Brandmarkung als Teil eben jener kulturell verwahrlosten neuen Unterschicht () aufgrund charakterlicher Defekte und mangelnder Arbeitsmoral, letztlich der Unf-higkeit, sich den Formen der brgerlichen Leitkultur anzupassen, selbst Schuld an der Verfestigung der eigenen Lage.

    1.3.5. Gefhlte Prekaritt

    Die Wahrnehmung der eigenen sozialen Lage ergibt sich nicht aus statistischen Durschnittsdaten, sondern aus der eigenen interpretierten Erfahrung. Hier zhlen nicht objektiviertbare Chancenverteilungen, sonder der Einzelne orientiert sich an schicht- oder berufsspezifischen Erwartungshorizonten und damit an den Mglich-keiten des sozialen Nachbarn.124

    Whrend prekre Randbelegschaften oftmals eine Art erwnschten Flexibili-sierungspuffer bildeten, hat der Prekarisierungsprozess dazu gefhrt, dass die Kern-belegschaften immer mehr mit einem Gefhl der Ersetzbarkeit konfrontiert werden. Leiharbeit, Zeitarbeiter und unbefristete Beschftigte erweisen sich als mindestens ebenso leistungsfhig und extrem einsatzbereit, als flexibler, gefgiger und vor allem billiger125 und wirken damit allein durch ihre Prsenz disziplinierend. Die eigene Statusgewissheit der Stammbelegschaft wird scheinbar in Frage gestellt. Derartige Verunsicherungen dringen heute bis in den Kern der noch sicher Beschftigten vor und wird besonders sprbar, wenn regulre Arbeitspltze durch flexible Beschfti-gung126 ersetzt werden. Es ist wenig verwunderlich, dass die ohnehin schon benach-teiligten prekren Arbeitskrfte nun als eigentliche Bedrohung wahrgenommen werden und sich Spaltungen zwischen den Beschftigten so vertiefen. Dabei spielt es

    113 Drre, APuZ3334/2008, S. 4

    114 ebd., S. 5

    115 Candeias 2008, S. 122

    116 ebd.

    117 Vogel, APuZ3334/2008, S. 13

    118 Kocyba 2008, S. 65

    119 Candeias 2008, S. 122, 123

    120 Promberger, APuZ4041/2008, S. 12

    121 Vogel, APuZ3334/2008, S. 15

    122 Promberger, APuZ4041/2008, S. 11

    123 Kocyba 2008, S. 66

    124 Kraemer 2008, S. 146

    125 Candeias 2008, S. 130, 131

    126 ebd., S. 126

  • 22

    keine Rolle, ob durch die Anwesenheit der flexiblen Arbeitskrfte tatschlich die ei-gene Erwerbsstelle gefhrdet ist. Die alleinige Erfahrung der Erosion der normativen Sicherheitserwartungen und der Form des Normalarbeitsverhltnisses fhrt zu einer gefhlten Prekarisierung. Bereits in Phasen solcher Verunsicherung im Hinblick auf die Erwerbsttigkeit sind physiologische Stressreaktionen nachzuweisen, die die Le-bensqualitt nachhaltig beeintrchtigen.127

    Nur im Bezug auf das untere Drittel der Gesellschaft von Prekaritt und ihren Auswirkungen zu sprechen, erweist sich hier als unzureichend. Vom Rest der Gesellschaft anzunehmen, es handele sich bei diesem um zufriedene Gewinner der soziokonomi-schen Entwicklung ist nicht zu rechtfertigen, angesichts der neuen Risiken, die auch die ehemals gesicherten Zonen der Beschftigung unter Druck geraten lassen, wodurch es auch hier zu Gefhle[n] der Benachteiligung und der Exklusion kommt.128

    1.3.6. Stigmatisierung und Ausgrenzung

    Mit der Ausbreitung der Angst vor Arbeitslosigkeit und Statusverlust von den unteren Einkommensgruppen hinein in die Mittelschicht hat im Laufe der 1990er Jahre die Konfliktwahrnehmung zwischen der Gruppe der Erwerbsttigen und der der Erwerbslosen zugenommen gerade mit Blick auf die Entwicklung der staatlichen Versorgungssysteme.129 Wie sich gezeigt hat, fhrten diese Prozesse wie die Prekari-sierung nicht zu einer Formierung von klaren Grenzlinien, sondern zur Vervielflti-gung von Arbeitswirklichkeiten und Biographien sowie zu einer gewissen Unbersicht-lichkeit von Statusformen und Erwerbspositionen.130 Begriffe wie prekre Be- schftigung,131 Erwerbslosigkeit und Armut sind nicht mehr zwangslufig eine Frage von Qualifikationsmerkmalen, sondern auch an bestimmte biografische Phasen, Lebensformen und subjektive Merkmale und Wahrnehmungen gebunden. Mit der Prekarisierungsdebatte rckt auch das Phnomen gesellschaftlicher Ausgrenzungsdy-namiken wieder in den Fokus eines konfliktorientierten Diskurses. Dabei wird heute neben Bezeichnungen wie der der neuen Unterschicht auch auf den Underclass -Be-griff zurckgegriffen.123 Dieser erhielt bereits 1993 in einer Rede des damaligen U.S.-Prsidenten Clinton in der usserung Its not an underclass anymore. Its an outer class. in Bezug auf die Entwicklung der amerikanischen Innenstdte eine kla-re Konnotation mit der Vorstellung eines gesellschaftlichen Aussen. In der Anwendung dieser Begrifflichkeit macht sich die deutsche Unterschichtsdebatte zu eigen, was das Pseudo-Konzept der underclass allgemein kennzeichnet133, nmlich den Betroffenen selbst die Schuld zu geben fr die Entstehung einer neuen Gruppe un-gezgelter und desintegrierter Armer jenseits der Normalgesellschaft. Denn hier wird mit der Underclass eine Verhaltenszuschreibung verbunden, schwingen doch ebenso wie mit den Prekariatsbegriffen deutliche moralische Bewertungen mit, die in einer solchermassen verengten Verhaltens- oder Kultur-Perspektive () die konomischen und strukturellen Verursachungsmechanismen spozialer Ungleichheit aus dem Blickfeld geraten lassen.134

    Wo ein Innen und ein Aussen sich konstituieren, dort gibt es auch eine Grenze und einen Akt der Ausgrenzung. Dieser Ausgrenzungsbegriff definiert bedrftige Objekte karitativer Zuwendung, nicht aber potenzielle Akteure des Widerstands.135 Im Gegensatz zu den Ausgebeuteten des Drinnens braucht das System die Ausgegrenz-ten nicht oder nur zu Zwecken der Abschreckung. Denn an ihnen wird das Schick-sal deutlich, das all denen droht, die den Ansprchen der schnen neuen Arbeitswelt nicht genge tun. Hier wird Exklusion zu einer perfide(n) Weise der Inklusion.136

    Gerade mit der Verunsicherung der Mitte zeigen sich verstrkt Reaktionen der

    127 Mohr/Richter, APuZ4041/2008, S. 26

    128 Neugebauer, APuZ3334/2008, S. 38

    129 Burzan, APuZ3334/2008, S. 10, 11

    130 Vogel, APuZ3334/2008, S. 17

    131 Huster/Boeckh 2008, S. 51

    132 ebd.

    133 ebd.

    134 ebd.

    135 Kocyba 2008, S. 68

    136 ebd., S. 69

  • 23

    Eliten und der Bevlkerung in Form eines kollektiven Widerstands gegen die offi-zielle Anerkennung von Armut und Prekaritt durch die Umdeutung der sozialen Problematiken in ein blosses Mentalittsproblem passiver Leistungsempfnger un-ter der Verwendung von Negativklassifikationen einer Gesellschaft, die so nicht mehr existiert.137 So stimmen z.B. 49,3% der Teilnehmer einer aktuellen bundesdeutschen Studie der Aussage zu, dass Langzeitarbeitslose keinerlei wirkliches Interesse an der Rckkehr in das Erwerbsleben htten.138

    Ausgrenzung stellt sich hier also als die harte Form der Verweigerung von Zugehrigkeit und Anerkennung dar, die sich ber das Fehlen von Merkmalen oder die Zuschreibung der falschen Merkmale kommuniziert.139 Dabei entzieht sich der Ausschluss der Einordnung in ein klares Tat-Tter-Schema, sondern stellt sich dar als zwangslufige Reaktion auf Merkmale des Exkludierten.140

    Mit Blick auf die Tatsache, dass der Wohlfahrtsstaat aus dem politischen Kon-flikt heraus geboren wurde, um den sozialen Frieden durch die Abschwchung der Risiken der Arbeitnehmerexistenz durch Vergesellschaftung zu gewhrleisten, ist mit der Einfhrung der Hartz IV-Gesetze eine problematische Wendung zu beobachten. Denn diese orientieren sich an einem individualisierten Negativbild des passiven Arbeitslosen , der durch geeignete Kombinationen von Frdermassnahmen und strengen Zumutbarkeitsregeln zu reaktivieren sei.141 Arbeitslosigkeit wird hier ein-deutig nicht als strukturell bedingte Problematik anerkannt, sondern als selbst ver-antwortetes Resultat persnlicher Einstellungen und Entscheidungen142 und indi-viduelle Fehlanpassung an den Arbeitsmarkt.143 Hier sieht die Politik vor allem ein aus fiskalischen Gesichtspunkten zu behandelndes Problem.

    Diese vllige Fixierung der Thematik auf eine Vorstellung eines gegebenen Habitus leistet im Bild einer Unterschicht, die sich durch familiale Verwahrlosung, Zielgruppenfernsehen, Bildungsdefizite und Billigkonsum homogenisiert zuneh-mend auch kulturell gegen Aufstiegschancen und Aufstiegswillen abschotte144, einer solchen Stigmatisierung Vorschub. Es zeigt sich sogar eine Art Furcht der Etablierten vor einem Virus , mit dem die sozial Deklassierten die leistungswillige Mehrheit der Arbeitsgesellschaft zu infizieren drohen.

    Mit derartigen Angstbildern verstrken sich gerade in Zeiten schrumpfender sozialer Abstnde und sich erweiternder Prekaritt die Abgrenzungs- und Distanzie-rungsbedrfnisse unter den Mitgliedern einer Gesellschaft. Die soziale Frage ist also auch eine nach dem Zusammenhalt der Gesellschaft145 und der Teilhabe durch die Einbindung in soziale Beziehungsnetze. Bourdieu fgte darum Anfangs der 1990er Jahre dem Marxschen Begriff des konomischen Kapitals noch weitere Formen wie soziales, kulturelles und symbolisches Kapital hinzu. Dabei beschreibt das soziale Kapital alle Ressourcen, die auf der Zugehrigkeit zu bestimmten Gruppen bzw. zu dauer-haften sozialen Netzen beruhen.146 Whrend vorhandenes soziales Kapital zur ber-windung von misslichen Lebens- und Soziallagen beitragen kann, wirkt sich dessen Fehlen usserst negativ aus und kann dagegen die Armut weiter verfestigen.147 Ruft man sich die zuvor beschriebenen Auswirkungen des Verlustes von Erwerbsarbeit gerade im Hinblick auf die soziale Teilhabe in Erinnerung, so wird die Problematik der stigmatisierenden und ausgrenzenden Dynamik der gegenwrtigen Prekarisie-rungsprozesse nachvollziehbar.

    Gerade demokratische, an den Menschenrechten orientierte Gesellschaften erfordern ein Mindestmass an sozialer Inklusion, um politisch und sozial stabil zu sein.148 Bedenklich ist, dass gerade die Solidarittsverweigerung, die der Ausgrenzung inne-wohnt, und die damit verbundene Konstruktion des gesellschaftlichen Aussens als

    137 Drre, APuZ3334/2008, S. 5, 6

    138 Mohr/Richter, APuZ4041/2008, S. 28

    139 Kocyba 2008, S. 69

    140 ebd.

    141 Bescherer, APuZ3334/2008, S. 19

    142 ebd

    143 Promberger, APuZ4041/2008, S. 13

    144 Drre, APuZ3334/2008, S. 5

    145 Vogel, APuZ3334/2008, S. 18

    146 Huster/Boeckh 2008, S. 48

    147 ebd., S. 49

    148 Promberger, APuZ4041/2008, S. 14

  • 24

    149 Drre, APuZ3334/2008, S. 6

    150 Vogel, APuZ3334/2008, S. 17

    151 Drre, APuZ3334/2008, S. 6

    152 Vogel, APuZ3334/2008, S. 18

    153 Stichweh 2002, S. 7

    Angstort den Druck auf die ehemals gesicherten Gruppen deutlich erhhen. Gerade die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiken, die vorgeben, die Interessen der sozialen Mit-te durchzusetzen, erweisen sich schon jetzt als Katalysatoren einer sozialen Polarisie-rung.149 Die Gefahr besteht, dass Abgrenzungskmpfe und die Statuskonflikte zwischen Beschftigungsgruppen oder zwischen Beschftigten und Erwerbslosen zunehmend an Kraft gewinnen.150 Auch ist in den prekren Teilen der Gesellschaft die Abwendung von der Politik oder gar die Hinwendung zu extremen Parteien der Rechten wie Linken nicht unblich. Gegen letztlich Demokratie gefhrdende Poten-tiale der Prekarisierung helfen neben politischen Massnahmen vor allem solche, die eine offene, aufklrerische Debatte ber das Ausmass und die Facetten der reaktua-lisierten sozialen Frage151 frdern, um so etablierte Angst- und Feindbilder zu ent-schrfen oder zu beseitigen. Dazu bedarf es der ffentlichkeit. In der Frage der Adres-sierung einer ungleichheitssensiblen Gesellschaft152 richtet sich unser Blick auf ein anderes, in diesem Jahrhundert an Bedeutung gewinnendes Funktionssystem, das in gleichem Masse auch fr den Vollzug von Inklusion und Exklusion wichtig wird153: die Massenmedien.

    Abb. 1:

    Gleichgltigkeit, Geo Magazin

  • 25

    154 Huster/Boeckh 2008, S. 578

    155 ebd., S. 584

    2. Kommunikation sozialer Ungleichheit und Exklusion

    In den vorhergehenden Abschnitten haben wir festgestellt, dass der Umgang mit dem Thema sozialer Ungleichheit und ihrer Dynamik von berholten Vorstellungen und extremen Negativbildern belastet ist. Doch welche Rolle spielen die Medien als Mittel der Meinungsbildung und Kanal der Kommunikation sozialer Ungleichheit bei der Entstehung und Erhaltung der angesprochenen Ressentiments, Vorurteile und durch Abgrenzungsbemhungen bedingten Identittskonstruktionen? Wie wird versucht mit medialen Mitteln Aufklrung zu betreiben durch Thematisierung einer Debatte, die von Angst geprgt und der Mehrheit der Menschen unangenehm ist? Auch soll am Beispiel der Strassenzeitung ein Versuch errtert werden, wie Betroffene in Eigenini-tiative aus dem gesellschaftlichen Aussen heraus zu kommunizieren versuchen.

    2.1. Medien und soziale UngleichheitEin Zugang zu Medien erweist sich heute als eine Voraussetzung fr gesell-

    schaftliche Teilhabe. Seit der ffnung des Fernsehmarktes ist die ffentlichkeit durch die zunehmende Pressenkonzentration und verschrften Wettbewerb zur einer Me-dienffentlichkeit geworden.154 Medien bestimmen die Themen des ffentlichen Diskurses, da sie Vermittlungsinstanzen sind, durch die unser Bild von Gesellschaft und Welt geprgt wird.155 Ein Thema wird erst durch sie zu einem ffentlichen.

    Abb. 2

    Gnadenlos gerecht Sozialfahnder ermitteln, Doku-Soap auf Sat 1

    Abb. 3

    Die blen Tricks der Hartz-IV-Schmarotzer!, Bild-Zeitung

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    Gerade gesellschaftliche Missstnde erlangen erst eine Existenz im ffentlichen Bewusstsein, wenn die Medien sie auch als Missstand anerkennen und behandeln. Soziale Problematiken rein der Inszenierung der Massenmedien zu berlassen und auf das Bild zu reduzieren, das sie von ihnen schaffen, erscheint hingegen als unge-ngend.156 So erweisen sich gesellschaftliche Miseren nicht immer als mediengerecht oder erfahren oftmals eine deutliche Verzerrung und Vereinfachung. Die journalisti-sche Bearbeitung beschrnkt sich hier meist nicht aufs Registrieren, sondern unter-zieht soziale Probleme einer regelrechten Konstruktionsarbeit.157

    Gerade im Hinblick auf die Entwicklung der sozialen Frage in den letzten 20 Jahren zeigte sich eine starke Tendenz zur Marginalisierung der Thematik. Diese Marginalisierung ist medial konstruiert, indem Weltbilder kultiviert werden, die auf einem Selektions- und Konstruktionsprozess beruhen und die Realittskonstruktion der Medienrezipienten mitgestalten.158 Es erfolgt eine Reduzierung auf Standard-erzhlungen wie der Ausnutzung sozialer Sicherungssysteme, die individuelle Eigen-verantwortung fr die Lage und die angesprochenen mglichen Begleiterscheinungen von Prekaritt wie Sucht und Krankheit, ohne den urschlichen Mechanismen wirklich gerecht zu werden (S. 24, Abb. 1). Die Auseinandersetzung mit der sozialen Ungleich-heit hat besonders in der Tendenz hin zum Infotainment verstrkt eine Boulevardisierung erfahren.159 Aus der Vereinfachung heraus produzieren die Medien so eine gesell-schaftliche Reprsentation, die sich fortpflanzt, auch wenn sie von der Realitt ziemlich weit entfernt ist und oft nur die spontanen Interpretationen verstrkt, Vorurteile mobilisiert, und so zu deren Verdoppelung beitrgt.160 Gerade das Fernsehen hat hier eine besondere Position inne, die sich in einem starken Herrschaftseffekt ussert. Seine grosse Verbreitung fhrt zu einem erheblichen Gewicht bei der Erzeugung vorherrschender Reprsentationen von Ereignissen und Problemen. Mit der Bildin-formation und deren direkten und affektiven Wirkung produziert es zustzlich einen Dramatisierungseffekt, der geeignet ist, kollektive Gefhle sehr direkt zu erwecken.161 Die Gefahr liegt hier vor allem im sehr mchtigen Gewissheitseffekt der Bilder, die strker noch als das geschrieben Wort vorgeben eine unbestreitbare Realitt zu be-schreiben, ungeachtet der dahinter verborgenen mehr oder weniger expliziten Se-lektions- und Konstruktionsarbeit durch den journalistischen Apparat.

    Die Diskussion ber soziale Problemlagen wird auf wenige Pro- und Contra-Argumente verkrzt und meist in der Konzentration auf Einzelflle personalisiert. Das Anprangern und Blossstellen von Verfehlungen der Unterschicht wird dabei zur Quo-tengewinnung und damit im Sinne wirtschaftlicher Vorteile der Medienanbieter ins-trumentalisiert. Entsprechende Formate tragen Titel wie Gnadenlos GERECHT: Sozialfahnder ermitteln162 (S. 25, Abb. 2), in denen Hartz IV-Betrger (S. 25, Abb. 3) scheinbar reihenweise berfhrt werden. Diese Behandlung fhrt letztendlich zu der Verstrkung der Stigmatisierung der betroffenen Bevlkerungsgruppen und ist einem sachlichen Diskurs von ffentlichem Interesse alles andere als zutrglich.163

    Das von den Medien produzierte Ereignis wird zur Projektionsflche. Jeder kann die Besttigung fr das sehen, was er schon lange gedacht hat.164 In der Er-zeugung von Wirklichkeitseffekten bt sich die mediale Sichtweise in der Schaffung der Wirklichkeit, die zu beschreiben sie vorgibt.165

    Die sozial Benachteiligten als Gegenstand derartiger Konstruktionsarbeit er-scheinen als Beherrschte der medialen Reprsentation ihrer selbst. Es findet ledig-lich ein Diskurs ber sie statt, an dem sie nicht wirklich beteiligt sind. Es ist sicher festzustellen, dass Armut in der Tendenz nicht ffentlich wird, da die Betroffenen wie zuvor dargelegt meist soziale Rckzugsreaktionen unter dem Druck des ffentlichen

    156 Champagne 1997, S. 61

    157 ebd.

    158 Huster/Boeckh 2008, S. 584

    159 ebd., S. 579

    160 Champagne 1997, S. 61

    161 ebd.

    162 Sat1, seit 20. August 2008, Mittwochs 21:15 Uhr

    163 Huster/Boeckh 2008, S. 582

    164 Champagne 1997, S. 65

    165 ebd.

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    Bildes zeigen und auch dort, wo sie in der ffentlichkeit sichtbar werden zunehmend systematisch aus den ffentlichen Verkehrs- und Kommunikationsrumen verdrngt werden.166 So wurde beispielsweise im Januar 2009 den Verkufern der Basler Stras-senzeitung Surprise nach einem vorbergehenden vollstndigen Verkaufsverbot das Anbieten des Magazins nur unter Verzicht auf Rufen des Namens der Zeitung und untersttzende Gestik wieder gestattet.167 Das Mass ihrer Prsenz soll auf ein absolutes Minimum reduziert werden.

    Durch das Ausgrenzen sogar aus dem ber sie gefhrten ffentlichen Diskurs neigen die Prekarier dazu, sich dieses Diskurses zu bedienen, sollten sie wider Erwarten doch einmal mediale Beachtung erfahren. Besonders wenn sie im Fernsehen zu Wort kommen: Man hrt sie den Diskurs wiederholen, den sie am Vorabend in den Fern-sehnachrichten (...) gehrt haben. So sprechen sie sogar in der dritten Person ber sich168 in Formen wie z.B. die Arbeitslosen oder die Sozialhilfeempfnger.

    Der Zugang zu den Medien als inkludierendes Element bedarf also nicht nur der Mglichkeit des Konsums derselben, sondern vor allem einer adquaten Reprsen-tanz durch Sprecher, die eine aktive Teilhabe am ffentlichen Diskurs ermglichen und das Prinzip eines medialen beherrscht Seins durchbrechen.169 Missstnde und Notwendigkeiten des Sozialen mssen mediengerecht artikuliert werden, um eine Chance auf ffentliche Anerkennung zu haben und so auf die eine oder andere Weise von den politischen Entscheidungstrgern bercksichtigt zu werden.170 Es zeigen sich Anstze des Versuchs mit einer Strategie der verstrkten ffentlichkeitsarbeit172 dieser auch medialen Problemlage Rechnung zu tragen. Durch ffentliche Kampagnen wie dem Kreativ-Wettbewerb Echt arm? im Jahr 2006, der Aktion gegen Armut, die der Sozialverband VdK Deutschland im Mrz 2008 startete, oder mit Hilfe von Internetplatt-formen wie diegesellschafter.de soll fr soziale Thematiken sensibilisiert und ffentlich-keit geschaffen werden. Die europaweite Entstehung von Obdachlosen- und Strassen-zeitungen ist zudem ein Beispiel fr den Versuch sozial Benachteiligter selbst aus ihrer Situation des sozialen Draussens heraus zu kommunizieren und sich als Akteur an der ffentlichen Thematisierung von Problemen zu beteiligen.172

    2.2. Medien gegen oder aus der ExklusionIm Folgenden soll ein genauerer Blick auf die Versuche der ffentlichen The-

    matisierung von sozialer Ungleichheit zum Zwecke der Aufklrung und Sensibilisierung geworfen werden. Welche Aspekte werden formuliert, welche Information vermittelt? Die Darstellungen im Rahmen von ffentlichen Kampagnen soll berblickend und exemplarisch fr den Versuch der Sensibilisierung durch ffentliche Stellen betrachtet werden. Die Strassenzeitung als Lobbywerkzeug der sozial Benachteiligten selbst soll im Anschluss an Beispielen eingehender besprochen werden.

    2.2.1. Thematisierung durch ffentliche Kampagnen

    Kampagnen wie die des Sozialverband VdK Deutschland bedienen sich der klassi-schen Medien ffentlicher Kommunikation, um ihre Themen zu platzieren. Gegenber beispielsweise teuer zu produzierenden TV-Spots bildet hier meist das Plakat (z.B. S. 28, 29, Abb. 4 6, 9) das Gesicht der Kampagnen. Auf kommerziellen Werbeflchen im ffentlichen Raum gezeigt ist es Mittel des ersten Kontakts. Parallel dazu kommt Informationsmaterial in Form von gedruckten Broschren oder Flyern zum Einsatz, die auf der Strasse verteilt oder in ffentlichen Rumen ausgelegt werden. Diese ent-halten weiterfhrende Informationen und neben statistischen Daten und eindrcklichen Zahlen meist auch Fallbeispiele von Betroffenen und ihrer Situation. Fr weiterfhrende

    166 Huster/Boeckh 2008, S. 584

    167 Loser, baz.online, 04.02.2009

    168 Champagne 1997, S. 63

    169 Stichweh 2002, S. 63

    170 Champagne 1997, S. 65

    171 Huster/Boeckh 2008, S. 585

    172 Stichweh 2002, S. 8

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    Recherchen und Austausch werden Websites angeboten, die als eine Art Medium des zweiten Blicks den Interessenten lngerfristig binden sollen. Hier jedoch soll sich der Blick auf die Medien einer solchen Kampagne beschrnken, die den Anforderungen plakativer und schnell erfassbarer Information in der Formulierung prekrer Lagen oder sozialer Ungleichheit gerecht werden mssen wie etwa Plakat oder Anzeige.

    Zentrales Element ist recht konsequent der Einsatz grossflchiger Bilder. Rein typografische Plakate finden sich nicht. Jedoch ergnzen stets kurze, prgnanten Be-griffe oder Aussagen, die sich in gross abgesetzter Schrift deutlich von etwaigen Ne-beninformationen abheben, die Bildebene. Das Logo der jeweiligen sozialen oder karitativen Vereinigung ordnet die Kampagne eindeutig ihrem Absender zu.

    Wie in Abb. 4, 5, 6 und 9 zu erkennen, wird hier vor allem Armut zum tragenden Begriff. Dieser wird dem Anschein nach umfassend verwendet, um prekre Lagen auszudrcken. Abb. 4, 6 und 9 formulieren diese Lage visuell besonders ber den Effekt der Ausgrenzung. Beispielsweise durch ein Spiel mit der Schrfentiefe (Abb. 4, 9) wird Distanz und Abgrenzung signalisiert. Auch in der Textebene findet sich das Exklusionsmoment wieder in Stzen wie und raus bist du. (Abb. 4) und abgehngt in im Bezug auf den Begriff des abgehngten Prekariats (Abb. 5). Lcher in den Socken (Abb. 10) oder das allein und schutzlos im Regen Stehen (Abb. 7) werden hier zum Sinnbild fr Entbehrung und Nachteil. Obwohl Wahrnehmung verndert und sensi-bilisiert werden soll, zeigt sich auch hier die angesprochene Neigung, die thematisier-ten Soziallagen ausschliesslich in Begriffen des Mangels173 durchzudeklinieren.

    Abb. 9: Armut tut weh.

    Kampagnenplakat der sterreichischen Volkshilfe.

    173 Vogel, APuZ3334/2008, S. 14

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    Die Perspektive bleibt stets die des Bessergestellten, des Helfers, der auf die Misere einer hilfsbedrftigen Gruppe blickt, die aber selbst keine Stimme zu haben scheint. Der sozial Benachteiligte verharrt so weiterhin als Nicht-Akteur der Gesellschaft ver-bildlicht als Ziel von Mitleid und Barmherzigkeit.

    Die Kampagne mit dem Titel Soziale Manieren fr eine bessere Gesellschaft der Caritas zeigt hier einen etwas anderen Ansatz. Die auf den Kampagnenmedien (Abb. 7, 8) gezeigten Personen stehen nicht direkt im Kontext einer Situation des Mangels. Lediglich ihre Gesichter, die Kleidung oder ihre Umgebung vermitteln eine Ahnung ihrer sozialen Lage. Die Perspektive bleibt zwar auch hier die einer Person jenseits der Erfahrungswelt der Gezeigten, jedoch steht dem Betrachter eine prsente Persnlichkeit gegenber, die ihn direkt anblickt und dabei aktiv mit ihm in Dialog tritt. Mit Aussagen wie Worte knnen verletzen. Auch mich. wird der Mensch im Bild zu einem Sprecher, der Respekt und Wahrnehmung einfordert. Hier gelingt die Loslsung von reinen Bildern des Mangels. An die Stelle des Erzeugens von Mitleid tritt die Forderung nach respektvollem Umgang.

    hnlich zeigt sich eine Kampagne, die 2006 kurzzeitig durch die Schweizer Strassenzeitung Surprise lanciert wurde. In Schweizer Stdten wurden Plakatwnde mit grossen Fotografien (S. 30, Abb. 1114) des Zrcher Fotografen Alberto Venzago bespielt, die Verkufer des Strassenmagazins in ungewohnter Kleidung, Pose und Umgebung zeigten, wie man sie aus den inszenierten Darstellungen bedeutender Persnlichkeiten aus dem Wirtschaftskontext kennt. Edle Interieurs und teure An-

    Abb. 4, 5, 6: Aktion gegen Armut

    Kampagnenplakate des Sozialverbands VdK Deutschland.

    Abb. 10: Echt arm?

    Kampagnenmaterial des Ideenwettbewerbs von 2006.

    Abb. 7, 8: Soziale Manieren fr eine bessere Gesell-schaft

    Kampagnenmedien einer Aktion der Caritas.

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    zge lassen lediglich das Gesicht die wirklichen Lebensumstnde der Abgebildeten verraten. Was diese Kampagne, die die Vorbehalte gegenber den Verkufern seitens der ffentlichkeit durch eine nderung des Wahrnehmungskontextes hinterfragt, auszeichnet, ist die Inszenierung Langzeitobdachloser als selbstbewusste Persnlich-keiten anstelle der Projektion erwarteter Bilder der Passivitt und Hilflosigkeit. Es ist nicht die Mitleid erweckende Jenseitigkeit verbildlicht, sondern die Formulierung eines Potenzials, das die Dargestellten auf die gleiche Ebene wie jeden andern hebt. Der Mangel als das zentrale Attribut ihrer Wahrnehmung wird gebrochen in der bild-lich berhhten Verkehrung ihrer eigentlichen Situation. Der Zustand der Bedrftig-keit weicht einer eindrcklichen Wrde. In ihr tritt der Zusammenhang zwischen Wahr-nehmungskontext und Wertung als kritischer Aspekt sozialer Lagen deutlich zu Tage.

    Mit Blick auf die Art und Weise, wie soziale Ungleichheiten in Kampagnen thematisiert werden, ist festzustellen, dass auch hier oftmals die Formulierung einer scheinbaren Schichtgrenze stattfindet. Der Adressierte scheint immer der besserge-stellte, um dessen Aufmerksamkeit geworben wird. Als problematisch zeigen sich hier eben die Darstellungen, die den Benachteiligten gegenber dem Betrachter in einer bemitleidenswerten Rolle der Passivitt belassen. Ungewollt entsteht hier die Gefahr, dass man entgegen der eigentlichen Absicht Vorurteile mobilisiert, zu deren Verdop-pelung beitrgt174 und sie so verfestigt. Positiv zeigen sich die Herangehensweisen, die nicht den Mangel sondern den Menschen als respektable Persnlichkeit als ein Gegenber in den Fokus rcken.

    Abb. 11, 12, 13, 14

    Fotografien von Alberto Venzago. Die Bilder der Serie dienten 2006 als Motive fr eine Kam- pagne der Strassenzeitung Surprise.

    174 Champagne 1997, S. 61

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    Leider berwindet keiner der gefundenen Anstze wirklich die reine Polarisie-rung zwischen Armut und Wohlstand. Die Grenze zwischen dem gesellschaftlichen Oben und Unten, Drinnen und Draussen konstituiert sich aufs Neue direkt in der Grenze zum Bildraum, die Betrachter von Betrachteten trennt. hnlich einer Ausstel-lungssituation erfhrt das Thema in den Plakatdarstellungen eine distanzierte Be-trachtung und Virtualisierung in seiner Bildwerdung.

    2.2.2 Die Strassenzeitung als Versuch der Teilhabe

    Die Strassenzeitung ist ein junges Phnomen, dessen weltweites Auftreten in den letzten 25 Jahren selbst als Folge der gesellschaftlichen Entwicklungen zu sehen ist.175 Das Medium spielt an sich eine Doppelrolle: Es bietet dem Arbeits- oder Woh-nungslosen die Mglichkeit, durch eine niederschwellige Ttigkeit selbst zur Verbes-serung seiner Lebensumstnde beizutragen und dadurch am ffentlichen und gesell-schaftlichen Verkehr teil zu haben. Auch sind meist Menschen in sozial schlechten Lagen selbst in die redaktionelle Arbeit involviert. Thematisch befassen sich die Ma-gazine in unterschiedlichem Umfang auch mit der Situation sozial benachteiligter Menschen. So soll durch Kommunikation aus dem gesellschaftlichen Randbereich Lob-byarbeit betrieben und mit Aufklrung gegen etablierte Vorurteile gearbeitet werden.

    Abb. 1526: Covers diverser Deutscher Strassenzeitungen

    175 Stichweh 2002, S. 8

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    Doch wie geschieht diese Kommunikation? Wie thematisiert sich sozialer Miss-stand selbst? Exemplarisch soll hier ein kurzer Blick auf drei Strassenzeitungen ge-worfen werden: STROHhalm (Rostock), Strassenkreuzer (Nrnberg, Erlangen, Frth), Hinz&Kunzt (Hamburg).

    STROHhalm. Die erste Rostocker Strassenzeitung erscheint seit 1995 alle vier Wo-chen zum 1. des jeweiligen Monats. Die Auflage betrgt aktuell um die 6000 Exemp-lare. Verkauft wird das Magazin zu einem Preis von 1,20 , wovon 0,60 an den Ver-kufer gehen. Herausgeber ist der gemeinntzige Verein Wohltat e.V. in Rostock. Die Strassenzeitung ist einfarbig im Digitaldruck auf gewhnlichem Office-Papier produ-ziert, geheftet und umfasst um die 30 Seiten je Ausgabe.

    Der STROHhalm inszeniert sich mit der Wahl des Titels als der sprichwrtliche Strohhalm, nach dem die Bedrftigen, die als Verkufer auftreten, in Form ihrer Ttigkeit greifen. Er trgt die Vorstellung einer schwierigen und verzweifelten Situa-tion mit sich, erhebt aber gleichzeitig die Zeitung zu einer mglichen Chance des Auswegs.

    Das Cover (Abb. 27) zeigt neben dem gross gesetzten Titel und einer grossen Abbildung nur die notwendigen Informationen zu Ausgabe, Verkaufspreis und Her-ausgeber. Tatschliche Bezge zu den Inhalten der Ausgabe finden sich nicht. Ledig-lich die Abbildung, die spielende Kinder vor einer Gruppe Schneemnner zeigt, welche klar das Motiv einer Familiensituation darstellen, lsst eine soziale Thematik

    Abb. 27, 28, 29: STROHhalm

    Die erste Rostocker Strassen-zeitung. Cover, Inhalt und eine Doppelseite.

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    erahnen. Hier konstruiert sich ein Wunschbild der klassischen familiren Struktur als Inbegriff eines Zustandes des Glcks, der Geborgenheit und Sicherheit. Gerade da es sich bei der vorliegenden um die Dezemberausgabe handelt, rckt diese Familienidee wegen des Weihnachtsfestes ins Bewusstsein gerade dort, wo es an sozialer Einbettung mangelt.

    Das Inhaltsverzeichnis (Abb. 28) wird dominiert von weihnachtlichen Thema-tiken und verbindet regionale wie auch soziale Inhalte mit christlicher Perspektive. Regionale Geschehnisse wie die Reparatur des Turmdaches einer Kirche oder der Rostocker Weihnachtsmarkt, sowie erzhlerische Beitrge zum Weihnachtsfest werden nur stellenweise von Texten zu sozialen Themen unterbrochen. Es gibt Rubriken wie Menschen unserer Stadt, Spendenmeldungen und Beitrge zu ehrenamtlich ttigen Brgern oder Verkufern des STROHhalms, jedoch machen sie eher einen margina-len Teil der Inhalte aus.

    Die Zeitung scheitert inhaltlich meines Erachtens an einer gewissen Unent-schlossenheit. Der Titel verweist klar auf soziale Notsituationen, die aber im Innern der Publikation kaum thematisiert werden. Dort zeigt sich das Heft im Ansatz eher als eine Art Gemeindezeitung. Das aber wird wiederum durch von der Region vllig los-gelste Artikel gebrochen (Abb. 29). Ein nennenswerter Beitrag zu sozialen Fragestel-lungen findet sich nicht. Auch eine Reprsentanz sozial Benachteiligter wird nicht sprbar. Die Verkufer erscheinen lediglich Vertriebsinstrument.

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    Strassenkreuzer. Das Sozialmagazin wird im Grossraum Nrnberg, Erlangen und Frth fr 1,60 angeboten. Davon erhlt der Verkufer 0,90 . Herausgeber ist der dazugehrige Verein Strassenkreuzer e.V. Es erscheint seit 1994 zweimonatlich. Produ-ziert wird das Magazin in einer Auflage von 17.000 bis 23.000 Exemplaren im Offset-druckverfahren durchgehend vierfarbig auf gestrichenem Papier, geheftet zu 30 Seiten.

    Der Strassenkreuzer bedient sich der Bezeichnung, die blicherweise auf aus-ladende Automobilmodelle aus amerikanischer Herstellung vor allem der frhen zweiten Hlfte des 20. Jahrhunderts Anwendung findet. In ihm ist der Versuch zu erkennen auf eine humorvolle Weise das Leben und Arbeiten auf der Strasse als Ort sozialer Problematik mit dem berzeichneten Bild der amerikanischen Luxuskarossen zu verbinden. Die konkrete Thematisierung von Not- oder Mangelzustnden wird hier vermieden. Der Untertitel Das Sozialmagazin weist jedoch nicht nur auf das Maga-zin als Medium sozialen Engagements hin, sondern verspricht explizit auch einen inhaltlichen Fokus auf soziale Themen.

    Auch hier nimmt eine Abbildung den Grossteil des Covers (Abb. 30) ein. Es zeigt eine von Grund auf inszenierte Situation, um explizit das Titelthema Armut. Reichtum. Kinderleicht erklrt. zu illustrieren. Die angesprochenen sozialen Pole erfahren eine Dopplung in der Bildebene. Dort findet sich zur Linken angeschnitten ein Verkufer des Strassenkreuzers in entsprechender Uniform , ergraut, etwa in den 50ern, als Vertreter der Armut und Bedrftigkeit. Whrend er den Betrachter anblickt, lehnt sich eine junge Frau ihn etwas schelmisch von der Seite anschauend

    Abb. 30, 31, 32: Strassenkreuzer

    Das Sozialmagazin. Cover, Inhalt und Doppelseite.

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    mit verschrnkten Armen zu ihm hin. In ihrer Erscheinung ist sie klar als die Besser-gestellte zu erkennen. Whrend sich in der jungen Frau eine bewusste und angstfreie Hinwendung darstellt, wirkt von Seiten des Verkufers die Uniform als eine Art Garantie fr die Vertrauenswrdigkeit. Armut und Reichtum, Bedrftigkeit und Wohlstand finden zueinander, whrend die Attribute des Verkufers die Zeitung als ermglichendes Inklusionsmedium erscheinen lassen. Der soziale Fokus der Publika-tion findet also auch hier direkt und eindeutig in Schrift und Bild seine Ausformulierung.

    Doch birgt eine solch vereinfachte Darstellung der Sachverhalte auch Tcken. Die Uniform des Verkufers wird zur Selbstkennzeichnung als sozial Benachteiligter und schafft eine visuelle Differenz zu einem Erscheinen des Normalen. Die junge Frau ist im Bild wesentlich prsenter und demonstriert eine bewusste Zuwendung zu einem der Anderen statt der Selbstverstndlichkeit derselben. Trotz seines wesentlich weiter fortgeschrittenen Lebensalters bleibt der Verkufer in einer fast kindlich an-mutenden Nebenrolle. Das Titelbild thematisiert so konkret eine gesellschaftliche Polaritt mit scheinbar klaren Grenzlinien.

    Im Inhaltsverzeichnis (Abb. 31) wird schnell deutlich, dass der Begriff Sozi-almagazin hlt, was er verspricht. Die Themen befassen sich zum grssten Teil mit Fragen zu sozialen Unterschieden, wie sie sich ergeben und wie wechselhaft Leben sein kann. In einem Spiel genannt Auf und Ab findet das aktuelle Thema diskonti-nuierlicher Lebenslufe sogar eine direkte Formulierung. Auch Geschichten und Perspektiven von Verkufern des Magazins finden sich und fgen sich stimmig in den

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    Kontext des Heftinhalts. So vermittelt das Magazin Eindrcke aus dem Bereich unsi-cherer Lebenslagen mit Blick auch aber nicht nur auf die Extremsituationen, in denen sich die Verkufer selbst befinden. Die Beitrge zeigen einen deutlichen Versuch, eine aktive Auseinandersetzung mit sozialen Themen zu frdern. In der vorliegenden Ausgabe wird sogar versucht, sehr junge Leser spielerisch an gesellschaftliche Debat-ten heranzufhren (Abb. 32). Der Strassenkreuzer zeigt sich deutlich und bewusst als pdagogisch orientiertes Aufklrungsmedium zu sozialpolitischen Fragen.

    Hinz&Kunzt. Das Hamburger Strassenmagazin ist das zweitlteste Deutschlands. Seit 1993 erscheint Hinz&Kunzt monatlich. Die Publikation wird vom Verlag Hinz&Kunzt gGmbH in Hamburg aktuell in einer Auflage von 60.000 Exemplaren herausgegeben. Der Verkaufspreis betrgt 1,70 , wovon 0,90 an den Verkufer gehen. Die Produkti-on erfolgt im Rollenoffsetdruckverfahren vierfarbig auf einem Zeitungspapier zu um die 46 gehefteten Seiten.

    Mit dem Titel Hinz&Kunzt greift man auf den alten deutschen Ausdruck Hinz und Kunz zurck, der synonym fr Jedermann steht. Die Wahl begrndet sich darin, dass das Magazin vielfltige Beitrge ber das Leben in und um Hamburg bieten und damit fr Jedermann interessant und unterhaltsam sein mchte. Das dem Kunz hinzugefgte t verweist auf den Schwerpunkt Kunst und Kultur, der von Beginn an als Profilierungsmerkmal des Magazins festgelegt wurde.176

    Schon diese Titelwahl gibt zu erkennen, dass diese Publikation mit einem be-

    Abb. 33, 34, 35: Hinz&Kunzt

    Das Hamburger Strassen-magazin. Cover, Inhalt und Doppelseite.

    176 Geschichte. Bekannt wie der Michel, hinzundkunzt.de, http://www.hinzundkunzt.de/hk/projekt/geschichte/~article~7/, 05.03.2009

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    sonderen Selbstverstndnis auftritt. Die Aufmachung kommt ganz im Stile eines Zeitungsmagazins daher. Die Abbildung auf dem Cover (Abb. 33) verweist direkt auf die Titelgeschichte und berrascht hier mit dem bekannten Gesicht eines prominen-ten Moderators. Drei weitere Themen werden am unteren Rand genannt. Prominenz, Schulkantine und Wohnungslose finden hier bereits auf dem Cover zusammen. Das schmissig formulierte Titelthema, das bekannte Gesicht und die schlichte Eleganz des Layouts erzeugen hier ein interessantes Spannungsfeld zwischen Sozialthemen und der Anmutung eines serisen und inhaltlich wie gestalterisch anspruchsvollen Magazins.

    Die thematische Ausrichtung setzt sich nach dem Aufschlagen im Inhaltsver-zeichnis (Abb. 34) fort. Themen wie Armut, Obdachlosigkeit, Wohnverhltnisse, Alter oder Migration machen gesellschaftliche Problemfelder prsent. Sehr positiv fllt dabei auf, dass dies im Kontext konkreter Situationen geschieht, die sich als Formen Hamburger Lebens schildern. Untersttzt durch meist qualitativ hochwertige und grossformatige Fotografien und eine gekonnte typografische Gestaltung erfahren die von professionellen Journalisten verfassten oder untersttzten Beitrge auch auf s-thetischer Ebene eine starke Aufwertung. Das Eintauchen in Hamburger Geschichten des Einfachen und Schwierigen im medialen Rahmen einer derart formulierten Pu-blikation verleiht diesen Randthemen eine faszinierende Relevanz und vermeidet den Eindruck einer Dokumentation passiver Opferrollen. Soziale Themen werden verwoben mit Kultur und Kunst, bewusst als Teil des gesellschaftlichen Lebens in Szene gesetzt und so mediengerecht aufbereitet (Abb. 35).

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    Man ahnt bereits nach diesen drei Betrachtungen, dass die Art und Weisen recht vielfltig ausfallen, wie Medien, die konkret aus sozialen Problemsituationen heraus entstehen, eben mit diesen auch inhaltlich umzugehen versuchen. Zweifellos sind die Mglichkeiten beschrnkt durch die finanziellen Mglichkeiten und Kompe-tenzen, die den jeweiligen Initiatoren zur Verfgung stehen. Es zeigt sich aber stets, dass die Formulierung der Thematik auf mediengerechte Weise die grsste Heraus-forderung wie auch Notwendigkeit darstellt, um eine ffentliche Wahrnehmung zu erreichen.177 Gerade die Strassenzeitung steht in einer komplizierenden Wechselwirkung mit dem Umstand ihres Erscheinens.

    Der Strassenverkauf ist klar mit der negativen Situation der Verkufer verknpft. Somit beeinflusst diese Verkaufssituation die subjektiv empfundene Wertigkeit des Produkts erheblich. Das Produkt selbst soll aber einen Wert darstellen, der gegen den gezahlten Geldbetrag getauscht wird. So muss die Strassenzeitung durch ihre Wertig-keit die allgemeine Distanzierungsdynamik gegenber sozial benachteiligten Gruppen berwinden und im Optimalfall die Auseinandersetzung mit dem Kontext ihres Ur-sprungs frdern, indem sie die etablierten Vorstellungen geschickt in Frage stellt, ohne den Leser zu offensichtlich mit einem unliebsamen Angstthema zu konfrontieren oder dabei gar belehrend zu wirken.

    Hinz&Kunzt zeigt neben der Gestaltung auch inhaltlich einen guten Weg auf. Bekannte Gesichter und Bezge zur Hochkultur wie dem Kunstsektor werden als Vehikel eingesetzt um soziale Themen in einen Bereich allgemeinen Interesses zu heben. Gleichzeitig werden auch problematische oder einfache Soziallagen des Ham-burger Lebens nicht als zu beseitigendes bel dargestellt, sondern als ein Teil der Stadt und ihrer Identitt. Die Suche nach einem Zusammenspiel von attraktiven Kon-texten mit Wert und Teilhabe vermittelnder Darstellung von sozialen Lagen jenseits der etablierten Gesellschaftsvorstellungen scheint hier einen erfolgreichen Ansatz aufzuzeigen, der das Erreichen einer grsseren ffentlichkeit ermglichen kann.

    177 Champagne 1998, S. 65

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    3. Schlussfolgerungen fr eine gestalterische Auseinandersetzung

    Nach der intensiven Betrachtung der schwierigen Bedingungen, unter denen die so-ziale Frage und mit ihr die beschriebenen gesellschaftlichen Vernderungen zu the-matisieren sind, sollen nun abschliessend die Anforderungen an eine solche Kommu-nikation angesprochen werden. Fr die praktische Thesis soll ber Gefahren und Chancen reflektiert werden, die sich aus der Auseinandersetzung mit einer diversifi-zierten Gesellschaft in Form einer Intervention mit den Mitteln der visuellen Kommu-nikation ergeben.

    3.1. Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung in und durch die MedienIm soziologischen Diskurs wird die Forderung bereits seit Jahren wieder und

    wieder formuliert, speziell im Kontext der Kritik des Umgangs der Medien mit dem Thema der sozialen Ungleichheit: Es bedarf vor dem Hintergrund der Entwicklung der Medienstruktur [] deshalb in Zukunft noch intensiverer ffentlichkeitsarbeit bezogen auf die Darstellung der Armutssituation.178 Es findet sich sogar die klare Forderung, dass kulturelle Produktion nicht nur Mittel der Dokumentation dieses gesellschaftlichen Problemkomplexes zu sein hat, sondern auch zur Reflektion ber Chancen seiner Bewltigung durch Darstellung.179

    Dabei wren Aspekte wie im Kollektiv geprgte Bilder von Armut oder Arbeits-losigkeit als gesellschaftliche Wahrnehmungs- und Verhaltensgestalten zu hinterfra-gen, ebenso wie, welche Wirkungen die Darstellung sozialer Ungleichheit auf das ge-sellschaftliche Gefge haben. Denn sie sind der Ursprung der sozialen Konflikt- potenziale, die sich aus der fortschreitenden Diversifizierung von Lebenslagen und -lufen ergeben.

    Will man den aktuellen Problematiken in einer medialen Umsetzung wirklich gerecht werden und zu ihrer Entschrfung durch Aufklrung beitragen, so halte ich es fr zwingend notwendig, folgende Anforderungen zu bercksichtigen: Die Kom-munikation muss sich vom Bild eines homogenen Untens abwenden und die Viel-schichtigkeit der neuen sozialen Frage180 in der ffentlichkeit verstrkt thematisieren. Der Blick muss gelenkt werden auf die Prozesshaftigkeit heutiger Soziallagen, auf die Ursachen sozialer Angst- und Ausschlussphnomene. Eine Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit bedarf eben einer mit der Vernderung der sozialen Rahmen-bedingungen, den Prozessen, die in erheblichem Masse die Selbstwahrnehmung und Klassifikationen grosser sozialer Gruppen bestimmen.181

    3.2. Probleme und Chancen einer visuellen InterventionDie visuelle Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit unterliegt, wie gezeigt,

    der stndigen Gefahr, sich im Versuch der Vereinfachung komplexer Wirkungen ge-sellschaftlicher Prozesse in Stereotypen und geprgten Bilder zu verlieren. Die Kon-stitution von klaren Grenzlinien zwischen einem Drinnen und einem Draussen wird oft auch im Rahmen sozialen Engagements besonders durch visuelle Mittel begnstigt.

    In den Betrachtungen einschlgiger Kampagnen und des Mediums der Stras-senzeitung haben sich Anstze und Probleme hinsichtlich der medialen Formulierung im Umgang mit sozialen Situationen gezeigt. Wichtige Aspekte sind hierbei die me-diengerechte Aufbereitung, die Herauslsung aus der Polarisierung zwischen Armut und Wohlstand, der Verzicht auf das bliche Vokabular des Mangels und das Hinter-

    178 Huster/Boeckh 2008, S. 577

    179 ebd., S. 465

    180 Brinkmann/Drre/Rbenack 2005, S. 130

    181 ebd.

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    fragen der Basis sozialer Anerkennung. Fr die praktische Arbeit sehe ich nun die Notwendigkeit, Aspekte aus den betrachteten medialen Formen aufzugreifen und den Weg in Mischformen zwischen Kampagnen, Publikation und vielleicht dem Umgang mit dem ffentlichen Raum als Ort der Konfrontation zu suchen.

    Die visuelle Kommunikation hat dabei das grosse Potenzial, ber die Konflikt-grenzen und Abgrenzungsbemhungen hinweg Informationen und Fragestellungen zu transportieren. Denn das Visuelle, das wirken kann, bevor es bewusst wird, kann ebenso Irritation ber und Zweifel an bestehenden Vorstellungen bewirken, wie es dazu beitrgt, diese zu verfestigen. Aus den gewonnenen Kenntnissen ber die Natur der sozialen Ungleichheit der heutigen Erwerbsgesellschaft lassen sich diverse Themen als Ausgangspunkt fr eine visuelle Intervention ableiten. Beispiele hierfr sind etwa: soziale Diversitt als neuer Normalzustand, Prekarisierung und Unsicherheit oder die Wichtigkeit sozialer Teilhabe fr die Bewltigung prekrer Situationen.

    Die grosse Herausforderung ist letztendlich die Erzeugung von Aufmerksamkeit fr ein gesellschaftliches Problem, in dessen Fall ein Grossteil der Bevlkerung kein Interesse daran (hat), dass ihnen das Thema zu nahe kommt.182 Das Vermitteln eines Bewusstseins fr die Prozesshaftigkeit auch der eigenen Biographie bieten Mg-lichkeiten zur Auflsung von Feind- und Angstbildern und zur Entschrfung heutiger Spannungsfelder in der Gesellschaft.

    182 Huster/Boeckh 2008, S. 584

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    Friebe/Lobo 2006Holm Friebe und Sascha Lobo, Wir nennen es Arbeit, Mnchen 2006

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    Gschel 2008Sebastian Gschel, Unlauterer Wettbewerb oder Das Elend des Vergleichens. Eine Re-Lektre des Marsyas-Mythos im Kontext aktueller Vernderungen von Arbeitswelten, in: Von Neuer Unterschicht und Prekariat, hg. v. Claudio Altenhain, Anja Danili