StudiVersum Ausgabe 35

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STUDI VERSUM NUMMER 35 | 2010.11 Freiheit PROKRASTINATION 07 ALT BUNDESRAT MERZ IM GESPRÄCH 24 PASSWORT NETWORKING 30 1 STUDIVERSUM | 2010.11

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Ausgabe 35 von StudiVersum im November 2010 unter dem Thema "Freiheit"

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STUDIVERSUM

NUMMER 35 | 2010.11

FreiheitPROKRASTINATION 07ALT BUNDESRAT MERZ IM GESPRÄCH 24PASSWORT NETWORKING 30

1 STUDIVERSUM | 2010.11

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Beziehungen aufbauen – Werte schaffen:WirtschaftsprüfungSteuer- und RechtsberatungWirtschaftsberatung

© 2010 PwC. All rights reserved. “PwC” refers to PricewaterhouseCoopers AG, which is a member fi rm of PricewaterhouseCoopers International Limited, each member fi rm of which is a separate legal entity.

HC_Studierende_Absolventen_Arbeit_210_280.indd 1 08.10.2010 11:07:31

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Beziehungen aufbauen – Werte schaffen:WirtschaftsprüfungSteuer- und RechtsberatungWirtschaftsberatung

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04 LIEBLINGSDING

WARUM ICH MEINE VESPA LIEBE

05 UMFRAGE

WOVOR HAST DU ANGST?

06 AUS DEM LEBEN

HINTER DER DEADLINE

08 ATELIER

DER GEIST IM ROTEN AHORN

09 WISSENSCHAFT

SOZIAL GESUND

27 DAS UNIKAT

FÜHL DICH FREI – MODEFREI!

28 UNIPOLITIK FREIWILLIGE VOR!

30 REPORTAGE SWISSNETZ

32 UNTERHALTUNG IMPRESSUM, RÄTSEL

33 DIE FLOTTE 3ER-WG MATULAS MATSCHBIRNE

34 WIE ANNO DAZUMAL

DER STINKSTIEFEL

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Einen freien Willen

Lebst du schon?

Raus aus diesem Zirkus

Zeit für Musse

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Liebe Leserinnen und Leser, Die Essenz eines Lebensweges ist der freie Entscheid etwas zu tun oder zu lassen. Frei-heit kann in solch verschiedenen Formen daherkommen: Entscheidungsfreiheit, Mei-nungsfreiheit, Redefreiheit…– schlussend-lich geht es immer nur um das Eine: den Menschen.

Kein Wunder also haben sich grosse Denker wie Rousseau und Kant mit dieser Thematik befasst. Wie frei ist der Mensch? Wie frei darf der Einzelne sein?

Freiheit wäre aber nicht Freiheit, wenn es keine Grenzen gäbe. Unter anderem sol-chen Grenzen sind die StudiVersum-Re-daktoren auf den Grund gegangen:

«Gibt es den freien Willen?» – mit die-ser Fragestellung könnte man Bücher fül-len! Dr. Ludwig Hasler und Prof. Dr. Jürg Kesselring graben tief und zeigen philoso-phische und neurologische Perspektiven auf – zwei Essays.

«Initiative Grundeinkommen» – Utopie oder geniale Idee? Das hat sich unsere Re-daktorin Julia Krättli gefragt. Was würdet ihr tun, wenn ihr einfach jeden Monat einen gewissen Betrag zur Verfügung hättet? Un-ternehmer Daniel Häni erklärt, was er will.

«Gewonnene Freiheit» – Alt-Bundesrat Hans-Rudolf Merz ist am 28. Oktober von seinem Amt zurückgetreten und sieht sich nun konfrontiert mit viel Freizeit. Was er damit anzufangen gedenkt, teilt Silja Aeber-sold mit uns.

«Aussteiger» – Manche haben genug. Von der Konsumgesellschaft, dem Druck, der Stadt, den Leuten und gehen. Sie gehen aufs Land. Aus einem Banker wird plötzlich ein Bauer. Diese Freiheit hat er sich genom-men. Mirjam Goldenberger weiss weshalb.

Und niemand weiss Freiheit besser zu zelebrieren als die Studierenden von heu-te! Sie leben, lieben, fallen, schwänzen, fei-ern, arbeiten, reisen, lernen und trinken. Dies und vieles mehr verbinden wir mit Freisein. Freiheit ist auch ein Menschen-recht. Zu den Menschenrechten zählt auch das Recht auf Bildung! Wer könnte freier sein, als jemand der studieren kann, was er wünscht und dem alle Türen offenstehen? Nicht jedem Menschen steht dieser Weg of-fen. Geniesst euer Privileg!Eure Raffaela Angstmann

EDITORIAL | INHALT

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«Auf meine Vespa kann ich meine Freunde aufladen und überall hin mitnehmen, nach Frankreich, Italien und in die Schule. Manchmal hat sie kleine Probleme, die ich sofort behebe, da ich meine ‹Honeybee› in- und auswendig kenne. Erst im Lichte des Sonnenuntergangs kommt ihre wahre Farbe zum Ausdruck.»

Thomas Kuratli, 22, studiert Film an der Zürcher Hochschule der Künste

WARUM ICH MEINE VESPA LIEBELIEBLINGSDING

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WOVOR HAST DU ANGST?Vor Hühnern, weil sie mich in die entblösste Wade picken könnten, Präsentationen, dem unbeleuchteten Nachhauseweg oder einfach nur davor den Zug zu ver-passen? StudiVersum hat sich an der Universität Bern umgehört und Studierenden auf den Zahn gefühlt. Text und Bild Selin Bourquin

«Mir machen Tauben Angst. Diese flattern so tief und könnten in mich rein fliegen. Also ich war zwar schon mehrere Male in Venedig, aber ich habe dann immer versucht, den Markusplatz zu meiden, weil dort so viele Tauben sind.»

Martina Longo, 22, Italienisch und Kunstgeschichte

Alexander Hild, 22, Psychologie«Ich habe Angst wichtige Menschen zu verlieren. So konkret gibt es dafür zwar keinen Grund. Aber viele Menschen stehen mir sehr nahe und wenn ich mir vorstelle, die wären nicht mehr da – das wäre schon heftig.»

«Vor dem Tod. Gestern war ich an einem Begräbnis. Ich habe Angst davor, meine Familie zu verlieren, dass meine Mutter oder mein Vater stirbt.»

«Nicht zu finden, was zu mir passt, macht mir Angst. Beruflich. Denn ich weiss noch nicht genau, was aus mir werden soll. Ich habe ein wenig Angst vor der Zukunft.»

Manuel Sadowski, 29, Volkswirtschaftslehre

Lara Février, 23, Rechtswissenschaften

«Der Dunkelheit. Zudem fürchte ich mich vor Clowns! Diese geschminkten Gesichter ängstigen mich. Es gibt für mich nichts Schlimmeres!»

«Ich habe Angst vor gesundheitlichen Einschränkungen; krank zu werden und so den Alltag nicht mehr meistern zu können.»

«Es gibt nicht viel, das mir Angst machen würde. Meine Angst ist, irgendeinmal im Leben unglücklich und alleine dazustehen, niemanden zu haben und Dinge zu bereuen.»

«Der bevorstehenden Mathematikprüfung! Ich bin eine totale Niete in dem Thema, in dem wir geprüft werden. Ich weiss nicht, was mir bevorsteht.»

«Stinkkäfern und dass meine zukünftigen Kinder mich mal extrem peinlich finden werden. Stinkkäfer müffeln ekelhaft, wie der Name schon sagt. Stinkkäfer sind der Horror!

Nora Scheidegger, 23, Rechtswissenschaften und Psychologie

Patrick Zwahlen, 24, BWL und Geografie

Jonas Rogger, 24, Philosophie und Mathematik

Lia Knobel, 20, Biologie

Ina-Maria Schemer, 23, Politologie

UMFRAGE

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AUS DEM LEBEN

KLEINKARIERTE NOSTALGIE IM SETZKASTENFünf auf fünf Zentimeter, ein Holzkaro, das Platz für Dinge bietet, die einst bedeutsam waren. Nun hat sie der Staub liebevoll eingepackt.

KnopfVier Löcher zieren seine Mitte. Nur Mee-reskundige erahnen unter der Pelzschicht das kostbare Material. Es war vor 17 Jahren. Ludmilla trug den Mantel ihrer Patin und benutzte zum ersten Mal einen Aufzug. Ihr Herz schlug so heftig, dass der alters-schwache Faden das Perlmutt dem freien Fall überliess. Beinahe sanft landete es im grünen Smaragdteppich. Der Portier bück-te sich danach und versenkte es am Abend in der Suppe seiner Frau. Diese küsste ihn zum Dank auf den Adamsapfel.

ApfelstielJeden Mittwoch legte er auf der Riponne mit fahrigen Bewegungen die Gewichtsstei-ne auf die eine, den Fenchel auf die andere Seite der Waage. Bis sie kam; dann strich er sich das Haar aus der Stirn und beugte sich über den Apfelharass, prüfte einige Früch-te in der Hand und überreichte Chloé ein Prachtstück. Der letzte Apfel vor ihrem Wegzug lag zwei Jahre auf ihrem Brotkas-ten, zog die Fruchtfliegen an, wurde klein und schrumpelig. Den Stiel behielt Chloé, den Apfel vergrub sie links vom Grab Ro-sies, ihres Kanarienvogels, sie verschob das Holzkreuz nach rechts und hätte den Ro-senkranz gebetet, wenn sie sich an diesen hätte erinnern können.

LavendelsäckchenDamals lagen sie im Feld, barfuss, Berta kit-zelte Ernst mit dem duftenden Violett an der Nase, er knurrte, sie lachte, steckte sich den einen Halm hinters Ohr, ihm den ande-ren ins Knopfloch. Die Blüten füllte sie spä-ter in einen Beutel aus Stoffresten, schlang eine ihrer kunstvollen Maschen darum und legte ihn zwischen Ernsts gestärkte Hem-den. Nun ruht das Säckchen, einst duftend, seit Langem unverrückt.

MilchzahnRahel kümmerte sich so um ihren ersten ausgefallenen Milchzahn wie alle ande-ren Kinder, nur aus einem völlig anderen Grund. Ein Mal jährlich kam die Zahnfee zur Schule, bürstete ein überdimensiona-les Gebiss, das sich auf- und zuklappen liess,

und zeigte an der Moltonwand auf Zahn-hals, -wurzel und -krone. Zum Schluss, und darauf wartete Rahel immer ungedul-dig, gab sie Zähne herum. Eckzähne, Weis-heitszähne, Schneidezähne. Milchzähne fehlten und Rahel beschloss, ihre zu behal-ten. In einer Notsituation würde sie diese der Zahnfee andrehen. Und mit dem Geld

in der Molkerei so viele «20er-Mocken» wie möglich erstehen.

Linus drückt «Play». «Stereo Total» strömt in seine Kopfhörer. Er wippt mit, stellt den Fuss auf die On-Taste, hält das Rohr vor die Holzkaros. Er stillt den Hunger des Staub-saugers, bis der Setzkasten leer ist.

Text Martina Zimmermann

Kühlschrankmagnete halten sie gut fest. Agenden bieten ihnen Seiten an. Meisten stehen sie aber auf irgendwelchen Fress-zetteln, die man verliert und weiss, da war doch noch was. Listen. Immer in die Zu-kunft gedacht: To-do-Listen. Bewerbung schreiben, Arbeit verfassen, Literatur su-chen, Telefonanrufe erledigen. Stattdes-sen fällt mir ein, diesen Artikel zu schrei-ben, dazu ein bisschen im Internet zu re-cherchieren und dann zum Kühlschrank zu gehen.

Prokrastination ist das Fachwort für diese Aufschieberei. In die Zukunft schau-en und denken: Oh es ist ja noch weit, ich mach mal lieber was Anderes. Wie der grie-chische Wirt, der seine Gäste – mit blutigen Methoden – auf die Grösse des Bettes an-passen liess, passen Aufschieber ihre Ar-beit der vorhandenen Zeit an. Und je nä-her die Zukunft rückt, desto mehr werden die To-do-Listen zu Listen des schlechten Gewissens. Denn die Deadline wartet. Ein bisschen sterben ist es schon. An der Kan-te der Deadline fallen die Dinge ins Nir-

gends: Werden abgegeben, erledigt, ein-gelöst oder auch nicht. Und sind plötzlich gar nicht mehr so wichtig. Doch sobald et-was von der Liste über die Kante der Dead-line gesprungen ist – am Stichtag wohlver-standen – taucht wie ein Schweif des ver-löschenden Erledigten ein neuer Reigen unerledigter Dinge auf. Das Aufschieben kann von vorne beginnen.

Da das Ende der Liste ja sowieso nicht greifbar ist, schlagen Sascha Lobo und Ka-thrin Passig in ihrem Buch «Dinge gere-gelt kriegen. Ohne einen Funken Selbstdis-ziplin» vor, gar keine Listen mehr zu ma-chen. Oder höchstens Not-To-Do-Listen. Heute: Schreib ich mich nicht im Wasch-plan ein. Schreib ich nicht nicht an meiner Arbeit. Na ja, gut: Falls man auf die Liste nicht verzichten kann, trösten die Autoren einen, dass man möglicherweise genau in der Zeit des Aufschiebens sowieso die ge-nialsten Entdeckungen macht. So sei auch Leonardo da Vinci ein Erledigungsverwei-gerer gewesen. Aber ich schreib jetzt trotz-dem mal an meiner Arbeit weiter.

HINTER DER DEADLINE

Text Nora Lipp

Stillgelegte Hochspannungsleitung – das bedeutet Deadline auch noch. Doch wie still ist es wirklich, wenn wieder mal was abgehakt ist?

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AUS DEM LEBEN

WIE AUS DEM GESICHT GESCHNITTEN Wer meint, ein Gesicht sei nur Nase, Mund und Augen, hat nichts kapiert. Was ein Gesicht ausmacht, zeigt eine private Forschung.

Während der Olympiade in Peking, 2008, bekam ich eine Mail. Ich weiss nicht mehr, worum es ging, aber es war ein Foto mit et-wa zehn Chinesen darauf angehängt. Der Witz daran war, dass diese alle «tupfgenau» gleich aussahen, abgesehen von Frisur, Brille und solchem Zeug. Bei genauerer Be-trachtung stellte sich jedoch heraus, dass es eine ziemlich miese Fotomontage war; das Gesicht einer Person war in die Köpfe aller abgebildeten Personen gesetzt worden. Al-so eigentlich ziemlich blöd, aber die Mail deckte ein gängiges Vorurteil auf: Wir Eu-ropäer haben das Gefühl, dass alle Asiaten gleich aussehen. Ignorant. Interessant hin-gegen ist die tatsächliche Vielfalt von Ge-sichtern, unabhängig der Herkunft.

Seit Jahren schon betreibe ich diese pri-vate Forschung und betrachte, vermesse und begutachte Gesichter von Menschen, die mir begegnen. Natürlich heimlich, im Tram, im Restaurant, in Vorlesungen. Was mich immer wieder fasziniert, sind grosse Gesichter. Nicht einfach grosse Köpfe auf grossen Körpern, sondern explizit grosse Gesichter. Schwierig, das in Worte zu fas-sen, aber achtet euch mal darauf, dann seht ihr, was ich meine.

Ein weiterer Schwerpunkt meiner For-schung sind die Abstände zwischen Ober-lippe und Nase. Auch da gibt’s immen-se Unterschiede. Ich bediene ein weiteres Vorurteil: Ich habe das Gefühl, dass Spa-nier tendenziell einen grösseren Abstand zwischen Oberlippe und Nase haben, zir-ka 2.5 Zentimeter. Auch die Höhe des Kinns macht ein Gesicht aus. Mir persönlich gefal-len Kinne, die nicht zu hoch sind. Das macht das Gesicht etwas breiter, was ich schön fin-de. Normalerweise sind die Augen genau in der Mitte des Kopfes angesetzt. Könnt ihr mal testen bei euch. Blatt Papier so hoch wie euer Schädel in der Mitte falten und neben das Gesicht halten. Die Augen sollten ge-nau auf der Höhe der Faltlinie liegen. Sind sie darüber, hat euer Gesicht etwas Pferde-artiges (sind übrigens schöne Tiere), lie-gen sie darunter, entsprecht ihr dem Kind-chenschema und werdet wohl nie wirklich alt aussehen. Alt aussehen lässt einen hin-gegen eine Stirnglatze. Der Cousin meines Vaters rechtfertigte seinen enormen Haar-ausfall damit, dass ein schönes Gesicht halt Platz brauche. In diesem Sinne: Ein Hoch auf die verschiedensten Gesichter! Meine Forschung wird weitergehen.

Text Karin Reinhardt

Heute Morgen habe ich die Balkontür geöffnet und auf einmal ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen:

Bis jetzt hat noch kein Mensch etwas ge-sagt oder getan, dem ich mich zu 100 Pro-zent anschliessen kann. Ich meine, mit bestem Wissen und Gewissen dafür käm-pfen, in Diskussionen dafür einstehen und mit dem Megafon durch die Strassen ren-nen und schreien: «Das ist die Sache! Die-se Aussage muss beherzigt werden! Das bin ich in Reinform».

Klar, manchen Leuten ist der Frauen-fussball wichtig, anderen der Wohlfahrts-staat und Dritten bedeuten die sauren «Apf-elringli» von der Migros die Welt. Easy pee-zy. Ich finde auch, dass der Frauenfussball unsagbar toll und gesellschaftlich einwand-frei ist, dass er in seinem emanzipatorischen Gehalt eine Bereicherung für die ganze Erd-kugel darstellt. Logisch gehört der Wohl-fahrtsstaat zu den grössten Errungenschaf-ten der westlichen Zivilisation, das möchte ich gar nicht abstreiten. Und ohne Zweifel machen die sauren «Apfelringli» von der Migros die Essenz eines schönen, guten und tugendhaften Lebens aus… aber deswegen zu sagen: «Ich bin bereit für den Frauenfuss-ball, den Wohlfahrtsstaat oder die sauren ‹Apfelringli› von der Migros zu sterben», käme mir nicht mal im Traum in den Sinn. Wenn Leute so reden, bewundere ich sie al-lerdings sehr. Wenn Menschen solche Face-book-Gruppen* gründen, halte ich andäch-tig inne und schweige ein paar Sekunden vor ehrfürchtiger Bewunderung: Sie haben wahrscheinlich einen Lebenszweck gefun-den, dem sie zu 100 Prozent anhängen.

Des Weiteren schaue ich gern Wer-bung und wenn Heidi Klums Haarstyling «es» aushält, den Witterungen und Wen-dungen aller Schicksalsschläge zu trotzen, dann komme ich nicht umhin, zumindest ein wenig Begeisterung zu empfinden und mich zu 80 Prozent der klumschen Lebens-philosophie anzuschliessen. Aber 100 Pro-zent? Nein, das nicht. Dazu fehlen 20 Pro-zent. Diese 20 Prozent fehlen auch bei an-deren Dingen. Sie fehlten stets: Manchmal lerne ich in der Bibliothek stundenlang Sa-chen auswendig, die an Prüfungen abgefragt werden könnten (aber meistens nicht wer-den). Schlägt dann ein Studienkollege vor, dass wir eine Kaffeepause machen und ich mich WIRKLICH nach einem Kaffee füh-le und wir dann tatsächlich eine Kaffeepau-

se machen und der Kaffee WIRKLICH nach einer Kaffeepause schmeckt, das heisst gut tut und ablenkt, kann ich mich dem Kon-zept der Kaffeepause, das der Studienkolle-ge vorgebracht hat, trotzdem nicht 100 Pro-zent anschliessen. Er könnte ja einfach ein bisschen tratschen wollen und mit dem Kaf-fee keine WIRKLICHE Pause verknüpfen.Er könnte es nicht so ernst meinen. Er könnte es zu ernst meinen. Jedenfalls kann

die Kaffeepause nicht ewig dauern. Es ist bestenfalls eine 90-Prozent-Kaffeepause. Und die restlichen zehn Prozent? Die spar ich mir für «bis es zu spät ist» auf.

*Ich selbst habe bis jetzt erst eine Facebook-Gruppe gegründet. Sie heisst «Kann dieses To-kio-Hotel mehr Fans als eine Brezel haben?» und hat zehn Mitglieder – niemanden, den ich kenne.

100 PROZENT

Text Christoph Lutz

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ATELIER

DER GEIST IM ROTEN AHORN

ROTER TEICH, MAUS MIT ROTEM SCHWANZ, ROTE STRICKLEITER UND ROTER MOND. DAMARIS THÜRLEMANN INSZENIERT EINE RHYTHMIK-OPER FÜR KINDER IN BIEL.

Es ist Freitagnachmittag. Etwa 20 Kinder zwischen sieben und zehn tauchen ängst-lich ihre Finger in den roten Teich, bevor sie kühn daraus schlürfen. Der Geist im Ahorn rät dem verdutzten Jungen einem ro-ten Faden zu folgen, um seine spurlos ver-schwundene Schwester wiederzufinden. Schliesslich erscheint eine Maus mit rotem Schwanz, welche ihn in die erste von etli-chen märchenhaften Welten führt, in de-nen es wundersame Abenteuer zu überste-hen gilt.

Damaris Thürlemann studiert an der Hochschule für Künste Bern Musik und Bewegung/Rhythmik. «Der Geist im ro-ten Ahorn», beziehungsweise «L’Esprit de l’Erable rouge», ist eine Rhythmik-Oper, ge-sungen und gespielt von Kindern; ein Werk, das als Koproduktion der Hochschule der Künste Bern und des Theaters Biel-Solo-thurn entsteht. Zum Abschluss ihres Mas-ter-of-Musicpedagogy-Studiums gestaltet Damaris die einzelnen Szenen, entschei-det, welches Kind wann welche Bewegung auszuführen hat. Es ist reizvoll, mit Kindern ein Projekt über einen längeren Zeitraum zu entwickeln. Abgesehen von der Ge-schichte, welche auf ein chinesisches Mär-chen zurückgeht, ist die Oper – Musik, Ge-sang, Inszenierung – neu und bietet Raum für Ideen von Kindern.

Weiter beteiligen sich am Projekt: Emi-lie Casanova (Komposition), Elischewa Dreyfus, Janine Hauswirth, Sarah Dreyfus, Kurt Dreyer, Mathias Bühler. Text Marti-na Zimmermann, Bilder Olaf Veit

PROJEKT VONDAMARIS THÜRLEMANN

BESUCHENFür Gross und Klein spukt der Geist aus dem roten Ahorn im Volkshaus in Biel am 06.05.2011 um 19 Uhr, am 07.05.2011 um 15 Uhr und am 08.05.2011 um 11 Uhr. Ebenfalls im Mai 2011 führen 11- bis 15-Jährige «La Cenerentola» von Rossini auf.

SURFENGenaure Infos sind im Veranstaltungskalender auf www.hkb.bfh.ch zu einem späteren Zeitpunkt abrufbar.

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SOZIAL GESUND

In der Fachsprache versteht man unter «So-zialem Netzwerk» die Selbstorganisation eines Individuums, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Soziale Netzwerke haben kein bestimmtes Ziel, sondern Funktionen. Diese liegen in den individuellen Zielen je-des Einzelnen, zum Beispiel Wohlbefinden oder Networking zu Berufszwecken.

Gesunde BeziehungenDie Qualität der Netzwerkbindungen reicht von Bekanntschaften (schwach) bis hin zu intimen, andauernden Beziehungen (stark). Wissenschaftler bestätigten schon vor lan-gem die positiven Auswirkungen der letzte-

ren auf die Gesundheit. Der amerikanische Soziologe, Mark Granovetter, hat sich be-sonders mit ersterem auseinandergesetzt. Er fand heraus, dass die meisten Jobs, die über Vitamin B vergeben werden, über-raschenderweise über Personen laufen, mit denen wir schwach verbunden sind. Das er-klärt sich dadurch, dass wir mit Personen, die uns nahe stehen sowohl Interessen also auch mehrere Netzwerke teilen, weshalb ih-re Reichweite kleiner ist. Die Intensität von Beziehungen lässt sich anhand verschiede-ner Faktoren messen, wie der Zeit, die zwei Personen miteinander verbringen, der In-timität zwischen ihnen, der gegenseitigen Vertrautheit oder den Leistungen, die die Personen untereinander austauschen.

Der Umfang und die Dichte des Netz-werks hängen von jedem Einzelnen ab. In der Kindheit und Jugend wächst das Netz-werk im Normalfall. Im Erwachsenenal-ter hängt es eher von Geschlecht und Bil-dung als vom Lebensalter ab. Wie sehr un-ser Netzwerk unser Handeln beeinflusst, hat der Physiker Nicholas A. Christakis er-forscht: Es beeinflusst unser Gewicht, un-seren Alkohol- und Zigarettenkonsum und allgemein unsere Gesundheit. Sogar Glück ist in der Tat ansteckend. Die Dichte be-schreibt, wie eng eine Person mit den Netz-werkbeteiligten verbunden ist. Je dichter ein Netzwerk ist, also je mehr Personen sich

VOR ALLEM STUDIERENDE, DIE AUF DER SCHWELLE ZUM BERUFSLEBEN STEHEN, WIRD OFT EINGEHÄM-MERT, WIE WICHTIG ES IST, KONTAKTE ZU KNÜPFEN. DOCH WIE VIEL NETZWERK BRAUCHT DER MENSCH?

untereinander kennen, desto stärker kont-rolliert es eine Person.

Virtuelles DazugehörenInternetportale wie Facebook bringen diese Netzwerke auf eine völlig neue Ebene. Das Netzwerk verdichtet sich, vor allem weil das Internetportal offenlegt, wer sich unterei-nander kennt. Inwiefern es die Qualität der Beziehungen verändert, darüber lässt sich streiten. Facebook oder auch Twitter wer-den oft ins Negative gezogen und als Büh-ne narzisstischer Selbstprofilierung und da-durch als langfristige Vereinsamung verru-fen. Davon hält der Soziologe Ueli Mäder, Professor an der Universität Basel, nichts. Der Mensch reagiert auf die Gesellschaft. Früher färbte man sich die Haare pink oder piercte sich die Nase. Heute probiert man sich virtuell aus. Unsere Gesellschaft ist heute geprägt von Schnelllebigkeit, Globa-lisierung und Medialität, also beeinflusst das auch unser soziales Verhalten. Dank dem Internet ist es möglich, aus der Welt ein Dorf zu machen und Facebook lässt ei-nen Bande über die Welt knüpfen. Das steht auch im Gegensatz zu dem vermeintlich grösseren Gemeinschaftsgefühl von früher. Wie Professor Ueli Mäder erklärt, gehörte man früher zwangsläufig einer Gemein-schaft an, meistens einem Dorf. Das gau-kelte eine Zwangsgeborgenheit vor. Es gab nur ein Entweder-oder: Entweder gehör-te man dieser Gemeinschaft an oder jener. Das hat sich geändert zu einem Sowohl-als-auch. Der Mensch ist frei und kann sich sei-ne Netzwerke beliebig aussuchen, sowohl in einer Studentenverbindung sein als auch im Handballclub.

Natürlich bringt diese neue Freiheit auch Gefahren mit sich, denn Grenzen müs-sen erst noch gefunden werden. Der Erfolg von Facebook zeigt, dass sich soziale Netz-werke auf die neuen Medien ausweiten und dass trotz aller Freiheit ein gewisses Zuge-hörigkeitsgefühl notwendig ist. Wie weit das Internet und Facebook unsere Freund-schaften – und vielleicht sogar unseren Cha-rakter – verändern, ist noch nicht erforscht. Anstatt aber vieles negativ zu sehen, wieso freuen wir uns nicht an der Freiheit, uns kei-ne Kontrolle aufzwingen zu lassen? Die Or-tungs-Applikation auf Facebook liesse sich auch ausschalten. Text Claudia Piwecki, Illustration Melanie Imfeld

SCHMÖKERNVon Jens Beckert: «Soziologische Netzwerkanalyse»

Von Mark Granovetter: «Getting a Job»

Von Nicholas A. Christakis: «Connected! Die Macht sozialer Netzwerke und warum Glück ansteckend ist»

WISSENSCHAFT

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tiert mit dem Lebensernst der Sache. Unse-re gesamte Zivilisation steht und fällt mit der Annahme, Menschen seien (wie auch immer) frei: Erziehung, Recht, Demokra-tie. Ohne Freiheit keine Mündigkeit, keine Schuld, keine Verantwortung. Also sollten wir Freiheit gründlicher fassen, bevor wir sie auf die Müllhalde kippen.

Zur Hirnforschung. Benjamin Libet, ein Neurophysiologe, trumpft auf mit der Ent-deckung: Bevor ich mich ans Wollen ma-che, hat das Hirn meinen Willen längst prä-pariert. Ein «Bereitschaftspotenzial», von dem ich nicht das Geringste mitbekomme, spurt die Handlung vor. Mein Willensakt, vermeintlich Ursache des Handelns, setzt erst später ein und folgt der Spur, die das Hirn ohne mein Wissen gelegt hat. Wir tun also nicht, was wir wollen; wir wollen, was wir insgeheim schon am Tun sind. Erst im Nachhinein erfinde ich vernünftige Gründe für die Entscheidung, die das Hirn längst an-geschoben hat.

Ist Freiheit damit als Illusion entlarvt? Dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist, wussten wir längst, praktisch aus Er-fahrung, theoretisch spätestens seit Sig-mund Freud. Hirnforschung belegt expe-rimentell, was eh klar ist: Kein Ich beginnt mit sich selbst, kein Wille kann unabhän-gig wollen; das Wollen ist geprägt von Vor-geschichten: genetischen Prämissen, stam-mesgeschichtlichen wie frühkindlichen Prägungen, Einflüssen der Sozialisation etc. All dies speichert das Hirn. Jede Situation, die mich zum Handeln zwingt, aktiviert den Speicher, das «Bereitschaftspotenzial». Und das Hirn, mein IT-Zentrale, setzt alles daran, dass, was ich neu will und tue, im Einklang steht mit früheren Erfahrungen. So arbeitet jeder Speicher. Konservativ.

Ist das Ich bloss die Marionette des Hirns? Seine Freiheit eine zivilisatorisch vielleicht segensreiche, neurobiologisch

EINEN FREIEN WILLEN

Tu ich, was ich will? Oder will ich, was ich tu?Text Dr. Ludwig Hasler Was ist Freiheit? Ganz einfach: Frei bin ich, wenn ich auch anders kann. Aber kann ich anders? Oder bilde ich mir das bloss ein – während mein Handeln stur abläuft: nach göttlicher Vorsehung oder genetischem Programm? Zwei Vorbemerkungen:

1.Schon die Atomisten der Antike höhn-ten, wo denn in einer Welt von Ursache und Wirkung Platz für einen freien, also ursa-chelosen Willen sei. Na ja: Wer Freiheit dingfest machen will, scheitert zwangsläu-fig. Freiheit gibt es nicht, Freiheit ist (wenn überhaupt) die Lücke im Sein, der Riss in meiner Existenz, das Nichts in meiner sonst kompakten Gegenwart. Der Spott darüber, Freiheit nirgendwo anzutreffen, ist intel-lektuell so töricht, wie die Versicherung der Astronauten, sie seien Gott nirgendwo begegnet. 2.Die Leichtfüssigkeit der Debatte kontras-

WIE FREI DER MENSCH WIRKLICH IST – DARÜBER KÖNNTE MAN EIN LEBEN LANG PHILOSOPHIEREN, BÜCHER SCHREI-BEN UND DISKURSE FÜHREN. JEDER GROSSE DENKER HAT SICH MINDESTENS EIN-MAL IN SEINEM LEBEN MIT DIESER FRAGE-STELLUNG AUSEINANDERGESETZT UND SEINE THEORIEN ENTWICKELT. ES GIBT VON DER BIOLOGIE, ÜBER DIE PHILOSOPHIE BIS ZUR POLITIK VERSCHIE-DENSTE ANSÄTZE – ZWEI ESSAYS.

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EINEN FREIEN WILLEN

jedoch haltlose Einbildung? Warum? Der Speicher speichert ja immerzu neu. Spurt das Gespeicherte unsere Entscheidungen vor, dann geben wir dem Hirn doch ein-fach zu speichern, was wir beim Willens-akt befolgen möchten. Freiheit spielte dann indirekt: als Freiheit, den Speicher zu beein-flussen, der unsere Handlungen beeinflusst.

Auf die Frage, warum Amerika ein der-art gewalttätiges Land sei, antwortete Os-car Wilde: «Weil die Amerikaner so hässli-che Tapeten haben.» Geniale Einsicht. Der Mensch entwickelt sich durch Anpassung an Aussenreize. Wirken die Aussenreize (Tapeten) hässlich, wird der Mensch stumpf oder aggressiv. Wirken sie reizend, wird der Mensch charmant, neugierig, schlau. Die Anpassung an Tapeten läuft subkutan, da bleibt der Spielraum für Freiheit klein. Aber wir können die Tapeten bewusst gestalten: anregend, ernst, heiter. Diese Tapeten-Mus-ter prägen sich dem Hirn ein – so dass des-sen «Bereitschaftspotenziale» immer kräfti-ger nach Motiven vorspuren, die wir selber gewählt haben.

Das ist die Freiheit, die ich meine. Hirn-forscher haben schon recht: Ich kann nicht wollen, was ich will. Wenn ich mit Hirnfor-schern herumstreite, ist es nicht der Wille, der mich antreibt, es sind die Motive, die

Dr. Ludwig Hasler, Publizist und Philosoph, studierte Physik und Philosophie. Danach führte er ein journalistisch-akademisches Doppelleben. Als Philosoph lehrte er an den Universitäten Bern undZürich. Als Journalist war er Mitglied der Chef-redaktion erst beim «St.Galler Tagblatt», danach bei der Zürcher «Weltwoche». Seit 2001 lebt er als freier Publizist, Hochschuldozent, Vortragstourist, Kolumnist in Tageszeitungen und Fachzeitzeitschriften. Jüngste Bücher: «Die Erotik der Tapete. Verführung zum Denken» (2006), «Des Pudels Fell. Neue Verführung zum Denken» (2010, beide im Huber Verlag Frauenfeld). Er wohnt in Zollikon.

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meinen Willen formen und treiben. Viel-leicht Ehrgeiz, sicher Interesse an Freiheit. Nicht der freie Wille wählt das Motiv. Das Motiv aktiviert meinen Willen. Die Motive im Hirn sind teils Schicksal, jedoch nicht nur. Wir können sie nach unserem Gusto beleben, auffrischen oder eindumpfen. Das Hirn ist wie ein Instrument, wir können es nicht beliebig spielen, aber wir können es stimmen – über die Sinneseindrücke, die wir um uns organisieren. Die Selektion der Sinneseindrücke, die das Hirn in Stimmung versetzen: Das ist Menschenfreiheit.

Neurologische Perspektiven zur FreiheitText Prof. Dr. Jürg Kesselring Im Jahre 2004 schrieben elf Neurowissen-schafter, die sich selbst als «führende» be-zeichnen, ein Manifest über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung, das in der Zeit-schrift «Gehirn & Geist» veröffentlicht wur-de und seither hohe Wellen in den Diskus-sionen zur Frage nach einem «freien Wil-len» wirft.

Darin wird etwa festgehalten: «…die Da-ten, die mit modernen bildgebenden Ver-fahren gewonnen wurden, weisen darauf hin, dass sämtliche innerpsychischen Pro-

zesse mit neuronalen Vorgängen in be-stimmten Hirnarealen einhergehen – zum Beispiel Imagination, Empathie, das Erle-ben von Empfindungen und das Treffen von Entscheidungen beziehungsweise die absichtsvolle Planung von Handlungen…, dass all diese Prozesse grundsätzlich durch physikochemische Vorgänge beschreibbar sind.»

Bilder sind nun aber gerade nicht die Re-alität wie das René Magritte im berühmten Bild einer Pfeife festhält, die schöner nicht gemalt sein könnte, aber eben keine Pfeife ist (wie er explizit darunter schreibt: «Ceci n’est pas une pipe») – das merkt jeder, der sie rauchen will. Bilder sind Artefakte, das heisst Kunstprodukte, zu deren Herstellung lange Reihen von Techniken mit ihrer eige-nen Entwicklungsgeschichte gehören, so-wie Maler, die wiederum ihre eigene Lern-geschichte und Ausdrucksfähigkeit haben.

Mit den heute gängigen, fantastisch ent-wickelten, hochtechnischen, bildgebenden Verfahren lässt sich der Moment festhal-ten, in dem sich das Verhältnis von sauer-stoffreicherem zu sauerstoffärmerem Blut ändert, wenn eine Aufgabe vorgegeben wird. So kann etwa gezeigt werden, welche Hirnregionen sich bunter anfärben, wenn zum Beispiel eine Sprachaufgabe, oder so-

gar wenn eine Denkaufgabe gelöst wird. Mit solchen Verfahren lässt sich allerdings nichts über den Inhalt des sprachlich Verar-beiteten oder spontan Gedachten oder gar von kreativ Entwickeltem aussagen. Und es lässt sich nichts über die Geschichte erfah-ren, die hinter Handlungen oder Empfin-dungen steckt. Es ist auch ganz schwierig, nur schon einen wirklichen «Ruhezustand» eines Gehirns zu definieren, von dem die Abweichungen dann gemessen werden. Im Alltag hat man aber schon den Eindruck, dass der Inhalt des Gesprochenen und Ver-standenen interessanter ist als der Sprech-akt allein. Wenn auch gewisse Hirnareale bei Entscheidungsprozessen mehr Aktivi-tät zeigen, so lässt sich daraus nicht ablei-ten, ob die Entscheidung richtig oder falsch war, denn eine solche steht immer in einem sozialen und geschichtlichen Zusammen-hang, der mit solchen Verfahren eben gera-de nicht untersucht werden kann. Wir ver-halten uns in der Realität nie in Isolation, sondern immer in Interaktion mit der Um-welt, die sich noch unterteilen lässt in die materielle und die soziale.

Wenn aber diese Interaktionen in den Studien nicht berücksichtigt werden, so kann nicht gelingen, was in diesem Manifest erhofft wird, nämlich, dass «…in den nächs-

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ten 20 bis 30 Jahren, die Hirnforschung den Zusammenhang zwischen neuroelektri-schen und neurochemischen Prozessen ei-nerseits und perzeptiven, kognitiven, psy-chischen und motorischen Leistungen an-dererseits soweit erklären können wird, dass Voraussagen über diese Zusammen-hänge in beiden Richtungen mit einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad möglich sind… dass man widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen wird, denn sie beruhen auf biolo-gischen Prozessen.»

Aufgrund dieser Artefakte wird nun aber behauptet, dass wir Menschen nicht frei sein können, weil alle unsere Tätigkei-ten von biologischen Prozessen abhängen, die sich experimentell zum Teil schon nach-weisen lassen, bevor der «Wille zur Hand-lung» bewusst wird. Daraus wird dann so-gar abgeleitet, dass es entsprechend eine Schuldfähigkeit nicht geben könne, weil ja die Gehirnaktivität vor der bewussten Handlung stattfinde und nur bewusste Sub-jekte verantwortlich gemacht werden könn-ten (zum Beispiel Pauen und Roth 2008). Al-le Handlungen wären demnach im Rahmen physischer naturwissenschaftlich erklär-barer Prozesse festgelegt und könnten

Prof. Dr. Jürg Kesselring ist Chefarzt für Neurologie und Neurorehabilitation am Rehabilitationszentrum Valens und Facharzt FMH für Neurologie sowie Physika-lische Medizin und Rehabilitation. Desweiteren ar-beitet er als Titulaturprofessor für Klinische Neurologie und Neurorehabilitation an der Universität Bern und am Center of Neuroscience, Universität und ETH Zürich, wie auch an der «cattedra di neuroriabilitazione Università Vita e Salute San Raffaele» in Milano. Zudem ist er der Präsident der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft – und Poet.

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nicht anders geschehen, weil strenge Natur-gesetze herrschen. Solche Postulate beru-hen selbst auf metaphysischen, nicht be-weisbaren Annahmen (Determinismus). Ei-ne moralische Beurteilung von Taten setzt eine mehr oder weniger begrenzte Willens-freiheit voraus oder zumindest die Lösung des Widerspruchs zwischen der personal-moralischen und der subpersonal-wissen-schaftlichen Beschreibung. Ohne Freiheits-idee könnten Personen ihren Willen nicht selbst bestimmen und nicht mehr für ihre Handlungen verantwortlich gemacht wer-den, moralische Urteile und Emotionen hät-ten keinen Sinn mehr, alle Täter würden schuldunfähig und damit aber auch ent-mündigt.

Alltagserfahrung sagt uns aber, dass wir einige unserer Tätigkeiten, Wünsche und Gedanken frei wählen oder auch einen Handlungsablauf nach eigenem Willen un-terbrechen können, aber kein vernünftiger Mensch käme auf die Idee, dass ein solcher Wille absolut frei sei. «Common sense» lei-det halt noch an einem Verbreitungsdefi-zit – er ist «the least common of all senses» (Oscar Wilde). Wer wollte denn schon Frei-heit mit dem Fehlen jeglicher Festlegungen identifizieren? Eine solche Konzeption wä-re ein Widerspruch in sich, denn wäre der eigene Wille durch nichts festgelegt, so wäre der Wille nicht frei, sondern einfach zufäl-lig. Es kommt darauf an, wodurch der Wille begrenzt wird (Bieri 2009). Selbstverständ-lich gibt es Handlungsabläufe, die wir nicht willentlich umkehren können: Wenn wir durch eine Tür gehen wollen, müssen wir diese vorher öffnen (umgekehrt geht nicht), Anlauf nehmen kommt vor dem Sprung über den Graben, Eier werden mit Vorteil zuerst gekocht und dann geschält etc. Flie-gen kann ich zwar selber nicht, aber mich mit Leuten zusammentun, die aufgrund ihrer Geschichte Flugzeuge bauen lern-ten und sie mir für eine Gegenleistung zur Verfügung stellen. Wenn ich schreibe, lese oder liebe (oder morde), so tue ich das und nicht ein Homunculus in meinem Gehirn, den ich dann auch verantwortlich machen kann, wenn’s schiefgeht. Freilich gehen mit meinen Handlungen (Wünschen, Gedan-ken) chemische und elektrische Vorgänge einher, die sich bei geeigneter Versuchsan-ordnung in meinem Gehirn nachweisen las-sen, aber nicht diese sind es, die eine Hand-lung ausführen oder eine Empfindung aus-machen.

Freiheit lässt sich als Balanceakt, als stetig aktiv, gemäss Anforderungen aus der Umwelt und eigenen Fähigkeiten, neu aus-zutarierendes Schwebegleichgewicht er-fahren. Die Möglichkeiten dazu können sich mit der Zeit ändern – das ist Lernen, das auch mit biologischen Veränderung-

en einhergeht (Neuroplastizität). Als Me-tapher eignet sich der Seiltänzer oder Wa-genlenker. Beide sind sich immer bewusst, dass sie sich auf einem schmalen Grat bewe-gen und auf beiden Seiten abstürzen kön-nen. Wir verhalten uns so, dass wir einer-seits Lob und Anerkennung finden oder Strafe vermeiden, bewegen uns zwischen Angst und Langeweile, je nachdem in wel-chem Verhältnis Anforderungen zu unse-ren Fähigkeiten stehen. Krankheiten und Behinderungen schränken diese Freiheit ein, sie haben immer auch einen zwanghaf-ten Aspekt und sind meist mit Angst ver-bunden. Sie bringen das Gleichgewicht aus dem Lot, kippen es zum Beispiel auf der ei-nen Seite in die Sucht, in Zwang, Angst und Panik oder auf der andern Seite in Rückzug und Verweigerung, die Sozialphobie. Auf beiden Seiten würden alle von Unfreiheit sprechen. Ärztliche Tätigkeit zielt immer darauf ab, die Schieflage des Gleichgewich-tes bei den Patienten korrigieren zu helfen.

Der gemäss Manifest «vielleicht wich-tigsten Erkenntnis der modernen Neu-rowissenschaften», nämlich: Dass «Geist und Bewusstsein nicht vom Himmel ge-fallen sind, sondern sich in der Evoluti-on der Nervensysteme allmählich heraus-gebildet haben», kann sich bestimmt jeder anschliessen, der gelegentlich den Himmel betrachtet und schaut, was von dort so he-runterfällt. Bei dem, was sich «allmählich herausgebildet» hat, wird er sich aber be-sonders auch dafür interessieren, welche individuelle Geschichte und welche Anfor-

derungen aus der Umwelt zu den beobacht-baren Handlungen geführt haben.

Das Manifest gibt sich zum Ende hoff-nungsvoll: «…Dann lassen sich auch die schweren Fragen der Erkenntnistheorie angehen: nach dem Bewusstsein, der Ich-Erfahrung und dem Verhältnis von erken-nendem und zu erkennenden Objekt. Denn in diesem zukünftigen Moment schickt sich unser Gehirn ernsthaft an, sich selbst zu er-kennen.» Ein Gehirn selbst wurde noch nie als ernsthaft beobachtet, noch keines hat sich je zu etwas angeschickt und entspre-chend wird es sich auch nie erkennen kön-nen. Am Tempel von Delphi stand eben die Aufforderung an eine Person: «Erken-ne Dich selbst!» und auch noch der Tipp zur Einhaltung des Gleichgewichtes: «Nichts im Übermass!»

Vielleicht kommen «führende Neuro-wissenschafter» einmal zu ähnlichem Be-dauern wie ein früherer Manifestschrei-ber (Karl Marx), wenn ihnen bewusst wird, was sie mit ihren Worten in der Wirklich-keit anrichten. Wie man die Kochkunst oder das Musizieren am besten von Meis-tern lernt, so wendet man sich mit philo-sophischen Fragen an Philosophen (Ben-nett 2010, Bieri 2009, Murphy 2007) und ein kranker Mensch hält sich an einen kompe-tenten Arzt, der zuhören kann und aus Er-fahrung etwas Geeignetes für ihn zu tun vermag. «Kunst» kommt von «Können» (Herder) – wenn es mit dem «Wollen» ge-tan wäre, müsste sie «Wulst» heissen (nach Ludwig Fulda). Bilder zvg

SCHMÖKERNDie Literatur zu diesem Text findest du online bei demselben Artikel unter www.semestra.ch.

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tiative Grundeinkommen». Doch Unter-schriften für eine Volksinitiative werden noch keine gesammelt, es geht zunächst darum, die Idee des Grundeinkommens bekannt zu machen und mögliche Perspek-tiven aufzuzeigen. Ist die Zeit denn noch nicht reif für eine Volksinitiative? «Doch, vielleicht ist sie das bald», antwortet Hä-ni; er sieht in diesem politischen Recht je-doch nicht in erster Linie die Möglichkeit zur tatsächlichen Durchsetzung der Idee, sondern die Möglichkeit zu einer Verände-rung der Wahrnehmung: «Eine Volksini-tiative ist eigentlich eine grosse Bildungs- und Kulturveranstaltung, die auch jenseits von Mehrheiten die Gesellschaft weiter-entwickeln lässt.»

Die IdeeUm hier leben zu können, hat und braucht jeder Mensch ein Einkommen, ob er ar-beitet oder nicht. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern, aber die Zahl der Erwerbsarbeitsplätze wird sich im Zuge wirtschaftlichen Fortschritts und dazuge-höriger Rationalisierung wahrscheinlich weiter verringern. In der Schweiz erzielt heute noch gut die Hälfte der Menschen ihr Einkommen durch direkte Erwerbstätig-keit. In Deutschland sind es nur noch vier von zehn. Die anderen erhalten es durch Angehörige (wie die meisten Studieren-den), durch Renten, durch Arbeitslosen-geld oder Sozialhilfe. Für das Verständnis deshalb wichtig: Das Grundeinkommen ist keine Geldvermehrung, sondern er-setzt einfach einen Teil des Einkommens, das bereits heute jeder hat. Nur wer weni-ger hat als das Grundeinkommen, hätte da-durch mehr Geld zur Verfügung. Von ei-ner weiteren sozialpolitischen Massnah-me kann aber nicht die Rede sein; Carl Hirschmann erhält genau soviel an Grund-einkommen, wie die Kassiererin im Den-

LEBST DU SCHON?

In Umfragen würden 90 Prozent der Be-fragten angeben, dass sie wie bisher wei-terarbeiten, auf Teilzeit umsteigen oder die Stelle wechseln würden, sagt Daniel Häni, Unternehmer und Mitinitiant der «Initia-tive Grundeinkommen». Von ihm kommt die Frage. Sie sei für ihn ein Schlüssel zur Idee des bedingungslosen Grundeinkom-mens: «Was würden Sie arbeiten, wenn für Ihr Einkommen gesorgt wäre?» Im Ge-spräch mit Häni ist keine Utopie, was nach Utopie klingt. Im Gegenteil. Er gehört zu jenen Menschen, bei denen man das Ge-fühl bekommt, dass doch eigentlich alles ganz einfach ist.

Eine Initiative?Zusammen mit ein paar Freunden grün-dete er vor elf Jahren das «unternehmen mitte» in Basel. Neben Räumen für Arbeit und kulturelle Veranstaltungen befinden sich in dem stattlichen Bankgebäude zwi-schen Barfüsser- und Marktplatz zwei klei-ne Bars und – in der ehemaligen Schalter-halle – ein Kaffeehaus. Man kann sich dort treffen, eine Zeitung lesen oder am Laptop arbeiten. Man kann auch einen Kaffee trin-ken (guten Kaffee). Ausserdem ist die «mit-te» Sitz der 2006 von Daniel Häni und dem Künstler Enno Schmidt gegründeten «Ini-

STELL DIR VOR, DU ERHIELTEST EIN EINKOM-MEN, DAS ZUM LEBEN REICHT, SAGEN WIR 2200 FRANKEN, OHNE DASS DU DAFÜR EINE GEGENLEISTUNG ERBRINGEN MÜSSTEST. WAS WÜRDEST DU DANN AR-BEITEN? – EIN AUSFLUG IN DIE WELT, IN DER DU DIES FREI ENTSCHEIDEN KÖNNTEST.

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LEBST DU SCHON?

ner. Was die beiden daraus machen, ist ihnen überlassen. «Es geht um Selbstbe-stimmung.» Ein Satz, den Häni wiederholt äussert.

Hirschmann wäre sein Grundeinkom-men vermutlich egal, aber die Verkäuferin würde sich wohl gut überlegen, ob sie ihre Arbeit bei gleich bleibenden Bedingungen noch behält. Es sei tatsächlich so, dass das Grundeinkommen Dumpinglöhne und sinnentleerte Arbeiten erübrigen könn-te, bestätigt Häni, denn ein Unternehmer müsste seinen Angestellten mehr als nur fi-nanzielle Anreize bieten, damit sie bei ihm arbeiten wollten. «Endlich hätten wir einen freien Arbeitsmarkt», sagt er und strahlt.

Neben dem Werben für seine Arbeits-plätze hätte der Unternehmer noch zwei weitere Möglichkeiten: Entweder könnte der Vorgang an der Kasse automatisiert werden oder aber der Unternehmer könnte die entsprechende Arbeit selber erledigen.

Beispiel einer FreiheitRiccarda ist jeweils an mehreren Orten gleichzeitig, irgendwie. Eigentlich studiert sie Medienwissenschaften und Kunstge-schichte in Basel, engagiert sich momen-tan aber hauptsächlich für die studentische Kultur und hat deshalb viel zu organisieren. Dazu kommt immer mal wieder ein Neben-job und überhaupt gibt es ja auch viel zu viel zu sehen überall. Ihre Tätigkeiten sind des-halb von Gleichzeitigkeit geprägt.

Was würde sie mit 2200 Franken ma-chen, bekäme sie die einfach? «Ich würde Bettwäsche kaufen, die farblich zusam-

«Endlich hätten wir einen freien Arbeitsmarkt»

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menpasst», antwortet sie spontan. Und sie würde wieder einmal shoppen gehen, nach Mailand, und sich dafür alter Sachen entle-digen. Ja, und Stiefel; eine gute Investition für den Winter. Materialistisch ist sie nicht, aber sie räumt gerade ihre Wohnung auf, die sie während einiger Wochen nur auf-suchte, um gleich wieder zu gehen – wie ge-sagt, es gibt einfach zu viel zu tun. Aber was würde sie denn machen, wenn sie diese 2200 Franken jeden Monat erhielte? Ach so, das sei natürlich etwas Anderes. Dann wür-de sie einen Bauchtanzkurs besuchen, in Hobbies investieren, zum Beispiel mal se-geln gehen. Und sie würde am Wochenen-de viel mehr unternehmen. Nicht im Sinne von konsumieren, sondern zum Beispiel klettern gehen, in der Schweiz umherreisen. Sie würde auch mehr Bioprodukte kaufen, überhaupt mehr darauf achten, woher ge-wisse Produkte kommen. Ja, sie würde ihre Nebenjobs streichen, somit in Ruhe Studie-ren können und endlich die Arbeiten schreiben, die schon so lange darauf warten, fertig zu werden.

Finanzierung durch KonsumEin Beispiel: Paul setzt sich mit einem Buch in der Hand an einen Tisch im Kaffeehaus und bestellt an der Theke einen Cappuc-cino. Um diesen zu erhalten, hat er weder Kaffee angepflanzt, noch Kaffeebohnen ge-pflückt, er hatte nichts mit der Röstung zu tun, Kühe hat er ebenfalls nicht gemolken und die Kaffeemaschine bedient hier auch jemand anderes. Paul lebt wie wir alle von der Leistung anderer. Das ist nicht weiter schlimm, denn er bezahlt in diesem Falle diese Leistung. Vom Geld, das er für seinen Cappuccino zahlt, bezahlt der Besitzer des Kaffeehauses unter anderem den Lohn sei-ner Angestellten und diese wiederum zah-len damit die Sozialabgaben und ihre Ein-kommenssteuern. Denkt man sich das rück-wärts, zahlt also eigentlich Paul die Steuern des Angestellten (und auch die des Besitz-ers). Wenn Steuern also heute bereits im Produktpreis enthalten sind, warum soll dann derjenige, der leistet, Steuern bezah-len und nicht derjenige, der konsumiert? Für die Finanzierung des Grundeinkom-mens gehen die Basler Initianten denn auch von einer Besteuerung des Konsums durch eine Mehrwertsteuer aus. Denn unabhäng-ig von ihrem Arbeitsverhalten, werden die Menschen auch in Zukunft noch konsumie-ren wollen. Verschiedene Studien bestäti-gen, dass eine solche Finanzierung funktio-nieren könnte.

Das Ende der ReformNachdem er sich nun seit zwanzig Jahren damit beschäftigt, sieht Daniel Häni im be-dingungslosen Grundeinkommen und des-

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sen Einführung das Ende der Reform des modernen Sozialstaates. «Was Otto von Bismarck vor 150 Jahren gegen viele Wi-derstände begann, nämlich einen radikalen Systemwechsel einzuläuten, dahingehend, dass allen, die sich nicht selber helfen kön-nen, vom Staat aus geholfen wird, käme mit dem bedingungslosen Grundeinkommen an sein berechtigtes Ende.» Dass einer, der keine Erwerbsarbeit hat, heute nachweisen muss, dass er nicht arbeitet, um Hilfe zu be-kommen, sei doch bezeichnend für dieses überfällige System.

Auf die umgekehrte Frage, ob sie den-ken, dass andere noch arbeiten würden, hätten sie ein bedingungsloses Einkom-men, antworteten übrigens 80 Prozent mit «Nein». Vertrauen in die Mitmenschen zu haben, scheint kein Merkmal unserer Ge-sellschaft zu sein. «Es ist keine Frage der Fi-nanzierung, ob ein Grundeinkommen mög-lich ist» – ebenfalls ein Satz, den Häni wie-derholt äussert –, «es geht vielmehr um die Frage, ob wir mehr selbstverantwortliche Menschen wollen. Wer das nicht will, fühlt sich anscheinend gerne verantwortlich für die anderen.» Text Julia Krättli, Bilder Ta-mara Widmer

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DOWNLOAD2008 veröffentlichten Daniel Häni und Enno Schmidt einen Film zum Thema: «Grundeinkommen – ein Kulturimpuls». Dieser steht zum freien Download bereit auf: www.kultkino.ch/kultkino/besonderes/grundeinkommen

SURFENWeitere Informationen zum Grundeinkommen in der Schweiz gibt es auf www.grundeinkommen.chEine weltweite Einsicht bietet www.basicincome.org

SCHMÖKERNUnd zum In-die-Hände-nehmen: «Die Finanzierbarkeit des Grundeinkommens» erscheint diesen November im Seismo-Verlag. Leicht verständlich erklären die Autoren darin eine mögliche Finanzierung.

www.sbb.ch/jobs.

«Bei der SBB ist kein Tag wie der andere.»

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RAUS AUS DIESEM ZIRKUS

Rädchen im SystemAnzutreffen sind sie auf irgendeiner Alp, in kollektiven Lebensgemeinschaften oder in einem Reihenhaus am Rande der Stadt – Hauptsache nicht dort, wo sie zuvor ge-lebt haben. So unterschiedlich ihr neu-es Leben auch aussehen mag, der Wunsch nach Selbstbestimmung ist ihnen allen ge-mein. Genauso wie die Abwendung von ei-nem oberflächlichen, profitgesteuerten Le-ben. Es ist daher nicht verwunderlich, dass genau diejenigen so häufig aussteigen, die diesen Lebensstil am intensivsten miterleb-ten. Genaugenommen kann man denn auch nur von einem Ausstieg sprechen, wenn man irgendetwas verlässt, wovon man zu-vor Teil gewesen ist. Man muss also zuerst dabei sein, bevor man überhaupt ausstei-gen kann. Doch so schwierig ist das «Dabei-Sein» nicht, sind wir doch alle in irgendei-ner Form kleine Rädchen in einem grösse-ren System. Die Frage ist nur, ob wir uns dadurch in unserer Freiheit eingeschränkt fühlen, oder sie woanders suchen müssen.

Vom Banker zum Bauern Es gab sie schon immer, doch spätestens seit der Finanzkrise sind sie ins mediale Ram-penlicht gerückt worden: erfolgreiche Un-ternehmer und Geschäftsleute, die ihr altes Leben hinter sich lassen, um sich irgend-wo – vorzugsweise in der Idylle des länd-lichen Lebens – der Gestaltung eines neu-en Daseins zu widmen. Einige von ihnen wurden durch den Verlust der Arbeitsstel-le zu dieser Neuorientierung gezwungen, andere wagten schon davor den Schritt ins Ungewisse. Die typische «Vom Banker zum Bauer»-Karriere ist daher wahrschein-lich die prominenteste und eindrücklich-ste Aussteigergeschichte. Wohl auch des-wegen, weil sie den krassen Gegensatz der verschiedenen Welten so deutlich zum Ausdruck bringt und die Essenz des «Aus-

Sie machen nicht mehr mit, wollen dem all-täglichen Wahnsinn der von Stress und Ma-terialismus geprägten Leistungsgesellschaft entfliehen und nach ihren eigenen Regeln leben. Der Ausstieg sieht bei allen anders aus, doch das Ziel bleibt immer dasselbe: die Freiheit, das zu tun, was man möchte.

Selbst bezeichnen sie sich nur ungern als «Aussteiger», denn sie sehen sich den-noch als Teil der Gesellschaft. Was sie je-doch vom Rest unterscheidet ist, dass sie sich den Regeln eines bestimmten Systems nicht mehr unterwerfen wollen. Dabei kann es sich sowohl um die Gesellschaft als Gan-zes, als auch um Teile davon handeln – wie es beispielsweise bei Aussteigern aus der Fi-nanzbranche der Fall ist. Sie sind also nicht gezwungenermassen Mitglieder einer Kom-mune oder selbsternannte Eremiten, son-dern vielmehr Menschen, die auf der Su-che nach dem Glück ihren ganz persönli-chen Weg gehen.

WOHL KAUM JEMAND HAT ANGESICHTS STRESSIGER PRÜFUNGSZEITEN, MONOTONER VORLESUNGEN UND UNENDLICH LANGER ABENDSCHICHTEN NOCH NIE DAVON GETRÄUMT, ALLES EINFACH STEHEN UND LIEGEN ZU LASSEN UND SICH FREI VON ERWARTUNGEN UND LEISTUNGSDRUCK DEM ZU WIDMEN, WAS MAN WIRKLICH GERNE MACHT. WIE DAS GEHT, ZEIGEN UNS VERSCHIEDENE «AUSSTEIGER», DIE DEN SCHRITT INS UNGEWISSE BEREITS GEWAGT HABEN.

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RAUS AUS DIESEM ZIRKUS

Wem die Oberflächlichkeit des Materialismus zuwider ist, dem bleibt schlussendlich nur die Echtheit der Natur.

steigertums» auf den Punkt bringt. Sie ver-deutlicht die Sehnsucht nach Naturver-bundenheit, nach Selbstbestimmung, nach sinnvoller Arbeit und echter Freiheit. Eini-ge dieser unkonventionellen Aussteiger-laufbahnen sollen hier etwas beleuchtet werden.

Die UnternehmerDiesem Aussteigertypus gehören Leute der Finanz- und Wirtschaftsbranche an. So-wohl diejenigen, denen alles zu bunt wur-de und die daher freiwillig das Handtuch warfen, als auch die unfreiwillig zur Neu-orientierung gezwungenen. Die meisten dieser Aussteigerkarrieren beginnen mit einer Sinnkrise. Nebst der Tatsache, dass Privatleben und Freizeit über die Jahre zu blossen Wunschvorstellungen geworden sind, fragt sich der eine oder andere früher oder später, welchen bleibenden Wert sei-ne Tätigkeit überhaupt hat. Eine Beraterin solcher frustrierter Banker berichtet in der «Süddeutschen Zeitung» davon, dass viele ihr Handwerk als zu «virtuell» und zu un-real wahrnehmen. Es ist nichts Fassbares mehr dabei, keine echte Ware, zuviel Ver-antwortung für etwas, das man selbst kaum mehr versteht. Nicht erstaunlich daher, dass sich viele Financiers handfesteren Tätig-keiten zuwenden. Wie beispielsweise der ehemalige Frankfurter Investmentbanker, Thomas Brauße, der jetzt im Schatten der Bankentürme Würstchen verkauft und da-bei «so glücklich ist, wie noch nie». So rich-tig ausgestiegen ist er dennoch nicht, zu-mindest nicht aus der Geld verdienenden Welt – wohl aber aus jener, in der er zuvor gelebt hat. Ähnliche Motive hatte auch der Ostschweizer Politiker, Guido Leuteneg-ger. Der einstige Kreuzlinger Stadtrat kehr-te dem politischen Leben den Rücken, um sich in den Tessiner Bergen der Zucht von Schottischen Hochlandrindern zu wid-men. Der Rückzug war allerdings nicht das Hauptmotiv, sondern vielmehr eine Ge-schäftsidee, die sich bis heute als lukrativ erwiesen hat. Der Thurgauer verkauft näm-

lich «Kuh-Aktien» und zahlt seinen Kun-den die Dividende in Ökofleischlieferung-en aus. Ein Gewinn für beide Seiten, denn die Aktionäre erhalten Fleischprodukte in einem Wert, der weit über ihrem investier-ten Kapital liegt und Leuteneggers Geschäft floriert. An interessierter Kundschaft mang-elt es nicht. Er habe das Glück gehabt, eine Marktlücke entdeckt zu haben, sagt Leuten-egger in einem Interview mit dem Schwei-zer Fernsehen und scheint mit seinem neu-en Leben als Bergbauer ganz zufrieden. Sein altes Leben will er jedenfalls nicht zurück.

Die RadikalenEin paar Täler weiter, im malerischen Mag-giatal, befindet sich die Gemeinschaft «Pian-ta Monda». Unter der Leitung des ehemali-gen Zürcher Primarlehrers, Ulrico Stama-ni, werden hier einige Steinhäuschen mit Umschwung bewirtschaftet. Im Einklang mit der Natur zu leben, ist hier das höch-ste Ziel. Die Produktion bio-dynamischer Produkte und das einfache Zusammenle-ben in der Abgeschiedenheit stehen im Mit-telpunkt der Gemeinschaft. Stamani selbst bezeichnet sich als «Stadtflüchter». Auch er ist einer, der sich nach etwas Handfesterem sehnte und das rauhe Leben in der Einsam-keit der Berge nicht scheute. Sein ursprüng-licher Traum, auch Landwirtschaft betrei-ben zu können, ist jedoch bis heute einer geblieben, denn aufgrund einer Gesetzes-änderung ist es der Gemeinschaft nicht mehr erlaubt, Agrarland zu kaufen. Somit ist die Vermietung der Häuschen an Grup-pen oder an spontane Besucher ins Zent-rum gerückt. Das Leben hier oben ist nicht immer einfach, es gibt viel zu tun, man ar-beitet hart, doch Ruhe kann man trotzdem finden. Alle sind willkommen, solange man sich nicht ziert, ab und zu Hand anzulegen und dem kleinen Team von «Pianta Mon-da» zu helfen, ihrem Traum vom Ökodorf ein Stück näher zu kommen.

Die Hinwendung zur Natur, ganz nach rousseauscher Manier, ist ein wichtiger Be-standteil des «Aussteigertums». Wem die

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Eine der bekanntesten Gemeinschaften ist «Longo Maï», die vor über 30 Jahren ge-gründet wurde und ihren Ursprung in Basel hat. Das erste Kollektiv siedelte sich in der Provence an und bis heute leben einige der Gründungsmitglieder in einer der neun Gemeinschaften, die in ganz Europa ver-teilt sind. Die Mitglieder setzen sich an den verschiedenen Standorten für Mensch und Natur ein. Sie tun dies bewusst als Gemein-schaft und unterstützen sich gegenseitig in der Erhaltung ihrer eigens kreierten Gesell-schaftsstrukturen.

Wahre Freiheit?Kritische Beobachter werden unweigerlich die Frage stellen, ob sich die Ausgestiege-nen denn nun tatsächlich befreit oder nicht einfach einem neuen Diktum unterstellt ha-ben. Denn sobald sich jemand entschliesst, ein bestimmtes Wertesystem zu verlassen, muss man sich entscheiden, nach welchen Grundsätzen das neue Leben gestaltet wer-den soll. Ganz ohne diese funktioniert näm-lich auch die bestgemeinte Alternativgesell-schaft nicht. Aussteiger brauchen eine Vi-sion und eine Idee davon, wohin sie wollen und was sie erreichen möchten. Nur Aus-

Oberflächlichkeit des Materialismus zuwi-der ist, dem bleibt schlussendlich nur die Echtheit der Natur. Deren Erträge, die man selbst gepflanzt und gehegt hat, sind hand-fester und zuverlässiger als die fixfertigen Produkte im Einkaufsregal. Dennoch ist es auch für idealistische Ökobetriebe wie «Pianta Monda» nicht möglich, sich aus-schliesslich selbst zu versorgen. An Brenn-nesseln als Gemüse kann man sich gewöh-nen, doch etwas mehr braucht der Magen dann doch.

Die Geselligen Es gibt sie noch, die Kommunen und kol-lektiven Gemeinschaften – auch in der Schweiz. Sie leben fernab vom Trubel der pulsierenden Städte und haben dort ihr kleines Reich aufgebaut. Die meisten sind im Zuge der 68er-Bewegung gegründet wor-den und einige haben bis heute überlebt. Ihr Ziel ist dasselbe, wie das anderer Ausstei-ger; sie wollen raus aus den engen Schran-ken der Gesellschaft, möchten befreit le-ben, sich entfalten können und einen Un-terschied machen. Die einen tun dies durch naturnahe Landwirtschaft und Viehzucht, die anderen durch soziales Engagement.

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SURFENwww.natur-konkret.chNatur Konkret. Das Unternehmen, welches Ökofleisch gegen Kuh-Aktien tauscht.

www.piantamonda.chTessiner Gemeinschaft im Maggiatal. Offen für Besucher und Helfer aller Art.

www.escapethecity.orgCommunity Englischer Banker, die einen Neuanfang auf dem Land wagen.

steigen allein macht auf Dauer die wenigs-ten glücklich.

Genaugenommen handelt es sich bei der ganzen Sache schlussendlich um ein Lu-xusproblem – wenn man so will. Man kann sich glücklich schätzen, die Möglichkeit zu haben, frei zu entscheiden, wie man sein Leben gestalten will. Sei dies nun inner-halb oder ausserhalb der bestehenden Ge-sellschaftsstrukturen. Wer sich nicht ganz sicher ist, kann es einfach mal ausprobie-ren – die Aussteigergemeinschaften freuen sich immer wieder über Zuwachs. Natür-lich kann es auch sein, das angesichts der grossen Auswahl an Ausstiegsmöglichkei-ten und der Ungewissheit, die mit einem solchen Schritt verbunden ist, manch ei-ner sich doch die Freiheit nimmt, wieder ins bekannte Umfeld zurückzukehren. Denn Aussteigen bedeutet keinesfalls, auf der fau-len Haut zu liegen. Es ist ein hartes Stück Arbeit, sich eine Parallelgesellschaft auf-zubauen oder sich in der Kunst des Würst-chenbratens oder Viehzucht zu behaupten. Wenn dafür allerdings die wahre Freiheit erlangt werden kann, nehmen echte Aus-steiger diese Mühen gerne in Kauf. Text Mirjam Goldenberger, Bild Selin Bourquin

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ZEIT FÜR MUSSE

giert. Haben Sie irgendwelche Tätigkeiten vermisst, die Sie bald wieder ausüben kön-nen? Der Druck der Agenda ist tatsächlich gross. Als Exekutivpolitiker hat man zwar das Pri-vileg, vieles zu erleben, das anderen Men-schen wohl immer vorenthalten bleibt. Aber man muss auch auf etliches verzich-ten. Was in meiner Zeit als Bundesrat sicher zu kurz kam, war der kulturelle Genuss. Ich konnte kaum je ohne Unterbruch ein Buch lesen oder nach Belieben eine Opernauf-führung besuchen. Für die Bewegung in freier Natur kann ich sodann künftig nur noch das Wetter und nicht mehr den Ter-min entscheiden lassen.

Muss man als Bundesrat viele Einschrän-kungen seiner persönlichen Freiheit hin-nehmen, da man im Dienste der Nation tätig und eine Person von öffentlichem Interes-se ist, oder trifft das Gegenteil zu, dass man sich an der Spitze mehr Freiheiten rausneh-men kann?Ein Bundesrat ist in seiner Bewegungsfrei-heit ausserordentlich eingeengt. Termi-ne, Inhalte und Ereignisse sind mehrheit-lich fremdbestimmt. In einer Exekutive wie dem Bundesrat kann man sich nicht einfach mehr Freiheiten ausbedingen. Man hat zwar so etwas wie Macht, man ist bei manch-mal weitreichenden Entscheiden mit da-bei – aber das alles findet nicht im luftlee-ren Raum statt, sondern kontrolliert und in-nerhalb von klaren rechtlichen Schranken.

Wo hätten Sie sich als Mitglied der Landes-regierung mehr Freiheiten gewünscht?In einem Land, das in direktdemokrati-schen Prozessen entscheidet und sich zu-dem durch eine weitreichende Kantons- und Gemeindeautonomie auszeichnet, sind die echten Entscheidungsfreiheiten nicht sehr gross. Aber es bleibt stets ein an-

Herr Bundesrat Merz, am 28. Oktober tre-ten Sie nach sieben Jahren im Amt als Bun-desrat zurück. Was werden Sie in den Wo-chen danach mit der «wiedergewonnenen Freiheit» anfangen? Urlaub?Um etwas Distanz zu den doch hektischen Berner Zeiten zu gewinnen, werde ich als Erstes eine Studienreise nach Lateinameri-ka unternehmen. Auf jenem Kontinent hat-te ich bis anfangs der 90er Jahre sehr viel beruflich zu tun. Dementsprechend fehlte mir die Musse zum Kennenlernen der dor-tigen Vielfalt. Das will ich jetzt nachholen. Diese Zeit nehme ich mir – als Tourist und Privatmensch.

Kann man nach dem Amt als Bundesrat so-zusagen machen, was man schon immer ge-wollt hat?Als sogenannter Alt-Bundesrat ist man na-türlich noch immer eine öffentliche Figur. Ich habe aber nie darunter gelitten, dass mich Menschen auf der Strasse erkennen und anreden. In Zukunft werde ich versu-chen, Versäumtes nachzuholen und gleich-zeitig offen zu sein für neue Erfahrungen und Entdeckungen. Diesen neuen Lebens-abschnitt werde ich nach Lust und Laune, unverkrampft und ohne starres Programm in Angriff nehmen.

Als Bundesrat waren Sie immer sehr enga-

OBWOHL ER NACH WIE VOR EINE FIGUR VON ÖFFENTLICHEM INTERESSE IST, MÖCHTE DER ALT-BUNDESRAT EINEN LEBENSAB-SCHNITT OHNE VOLLE AGENDA GENIESSEN. MIT STUDIVERSUM SCHAUT ER AUF SEINE AMTSZEIT ZURÜCK.

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sehnlicher Gestaltungsrahmen, in meinem Fall etwa bezüglich der Fiskal- und Finanz-politik, bei der Vorgaben an die Politik rich-tungsgebend sind.

Wie schauen Sie zurück auf Ihre Amtszeit? Was waren die besten Momente? Worauf sind Sie besonders stolz?Die besten Momente waren die positi-ven Abschlüsse der Staatsrechnungen der letzten Jahre, der Schuldenabbau im Um-fang von 20 Milliarden, das «Ja» von Par-

lament oder Volk zu Steuerreformen und zum neuen Finanzausgleich. Stolz bin ich aber auch auf die Bewältigung der Finanz-krise. Der Bundesrat wurde in dieser Frage zwar immer wieder kritisiert, aber im End-effekt müssen wir doch festhalten, dass die Schweiz die Finanzkrise gut und vor allem viel besser als andere Staaten überstanden hat. Zu diesem Urteil sind auch unbelastete Gremien wie etwa der Internationale Wäh-rungsfonds (IWF) oder die Organisation für wirtschaftliche Entwicklung (OECD)

gelangt. Eine Bereicherung waren für mich sodann die vielen Begegnungen – zu Mit-menschen wie auch Politikern und Staats-oberhäuptern – die mir dank meiner Funk-tion als Bundesrat möglich wurden.

Was haben Sie am schlimmsten in Erinne-rung und weshalb?Die Libyen-Affäre war eine Verknüpfung von unglücklichen Umständen. Mir war in meinem Präsidialjahr 2009 bewusst, dass sich diese Geschichte nicht einfach aussitz-en lässt. Ich musste etwas tun und habe auch Bewegung in die Angelegenheit ge-bracht. Der unmittelbare Erfolg blieb mir vorerst versagt. Das Schlimmste an der gan-zen Geschichte war, dass sich die libysche Regierung nicht an ihr Versprechen vom 20. August 2009 hielt, die beiden Schweizer Ge-schäftsleute heimreisen zu lassen. Die bei-den Schweizer Geiseln konnten erst viel später in die Heimat zurückkehren.

ZEIT FÜR MUSSE

«Ein Bundesrat ist in seiner Bewegungsfreiheit ausserordent-lich eingeengt»

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Wie soll es in der Politik nach Ihrem Rück-tritt weitergehen? Werden Sie weiterhin für die FDP tätig sein?Ich habe bei meiner Demission erklärt, dass ich mich nach 14 Jahren aus der Bun-despolitik zurückziehen werde und dass die nächsten Jahre mir gehören. Daran werde ich mich halten. In der Politik wer-de ich – selbstverständlich weiterhin als überzeugtes FDP-Mitglied – nur noch stil-ler Beobachter sein.

Was bedeutet Freiheit für Sie als Libera-len? Hat sich Ihre Vorstellung während der Amtszeit verändert?Der Liberalismus ist für mich nicht nur Lebensanschauung, sondern auch ein Le-bensgefühl. Wir Liberalen meiden den geistigen, politischen, sozialen und staatli-chen Zwang. Liberale brauchen Freiheiten und wollen Selbstbestimmung verwirkli-chen. Sie sind aber bereit, dafür auch Ver-antwortung zu tragen und gegenüber den Schwachen solidarisch zu sein. Solche Werte sind zeitlos und brauchen nicht neu erfunden zu werden.

In welchen Bereichen wünschen Sie sich als Bürger mehr Freiheiten?Es gibt im Staat auf allen Ebenen hunder-te von Bewilligungs- und Meldeverfahren, die sehr oft mit keinem Mehrwert für die Gesellschaft verbunden sind. Diese admi-nistrativen Hürden komplizieren und er-schweren den Verkehr mit den Bürgern. Sie lähmen Unternehmergeist und Eigen-initiative. Die FDP lanciert zu Recht eine Initiative, die diesem Problem Herr wer-den will.

Erzählen Sie aus Ihren Erinnerungen an die Studienzeit. Sie haben Wirtschaftswis-senschaften an der HSG studiert. Woran denken Sie sogleich, wenn Sie sich in die-se Zeit zurückversetzen? Mein Wahlfach an der HSG hiess «Di-plomatisch-Konsularischer Dienst». Es deckte eine breite Themenpalette ab, von der Betriebs- und Volkswirtschaft über Recht und Sozialwissenschaften bis hin zu Fremdsprachen. Ich wurde dann später zwar nicht Diplomat, doch dieses an der HSG gesammelte Wissen kam mir später auch als Politiker sehr zustatten.

Waren Sie bereits zur Studienzeit poli-tisch aktiv? Wofür haben Sie sich enga-giert?Ich war Präsident der Studentenschaft in einer Zeit, die durch den aufrührerischen Geist der 68er Jahre geprägt war. Die HSG war allerdings kein Hort des politischen Aufstandes. Wir fühlten uns dort anderen Zielen verpflichtet.

Wie haben Sie sich Ihre Zukunft dazumal vorgestellt?Ich habe mein Augenmerk damals nicht über das Ende des Studiums hinaus fokus-siert, war aber grundsätzlich offen für jede wie immer geartete herausfordernde Aufga-be. Ich übernahm dann zunächst das Sekre-tariat des Industrievereins in unserem Kan-ton und gewann damit erste Einblicke in das praktische Wirtschaftsleben.

Heute wird oft von Leistungs- und Erwar-tungsdruck gesprochen. Glauben Sie, dass es in unserer Gesellschaft überhaupt noch ein Leben frei von solchen Zwängen geben kann?Der Mensch ist ein soziales Wesen. Schon deshalb wird es ein schrankenloses Leben ohne jeglichen Zwang für ihn nie geben. Das menschliche Dasein besteht bei Lich-te betrachtet darin, jeden Tag eine Viel-zahl von Entscheidungen und Wahlen zu treffen – ob wir das wollen oder nicht. Wir sollten aber ein inneres Muster entwickeln, das uns hilft, mit diesen Zwängen umzuge-hen. Die Orientierungshilfen, die wir bei solchen Vorgängen abrufen können, beru-hen auf Charakter wie auch Weltanschau-ung. Text Silja Aebersold, Bild Edouard Rieben

Hans-Rudolf Merz wurde am 10. November 1942 in Herisau (AR) geboren. Nach seinem Studium der Staats-wissenschaften an der Universität St. Gallen war er als selbstständiger Unternehmensberater und Verwal-tungsrat für verschiedene Schweizer Unternehmen tätig. Den Weg in die Bundespolitik fand er spät: Erst 1997 wurde er zum Ständerat von Appenzell Ausser-rhoden gewählt. Bereits sechs Jahre später und gleichzeitig mit Christoph Blocher wählte ihn die Bun-desversammlung zum Bundesrat. Trotz seines Auftretens als Sparpolitiker gewann er rasch Sympa-thien im Volk, unter anderem durch seine scharfe Kritik an grosszügigen Bonus-Auszahlungen einiger Unternehmen. Vielleicht lag es aber auch an den äusserst höflichen Umgangsformen, die er mit seinen Mitarbeitenden pflegte, oder an der Tatsache, dass er jeden Samstag selbst einkaufen ging, dass er vom «geschwätzigen» Politiker zu einer popu-lären Figur aufstieg. Wenn es aber um den Steuerstreit mit Deutschland ging, wusste er die Vorwürfe des damaligen deutschen Finanzministers Peer Steinbrück zu kontern: Beispielsweise als Merz das Nachbar-land im Jahre 2008 des «Steuerdumpings» bezichtigte.Ausserdem schien er gängige Klischees zu wider-legen, die manche Leute über Finanzminister haben können: Seit über 50 Jahren besitzt er ununter-brochen das Abonnement des Stadttheaters St. Gallen und in einem geheimen Fach seiner Aktentasche trägt er täglich die Bibel und Goethes «Faust» mit sich herum.

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Freiheit in seiner reinsten Form ist diffizil darzustellen. Wie wäre es also mit «Unfrei-heit»? StudiVersum und Durchzwei schen-ken dir das T-Shirt zum Titelthema!

Die Qual der Wahl hatten Bruce Jost und Tim Engel bei dieser Kreation. Die Frei-heit des Einzelnen, die Freiheit einer Gesell-schaft, dann die Frage: Sind wir überhaupt frei? Ist unsere Gesellschaft in Handschel-len gefesselt, welche sie nicht spürt, weil ein weicher Pelz drum herum liegt? In vie-len Bereichen sind uns Grenzen gesetzt: Ge-setze, moralische Verpflichtungen – nicht so Durchzwei – ihrer Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Nutzt dies!

Bist auch du ein Denker, der sich gerne mit Uneingeschränktheit beschäftigt? Dann bemühe dich um dein Unikat! Schreib ei-ne Mail an [email protected] und erklä-re, was für dich Freiheit bedeutet und schon bald könnte der rosa Pelz deinen Bauch zieren. Text Raffaela Angstmann, Bild Durchzwei

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Manuela kommt aus Sipplingen, einem klei-nen Dorf am deutschen Ufer des Boden-sees. Vor einem Jahr hat sie ihren Bachelor in Politik- und Verwaltungswissenschaf-ten an der Universität Konstanz gemacht. Für ihren Studienplatz musste sie sich da-mals bewerben und einen Numerus Clau-sus bestehen. Im aktuellen Wintersemes-ter (ist der Herbst nicht der neue Winter?) stehen 165 Plätze zur Verfügung, die nach dem Schlüssel «90 Prozent für die Bewerber mit der grössten Eignung und 10 Prozent für die Bewerber mit der längsten Wartezeit» vergeben werden. Genaueres zu den Zulas-sungskriterien ist in den sogenannten «Zu-lassungssatzungen» geregelt.

Obwohl der Bachelor laut Universität Konstanz «einen ersten berufsqualifizieren-den Abschluss» darstellt, fühlte sich Manue-la noch nicht reif für den Arbeitsmarkt und wollte ihr Wissen im Masterstudium noch in eine etwas andere Richtung hin erwei-tern und konkretisieren. An der Universi-tät Basel studiert sie nun im spezialisierten Masterstudiengang «Sustainable Develope-ment», für den sie neben fachlichen Eignun-gen, zum Beispiel Grundkenntnisse in Ma-thematik und Statistik im Umfang von fünf Kreditpunkten, auch die Mindestbachelor-note fünf vorweisen musste.

SchauplatzwechselAnfang September wurde in der Sitzung der Rektorenkonferenz der Schweizer Universitäten (CRUS) unter anderem der Übergang vom Bachelor zum Master be-sprochen. Die Überlegungen dazu wurden anschliessend im Newsletter wie folgt ver-öffentlicht: «Aus der schweizerischen Re-gelung für den Übergang Bachelor – Master

SPÄTER KÖNNEN WIR SAGEN: «DARF ICH VORSTELLEN? VERSUCHSKANINCHEN. BOLOGNA-VERSUCHSKANIN-CHEN.» ABER HALB SO SCHLIMM, JEMAND MUSSTE NUN MAL DEN ANFANG MACHEN. WAS ES NEUES AN DER REFORMFRONT BEIM ZUGANG ZUM MASTERSTU-DIUM GIBT.

UNIPOLITIK FREI-WILLIGE VOR!

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können sich für mehrere Universitäten und spezifische Fachbereiche besondere Prob-leme ergeben, falls der Zustrom ausländi-scher Studierender zu Masterstudiengäng-en übermässig ansteigt: Aufgrund des Lis-sabonner Abkommens und insbesondere des Staatsvertrags mit der Bundesrepublik Deutschland gelten für sie dieselben Auf-nahmebedingungen wie für Absolventen Schweizerischer Bachelorstudiengänge.» Wenn es sich also nicht wie bei Manuela um einen spezialisierten Master handelt, sind die Aufnahmebedingungen in der Schweiz normalerweise ausschliesslich fachlicher Natur: Ein entsprechender Bachelor muss vorgewiesen werden.

StudierendenzahlenDie Zahl der Studierenden an Schweizer Hochschulen wird sich weiter erhöhen, prognostiziert das Bundesamt für Statis-tik, und zwar jeweils um etwa drei bis vier Prozent bis 2013. Danach dürfte die Zunah-me aufgrund des Bevölkerungsrückgangs geringer ausfallen. Was für die allgemei-ne Studierendenanzahl gilt, gilt auch für die Zahl ausländischer Studierender in der Schweiz: 2009 kamen 19 Prozent der Stu-dierenden aus dem Ausland, auf der Mas-terstufe waren es 29 Prozent. Bis 2015 rech-nen die Statistiker auf letzterer mit einem Ausländeranteil von 32 bis 33 Prozent; im Grunde ein gutes Zeichen für die Schwei-zer Hochschullandschaft. Es bedeutet ei-nerseits, dass die Mobilität in die Schweiz am Übergang vom Bachelor zum Master of-fenbar funktioniert und – ohne hier die Mo-bilität von Schweizern ins Ausland zu be-rücksichtigen – somit ein Schlagwort der Bologna-Reform doch nicht ganz so leer ist. Andererseits heisst das auch, dass es attrak-tiv ist, in der Schweiz zu studieren. Immer-hin nehmen die ausländischen Studieren-den dafür deutlich höhere Lebenshaltungs-kosten in Kauf. Und auch die Universitäten betonen meist ihren Ausländeranteil, um auf die Qualität ihrer Ausbildung hinzu-weisen.

Probleme, ProblemeDie «besonderen Probleme», wie es in der Mitteilung der CRUS heisst, dürften des-halb vor allem finanzieller Natur sein. Nimmt ein Jurassier in Zürich ein geistes-wissenschaftliches Studium auf, so kostet das seinen Kanton laut Swissinfo 10'000 Franken. Nimmt er ein naturwissenschaft-liches Studium auf, so sind es 24'400 und als Mediziner kostet er 46'800 Franken. Ein ausländischer Studierender bringt der-weil nur seine Immatrikulationsgebühren mit, die zwischen 1'000 und 2'340 Franken liegen. Schon länger wird deshalb über ei-ne Erhöhung dieser Gebühren für auslän-

SURFENDie CRUS will noch vor Ende Jahr eine Entscheidungzur Thematik der ausländischen Masterstudieren-den treffen. Auf www.semestra.ch halten wir dich auf dem Laufenden und zeigen dir Meinungen von Studierenden auf. Unter www.crus.ch kannst du dich ebenfalls weiter darüber informieren.

dische Studierende diskutiert. Dafür sind jedoch längst nicht alle. Von Ungleichbe-handlung ist die Rede.

Um dem grossen Andrang Studierwilli-ger in der Schweiz Herr zu werden, wird in der CRUS nun stattdessen über Zugangsbe-schränkungen für Ausländer diskutiert, die in der Schweiz einen Master machen wol-len. Argumentiert wird dabei jedoch nicht mit finanziellen Aspekten, sondern in ers-ter Linie mit fehlender Qualifikation: «Die Bewerbungen von Personen mit einem im Ausland erworbenen Bachelor sind gene-rell noch nicht auf dem gewünschten Qua-litätsniveau», sagte Heidi Wunderli-Allen-spach, Rektorin der ETH Zürich, gegenüber der NZZ am Sonntag. Das mag sein. Aber treten denn unter den Schweizer Studie-renden nur solche in den Master über, die ihren Bachelor mit guten oder sehr guten Leistungen abgeschlossen haben?

Qualität. Qualität?Wir befinden uns gerade wieder mitten in der Saison der universitären Infotage für Gymnasiasten. Um die jungen Men-schen wird gebuhlt. Die Universitäten wol-len wachsen und sich in internationalen Ratings so gut wie möglich positionieren. Verständlich, sie befinden sich schliess-lich nicht ausserhalb des Systems, das nach grösser und besser strebt. Auch ausländi-sche Studienanfänger sind prinzipiell will-

kommen, im Interesse des ganzen Landes. Klein und wirtschaftsstark wie die Schweiz ist, braucht sie einerseits gut ausgebildete Fachkräfte, deren Anzahl nicht nur durch Schweizer befriedigt werden kann. Ande-rerseits ist auch eine gute Vernetzung im Ausland von Vorteil. Die Studienzeit in der Schweiz verbindet einen in Zukunft wo-möglich gut positionierten ausländischen Alumni mit dem Land und bringt Sympa-thien.

Über den Mehrwert, der durch das Bil-dungssystem und durch die Ausbildung ausländischer Studierender erzeugt wird, lässt sich kaum eine genaue Aussage ma-chen. Dass aber Qualität ihren Preis hat, ist eine Binsenwahrheit. Ebenfalls in die-se Kategorie gehört die Tatsache, dass die durch die Bologna-Reform gebrachten bes-seren Betreuungsverhältnisse schlechter werden und Zeit für Forschung rarer wird, wenn steigende Studierendenzahlen einem gleichbleibenden bis kleineren Budget ge-genüberstehen. Da liegt beim Ausschluss von ein paar hundert Masterstudierende der Gedanke an den berühmten Tropfen nahe.

Manuela gefällt es derweil in Basel. In ei-nem Jahr wird sie voraussichtlich mit dem Master abschliessen und ihre Ausbildung in Nachhaltiger Entwicklung danach in die Gesellschaft investieren können. Text Julia Krättli, Illustration Melanie Imfeld

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Teil der Schweizer WissenschaftDas Staatssekretariat für Bildung und For-schung betreibt zusammen mit dem Depar-tement für auswärtige Angelegenheiten das Schweizer Wissenschaftsnetzwerk im Aus-land. Neben zwölf Wissenschaftsräten, wel-che Generalkonsulaten oder Botschaften angegliedert sind, gehören auch die fünf Wissenschaftshäuser, genannt Swissnex, dem Netzwerk an. Mit dem Ziel, die Zusam-menarbeit in den Bereichen Bildung, For-schung und Innovation zu fördern, wurden in den letzten zehn Jahren rund um den Globus Swissnexes aufgebaut. Dafür wur-den Standorte gewählt, welche nicht nur für ihre hohe wissenschaftliche Dichte und Qualität bekannt sind, sondern auch als Business-Hot-Spots gelten: Boston, San Francisco, Singapur, Shanghai und Banga-lore. Alle Swissnexes werden als Private-Pu-blic Partnership geführt, was bedeutet, dass neben der staatlichen Unterstützung auch private Sponsoren die vielfältigen Aktivitä-ten unterstützen. Um die Internationalisie-rungsbestrebungen des Forschungsstand-orts Schweiz voranzutreiben, kooperiert Swissnex sowohl mit Hochschulen, als auch mit der Wirtschaft, Interessensverbänden und privaten Sponsoren. Die Swissnex-Häuser sind je nach Standort in unter-schiedlichen Bereichen tätig. So stehen bei-

dierenden, einen Forschungsaufenthalt im Ausland zu machen. Im Rahmen eines Gastvortrags am Historischen Seminar der Universität Zürich ist sie 2007 mit einem Professor der Harvard University ins Ge-spräch gekommen und hat sich mit seiner Unterstützung an der Universität bewor-ben. Sie wurde als «Visiting Fellow» in Har-vard aufgenommen, wo sie seither an ih-rer Dissertation im Bereich der amerikani-schen Einwanderungsgeschichte schreibt. Das erste Jahr hatte Christa über eine pri-vate Stiftung finanziert. Im Jahr 2009 er-hielt sie ein Stipendium des Schweizeri-schen Nationalfonds, das sie für ihr letztes Promotionsjahr 2010/2011 hat verlängern können. Mit Swissnex Boston steht die Doktorandin auf verschiedene Arten in Kontakt. So nimmt sie einerseits regelmä-ssig an Veranstaltungen im Swissnex-Haus teil und profitiert von dessen Informati-onsangebot, hat aber auch schon selbst Gruppen von Schweizer Lehrern und Stu-denten, welche ihr durch Swissnex Bos-ton vermittelt wurden, durch die Harvard University geführt. Während Schweizer Wissenschaftshäuser von Schweizer For-schern im Ausland sehr geschätzt werden, sind diese in der Schweiz noch weitgehend unbekannt. Was genau versteckt sich also hinter diesem Namen?

«Es ist wichtig, dass Schweizer Forscher Erfahrungen im Ausland machen», erklärt Christa Wirth, «dabei entsteht ein befruch-tender Austausch, der zu neuen Ideen und Innovationen führt.» Seit zwei Jahren stu-diert Christa als Doktorandin an der Har-vard University und empfiehlt jedem Stu-

EIN AUSLANDAUFENTHALT GEHÖRT HEUTE ZUM FESTEN BESTANDTEIL EINER AKA-DEMISCHEN LAUFBAHN, IST ABER AUCH FÜR STUDIEN-ABGÄNGER, WELCHE EIN START-UP-UNTERNEHMEN REALISIEREN MÖCHTEN, EINE INTERESSANTE OPTION. SWISSNEX, DIE SCHWEIZERHÄUSER FÜR WISSEN-SCHAFTLICHEN AUSTAUSCH, SPRECHEN GENAU DIESE ZIELGRUPPEN AN.

SWISS-NETZ

REPORTAGE

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spielsweise in Boston, dem Epizentrum für Biotechnologie, vor allem die Naturwissen-schaften im Vordergrund, während der Schwerpunkt in San Francisco eher auf In-formationstechnik, Kunst und Architektur gelegt wird.

Promotion Schweizer ForschungEine erste wichtige Aufgabe von Swissnex ist die Promotion des Wissenschaftsstand-orts Schweiz in den Gastregionen. Dabei sollen insbesondere die Stärken der Schwei-zer Forschung in den Vordergrund gerückt werden. «Der Forschungsstandort Schweiz wird als hoch innovativ und qualitativ hochwertig wahrgenommen», befindet Jac-queline Gasser-Beck, akademische Liasion bei Swissnex Boston und ehemalige Jus-Studentin an der Uni Zürich. «Auch die Ausbildung an Schweizer Universitäten wird als sehr gut eingeschätzt. Das erklärt auch, weshalb an allen Top-Universitäten verhältnismässig viele Schweizer aufge-nommen werden.» Um diesen guten Ruf weiter zu fördern, werden von Swissnex Veranstaltungen mit sehr unterschiedli-chen Formaten organisiert, allein bei Swiss-nex Boston sind es jährlich über 60. Anläss-lich des «Cambridge Science Festivals» En-de April wurde etwa die Schweiz als führende Kraft im Gebiet von Sustainable Transportation vorgestellt. Zu diesem The-ma wurde nicht nur eine von einem MIT-Professor moderierte Podiumsdiskussion mit Spezialisten organisiert, sondern mit «Kids on Wheels» auch ein Fahrradparcours für die Jüngsten durchgeführt – Werbung für die Schweizer Forschung kann auch auf spielerische Art und Weise daherkommen.

Viele Kontakte, Informationen…Einen zweiten Schwerpunkt bei Swissnex bildet der Austausch zwischen Schweizern und Personen aus den Gastregionen. Ein solcher Austausch kann sowohl in einem Wissenschaftskontext als auch in Bezug auf den Business-Bereich stattfinden. Eine ers-te Basis dafür wird in Boston jedes Jahr mit einer Willkommensparty zum Semesterbe-ginn gelegt, welche für viele Ausland-schweizer zum ersten Kontakt mit Swissnex führt. Auch für Alexa Burger bedeutete die Teilnahme im September eine Premiere, nachdem sie erst über sieben Ecken von Swissnex erfahren hatte. «Ich habe die Hoff-nung, dass ich hier über Swissnex Leute kennen lernen kann, die mir später in der Schweiz helfen werden, einen Job zu fin-den», sagt die junge Biologin, die seit zwei Jahren als Post-Doktorandin am Massachu-setts General Hospital arbeitet, und schwärmt gleich danach vom feinen Brot, das am Fest aufgetischt wurde und nach dessen Herkunft sie sich sofort bei Swiss-

nex erkundigt habe. Mit ihren Kenntnissen des schweizerischen Hochschulsystems können die Teams von Swissnex insbeson-ders Personen, welche in die Schweiz zu-rückkehren möchten, beraten, ihnen Mög-lichkeiten aufzeigen oder Kontakte vermit-teln. Auch bei alltäglichen Problemen wie etwa dem Umschreiben eines Führeraus-weises oder der Verlängerung eines Vi-sums, ist es lohnenswert, sich an Swissnex zu wenden.

… und ein kleines Stück HeimatDie Funktionen von Swissnex scheinen sich allerdings nicht auf Information und Netz-werkbildung zu beschränken, vielmehr fun-gieren die Swissnexes auch auf der Ge-fühlsebene als eine Art Brücke zur Schweiz, als ein Stück Heimat in der Ferne. «Manch-mal hat man einfach das Bedürfnis, Schwei-zerdeutsch zu sprechen», gesteht Daniela Domeisen. Als Doktorandin im Gebiet der Klima- und Atmosphären-Forschung am MIT hatte sie zu Beginn ihres Aufenthalts nur wenig Kontakt zu anderen Schweizern. Vor zweieinhalb Jahren hat sie jedoch mit zwei weiteren Schweizern die Organisation der monatlichen Treffen von Ausland-schweizern in Boston und Cambridge über-nommen. Dabei trifft man sich ganz relaxed in Restaurants oder Bars. Mittlerweile ha-ben sie das Angebot erweitert und betrei-ben das Netzwerk SwissLinkBoston, bei welchem über 250 Studenten, Wissen-schaftler und Young Professionals registriert sind, und bieten diesen so eine einfache Möglichkeit zum networken. Ähnlich wie auch die Harvard Swiss Society, arbeiten sie dabei eng mit Swissnex Boston zusammen. «Swissnex hat uns beim Aufbau der Platt-form stark unterstützt und leitet oft Leute an uns weiter. Im Gegenzug können wir ih-nen mit unseren Informationen weiterhel-fen, wenn sie beispielsweise Leute für Events suchen, die auf einem bestimmten Gebiet tätig sind», berichtet Daniela.

Dies kann der Fall sein, wenn Swissnex public Discussions mit Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik oder auch Seminare und Workshops zu spezifi-schen wissenschaftlichen Themen veran-staltet. Diese Anlässe bieten die Möglich-keit, Forscher kennen zu lernen, welche auf einem ähnlichen Gebiet tätig sind oder ei-

nen Input zur eigenen Tätigkeit liefern kön-nen. Dadurch wird der Aufbau von Netz-werken und Kontakten ermöglicht und die-se sind «etwas vom Allerwichtigsten in der Forschung», meint Christa und findet be-sonders den «intellektuellen Austausch sehr spannend».

Erste Arbeitserfahrungen im AuslandStudierende müssen aber nicht unbedingt eine akademische Karriere anvisieren, um bei Swissnex zu landen. «Wir bieten Studie-renden die Möglichkeit, ein Praktikum zu machen und so in einem jungen Team erste Arbeitserfahrungen zu sammeln und ihr Englisch zu verbessern», erklärt Jacqueline Gasser-Beck. Je nach fachlichem Hinter-grund werden den Praktikanten andere Aufgaben zugewiesen. Francesco Albertini, der Praktikant von Swissnex Boston und ETH-Absolvent mit einem Master in Mate-rialwissenschaften, arbeitet momentan da-ran, das ETH Alumni New-England-Chap-ter, eine Untergruppe der ETH Alumni Ver-einigung, aufzubauen. «Am anderen Ende der Welt» hat Adrian Wenzl, ein ehemali-ger Publizistikstudent, vor einem Monat sein Praktikum bei Swissnex Singapur be-gonnen. Gerade kümmert er sich um die Or-ganisation des «Archifest'10», an welchem auch Architekten der ETH mitwirken. Vom Aufstellen des Budgets über die Durchfüh-rung von Marketing-Aktivitäten bis hin zum Auftreiben von Gastrednern fallen die verschiedensten Aufgaben in seinen Tätig-keitsbereich. «Für mich ist es in erster Linie interessant zu sehen, wie in anderen Län-dern gearbeitet wird», erzählt Adrian, «an-ders als in der Schweiz wird hier eher ja ge-sagt, es herrscht eine Can-Do-Attitude.» Aber auch neben dem Praktikum hat der Zürcher in Singapur bereichernde Erfah-rungen gemacht, die sich auf kultureller, persönlicher und kulinarischer Ebene wi-derspiegeln und berichtet: «Taucht man ein in Singapur, dann spürt man alle Facetten gleichzeitig: scharf, salzig, sauer und süss.» Ein Praktikum bei Swissnex ermöglicht durch den Kontakt mit anderen Kulturen und die Eindrücke im fremden Arbeitsum-feld neue Ideen und Inputs, sowohl auf pro-fessioneller als auch persönlicher Ebene – genau wie ein Forschungsaufenthalt im Ausland. Text Sarah Frehner, Bild zvg

SURFENwww.swissnex.org,www.swisslinkboston.com

BESUCHENAuf ihrer Webseite findest du alle Infos zum Event, SwissnexDay’10, der am 8. November 2010 in Lausanne stattfindet. StudiVersum wird dabei sein, schau also rein unter www.semestra.ch

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HERAUSGEBERIN:

Campus Lab AGEschenring 26300 Zug

CHEFREDAKTORIN:

Raffaela Angstmann

REDAKTOREN DIESER AUSGABE:

Silja Aebersold, Raffaela Angstmann André Bähler, Selin Bourquin Sarah Frehner, Mario Fuchs Mirjam Goldenberger, Ludwig Hasler Jürg Kesselring, Julia KrättliNora Lipp, Christoph Lutz Claudia Piwecki, Karin Reinhardt Martina Zimmermann

LAYOUT:

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Céline Beyeler, Maike Hamacher

BILDREDAKTION:

Selin Bourquin

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LEKTORAT:

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StudiVersum erscheint sechs Mal jährlich in einer Auflage von 30 000 Exemplaren an allen Universitäten und Fachhochschulen der Deutschschweiz. Alle Rechte vorbehal-ten; Nachdruck, Aufnahme in Online-Dienste und Internet und Vervielfältigung auf Datenträgern wie CD-Roms etc. nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung der Herausgeberin.

IMPRESSUM | 2010.11 DENKSPIEL | System im System Die Tabelle liefert uns einen attraktiven Turnier-Modus. Dem lässt sich manches zuord-nen, beispielsweise ein Ping-Pong-Turnier oder ein Tête-à-Tête zu acht bei einem Karten-spiel. Das Motto «jeder gegen jeden» respektive ein Turnier, bei dem für jeden jeder Mit-spieler einmal und nur einmal zum Herausforderer wird, ist zugleich fair, weil es einer-seits von Runde zu Runde für jeden einen neuen Gegner gibt. Andererseits variiert bis auf ein paar wenige unvermeidbare Ausnahmen der Anzugsvorteil. Die Ziffern, die in einer Runde vorne sind, werden in der folgenden Runde bei den Paarungen hinten aufgelistet.

1. Runde: 1 – 8 2 – 7 3 – 6 4 – 52. Runde: 8 – 5 6 – 4 7 – 3 1 – 23. Runde: 2 – 8 3 – 1 4 – 7 5 – 64. Runde: 8 – 6 7 – 5 1 – 4 2 – 35. Runde: 3 – 8 4 – 2 5 – 1 6 – 76. Runde: 8 – 7 1 – 6 2 – 5 3 – 47. Runde: 4 – 8 5 – 3 6 – 2 7 – 1

Die Herstellung eines solchen Systems scheint auf einen ersten Blick sehr anspruchsvoll zu sein. Immerhin müssen in jeder horizontalen Reihe alle acht Ziffern auftauchen, und ein Duell, wie zum Beispiel zu Beginn 1 gegen 8, darf in der Folge nicht mehr vorkommen. Doch eine nicht einmal allzu tiefschürfende Analyse des Systems bringt eine Struktur zu Tage, die sich problemlos auf umfangreichere Systeme ableiten lassen. Aus diesem Blick-winkel wollen wir versuchen, ein analoges Turnier mit zehn Spielern zu arrangieren.

Lösung der letzten Ausgabe (Die lächelnde Eins):Spielen wir 60 Runden, so werden für unser theoretisches Modell alle sechs Zahlen je zehn Mal gewürfelt. Setzen wir nun stets einen Franken ein, so gewinnen wir zehn Mal sechs Franken und verlieren 50 mal einen Franken. Der Gewinn beträgt hier 10 Franken. Noch mehr, konkret 20 Franken, gewinnen wir, wenn wir stets sechs Franken setzen.

Hier die tabellierte Ausbeute bei 60 Runden: 1 (unser Einsatz): + 10 (unser Gewinn ge-mäss Beispiel) / 2: - 90 / 3: -90 / 4: -60 / 5: 0 / 6: +20. Text P.H.

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Lösungswort der letzten Ausgabe: STOPPUHRGewinnerin der letzten Ausgabe: Nina MujkanovicWeitere Wettbewerbe mit tollen Preisen findest du unter www.semestra.ch

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«Du guckst ‹Ein Fall für zwei›? Das ist doch spiessig und langweilig», meint John, als er das Wohnzimmer betritt.

«Wieso spiessig?», fragt Rebekka.«Bei den Ermittlungen von Lessing und Matula ge-

rät immer eine dieser reichen Oberschichtsfamilien ins Visier. Offenbar ist es ein Naturgesetz, dass diese Fami-lien unglücklich sind: Die Beziehung zwischen Mann und Frau ist frostig, der Sohn nimmt Kokain und/oder ist in windige Geschäfte verwickelt und die Tochter ist eine arrogante Zicke und/oder hat einen Freund, der dem strengen Papa nicht passt. Auf jeden Fall be-kommt Hans Durchschnittsgucker (50-jährig, verhei-ratet, Sachbearbeiter, Strickpullover, Wanderferien im Engadin, Einfamilienhäuschen) das wohlige Ge-fühl, dass Geld, Villa und Golfclub-Mitgliedschaft auch nicht zwingend glücklich machen.

Diese Oberschichtsfamilien sind aber nicht nur zerstritten, sie haben auch immer Dreck am Stecken, was Hans in seiner Meinung bestätigt, dass nicht nur sein Chef, sondern alle Führungskräfte absolut keine Moral haben. Oft ist es auch so, dass die gelangweilte Ehefrau (wahlweise mit Tabletten- oder Alkoholsucht) einen Geliebten hat. Die andere Variante ist, dass der Ehemann eine Freundin seiner Tochter verführt oder regelmässig ins Bordell geht, was Hans unter der Mas-ke der moralischen Entrüstung doch als einigermassen prickelnd empfindet.»

«Mag ja sein, dass es ein wenig spiessig ist, aber langweilig ist es bestimmt nicht», erwidert Rebekka.

«Ach, komm. Es läuft doch jedes Mal gleich ab: Es geschieht ein Mord. Die Polizei nimmt einen Verdäch-tigen fest. Alles spricht gegen ihn. Lessing und Matula übernehmen seine Verteidigung und beginnen zu re-cherchieren – Lessing in Frankfurts gehobenen Krei-sen, Matula in den halbseidenen. Bei Matulas Ermitt-lungen passiert einmal pro Folge, dass er a) mit seinem silbernen Alfa extrem unauffällig einen anderen Wa-gen verfolgt, b) als Polizei-Schnüffler bezeichnet wird

und dann sagt ‹Mein Name ist Matula. Ich bin Privatde-tektiv› und c) von einem fiesen Kleinkriminellen eins auf die Birne kriegt; in der Regel in einem Parkhaus oder in einer leerstehenden Lagerhalle. Nach geschätz-ten 700 Folgen hat der Matula von den vielen Schlägen eine richtige Matschbirne, so dass er offenbar nicht mal mehr in der Lage ist, Einkäufe zu tätigen, denn seit 1981 trägt er die gleichen Blue Jeans und die gleiche schwar-ze Lederjacke.

Pünktlich nach einer halben Stunde Sendezeit kommt es zum Haftprüfungstermin. Dabei stellt sich heraus, dass Lessings Schützling nicht die ganze Wahr-heit gesagt hat (‹Ja, ich war am Tatort, aber da war sie schon tot. Ich geriet in Panik und bin weggelaufen›) und deshalb weiterhin in Haft bleiben muss. Lessing ist dann immer sehr entrüstet und droht, das Mandat nie-derzulegen, was aber nicht geschieht, denn sonst wür-de es ja nicht weitergehen.

So langsam aber sicher muss nun der Täter gefun-den werden, der Drehbuchautor bemüht sich redlich, nochmals falsche Fährten zu legen. Dann wird schliess-lich der Täter mit ein bisschen Action (Matula fuchtelt mit der Pistole herum) gestellt. Dabei gilt: Der Täter ist immer der, den man nicht erwartet hätte. Als Täter Ta-bu sind selbstverständlich Ausländer, Sozialhilfebe-züger, Schwule, Behinderte oder Kinder, so viel Politi-cal Correctness darf man von Produktionen öffentlich-rechtlicher Fernsehanstalten ja auch erwarten.»

«Toller Monolog. Nur weil ich ‹Ein Fall für zwei› gu-cke, findest du mich also extrem spiessig und langwei-lig?»

«So sieht es aus. Aber du könntest natürlich etwas gegen dieses Spiesser-Image tun.»

«Nämlich?»«Auf SF2 umschalten. Dort läuft jetzt Champions

League.»

Weitere Geschichten der flotten 3er-WG findest du auf semestra.ch. Schau doch rein!

Text: André Bähler

MATULAS MATSCHBIRNE

DIE FLOTTE 3ER-WG

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ALLTAGSTIPPDer Stinkstiefel

Wer kennt ihn nicht? Den Mief, der einem nach einer langen Wanderung aus dem Schuhwerk in die Nase steigt und einen an-gewidert zusammenfahren lässt. «Was tun gegen diese Ausdünstungen?», fragte mich Simon, seines Zeichens Hilfsassistent, der am Tag der offenen Tür acht Stunden fei-erlich an einem Informationsstand herum-stehen musste und sich bereits am frühen Nachmittag vor dem Feierabend fürchtete, da er seine Schuhe ausziehen würde. Fol-gende Ratschläge gab ich ihm:

Stinkende Schuhe neben mit Essiges-senz getränkter Watte in einen Plastiksack einschliessen und drei Tage stehen lassen. Danach eine Schicht Natron in die Schuhe streuen und wiederum einige Zeit verstrei-chen lassen. Damit kann der schlimmste Mief beseitigt werden. Ebenfalls helfen al-koholische Desinfektionssprays mit Was-serstoffperoxid. Solche harten Bandagen ge-gen den Mief sollten aber mit Rücksicht auf Mutter Natur nur im äussersten Notfall an-gewendet werden.

Stinkende Schuhe sind allerdings nur Symptom eines schwererwiegenden Pro-blems. Die Ursachen für den Mief lie-gen nämlich bei den stinkenden Füssen. Und hier ist Vorbeugung das A und O: Bei Schweissfüssen ist zunächst einmal die Qualität des Schuhwerks von Bedeutung. Schuhe aus Naturmaterialien sind synthe-tischen vorzuziehen. Auch helfen Einle-gesohlen, dass sich der Schweiss nicht im Schuh festsetzt. Vor allem Zimt- und Ze-dernholzsohlen sind empfehlenswert. Schuhe an der frischen Luft auslüften ist natürlich ebenfalls sehr wirksam. Man soll-te jedoch darauf achten, die Schuhe mindes-tens 24 Stunden nach draussen zu stellen. Und sie ja nie auf der Heizung trocknen! In der feuchtwarmen Atmosphäre vermehren sich die Schweiss-Keime. Schliesslich hilft gegen Fussschweiss Fusspuder Mais- oder Reisstärke mit etwas Natron. Hier allerdings stets massvoll bleiben, zuviel Natron scha-det der Haut.

Simons Füsse haben nach dem langen Tag arg gestunken, wie er mir hinterher er-zählt hat. Doch dank meinen Tipps wird er dem Mief das nächste Mal vorbeugen.Horst

Horst, 74, zweifacher Vater, ist allzeit bereit: Ob im Haus-halt oder in der Garage, beim Einkaufen oder an der Uni, Horst hilft! Als Hörer besucht er regelmässig Vorle-sungen und weiss daher bestens Bescheid, was den Jungen von heute unter den Nägeln brennt. Seine Tipps sind längst schon keine Geheimtipps mehr. Deshalb: Horst ausschneiden, an den Kühlschrank oder die Pinn-wand heften, dann kann nichts mehr schiefgehen!

WIE ANNO DAZUMAL

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«Ich habe erfahren,was es heisst,ein Projekt zu führen.»Sabrina Hubacher, Studienschwerpunkte Medien- und Kommunikations-wissenschaften, BWL und Journalistik

Swisscom ist im Aufbruch. Unsere Kultur ist geprägt vonVeränderung und Innovation. Das ist eine ideale Voraus-setzung für junge, motivierte Persönlichkeiten, die in einemspannenden Arbeitsumfeld etwas bewegen wollen. Alsmultidisziplinär ausgerichtetes Unternehmen für Telekom-munikation, IT, Media und Entertainment bieten wir Ihneninteressante Aufgaben, vielfältige Entwicklungsmöglich-keiten und fortschrittliche Arbeitsbedingungen. Reizt Siedas? Dann packen Sie Ihre Chance. Drei Möglichkeitenstehen Ihnen offen: der Direkteinstieg, unser Trainee-Programm oder ein Praktikum. Wir freuen uns auf Sie.

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