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Das grosse Sterben Der Mensch als Feind der Biene Banken: Wie unser Geld für Waffenproduktion und Umweltzerstörung arbeitet Leben mit einer behinderten Tochter – eine Mutter erzählt Nr. 286 | 19. Oktober bis 1. November 2012 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.

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Das grosse SterbenDer Mensch als Feind der Biene

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Leben mit einer behinderten Tochter – eine Mutter erzählt

Nr. 286 | 19. Oktober bis 1. November 2012 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.

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Macht stark.

www.vereinsurprise.ch ❘ www.strassensport.ch ❘ Spendenkonto PC 12-551455-3Verein Surprise, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, Tel. 061 564 90 90, Fax 061 564 90 99

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Ihre Meinung!Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, [email protected]. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen.

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3

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EditorialDie Biene und wir

Ein verlorener Eisbär, der einsam auf einer Scholle dahintreibt – mit diesem Bildwird gerne vor dem menschengemachten Klimawandel gewarnt. Als Reaktion dar-auf hört man zuweilen, dass Eisbären zwar putzige Tierchen sind (Knut!), dass dieMenschheit aber nicht aussterben wird, wenn die weissen Bären dereinst kein Eismehr unter den Tatzen haben. Eine etwas zynische Haltung, zugegeben, aber derMensch wird den Eisbären wohl tatsächlich überleben.

Etwas anders sieht das mit Biene Maja aus. Denn weniger gut entkräften lässt sichdie Bedrohung, die vom Bild ausgeht, das sich dem Präsidenten des Deutschen Im-kerverbandes bot, als er eines Tages in seinen Bienenstöcken nach dem Rechtensah: «In vielen Stöcken bewegte sich nichts mehr, alle Bienen waren tot, der Bodenwar mit Leichen übersät.» Seit einigen Jahren beschäftigt ein weltweites Bienen-sterben Imker und Wissenschaftler. Die Ursachen sind nicht restlos geklärt, sicherist aber, dass der Mensch auch hier seine Finger im Spiel hat. Wie der oben zitierte Imker gebraucht auchder renommierte Schweizer Dokumentarfilmer Markus Imhoof deutliche Worte: Er spricht von einer «totali-tären Landwirtschaft», die wir der Natur aufzwingen. Schade um die süssen Tierchen, dann streichen wiruns halt Konfitüre aufs Brot? Albert Einstein sagte einst, dass der Mensch noch vier Jahre zu leben habe,wenn die Biene von der Erde verschwunden sein wird. Ein etwas drastischer Schluss, doch Einsteins Herlei-tung klingt einleuchtend: «Keine Bienen, keine Bestäubung, keine Pflanzen, keine Tiere, keine Menschenmehr...» Lesen Sie im Interview, was Markus Imhoof mit seinem Filmteam über die Bienen und unseren Um-gang mit ihnen herausgefunden hat.

Wenn Sie auch hin und wieder Ihre Runde im Wald drehen, dann kennen Sie vielleicht das Phänomen: EinText, den man schreiben muss, formuliert sich im Kopf plötzlich von alleine, eine zündende Idee trifft einenwie der Blitz oder Probleme, an denen man zuvor lange herumstudierte, lösen sich wie von selbst. Lesen Siein diesem Heft die Geschichte eines Laufwunders aus Norddeutschland: von einem Mann, der im Alter von18 bis 40 zwischen Drogenszene und Gefängnisaufenthalten hin und her pendelte und mittels Laufen wie-der in die Spur fand. Den Marathon läuft der heute 42-Jährige in einer Zeit, die manch ambitionierten Läu-fer vor Neid grün anlaufen lässt.

Nicht eine Rekordzeit, sondern der Weg ist das Ziel, wenn am 28. Oktober Surprise-Verkäufer und –Sympa-thisanten am Start des Luzerner Laufs stehen werden. Wenn auch Sie das Rennen für eine gute Sache haltenund ein paar Franken locker haben: Mit einer kleinen Spende können Sie den Läufern eine Motivationsspritzeverpassen und gleichzeitig unserer Organisation unter die Arme greifen.

Wir wünschen viel Sauerstoff in Hirn und Muskeln, und eine anregende Lektüre,Florian Blumer

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FLORIAN BLUMER

REDAKTOR

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Inhalt03 Editorial

Knut und Maja05 Die Sozialzahl

Prekäre Löhne für Frauen06 Aufgelesen

Gläubiger Atheist 06 Zugerichtet

Braut aus dem Internet07 Leserbriefe

Pointiertes zur Asylpolitik07 Starverkäufer

Bob Ekoevi Koulekpato08 Porträt

Zeichnen in Afghanistan20 Laufsport

Vom Junkie zum Leistungssportler 22 Fremd für Deutschsprachige

Gross herausgekommen 23 Nachruf

Surprise-Käufer Otto Stich24 Kulturtipps

Pasta hausgemacht26 Ausgehtipps

Schätzele an der Reuss28 Verkäuferporträt

Glücklich auf der Strasse29 Projekt Surplus

Eine Chance für alle!30 In eigener Sache

ImpressumINSP

Mit «Das Boot ist voll» brachte der DokumentarfilmerMarkus Imhoof einst den Schweizer Film internationalins Gespräch. Nach den Flüchtlingen hat sich der Ge-winner des Silbernen Bären nun der Bienen angenom-men. Und dabei wenig Erbauliches herausgefunden:Im Surprise-Interview spricht er von einer «totalitärenLandwirtschaft», mit welcher der Natur mit aller Ge-walt Monokulturen aufgezwungen werden. Eine derFolgen: Die Bienen, unverzichtbar in der Nahrungs-mittelproduktion, sterben uns langsam weg.

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Beim Gespräch mit Surprise ist die mehrfachbehinder-te Janina nicht dabei. Die 26-Jährige erträgt es nicht,wenn in ihrer Anwesenheit über sie geredet wird, siekann sich selber verbal nicht äussern. Ihre MutterMargrit erzählt an ihrer Stelle die berührende Fami-liengeschichte: Wie es war, von der Behinderung ihresKindes zu erfahren. Was es bedeutete, ein schwerbe-hindertes Kind aufzuziehen. Warum es für sie und ihren Mann nie infrage kam, ihre Tochter ins Heim zugeben. Und warum sie froh ist, dass es damals nochkeine pränatale Diagnostik wie heute gab.

13 BankenBomben auf meinem KontoWem würden Sie eher spenden: Jemandem, der für einVerbot von Landminen kämpft, oder jemandem, derfür die Produktion von Streubomben sammelt? BlödeFrage. Doch wer sein Geld bei einer konventionellenBank hat, tat – unbewusst – bis vor Kurzem genauLetzteres. In Grossbritannien haben seit Anfang Jahrbereits Hunderttausende ihr Geld zu Alternativbankengebracht. Auch hierzulande gibt es die Möglichkeit,darüber zu bestimmen, was mit den eigenen Einkünf-ten geschieht. Reden wir über Geld!

10 BienenBestäubung von Menschenhand

16 BehinderungLebensqualität zu Hause

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Tiefe Löhne können nicht einfach nur mit der geringen

Produktivität dieser Erwerbstätigen in Verbindung gebracht

werden. Vielmehr zeigen sie auch Versäumnisse der Gewerk-

schaften an. Den Organisationen der Lohnabhängigen fällt es

bis heute schwer, Frauen für eine Mitgliedschaft zu gewin-

nen. Und es ist auch kein Zufall, dass der Detailhandel, die

Gastronomie und die Hotellerie zu jenen Branchen mit gerin-

gem gewerkschaftlichem Organisationsgrad gehören, ganz zu

schweigen vom Wirtschaftszweig der «persönlichen Dienst-

leistungen». Tiefe Löhne sind darum auch Ausdruck geringer

gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht.

Der Schweizerische Gewerkschaftsbund hat auf diesem

Hintergrund seine Mindestlohn-Initiative lanciert. Gefordert

wird ein gesetzlich festgelegter Mindestlohn von 22 Franken

pro Arbeitsstunde. Dies entspricht einem Monatslohn von

4000 Franken bei 42 Wochenarbeitsstunden. Über die Auswir-

kungen dieser Initiative, wenn sie denn an der Urne ange-

nommen würde, wird noch heiss debattiert werden. Die einen

befürchten, dass vor allem wenig qualifizierte Erwerbstätige

in vermehrtem Masse arbeitslos würden, die anderen gehen

davon aus, dass in den meisten Fällen auch bei diesem Lohn

die Angestellten weiter beschäftigt würden, weil die Firmen

auf diese Tieflohnstellen gar nicht verzichten können. Auf je-

den Fall braucht es Kontrollen, damit der Mindestlohn nicht

mit Schwarzarbeit umgangen wird. Ein spezielles Augenmerk

muss den privaten Haushalten geschenkt werden, wo schon

heute viele Frauen in nichtgeregelten Arbeitsverhältnissen tä-

tig sind. Sie sind in besonderem Ausmass auf einen gesetzlich

festgelegten und dann auch durchgesetzten Mindestlohn an-

gewiesen.

CARLO KNÖPFEL ([email protected])

BILD: WOMM

Die Sozialzahl

Tieflöhne vor allem für Frauen

Wer voll arbeitet und weniger als 4000 Franken im Monat

verdient, bekommt nach dem Verständnis des Bundesamtes

für Statistik einen tiefen Lohn. Dazu gehören auch alle Teil-

zeitbeschäftigten, wenn ihr Lohneinkommen, hochgerechnet

auf eine 40-Stunden-Woche, unter dieser Marke liegt. 2010 ar-

beiteten auf 275000 Arbeitsplätzen 368 000 Erwerbstätige zu

diesen Bedingungen. Damit muss jede achte angestellte Per-

son in der Schweiz ein tiefes Erwerbseinkommen akzeptieren.

Besonders häufig sind Frauen in solchen prekären Ar-

beitsverhältnissen, denn mehr als zwei Drittel aller Tieflohn-

beziehenden sind weiblich! Oder anders formuliert: Knapp 7

Prozent aller angestellten Männer, aber mehr als 19 Prozent

aller erwerbstätigen Frauen haben eine Tieflohnstelle.

Rund die Hälfte dieser Tieflohnstellen verteilt sich auf vier

Wirtschaftszweige. An erster Stelle steht der «Detailhandel»

mit 55 200 Stellen, die von rund 74 000 Angestellten besetzt

sind. Dann kommt die «Gastronomie» mit 38 800 Stellen und

53 300 Beschäftigten, die «Beherbergung» mit 27000 Stellen

und 28 400 tieflohnbeziehenden Erwerbstätigen sowie der

«Garten- und Landschaftsbau» mit 18 400 Stellen und 44 600

Angestellten. Besonders häufig kommen tiefe Löhne bei den

«persönlichen Dienstleistungen» vor. Dazu gehören nicht nur

Wäschereien und Coiffeursalons. Auch die Angestellten in

privaten Haushalten werden zu diesem Wirtschaftszweig ge-

rechnet. In dieser Branche beläuft sich der Anteil an Tief-

lohnstellen auf 61,8 Prozent.

Tieflohnbeziehende Frauen: 19,1% Tieflohnbeziehende Männer: 6,9%

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AufgelesenNews aus den 90 Strassenmagazinen,die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

«Obdach-Loge» am Millerntor

Hamburg. Very Important Person = VeryRich Person? Der an dieser Stelle immer wie-der gern zitierte FC St. Pauli dreht in Zu-sammenarbeit mit der Fernsehlotterie füreinmal den Spiess um: Für ein Heimspielwird die VIP- zu einer «Obdach-Loge». DasHinz&Kunzt-Vertriebsbüro wird ins Stadionverlagert, in der Loge werden sich Lotterie-Gewinner mit Hinz&Künztlern gemeinsamdas Spiel ansehen, der Gewinnspielerlöskommt sozialen Projekten zugute. Die Her-ren Heusler, Canepa, Kaenzig? Gute Idee,nicht?

Biken für bodo

Dortmund. Auch im Ruhrpott geht man inSachen Spenden ungewöhnliche Wege:Während in Luzern Ende Oktober unter demLabel «Charity Run» ja bekanntlich für Sur-prise gelaufen wird, ist in Dortmund dasMotto «Biken für bodo» für eine gemeinsame«Charity-Ausfahrt» ausgegeben worden: 180Kilometer gilt es dabei in vier Stunden zu be-wältigen – nicht etwa auf dem Velo, sondernauf dem Motorrad. «Auch für weniger Geüb-te ist das gut zu schaffen», meint InitiatorinBetty Andre.

Gläubiger Atheist

Düsseldorf. Atheist sei er auf seine alten Ta-ge geworden, sagt der als gläubig bekannteProfessor Norbert Blüm, ehemaliger Ministerunter Helmut Kohl – denn heute heisse derGott Mammon. In seinem Essay schreibt ersich in einen wahrhaft heiligen Zorn. Alleswerde privatisiert: das staatliche Gewaltmo-nopol, Land und Wasser. Die Musik vonMozart und Co. werde zum sponsorenfinan-zierten Event, über die Sünde wachten heu-te die Ratingagenturen und auch die Liebewerde dem Geld geopfert, unser Herz durcheinen Tresor ersetzt. Gott bewahre!

ZugerichtetWie bei Kachelmann?Schlammfarben gekleidet von der Kapuze biszur Schuhsohle, als wollte er sich tarnen. DasGesicht fast erloschen. Er spricht leise, fastemotionslos, hält nur mit seinem Arabisch-Dolmetscher Blickkontakt. Mustafa,* 33, reiste vor zehn Jahren von Tu-nesien in die Schweiz ein und ersuchte umAsyl, das ihm zügig gewährt wurde. Dochjust als er sich auf die Suche nach einem Jobhätte machen können, ereilte den jungenBurschen ein diffuses Leiden, «das es ihm lei-der verunmögliche zu arbeiten». Seitherkämpft er mithilfe von Ärzten und Anwältenum eine IV-Rente.Vor dem Obergericht wiederum kämpft Mu-stafa um seine Ehre und letztlich um seinBleiberecht. Das Bezirksgericht Zürich hatteihn wegen Vergewaltigung und versuchtenstrafbaren Schwangerschaftsabbruchs schul-dig gesprochen und zu 30 Monaten Frei-heitsstrafe verurteilt. «Niemals habe ich et-was Unrechtes getan», beteuert Mustafa. DieAnschuldigungen seiner Ex-Frau seien nichtsweiter als Lügen, versichert er und schildertFatima als Ausbund an Infamie und Heim-tücke. «Ein Rachefeldzug, weil sie von mei-ner neuen Freundin erfahren hatte.» DennMustafa, obwohl mittellos und invalide, istkein Kind von Traurigkeit und geht im Inter-net öfters auf Brautschau. Auf einer Dating-Seite für Muslime hatte er auch die 20-jähri-ge Fatima aus Algerien kennengelernt, einenMonat später heirateten sie.Niemals würde er eine Frau schlagen, be-hauptet Mustafa. Er sei gar nicht fähig, eineFrau zu vergewaltigen. Und die Blessuren,mit denen Frau Fatima in der 27. Schwan-gerschaftswoche Zuflucht im Spital suchte?

«Möglicherweise hat sie sich diese selbst bei-gebracht. In arabischen Ländern hat es Tradi-tion, dass sich Frauen selber schlagen, wennsie emotional aufgewühlt sind.» Dieser Satzstammt allerdings nicht von Mustafa, sondernvon seiner Verteidigerin. Sie beantragt einenFreispruch, «in dubio pro reo», 37 400 FrankenHaftentschädigung, plus Schadenersatz. Esstehe Aussage gegen Aussage, wie beim FallKachelmann.Der Geschädigtenvertreter schüttelt ungläubigden Kopf über seine Kollegin. Sie setze sichdoch sonst für die Rechte von Migrantinnenein, die von häuslicher Gewalt betroffen sind.«Jetzt argumentieren Sie genau gegenteilig»,moniert er nach ihrem zweieinhalbstündigenPlädoyer sarkastisch. Im Gegensatz zu ihremMandanten habe sich seine Mandantin im be-sten Sinne assimiliert. Sie habe nach der Tren-nung von ihrem gewalttätigen Ehemann dasKopftuch abgelegt, in kürzester Zeit Deutschgelernt und eine Stelle als Pflegerin im Alters-heim angenommen, um sich und ihr Kinddurchbringen zu können. Zu lügen brauche sienicht, um hierbleiben zu dürfen. Hingegenkönnte Herr Mustafa seinen Status als Flücht-ling verlieren, wenn er vorbestraft sei, zumalseit dem Arabischen Frühling in Tunesien dievon ihm favorisierte Islamisten-Partei an derMacht ist und er keine Drangsalierungen mehrzu befürchten habe.Die Richter halten die Aussagen von Fatima fürplausibel und bestätigen das erstinstanzlicheUrteil. Seiner Ex-Frau muss er 5000 FrankenGenugtuung bezahlen.* alle Namen geändert

ISABELLA SEEMANN ([email protected])

ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

([email protected])

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Starverkäufer Bob Ekoevi KoulekpatoRuth und Emil Bumann aus Riehen: «BobEkoevi Koulekpato ist unser Starverkäufer,weil er freundlich und hilfsbereit ist. Undseine offene Art und Fröhlichkeit ist einfachtoll! Wir wünschen ihm nur das Beste.»

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GNominieren Sie IhrenStarverkäufer!Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Siean dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 (0)61 564 90 99, [email protected]

Leserbriefe«In kaum einer anderen Zeitung habe ich in den letzten Jahren so pointierte Aussagen zurtraurigen Schweizer Asylpolitik lesen können.»

Surprise-Spinat macht starkJeden Abend können wir für den Salat von Ihrem Spinat abschneiden,der wunderbar wächst und nachwächst und auch uns prima stärkt.Danke für Ihre Arbeit auf allen Ebenen. Auf dass sie ebenso kräftig (wei-ter-)wächst!Sylvia Frey Werlen, Basel

Nr. 284: WunschkindSchweizer Luft

GeärgertGelegentlich kaufe ich Surprise. Aus verschiedenen Gründen, jedochinteressieren mich vor allem die Beiträge, die meist sehr gut sind. Die-ses Mal jedoch habe ich mich über den Beitrag «Fremd für Deutsch-sprachige» geärgert. Die Schreiberin hat sich wohl nie überlegt, dass dieFrage nach dem Woher auch gut gemeint sein kann. Helene Hofer, per E-Mail

Nr. 283: Feindbild Flüchtling

Traurige AsylpolitikIch lese Surprise regelmässig und finde eigentlich in jeder Ausgabe le-senswerte Artikel. Als besonderes Highlight hoffe ich immer auf eineneue Kolumne «Wörter von Pörtner». Mit dem Themenheft «FeindbildFlüchtling» haben Sie aus meiner Sicht eine weitere Qualitätsstufe er-reicht: In kaum einer Zeitung habe ich in den letzten Jahren so poin-tierte Aussagen zur traurigen Schweizer Asylpolitik lesen können. Gra-tulation.Christian Koller, Zürich

Eine Stimme für DiskriminierteHeute Morgen habe ich wieder einmal das Strassenmagazin Surprise ge-kauft. Es war bis dahin ein mittelmässiger Morgen – verschlafen, ersterSchultag an der Jazzschule Bern, im Stress. Nun gut, dachte ich, jetztmache ich dem Strassenverkäufer eine Freude, indem ich ihm ein Ma-gazin abkaufe, und mir eine, indem ich so auf dem Weg nach Bern et-was Gutes zu lesen habe. Also suchte ich mein Portemonnaie hervor, be-zahlte dem sympathischen Verkäufer die sechs Franken und ging vondannen. Einige Stunden später die bittere Erkenntnis – mein Portemon-naie ist weg. Das muss mir irgendwo und irgendwie auf dem Weg vonAarau nach Bern abhandengekommen sein. Was für ein Frust! Ich hat-te die gesamte Gage von 280 Franken von einem Gig am Wochenendedabei, was fast ein Viertel meines Monatseinkommens ausmacht. Unddann all die persönlichen «Sächeli», die sich im Laufe eines Portemon-naie-Zeitalters ansammeln. Trotzdem machte mir das Magazin beim Le-sen Spass, wenn an einem solchen Tag von «Spass» überhaupt die Redesein kann. Eine gute Ausgabe. Wichtig und wertvoll, verschafft Ihr dochmit eurem Magazin diskriminierten Minderheiten eine Stimme.Was wiegt im Vergleich mit solchen Schicksalen schon der Verlust einesPortemonnaies!Corinne Huber, per E-Mail

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VON MICHÈLE FALLER (TEXT) UND NICOLE PONT (BILD)

In der schönen Altbauwohnung liegt ein Hauch von Orient in derLuft. Teppiche an Wänden und auf Böden, eine Lampe aus buntem Glasin der Stube und auf dem Sofa ein feiner Stoff, leuchtend rot und violettgemustert. «Dieser Stoff kommt im Buch vor.» Li Gelpke blättert, bis tat-sächlich ein älterer Mann mit einem Gewand aus genau jenem Stoff auf-taucht. Das Bilderbuch mit den aquarellierten Zeichnungen «Ein Bazarin Zentral-Asien» erschien letzten Herbst – etwa 40 Jahre, nachdem dieZeichnungen vor Ort entstanden sind.

«Es ist nie zu spät», stellt die Grafikerin und Zeichnungslehrerin fest,und sie muss es wissen. Mit ihrem Kinderbuchprojekt begann sie um1970. Bei verschiedenen Verlagen fand man estoll, es passe aber nicht ins Konzept. Also bliebes liegen, bis die Künstlerin mit 80 beschloss,das Buch selber herauszugeben. Die liebevollkolorierten Bazar-Szenen, auf denen es eineFülle von Details zu entdecken gibt, wurden in die richtige Reihenfolgegebracht und mit den Kindern Shirin und Abdul schuf Li Gelpke zweineue Figuren, die den Leser durch die Gassen mit den Händlern undHandwerkern sowie zum Bad und zum Teehaus führen. «Den Text habeich in einer Nacht geschrieben», sagt die heute 83-Jährige nebenbei. Ge-widmet ist das Buch statt ihrem Sohn nun ihrem Enkel.

Nach Afghanistan, wo die Zeichnungen entstanden, kam Li Gelpkeüber einen Umweg via Persien: Gemeinsam mit ihrem Mann, der Orien-talistik studiert hatte, reiste die Grafikerin 1960 für die Mitarbeit am ira-nischen Sprachatlas als Zeichnerin und Fotografin für vier Monate in diepersische Salzwüste. Um Dialekte und Sprachvarianten zu erheben, er-fragte man die jeweils ortsübliche Aussprache und Bezeichnung vonverschiedenen Gegenständen, die zeichnerisch festgehalten wurden.«Fotografieren reicht eben nicht», errät Li Gelpke die Gedanken ihresGegenübers. «Zeichnen kann man massstabgenau.»

Persisch hatte die damals 31-Jährige bereits ein paar Jahre zuvorbeim Professor ihres Mannes gelernt. «Persisch ist nicht schwierig – ab-gesehen von der Schrift», sagt die liebenswürdige Dame mit der ange-nehm direkten Art und dem aufmunternden Lächeln. Der Atlas sei niezustande gekommen, nimmt Li Gelpke vorweg. Wohl sei man bezahltworden, doch Persien habe dann doch kein Interesse am Material ge-habt: «So sind sie, die Iraner! Ganz lieb, und sie machen einem wahn-sinnig viele Komplimente, aber furchtbar kompliziert!» Auch die Zeich-nungen, die die Besucherin von den Menschen machte, kamen nicht sogut an. «Sie wollten schon gezeichnet werden. ‹Aber süss!›», sagt sie aufPersisch und imitiert lachend ihre damaligen Gastgeber.

Fünf Jahre später hatte derselbe Orientalistikprofessor ein weiteresSprachatlas-Projekt in petto und fragte die selbständige Grafikerin an,ob sie Lust habe, zwei Monate nach Kabul zu gehen, um dort für den«Atlas linguistique de l’Afghanistan» zu arbeiten. Und ob sie hatte.«Weg, endlich wieder weg!, dachte ich.» Und mit etwas verlegenem Lä-cheln: «Ich bin halt ein bisschen eine Nomadin.» Dann beginnt sie mitleuchtenden Augen von Afghanistan zu erzählen. «Das sind stolze undfreiheitsliebende Menschen, die Afghanen! Und offen!» Sie hätten ge-

PorträtDie NomadinLi Gelpke arbeitete während elf Jahren als technische Zeichnerin für den «Atlas linguistique de l’Afghanistan».Der Atlas erschien nie, dafür brachte sie nun im Eigenverlag ein Bilderbuch heraus.

spürt, wie sich die Fremde dem Land und den Leuten verbunden fühl-te. «Obwohl ich eine Frau bin, blaue Augen habe – den bösen Blick! –und mit der linken, also unreinen Hand zeichne, bin ich nur einmal alsTeufel beschimpft und aus einem Laden gejagt worden», erzählt sie ge-lassen.

«Es war fantastisch», sagt die Grafikerin über ihre Arbeit am Sprach-atlas. Die sechs Bücher, die aus den 13 Karten und 800 Zeichnungen ent-stehen sollten, erschienen allerdings ebenfalls nicht. Das Material lage-re in Bern und Paris; bereit zur Auswertung. Aber die Zeichnerin glaubtnicht mehr dran. «Afghanistan ist kaputt.» Damals habe man jungeFrauen in Minijupes neben den Tschadors gesehen, erinnert sich LiGelpke. Und beginnt von den schönen Gewändern in allen Farben zu

schwärmen. «Ein Tschador ist super: Man sieht alles und wird nicht ge-sehen.» Und im selben Atemzug: «Aber er ist natürlich Blödsinn.»

Nach dem ersten Aufenthalt 1965 kehrte sie bis 1976 noch viermalfür jeweils fünf Wochen zurück. «Die Landschaft ist so schön wie persi-sche Miniaturmalerei.» Sie berichtet von violetten und zitronengelbenBergen sowie einsamen flötenspielenden Hirten. Von einer Nachtunterm Sternenhimmel, als ein Soldat sie vor bösen Geistern beschüt-zen sollte, der aus Angst vor denselbigen so laut sang, dass sie ihnschliesslich ins Bett schickten. Auf dem Land hat sie mit den Männerngegessen und anschliessend bei den Frauen immer wieder Dinge ver-nommen, die Ersteren verborgen blieben – etwa Gespräche darüber,was die Afghaninnen vom Heiraten halten oder wie, ganz konkret, dasKinderkriegen geht.

Ab 1957 arbeitete Li Gelpke auch als Zeichnungslehrerin. Der Kon-takt mit den Kindern habe sie so glücklich gemacht wie das Zeichnenselber. «Ich frage mich ab und zu: Wie hält es jemand aus, ohne zuzeichnen?» Schon als kleines Mädchen sass sie zeichnend neben demVater, der Chemigraf war, am Pult, mit vierzehneinhalb machte sie dieAufnahmeprüfung zur Kunstgewerbeschule in Zürich, wo sie mit 19Jahren die Grafikfachklasse abschloss.

Das «Beglückende» des Zeichnens gab Li Gelpke auch auf Mal- undKulturreisen in Marokko weiter, die sie zwischen 1993 und 2009 durch-führte. Vier Tage Marrakesch und dann runter in die Wüste. «Wie habeich das eigentlich ganz allein gemacht?» Sie gibt die Antwort gleich sel-ber: «Wichtig ist, immer neugierig und kritisch zu bleiben. Und positiv.Man muss in Bewegung bleiben, in diesem Alter passiert so viel!» Sienickt nachdrücklich: «Der letzte Lebensabschnitt ist der spannendste.Aber auch der schwierigste, weil man aufräumen muss.» Und Dinge er-ledigen wie etwa ein Buch herausgeben. Und so dem Bazar in Tâsh-qurghân, der von den sowjetischen Truppen zerstört wurde, neues Le-ben einhauchen. ■

Li Gelpke: «Ein Bazar in Zentral-Asien», erhältlich bei der Autorin ([email protected]),

in den Basler Museen und im Buchhandel.

«Ich frage mich ab und zu: Wie hält es jemand aus,ohne zu zeichnen?»

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Bienen Feind MenschWie der Biene die Mandeln im Müesli schaden, inwiefern sie unter dem Kapitalismus leidetund warum eine Hummel all diese Probleme nicht hat: Regisseur Markus Imhoof gibt Ant-worten, in seinem Film «More Than Honey» und im Interview mit Surprise.

VON YVONNE KUNZ

«Bienensterben» heisst das Schlagwort jeweils, wenn die Medienmelden, wie viel Prozent aller Bienenvölker wieder eingegangen sind,30, 40 oder gar über 50. Hinter den nackten Fakten steckt jedochGrundsätzlicheres, als dass der Honig teurer wird, Grösseres noch, alsdass ein Drittel der Nahrungsmittel von der Bestäubung durch Bienenabhängig sind. Es ist dieses grosse Ganze, um das es dem SchweizerRegisseur Markus Imhoof in seinem neusten Film geht. Mit der Doku-mentation «More Than Honey» zeigt er ein eindrückliches Panoptikumder Problematik. Vom Imker Jaggi in den Schweizer Bergen, dessen

Bienen wegen Inzuchtschwäche darben, geht die Reise in die USA.Dort werden Bienen in industriellem Massstab von einer Plantage zurnächsten gekarrt. In China wiederum gibt es in gewissen Regionen vorlauter Chemie keine Bienen mehr, und die Blüten müssen von Handbestäubt werden. Man erfährt, dass Bienenköniginnen aus österreichi-scher Züchtung in die ganze Welt verschickt werden, es in Australienkein Bienensterben gibt und Killerbienen nicht nur einen schwierigenCharakter haben, sondern auch mehr Honig produzieren als die her-kömmlichen. Die einzelnen Geschichten verdichten sich wunderbarzu einem globalen Denkstück über das Verhältnis des Menschen zurNatur.

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— www.theater-basel.ch, Tel. +41/(0)61-295 11 33 —

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Herr Imhoof, in Ihrem Film geht es um «mehr als Honig», wie unsder Titel sagt. Von welcher These gingen Sie aus? Die Grundfrage, die wir uns stellten, war: Sind die Bienen oder die Men-schen die Protagonisten des Films? Und wenn die Menschen die Anta-gonisten der Bienen sind, was ja das Thema des Films ist, dann gibt esverschiedene Arten, wie Menschen mit Bienen umgehen.

Zu welchem Schluss kamen Sie? Sterben die Bienen aus?Sie sterben. Es sterben viel zu viele, bis zu 70 Prozent sind es dieses Jahrin der Schweiz. In Amerika ist die Situation nicht mehr ganz so drama-tisch, aber es sterben immer noch 30 Prozent. Es gab zwar schon immerBienenkrisen, doch die derzeitige ist die mas-sivste, die es je gab, sie ist weltumspannend.Das hat natürlich mit der Globalisierung zu tun.Und es ist ein Echo der Weltwirtschaftskrise.

Wie genau verknüpfen Sie das?Durch die Nahrungsmittelindustrie. Ein Bei-spiel: Rund 80 Prozent aller Mandeln werdenin Kalifornien gepflanzt, das heisst, sie hatten heute Morgen in IhremMüesli wohl eine solche Mandel. Wächst der Wohlstand, zum Beispielin Indien, dann wollen auch die Inder ein Luxusprodukt wie Mandeln,also muss noch mehr produziert werden.

Heisst das, die Bienen sind einfach erschöpft?Stress ist sicher ein Faktor. Wenn sie vier Wochen nur Mandeln haben,kommt Mangelernährung hinzu. Mandelhonig ist sehr bitter, Menschenkönnen ihn gar nicht essen. Und dennoch müssen die Bienen arbeitenwie wahnsinnig, und das tun sie, solange es Arbeit hat. Sie fliegen im-mer auf die gleichen Pflanzen, solange sie da sind, und garantieren sodie Bestäubung. Anders als zum Beispiel die Hummel, die zu dem fliegt,was sie gerade findet.

Die Biene hat auf einer Mandelplantage also keine Wahl. Nein, dort hat es ja nichts anderes. Es ist eine totalitäre Landwirtschaft.Es ist eine totalitäre Sicht der Welt. Dies bedingt eine radikale Polizei,sonst könnte sie nicht überleben, siehe Putin und andere Diktaturen. Indiesem Fall sind Pestizide die Polizei. Dadurch, dass so viele Pflanzenso nahe beieinanderstehen, sind sie sehr viel anfälliger, für Parasiten istes das Paradies. Also muss man draufhauen.

Ein bekanntes Problem bei der Monokultur.Der UNO-Food Report sagt ja auch, dass man kleinere Landwirtschafts-betriebe haben müsste, die ihre Produktion stärker variieren. Doch dasGegenteil wird gemacht: Es muss praktisch sein, alles in einer Reihe ste-hen, und beim Eingang der Mandel-Plantage steht ein Schild, auf demheisst es: Wenn Sie eintreten, riskieren Sie Krebs!

Ich wollte gerade nach Ihren verstörendsten Eindrücken fragen ...Mir kam das vor wie das Höllentor. Auch schrecklich: In Australien gibtes bereits Wegwerfbienen in Kartonröhren. Man bringt sie in die Felder,und wenn sie fertig sind, verbrennt man sie.

Ich ging immer davon aus, der Mensch habe eine spezielle Be-ziehung zu Bienen. Das ist ja das Perverse, auch der kalifornische Industrie-Imker John Mil-ler hat seine Bienen gerne. Aber er sagt, er könne nicht aussteigen, ermüsse seine Mitarbeiter bezahlen, der Zug fährt.

Auch er ein Opfer des spätkapitalistischen Auswuchses. Ja! Aber was will man ihm sagen? Dass man die Bäume auseinander-setzen und verteilen muss? Da sagt der Mandelbaron, es ist einfach un-praktisch, wenn hinter jedem Haus ein Mandelbaum steht, den maneinzeln spritzen und schütteln muss.

Was könnte man denn tun? Man kann anders denken. Die Grundfrage ist: Gehört der Mensch zur Na-tur oder ist er der Chef der Natur? Bei dieser Frage kann jeder Konsumentetwas mitentscheiden. Wer im Winter Erdbeeren isst, kann davon aus-gehen, dass Bienen bei der Produktion gelitten haben. Sie verfliegen sichin die Lüftungsklappen oder prallen gegen die Scheiben der Gewächs-häuser und sind mangelernährt. Die Frage ist immer: Wie viel Leid ist anmeinem Genuss beteiligt? Wenn sich der Mensch als Teil der Natur ver-steht, dann hört er ihr anders zu und er will etwas anderes von ihr oderfreut sich, wenn er etwas von ihr bekommt – und wählt andere Politiker.

Halten Sie für realistisch, dass die Menschen innehalten und an-ders wählen?Der Club of Rome sagt, dass es in 30 Jahren eine Revolution geben wird,weil die Jungen ihre Umwelt zurückwollen. Aber vielleicht kann manschon früher beginnen, darüber zu reden – und zu handeln. Das versu-che ich auch mit diesem Film zu erreichen. Es ist ja auch pervers, dasses den Bienen in den Städten besser geht als auf dem Land.

Die Bienen sind also eine Metapher für das Zusammenspiel vonMensch und Natur?So ist es. Ich versuche ja einerseits einen emotionalen Bezug zu den Bie-nen herzustellen: Man sieht, wie sie die Dinge erleben, die man ihnenantut. Und sie sind eine Chiffre für etwas Grundsätzliches, das zwarganz genau an den Bienen erzählt wird, aber etwas Grösseres meint. ImSchneideraum haben wir oft diskutiert, ob wir Dinge ausformulierensollen oder ob wir wollen, dass erst die Zuschauer sie zueinander sagenoder danach fragen. So wie wir das gerade tun: Gedanken austauschen.Es wäre schön, wenn die Leute aus dem Kino kämen und der Film inder Beiz oder zu Hause Nachwirkungen hätte. ■

«More Than Honey» läuft ab 25. Oktober in den Deutschschweizer Kinos.

«Auch schrecklich: In Australien gibt esbereits Wegwerfbienen in Kartonröhren.»

Markus Imhoof

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Die Makroaufnahmen der Bienen lassen den Zuschauer das Lebenin einem Bienenstock hautnah miterleben. Dazu verwendete Imhoofverschiedene Bildtechniken, welche die Handlungsstränge des Filmsauch aus dem Blickwinkel der Bienen erzählen – unter anderem Ra-darbilder, Wärmekameras, Zeitraffer- und Satelliten-Aufnahmen. Sosind Bilder über das Leben im Inneren eines Bienenstocks oder die Be-gattung einer Königin in vollem Flug entstanden. Das Team arbeitete ineinem Bienenstudio auf dem Gelände einer alten Fabrikanlage. An 35Drehtagen kamen hier insgesamt 15 Bienenvölker zum Einsatz. «Mankann den Bienen ja keine Befehle geben», so Imhoof, «wir haben da-rum im April und Mai gedreht, wo vieles bei den Bienen stattfindet,und wir hatten eine lange Liste von Themen, die vorkommen sollten:Nektarabgabe im Stock, Pollen abstreichen und einlagern, Schwänzel-tanz oder Wabenbau.»

Für die Aufnahmen mussten ungewöhnliche technische Fragen ge-löst werden. Imhoof sagt: «Wir haben lange experimentiert: Welche Ge-schwindigkeit ist am angemessensten? Wir haben herausgefunden, dasssich die Bienen mit 70 Bildern pro Sekunde ungefähr so schnell bewegenwie Menschen. Der Zuschauer soll nicht das Gefühl haben, dass es sichum Slow Motion handelt. Es soll selbstverständlich sein, dass er denBienen zusieht, und mit 70 Bildern pro Sekunde sieht man auch, was sietun. Wenn man sie mit 24 Bildern pro Sekunde filmt, dann geht das soschnell, das ganze Gekrabbel der kleinen Beine, die Zungen, Fühler undFlügel, dass man Details gar nicht wahrnehmen kann. Alle fliegenden

BienenIm Tempo des Flügelschlags

Markus Imhoof und sein Filmteam unternahmen alles, um uns der Beine so nahe zu bringen wie möglich.

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Markus Imhoof Der gebürtige Winterthurer Markus Imhoof drehte mit «Fluchtgefahr»und «Tauwetter» in den Siebzigerjahren Werke, die damals dem Neu-en Schweizer Film internationale Beachtung brachten. Sein 1980 ent-standener Film «Das Boot ist voll» wurde an der Berlinale mit dem Sil-bernen Bären ausgezeichnet und schaffte es auf die Shortlist für denOscar als bester fremdsprachiger Film. Neben seiner Filmarbeit ist Im-hoof auch für seine Opern- und Schauspielinszenierungen bekannt. Mit Bienen war der Regisseur schon früh vertraut, und er ist auch heu-te noch familiär mit ihnen verbunden: «Das Bienenhaus meines Gross-vaters war für uns Kinder ein magischer Ort. Faszinierend, aber auchunheimlich, wenn wir uns barfuss näher wagten zu dem aufgeregtenSummen in der Sommerhitze. Und mittendrin der alte Mann mit Stroh-hut, ohne Schutz. Die Bienen taten ihm nichts, als ob sie ihn kannten.»Heute sind es seine Tochter Barbara Imhoof und sein SchwiegersohnBoris Baer, die in Australien das Immunsystem der Bienen erforschenund in «More Than Honey» ebenfalls dokumentiert werden: Sie kreu-zen Wildbienen mit Haustierköniginnen und bringen sie auf eine un-bewohnte Insel. Ihre Hoffnung ist, eine Bienenart zu züchten, die inerster Linie überlebensfähig ist. (dif)

Bienen haben wir mit 300 Bildern pro Sekunde gefilmt, die Flügelbewe-gungen erschienen uns so am natürlichsten – die Flügel bewegen sichmit 280 Schlägen pro Sekunde.» (dif) ■

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Banken Sie werden nicht ruhenWährend Bio und Fair Trade in aller Munde sind, spricht hierzulande kaum jemand übers Geld. In Grossbri-tannien dagegen läuft seit Anfang Jahr eine Kampagne, die zur Abkehr von HSBC, Barclays Bank und Co. auf-ruft – mit grossem Erfolg.

VON FLORIAN BLUMER

«In den Alpen würde die UBS so etwas niemals finanzieren», sagteein Aktivist der NGO «Mountain Justice» diesen Frühling. Was er damitmeinte: Dass die Schweizer Grossbank wohl kaum Firmen unterstützenwürde, die es zwecks Rohstoffgewinnung auf das Matterhorn, den Eigeroder auch nur das Stockhorn abgesehen haben. In den Appalachen inden USA hingegen tragen – trotz Protesten der Anwohner – Bergbau-unternehmen zur Kohlegewinnung ganze Berge ab, mit freundlicher fi-nanzieller Unterstützung der UBS. Anstiftung zur Steuerhinterziehung,

Investition in Unternehmen, die Streubomben produzieren, Spekulationum Nahrungsmittel, Boni-Exzesse – bei den Grossbanken kehrt keineRuhe ein. Was einmal mehr die Frage aufwirft: Was macht eigentlichmeine Bank mit dem Geld, das ich bei ihr einzahle? In Grossbritannienfragen sich das immer mehr Menschen. Und wechseln daraufhin ihrKonto, wie ein Bericht aus England zeigt. In der Schweiz gibt es bis jetztkeine derartige Bewegung, der Anteil an nachhaltig investiertem Geldliegt gerade mal bei 4,1 Prozent. An mangelnden Möglichkeiten zu ethi-schem Banking liegt dies jedenfalls nicht, wie Finanzexperte AndreasMissbach im Interview von der «Erklärung von Bern» darlegt.

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Entfernung von Bergspitzen zur Kohle-Gewinnung in Whitesville, USA.

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VON FRANCES PERRAUDIN

Letztes Jahr kam ans Licht, dass die britischen Grossbanken RoyalBank of Scotland, Lloyds TSB, Barclays und HSBC alle in Unternehmeninvestierten, die Streubomben herstellen. Das ist nicht illegal – in solcheUnternehmen darf investiert werden, nur das direkte Finanzieren derProduktion von Streubomben ist verboten. Für Danielle Paffard, die ihrGeld bei der HSBC hatte, war das dennoch der Auslöser: «Ich bin einelangjährige Aktivistin, und ich realisierte: Mein ganzes Engagementwurde davon untergraben, wo ich mein Geld hatte», sagt sie. «Ich kann-te viele Leute, die ethisch bewusst leben und sich politisch engagieren,ihr Geld aber immer noch in Banken wie Barclays hatten.»

Paffard und eine Gruppe von Freunden – Aktivisten, Ex-Banker undLeute, die bei gemeinnützigen Banken arbeiteten – gründeten im Fe-bruar dieses Jahres «Move Your Money UK» («Bewege Dein Geld GB»),eine Bewegung mit dem Ziel, Menschen überdie ethischen Alternativen zum Banking mitden fünf Grossen (HSBC, Barclays, Lloyds TSB,Santander und RBS) zu informieren und zu ei-nem Wechsel zu animieren. In den ersten sie-ben Monaten dieses Jahres, in die der Libor-Skandal, die Geldwäschereiaffäre um HSBCund Boni-Exzesse fielen, wechselten lautSchätzungen von «Move Your Money UK» 500 000 Leute in Grossbritan-nien ihre Bankkonti zu ethischen Alternativen.

«Das Bankensystem ist gross und undurchsichtig, und es ist schwie-rig, mit dem Durchschnittsbürger darüber zu sprechen», sagt Paffard.Aber fast jeder habe ein Bankkonto, und die «Move Your Money UK»-Kampagne hebe das Persönliche auf die politische Ebene. «Es ist unserGeld, das für systematische Korruption verwendet wird», sagt sie. «Inder Kampagne geht es darum, den Banken zu sagen, dass wir nicht zu-frieden sind mit dem ‹business as usual› und wir es nicht länger akzep-tieren werden. Wir wollen Menschen dazu ermutigen, ihre Macht alsKonsumenten zu nutzen, um ein besseres Bankensystem aufzubauenund zu unterstützen.»

Renten und Hypotheken statt CasinoMalcolm Hayday, CEO der Charity Bank, die mit dem Geld ihrer Kun-

den soziale Unternehmen und gemeinnützige Organisationen finan-ziert, sagt, dass es keine Notwendigkeit gebe, aus Geld noch mehr Geldzu machen: «Im Kern geht es beim Bankgeschäft darum, den Menschendie Möglichkeit zu geben, mit ihrem Geld etwas zu machen. Die Bereit-stellung von Finanzdienstleistungen sollte sich am Nutzen orientieren.Das Bankgeschäft sollte den Menschen zugutekommen – indem es ih-nen Dinge wie Renten, Versicherungen oder Hypotheken verschafft. Eswird erst zum Problem, wenn es missbraucht wird.» Kleinere Bankenwie die Charity Bank stellten kein systemisches Risiko für die Realöko-nomie dar, argumentiert Hayday weiter. Er habe nichts gegen Leute, diespekulieren wollen. Aber es sollte abgekoppelt vom ökonomischen Sy-stem geschehen, von dem die Menschen in ihrem Alltag abhängig sind.

Brian Capon, Sprecher der British Bankers’ Association, meint, dassdie «Move Your Money UK»-Kampagne das Problem aufbausche: «Wir

müssen das Ganze ins richtige Licht rücken. Bei den Verfehlungen gehtum die Handlungen einer relativ kleinen Zahl von Leuten, und wir müs-sen uns bewusst sein, dass eine halbe Million Menschen im Banken-sektor und eine weitere Million im Finanzsektor arbeiten. Das sind eineMenge Leute, und nur wenige von ihnen haben tatsächlich solche Situ-ationen verursacht.»

Capon betont, dass man überlegen sollte, was man tatsächlich vonseinem Bankkonto erwartet, bevor man sein Geld verschiebt. Viele derkleineren Banken könnten nicht die grosse Palette an Dienstleistungenund Produkten ihrer grösseren Konkurrenten anbieten. Er rät: «LassenSie sich nicht von einer Kampagne dazu verleiten, ein Bankkonto zu kün-digen, das am besten zu Ihren Bedürfnissen passt, um zu einem zuwechseln, bei dem dies nicht der Fall ist. Denken Sie darüber nach, be-vor sie sich in etwas stürzen, das dann nicht die beste Lösung für Sie ist.»Viele der alternativen Banken bieten nicht die ganze Palette an Dienst-

leistungen an und Hayday räumt ein, dass es für ethische Kleinbankenschwierig ist, mit den grösseren Banken zu konkurrieren. Aber er be-tont, dass dieser Bereich am Wachsen ist. «Wir erhoffen uns, dass un-sere Bank in fünf Jahren dreimal so gross ist wie heute. Aber wir wer-den dies nur tun, wenn wir dabei unsere Verantwortung wahrnehmenkönnen. Wenn wir Geld nicht verantwortungsvoll verleihen können,dann werden wir gar keines verleihen.»

Wie in jedem Wirtschaftssektor hängt auch der Erfolg der ethischenKleinbanken von den Kunden ab, und sie können nur wachsen, wennmehr Leute Konti bei ihnen eröffnen – Hayday ist optimistisch, dass diesgeschehen wird. Über «Move Your Money UK» sagt Hayday: «Ich denke,es hat grosses Potenzial, um die Dinge zu verändern. Nicht die Bewe-gung allein, aber einzelne Bürger, die eine bestimmte Art des Verhaltensfordern.» Mit der Fair-Trade-Bewegung und dem Aufstieg des ethischenKonsumenten ist zum Trend geworden, dass Menschen Kaufentschei-dungen aufgrund ihrer Werthaltungen treffen. Ist es nur noch eine Fra-ge der Zeit, bis dies auf das Bankgeschäft übergreift? «Waren Sie schoneinmal an der Canary Wharf (Londons Bankendistrikt an der Them-se)?», fragt Hayday zurück. «Es ist eine andere Welt. Es gibt dort keineSensibilität für die Entbehrungen und die Rezession in anderen Teilendes Landes. Auf eine Art sind wir alle Komplizen der Finanzkrise, weilwir den Banken keine Fragen gestellt haben. Wir müssen fragen: Wastut Ihr mit meinem Geld, wenn ich abends ins Bett gehe? Wir wissen:Wenn sie ehrlich wären, wären wir entsetzt.» ■

Übersetzung: Florian Blumer

www.street-papers.org / The Big Issue in the North – UK

Banken Small is beautifulIn Grossbritannien haben immer mehr Menschen genug davon, dass ihre Bank in Waffenproduzenten inve-stiert, Geld wäscht oder ihrem Top-Management exorbitante Boni bezahlt. Seit Anfang Jahr haben laut derKampagne «Move Your Money UK» eine halbe Million Kunden ihre Bank gewechselt.

«Es ist unser Geld, das für systematischeKorruption verwendet wird.»

Danielle Paffard

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INTERVIEW: FLORIAN BLUMER

Als umweltbewusster Mensch mit ethi-schen Grundsätzen – muss ich mein Kon-to bei der UBS oder der CS kündigen?

Gegenfrage: Wieso haben Sie dort über-haupt ein Konto? In der Schweiz sind wir inder komfortablen Situation, dass wir seit denProtesten gegen die Verwicklungen der Gross-banken mit dem Apartheidsregime in Südafri-ka zum Beispiel die Alternative Bank haben,die ganz anders funktioniert.

Konkret: Weshalb sollte man heute auf einKonto bei der UBS oder der CS verzich-ten?

Grossbanken legen ihr Geld beispielsweisein Ölfirmen an, in Kohlefirmen oder in kon-troverse Bergbaufirmen, bis vor Kurzem auchin Produzenten von Streubomben und ande-ren geächteten Waffen. In diesem Bereich ha-ben sie Besserung versprochen, aber ob siedas nun wirklich gar nicht mehr machen, istauch nicht sicher. Und es ist nicht so, dassman eins zu eins weiss, was mit dem eigenenGeld, das man aufs Bankkonto einbezahlthat, gemacht wird.

Und wenn ich ein Konto bei der Postfi-nance habe?

Der grosse Unterschied bei der Post ist na-türlich, dass es ein Staatsbetrieb ist, dort fi-nanziert man zumindest keine Boni undüberrisse ne Gehälter von Topmanagern mit.Aber die Postfinance funktioniert grundsätz-lich genau gleich wie die anderen Finanzinsti-tute. Auch sie hat keine sozialen oder ökologi-schen Richtlinien, das Geld wird ganz normalan den Finanzmärkten angelegt.

Wo soll man denn sein Geld hinbringen,wenn einem soziale und ökologische Fra-gen wichtig sind?

Es gibt Banken, die anders ticken: die an-throposophische Freie Gemeinschaftsbankoder die Alternative Bank Schweiz (ABS). Siehaben strenge Richtlinien, was sie finanzie-ren und was nicht. Hier kann man sicherge-hen, dass kein Geld in Ölfirmen oder in Berg-bauaktien angelegt wird. Die ABS vergibt dengrössten Teil ihrer Kredite an Immobilienpro-jekte. Sie probiert dabei, möglichst energe-

tisch sinnvolle Gebäude und eher sozialenWohnungsbau als Einfamilienhäuschen zuunterstützen, was sie aber auch nicht ganzkonsequent schafft. Bei der KMU-Finanzie-rung unterstützt sie vor allem soziale undökologische Projekte.

Bei der ABS kann man sicher sein, dassman mit seinem Geld nichts unterstützt,das einem gegen den Strich geht?

Grundsätzlich schon. Wenn einem aberzum Beispiel die Verbauung der Schweiz einDorn im Auge ist, wird es auch hier schwie-rig. Das Problem ist: Es gibt nicht für jedenFall die perfekte Alternative. Man muss sichüberlegen, was einem wichtig ist. Aber diegrosse Stärke der ABS ist: Man weiss, womitsie ihr Geld verdient. Bei den Grossbanken istdie Transparenz ein Problem.

Wenn ich nun Student bin und Ende Monatmein Kontostand jeweils gegen null geht –lohnt es sich für mich wirklich, die Bank zuwechseln?

Wenn man sehr wenig Geld auf dem Kon-to hat, dann kann man sich sogar fragen, obman der Bank nicht eher schadet, weil siemehr Kosten hat, als sie mit einem verdient.Aber ich denke, es ist eine Prinzipienfrage. ImFall der Banken hat man tatsächlich die Mög-lichkeit zu sagen: Ich will nichts damit zu tunhaben. In anderen Bereichen, zum Beispielbei Handys, findet man zum Teil schlicht keinProdukt, bei dem man sicher sein kann, dasses unter höchsten ethischen Standards herge-stellt wurde. In der Schweiz kommen wir abereigentlich ohne Grossbanken aus – es gibt ge-nügend Alternativen.

Und wenn ich Vermögen und ein hohesEinkommen habe und doch bei einerGrossbank bleiben will? Es gibt ja auchbei diesen Anlagemöglichkeiten, die alsnachhaltig angepriesen werden?

Es kommt darauf an, was man will. Diegrosse Masse der nachhaltigen Anlagefondsfunktioniert nach dem Prinzip, dass sie ge-wisse Ausschlusskritieren haben. Wenn man

Banken«Es gibt kein Menschenrecht auf eine hohe Rendite»Andreas Missbach ist Finanzspezialist bei der Nichtregierungsorganisation «Erklärung von Bern» und Autordes Ratgebers «Saubere Renditen». Er erklärt, warum man kein Konto bei einer Grossbank haben sollte – undwarum in deren Fonds auch Autofirmen und Nestlé als nachhaltig gelten.

zum Beispiel einfach eine Anlage will, mit derman keine Waffenproduktion unterstützt,dann findet man das. Man muss sich aber be-

wusst sein, dass diese Fonds nach dem «Best-in-Class»-Prinzip geführt werden. Das heisst:Von den Branchen, die nicht ausgeschlossensind, werden die nachhaltigsten Firmen aus-gesucht. Es kann also durchaus sein, dassman dann die nachhaltigste Autofirma drinhat. Die Grosskonzerne wie Roche, Nestléund Novartis sind in fast allen diesen Fondsdrin. Nachhaltigkeit ist darin, würde ich ein-mal sagen, basal bis banal definiert.

Muss ich denn auf viel Geld verzichten,wenn ich mein Geld zur ABS oder zurFreien Gemeinschaftsbank bringe? Oderlassen sich hohe Rendite und Ethik untereinen Hut bringen?

Es ist ja nicht so, dass man in den letztenJahren bei den Grossbanken unbedingt sehrhohe Renditen hatte, sondern unter Umstän-den sehr hohe Verluste, weil sie irgendwelchestrukturierten Produkte der Lehman Brothersoder des US-Immobilienmarktes drin hatten.Es gibt kein Menschenrecht auf eine hoheRendite. Generell gilt: Man kriegt nicht alles.Es gibt nicht die supernachhaltige Anlage, dietotal sicher ist und auch noch eine über-durchschnittlich nachhaltige Rendite hat. Esist immer ein Kompromiss. ■

«In der Schweiz kommen wir ohne Gross banken aus –es gibt genügend Alternativen.»

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Behinderung «Als hätte ihre Seele langegeschlafen»Nach der Geburt schien es, als wäre alles ganz normal. Dann wurde klar: Janina ist schwer behindert. MitÄrzten machte die Familie nicht nur gute Erfahrungen, ihren Job gab Mutter Margrit Thaler auf. Dennoch sagtsie, sie hätte nie vor der Entscheidung stehen wollen, vor die der neue Down-Syndrom-Bluttest werdendeEltern heute stellt.

VON MONIKA BETTSCHEN (TEXT) UND PETER LAUTH (BILD)

Es ist still im Haus. Janina ist nicht hier. Bei einem Gespräch über ihreKrankheit dabei zu sein, ohne selbst etwas einwerfen zu können, wärefür die heute 26-Jährige zu frustrierend. Die junge Frau leidet seit ihrerGeburt an einer schweren Mehrfachbehinderung. Obwohl sie nicht spre-chen kann, nimmt sie ihre Umgebung sehr genau wahr. Ihre MutterMargrit Thaler sitzt am Esstisch in der Küche ihres Hauses in Luzern

und beschreibt ihre Tochter als einen empfindsamen, fröhlichen und ex-trovertierten Menschen. Seit vier Jahren teilt sich Janina einen Tages-platz in einer Wohngruppe mit einer gleichaltrigen Kollegin. Zwei Näch-te pro Woche schläft sie dort im gemeinsamen Zimmer und einmal proMonat bleibt sie über das Wochenende. Für ihre Eltern schafft dieseStruktur regelmässige Freiräume, um auch manchmal als Paar etwasunternehmen zu können. Einmal pro Jahr fährt die Familie gemeinsamin den Jura und verbringt dort erholsame Tage in einem rollstuhlgängi-

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gen Ferienhaus. Über die Jahre hat sich eine wohltuende Routine ein-gestellt. Margrit Thaler bereut es heute nicht, dass sie für ihre Tochter ihren damaligen Beruf als Redaktorin bei einer Luzerner Zeitung auf-gegeben hat. Sie kümmerte sich mit viel Liebe und Geduld um dasMädchen, erzählte ihr Märchen, erklärte ihr die Wochentage und Jah-reszeiten oder zählte mit ihr bis zehn. «Diese einfachen Mengenbegrif-fe sollen ihr dabei helfen, sich in der Welt zurechtzufinden», erklärt dieengagierte Familienfrau. Mit Händedruck könne Janina Zustimmungauf eine Frage signalisieren. «Um sich mit einem Menschen zu ver-ständigen, gibt es viele Wege.»Janinas Vater Urs arbeitet selbständig als Kommunikationsberater. Ob-wohl er beruflich viel unterwegs ist, beteiligt er sich so oft er kann anihrer Pflege, gibt ihr das Essen, wäscht sie oder macht mit ihr physio-therapeutische Übungen. Auf dem Küchentisch ausgebreitet liegen Familienfotos. Janina als Ba-by, als Kleinkind zusammen mit ihrem älteren Bruder Emanuel oder mitihren Eltern. Bilder voller Lebensfreude. Aber auch auf Fotopapier fest-gehaltene Momente der Anstrengung. Janina in der Physiotherapie. Ja-nina, die kämpft.

Mehr als Essen und Pflege«Für uns stand Janinas Behinderung nie im Vordergrund, sondern ihrestarke, gesunde Persönlichkeit. So kam es für uns auch nie in Frage, siein ein Heim zu geben», betont die Mutter. DemEhepaar Thaler war es immer besonders wich-tig, beiden Kindern gerecht zu werden. Penibelachtete die junge Mutter darauf, auch mit ih-rem Sohn, der bei Janinas Geburt eineinhalbJahre alt war, regelmässig viel Zeit zu verbrin-gen. «Emanuel war nie eifersüchtig und reagierte verständnisvoll auf dieBetreuung seiner Schwester. Ihn und Janina verbindet bis heute eineselbstverständliche Vertrautheit.»Das Telefon klingelt. Das kurze Gespräch dreht sich um einen abge-brochenen Hebel an der Bremse von Janinas Rollstuhl. Ein unge-schminkter Einblick in einen Alltag, der neben viel Schönem auch vonbürokratischen Hürden geprägt ist. Ein behindertes Kind zu Hause zubetreuen, setzt von den Eltern ein Höchstmass an Beharrlichkeit undHingabe voraus. Im Umgang mit der Invalidenversicherung sei es wichtig, dass sich dieEltern Verbündete suchen und sich wehren, wenn Entlastung und Hilfeverweigert würden, sagt Margrit Thaler. «Wir mussten schon mehrmalsRekurs einlegen, zum Beispiel, als die IV nach Janinas 18. Geburtstagdie Hippotherapie streichen wollte. Dabei bedeutet gerade dieses Ange-bot, das Zusammensein mit Pferden und die Bewegung, für Janina ech-te Lebensqualität. Und Lebensqualität bedeutet für alle Menschen dochweit mehr als bloss Essen und Pflege.»Ein Jahr nach Janinas Geburt zog die Familie aus der Luzerner Altstadtin ein anderes Quartier, wo die Infrastruktur besser ihren Bedürfnissenangepasst werden konnte. Um das Mädchen zu Hause zu betreuen, be-nötigte die Familie einerseits personelle Unterstützung von der Spitex,andererseits Hilfsmittel wie etwa einen Rollstuhl, einen Treppenlift, ei-nen Badewannensitz oder Orthesen, speziell angepasste Beinschienen.Freundschaften, die sich über ein bestimmtes Hobby definiert hatten,brachen in dieser Zeit auseinander. An deren Stelle traten neue Kontak-te. «Janina hat unser soziales Umfeld ins Positive verändert. UnsereFreundschaften sind heute geprägt von einer grossen Tiefe und Ehrlich-keit», stellt Margrit Thaler rückblickend fest.

Entwürdigender ArztbesuchSie wünscht sich eine Gesellschaft, die Behinderte als selbstverständlichanschaut. In Bezug auf den erst vor Kurzem eingeführten Bluttest, mitdem sich Trisomie 21 nachweisen lässt, meint sie: «Ich hätte nie vor ei-ner solchen Entscheidung stehen wollen. In der Schwangerschaft emp-

finden wohl die meisten Eltern die Behinderung ihres Kindes zunächstals persönliche Katastrophe.» Im Zusammenleben mit Janina mache ih-re Familie aber viele schöne Erfahrungen, die das Leben von allen aufeinmalige Weise bereichere. «Solche Testverfahren wiegen die Men-schen in einer falschen Sicherheit. Viele Behinderungen entstehendurch äussere Einflüsse, zum Beispiel bei der Geburt oder durch Unfäl-le.» Janina galt am Tag ihrer Geburt als ausgesprochen gesundes Mäd-chen. Und doch ist sie heute körperlich stark beeinträchtigt.War es eine bislang unbekannte Stoffwechselkrankheit oder eine Impf-schädigung, die das Leben der Familie Thaler kurz nach Janinas Geburtauf den Kopf stellte? Die Mutter blickt aus dem Küchenfenster in denGarten hinaus und mag keine Ursachenforschung mehr betreiben. Sieerinnert sich an jene frühen Momente zurück, welche die Weichen kom-plett neu stellten. «Als Janina zwei Tage alt war, wurde sie gegen Tu-berkulose geimpft und fiel wenig später in einen komatösen Zustand.Beweisen, dass hier etwas schiefgelaufen ist, kann man nicht, aber ichwurde das Gefühl nicht los, dass alles, was danach kam, auch damit zu-sammenhing», erzählt sie. In ihren Worten liegt keine Wut, selbst dannnicht, als sie davon berichtet, wie Janina als etwa drei Wochen alterSäugling zum ersten Mal von Krämpfen geschüttelt wurde. Die Ärzte ga-ben Entwarnung, meinten, das würde sich mit der Zeit schon geben.Aber die Anfälle kamen wieder. Die junge Mutter spürte instinktiv, dassmit Janina etwas nicht stimmte. «Die Kleine war abwesend und passiv.

Ihr Blick ging ins Leere, sie wirkte wie nicht von dieser Welt.» Von gros-ser Sorge getrieben brachte sie ihre Tochter schliesslich zur Kontrolle insKrankenhaus. In Gegenwart des Oberarztes erlitt das Mädchen einen er-neuten Anfall. «Der Arzt warf einen Blick auf das krampfende Baby undanstatt mit mir zu sprechen, rief er seine Kollegen, sie sollen schnellkommen, es gebe da etwas Interessantes zu sehen.» Diese entwürdi-gende Situation hat sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Ein Lächeln, eine neue WeltDie Untersuchungen ergaben die Diagnose Epilepsie. Darauf folgtenweitere Hiobsbotschaften: Das Ehepaar Thaler erfuhr, dass ihre Tochternie würde gehen, sprechen, geschweige denn ein selbstbestimmtes Le-ben führen können. «Ständig wurde uns gesagt, was Janina nicht tunkann. Nie wurden uns in Bezug auf ihre Entwicklung Perspektiven auf-gezeigt. Dieses erste Jahr nach Janinas Geburt war für uns alle sehrschlimm.» Als ausgebildete Heilpädagogin wusste Margrit Thaler gut,was auf sie zukommen würde. Der Gedanke, dass das Mädchen zumBeispiel nie einen Beruf erlernen, keine Beziehung führen, einfach keinsogenannt normales Leben führen kann, belastete sie sehr. «Am Anfangist man auch in Bezug auf Medikamente und Therapien verunsichertund greift nach jedem Strohhalm.» Doch mit der Zeit lerne man im Um-gang mit Ärzten zwischen den Zeilen zu lesen, genau zu beobachtenund sich selber zu informieren. Erst als sie und ihr Mann Urs 1987 auf einen ganzheitlichen Therapie-ansatz aus England aufmerksam gemacht wurden, stellte sich endlichein neuer Alltag ein. Janinas Motorik und ihr Gleichgewichtsgefühl wur-den in intensiven Therapiestunden geschult. Zum ersten Mal hörten dieEltern, dass ihre Tochter auch Fortschritte machen kann. Sie wurde alsganzer Mensch wahrgenommen und gefördert. So konnte sie als Drei-jährige erstmals für einige Sekunden alleine sitzen. Sie konnte lächeln,auf ihre Umwelt reagieren. «Dass uns Janina plötzlich solch ein Feed-back geben konnte, eröffnete uns als Familie eine völlig neue Welt. Eswar, als hätte ihre Seele lange geschlafen und sei nun endlich aufge-weckt worden.» ■

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«Janina hat unser soziales Umfeld ins Positive verändert.Unsere Freundschaften sind heute geprägt von einergrossen Tiefe und Ehrlichkeit.»

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Aus dem Familienalbum: Janina als Baby, mit Bruder Emanuel und mit ihrer Mutter.

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INTERVIEW: MONIKA BETTSCHEN

Frau Vielle, was müssen Eltern beachten, die ihr behindertesKind zu Hause betreuen möchten?

Man muss sich bewusst sein, dass diese Aufgabe viel Zeit, Geld undEnergie kostet. Man muss die Lage realistisch betrachten und sich imKlaren sein, dass dieser Weg Einschränkungen im Alltag mit sichbringt. So müssen Eltern oft beruflich kürzertreten, um den Bedürf-nissen ihres Kindes gerecht werden zu können. Wir raten deshalb be-troffenen Eltern, sich unbedingt frühzeitig professionelle Unterstüt-zung zu holen.

Wie sieht diese Unterstützung bei Pro Infirmis aus?Wir bieten persönliche Beratung durch unsere Sozialarbeiterinnen

und Sozialarbeiter. Diese klären mit den Eltern ab, was in ihrem indivi-duellen Fall nötig ist. Denn jede Familie hat an-dere Bedürfnisse. Das hängt zum einen mit derfamiliären Situation, zum anderen mit der Artder Behinderung und deren Schweregrad zu-sammen. Auch gibt es in den Kantonen unter-schiedliche Regelungen, die beachtet werden müssen.

Ein behindertes Kind zu Hause zu pflegen, kostet Geld. Wo fin-den Eltern bei der Finanzierung Hilfe?

Betroffene Eltern sollten keine Zeit und Energie damit verlieren,sich ohne professionelle Hilfe einen Überblick zu verschaffen. DiesesThema ist sehr komplex, sodass es für Laien alleine schwierig ist, sichzu informieren. Wir hingegen haben langjährige Erfahrung und ken-nen die verschiedenen Möglichkeiten genau. Von der IV gibt es zumBeispiel die Hilflosenentschädigung, den Intensivpflegezuschlag oderden Assistenzbeitrag. Weiter gibt es Entlastungen, die von den Kran-kenkassen gedeckt werden, wie etwa die Spitex im Bereich der medi-zinischen Pflege. In einem Beratungsgespräch können wir gemeinsammit den Eltern herausfinden, welche Unterstützung benötigt wird unddie weiteren Schritte in die Wege leiten.

Was machen Familien, deren Mittel trotz solcher Beiträge nichtausreichen?

Pro Infirmis hat für solche Fälle verschiedene Fonds, die sich einer-seits aus Beiträgen des Bundes und andererseits aus privaten Spendenzusammensetzen. Jede Familie, unabhängig von ihrem Einkommen,hat Anspruch darauf, ein Kind daheim zu betreuen.

Wo sind der Betreuung zu Hause Grenzen gesetzt? In welchenFällen ist eine Heimbetreuung die bessere Lösung im Interessedes Kindes?

Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Man kann nicht pauschalsagen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen. Ausschlaggebend ist

aber in jedem Fall der Wunsch der Eltern. Ihr Engagement ist ent-scheidend. Schwierig kann es werden, wenn zum Beispiel ein Eltern-teil selber krank ist.

Eltern eines behinderten Kindes geraten automatisch in eine Ab-hängigkeit von ärztlichen Meinungen. Oft sind verschiedeneFachbereiche betroffen, sodass es als Laie schwierig ist, sich einBild zu machen. Wo finden Eltern Rat im Umgang mit Ärzten,zum Beispiel im Zusammenhang mit Medikamenten und Thera-pieansätzen?

Pro Infirmis bietet mit seinen Fachleuten Begleitung und Unterstüt-zung in administrativen und organisatorischen Fragen. MedizinischeBeratung können wir allerdings keine anbieten. Auch hier ist vieleskantonal geregelt. In allen Sprachregionen hat Pro Infirmis zum Bei-spiel eine Fachstelle, deren Mitarbeiter sehr gut vernetzt sind mit Ärz-

ten. Diese Leute begleiten die Eltern und ihre behinderten Kinder. Ineinem solchen Fall raten wir den Eltern, sich mit anderen Betroffenenauszutauschen, zum Beispiel in Selbsthilfeorganisationen. Auch aufeine Krankheit spezialisierte Organisationen sind bei medizinischenFragen sehr gute Anlaufstellen.

Welche politischen Massnahmen müssten aus Ihrer Sicht ergrif-fen werden, um für die Betreuung behinderter Kinder zu Hauseoptimale Rahmenbedingungen zu schaffen?

Betroffene Eltern benötigen genügend Freiräume, um sich erholen zukönnen. Eine solche Aufgabe fordert sehr viel Kraft von den Familien.Damit Eltern zum Bespiel die Möglichkeit haben zu arbeiten, wären Ent-lastungen in Form von Tagesstätten und Spielgruppen wünschenswert,die mit geschultem Personal und entsprechender Infrastruktur behin-derten Kindern gerecht werden. Ein weiterer Ansatz wären mehr Dienst-leistungen, die Unterstützung rund um die Uhr an allen Wochentagenanbieten. Pro Infirmis hat aus diesem Grund den Bereich «Entlastungs-dienste» aufgebaut. Doch wäre es gut, wenn es noch mehr solche An-gebote geben würde. Im Kanton Freiburg erhalten alle Menschen, diewegen der Betreuung eines abhängigen Angehörigen im Beruf kürzer-treten, eine finanzielle Entschädigung. Auch das wäre eine Idee, dieSchule machen könnte. ■

Behinderung«Mehr Freiräume für die Eltern schaffen»

«Betroffene Eltern benötigen genügendFreiräume, um sich erholen zu können.»

Julia Vielle

Pro Infirmis bietet Eltern, die ihr behindertes Kind zu Hause in vertrauter Umgebung betreuen wollen, profes-sionelle Hilfe. Julia Vielle, Assistentin für den Bereich Dienstleistungen der Westschweiz und des Tessins,zeigt auf, wie dieser anspruchsvolle Alltag gestaltet werden kann.

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LaufsportDer Sucht davongerannt

VON PETER BRANDHORST (TEXT) UND

HEIDI KLINNER-KRAUTWALD (BILD)

Wenn Stephanus Juhre über die Zeit spricht, in der er Straftaten be-ging, um sich Drogen zu beschaffen und immer wieder im Gefängnislandete, benutzt der inzwischen 42-Jährige auch schon mal das Bild ei-nes Ertrinkenden: «Ich war oft kurz davor, ganz abzusaufen.» Seit sei-nem 18. Lebensjahr pendelte er zwischen Knast und Drogenszene undverbrachte so mehrere Jahre hinter Gittern. Vor knapp zwei Jahren,nach seiner letzten Haftentlassung, hat er sein Leben radikal verändert.

Drahtig und zäh wirkt er, als er auf demFahrrad zum Interview erscheint, 79 Kilo Kör-pergewicht verteilen sich auf 1,85 Meter Grös-se. Dass er bis vor fünf Jahren – und seit sei-nem 21. Lebensjahr – immer wieder harte ille-gale Drogen konsumiert hat, ist ihm äusserlichnicht anzumerken. Juhre lebt längst clean, trinkt auch keinen Alkoholmehr, wird aber weiterhin mit Drogenersatzstoffen substituiert. Wegeneiner bereits im Kindesalter aufgetretenen Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) muss er zusätzlich regelmässig Medi-kamente nehmen. Trotz dieser Handicaps hat er es inzwischen bereitsgeschafft, Trainingsläufe über die gut 42 Kilometer lange Marathon-strecke in 2:45 Stunden zu bewältigen.

16 Jahre alt war Stephanus Juhre, als seine Eltern nicht mehr mit ihmklarkamen und ihn vor die Tür setzten. Bald landete er für mehrere Jah-re in Hamburg, sass nach einer Schlägerei mit 18 Jahren das erste Malim Jugendknast und probierte schliesslich Drogen aus. Etwa ein Jahrlang hielt er sich auch obdachlos in der Hamburger Hauptbahnhofsze-ne auf. «Ich war neugierig und wusste nicht, was ich mit meinem Lebenanfangen sollte», beschreibt Juhre diese Zeit. Aufgrund seiner psychi-schen Störung ADHS sei er zudem schon immer ein sehr unruhiger Typgewesen, «schnell aufbrausend, ich konnte meine Gedanken dann nichtsortieren». Die Drogen habe er damals wohl vor allem genommen, umsich «ruhig zu kriegen».

Doch statt irgendwann Ruhe zu finden, geriet er zunächst immerstärker in die Spirale von Sucht und Kriminalität. Dass sein Körper einsolches Leben all die Jahre überhaupt ausgehalten hat und er heute vol-ler Zuversicht in die Zukunft blicken kann, erklärt Juhre damit, dass erschon damals sportlich aktiv war. «Wenn ich mal wieder zu einer Ent-giftung musste, habe ich mir als Erstes die Laufschuhe eingepackt», sagter. «Das Laufen begleitet mich mein ganzes Leben und hat mir immerwieder Auswege aus scheinbar hoffnungslosen Situationen aufgezeigt.»

Runden drehen im Knast«Wenn ich laufe», sagt Juhre, «werde ich stärker für das normale Le-

ben.» Das Laufen ermögliche es ihm, Dinge klarer zu sehen und zu er-kennen, «welche Ziele ich noch habe, wohin ich möchte». Als er bis De-zember 2010 in Kiel seine letzte, 41-monatige Haftstrafe verbüsste, danutzte er die tägliche Knastfreistunde, um im Anstaltshof im Kreis zurennen. Dazwischen strampelte er regelmässig auf einem Anstalts -trimmrad.

In diesem Herbst laufen in Basel und Luzern Surprise-Verkäufer, um für den Verein Surprise Spenden zu sammeln – und etwas für ihre Gesundheit zu tun. Dass Laufen sogar Leben retten kann, zeigt die Geschichte des 42-jährigen Stephanus Juhre aus Kiel: Über15 Jahre lang war er drogenabhängig, heute läuft er den Marathon in 2 Stunden 45 Minuten – und träumt von einem Spiesserleben.

Inzwischen strebt Juhre die Wettkampfebene an und trainiert fünf-mal die Woche, legt dabei durchschnittlich insgesamt 80 Kilometer zu-rück. Manchmal, wenn er Unruhe verspürt und nicht schlafen kann,schnürt er sich auch mitten in der Nacht die Schuhe. Beim Interviewzeigt er auf die letzten Daten seiner Laufuhr: Um 3:58 Uhr war er in derNacht zuvor zu einem Lauf über 33,28 Kilometer aufgebrochen, 2:56Stunden später war er wieder zu Hause. «Schlafen tue ich in solchenNächten wenig», sagt Juhre, «aber ich bin anschliessend total fit für denTag.» Marathonstrecken bewältige er mittlerweile «entspannt». Seingrosser Traum ist es, in ein paar Jahren fit zu sein für mehrtägige Wü-

stenläufe. 2014 will der Deutsche erstmals an den Bieler Lauftagen teil-nehmen, bei denen 100 Kilometer zu absolvieren sind. Juhre sagt, es rei-ze ihn, über seine Grenzen zu gehen und «den inneren Schweinehundzu überwinden».

Die Sucht wird bleibenNicht aufgeben, sich immer neue Ziele suchen – Stephanus Juhre

scheint es gelungen zu sein, seinem Leben über das Laufen eine neueRichtung und Stabilität zu geben. «Mit dem Sport hat er zu sich selbstgefunden», lobt Arne Hoffmann, Bewährungshelfer beim LandgerichtKiel, der Juhre seit dessen Haftentlassung vor knapp zwei Jahren alsFührungsaufsicht intensiv betreut. Dass sein Proband seither beharrlichseine sportlichen Ziele verfolge, sagt Hoffmann, versetze ihn mittler-weile in die Situation, auch in alltäglichen Problemsituationen schnellzu Lösungsansätzen zu kommen. Juhre selbst sagt, je mehr und je län-ger er laufe, desto grösser werde der Abstand zu den Szenen, die so vie-le Jahre sein Leben bestimmt haben. Die Sucht, das weiss er, wird ihnals Krankheit sein ganzes weiteres Leben begleiten. Wie bei allen Süch-tigen hat auch sein Selbstbewusstsein über die Jahre stark gelitten. Mitdem Laufen kann er sich jetzt aber neue Bestätigung verschaffen, diedurch den Alltag hilft. «Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich wohlkein ganz so schlechter Läufer bin», sagt Juhre, «und dann habe ich mirgesagt: Nutze diese Chance auf dem Weg nach vorn.»

Ein gutes Stück hat er auf diesem ungewöhnlichen Lauf durch seinLeben schon bewältigt. Dazu gehört auch, dass er inzwischen ganz of-fen über seine Vergangenheit sprechen kann. Juhre tut dies, um ande-ren Menschen in ähnlichen Situationen ein Vorbild zu sein. «Man kannes schaffen», sagt er, «ich will an dieser Stelle Vorbild sein und Anreizegeben.» Später will er, der im Moment noch in einer teilstationären Ein-richtung der Kieler Fachambulanz und von Hartz IV lebt, am liebsten ei-ne Ausbildung zum Fitnesstrainer absolvieren. «Sport treiben und einSpiesserleben führen, warum nicht», sagt er, und lacht. ■

INSP: www.street-papers.org / HEMPELS – Germany

Mitten in der Nacht ist Juhre zu einem Lauf über 30 Kilome-ter aufgebrochen – und danach «total fit» in den nächstenTag gestartet.

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niemals das Haar abzuschneiden. Zum Beweisder Wahrheit seiner Worte schwang sie ihrefast knielange Mähne über die Schulter undsich selbst zu unsrer Jurorin empor. Sie massdie Haarlänge aller Mädchen in der Runde undernannte mich zur Siegerin. Mein Haar war,den Zopf einer zerknirschten Blondine knapphinter sich lassend, neben dem ihrigen daslängste. Der Sieg wurde mir besonders hochangerechnet, denn ich hatte gewonnen, ob-wohl ich përjasht, also draussen, aufgewach-sen war.

Als ich wieder nach Ines’ Mutter Ausschauhalte, der heimlichen Königin und Galionsfigurdieses gewissen Typs Schweizerin, ist sie ver-schwunden.

Also stelle ich mir vor, wie sie gleich, eineCarte blanche in der hocherhobenen Faust, aufdem nächsten Umzugswagen um die Ecke ge-bogen kommt – einen Trupp sozial engagierter,emanzipierter, kulturell interessierter Frauenmit grossen Accessoires anführend. Mit gigan-tischen Scheren schneiden sie den jungenMädchen links und rechts im Publikum dielangen Haare ab und werfen deren Brüdernfunkelnde Blicke durch die exzentrischen Bril-lengestelle zu.

SHPRESA JASHARI

([email protected])

ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

(RAHELEISENRING.CH)

An mir vorbei zieht ein riesiger Telefon -hörer die Strasse hoch. Hinterher stolpern inunregelmässigen Abständen ein paar Telefon-bücher, an deren oberem Rand je ein Kinder-kopf zwischen den Seiten hervorschaut.

Den feierlichen Anlass der Traubenernte be-geht das Dorf Hallau mit dem traditionellenOmzog, begleitet von mehr als nur ein paarTakten Marschmusik.

Ich schaue, lache ein bisschen in den Lärmhinaus und denke über die Bedeutung all des-sen nach, während die längst zum National-symbol verfestigte Bratwurst langsam imMund des Senioren neben mir verschwindet.

Warum wollen wir die Dinge zu gewissenAnlässen laut und überlebensgross haben? Da-mit wir sie besser hören, sehen, fressen kön-nen? Ein pausbackiges Mädchen tänzelt in ro-ter Tracht vorüber; ihre Linke winkt im Takt

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Fremd für DeutschsprachigeGrosse Dinge

der Blaskapelle, während ihre Rechte Schlüfer-li unters Volk bringt.

Grosse Dinge sind bestens geeignet fürMenschenmengen, man kann sich prima umsie scharen, ihnen gemeinsam huldigen, sichgemeinsam von ihnen überragen lassen: Me-galithen, Kreuze, Führerstatuen, gigantischeglattglänzende Frauenkörper auf Werbeplaka-ten oder, nun ja, Telefonhörer.

Ob es möglich ist, eine Kultur zu entschlüs-seln, indem man sich allein die grossen Objek-te anschaut, die sie hervorbringt?

In der Zuschauermasse entdecke ich Ines,eine alte Klassenkameradin. Sie unterhält sichmit ihrer Mutter, und beide scheinen gelang-weilt.

Ines’ Mutter ist eine moderne Frau, die ei-nen eigenwilligen Stil pflegt. Sie hat sich mitwallenden, schwarzen Tüchern behängt, aufder Brust leuchtet rot eine grobe Steinkette undam Finger trägt sie einen Glasring von derGrösse einer Säuglingsfaust. Aber da, wo dieSchönheit einer albanischen Frau anfängt, hörtdie ihrige auf: Ihre Lust an Oversized beziehtsich nicht aufs Kopfhaar, welches sie millime-terkurz, geometrisch und schwarz als hochdis-ziplinierte Lederkappe auf ihrem Kopf trägt.

Einst, bei einer Hochzeit in Mazedonien,hatte mir ein Mädchen namens Kujtime er-klärt, dass die Haare die Zierde der Frau seien.Ihr grosser Bruder hatte dieses Insiderwissenpreisgegeben und ihr dazu geraten, im Leben

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NachrufOtto Stich

VON OSWALD SIGG

Schweigsam, wortkarg. Aber auch gradlinig und manchmal stur undunbeirrt war er. Ein Pfeifenraucher, den man sogar als Nichtrauchermochte. Die Pfeife spielte bei Otto Stich überhaupt eine zentrale Rolle.Er hatte eine ganze Sammlung von schönen Stücken. Wenn er Ärger be-kam im Bundesrat oder sonst im Bundeshaus, dann kaufte er sich jedesMal im Tabakladen beim Zytglogge eine Pfeife. Er arbeitete, er dachte,er schrieb mit der Pfeife. Er hörte einem zu, und wenn er die Pfeife ausdem Mund nahm, war man gewarnt. Darauf folgte die Antwort. Mit derhohen Stimme. Er sprach nie laut, aber umso deutlicher.

Ein ungeliebter Bundesrat, zunächstBevor er gewählt wurde, hielten ihn die Linken einfach für einen bür-

gerlichen Sozialdemokraten aus Dornach im solothurnischen Schwarz-bubenland. Niemand wusste so recht, wo das lag. Als er gewählt warund im Bundesrat sass, nahmen ihn die Rechten schon fast für einen So-zialisten. Mit der Akzeptanz seiner Wahl zum Bundesrat rief er eine ver-

itable Identitätskrise bei den Genossen hervor. Noch viel mehr bei denGenossinnen. Er galt als Verhinderer von Liliane Uchtenhagen. Die SP-Frauen vor allem wollten raus aus dem Bundesrat. Wir wollten aufhörenmit zwei SP-Bundesräten, die vom mehrheitlich bürgerlichen Parlamentfür genehm erklärt worden waren. Der Jungbrunnen der Oppositionlockte damals, als man den ausserordentlichen «Landsturm-Parteitag»zur Frage des Austritts aus dem Bundesrat vorbereitete. «Wir und Williwollten Lilli» stand gesprayt auf der Hauswand des Coop-Zentrums amBreitenrainplatz in Bern. Ein Anzeichen des Frühlings der sozialisti-schen Opposition? Es kam anders. Am Parteitag im Kursaal Bern, obenauf der Bühne, einen kleinen Kaktus vor sich betrachtend und die Pfei-fe im Mund, sass Otto Stich stundenlang und sprachlos mit einer Mie-ne, die verhiess: Macht einfach, was Ihr für richtig befindet. Und amSchluss, als die Partei entschied, im Bundesrat zu bleiben, benahm ersich nicht als Sieger. Er lächelte und sprach ein paar wenige Worte inMikrofone und Kameras. Es wurde wieder ruhiger im Land.

Ein zäher FinanzministerZurückgekehrt in sein Büro im ersten Stock der früheren Nobelher-

berge «Bernerhof», begann Otto Stich die Bundeskasse zu hüten wie sei-nen Augapfel. Und Max Frischs böses Wort vom sechsten bürgerlichenBundesrat geriet sofort in Vergessenheit. Sein Prinzip für den Bundes-haushalt war denkbar einfach: Geld, das man nicht hat, darf man auchnicht ausgeben. Sein Programm erschöpfte sich aber nicht in der Spar-samkeit. Er sorgte gezielt für neue Einnahmen, besonders im Individu-alverkehr. Die Staus auf Autobahnen fand er höchst absurd. Einmal sag-te mir Otto, er sei überzeugt, dass es gewisse Autofahrer auf die Stausabgesehen hätten, weil sie nur dort ihre grossen und hochgerüstetenOff roader geniessen könnten. Nur schon deshalb seien Autobahnge-bühren berechtigt. Der Bundesrat aus Dornach führte die Autobahnvig-nette und gegen grossen Widerstand der Transportunternehmer dieSchwerverkehrsabgabe ein. Die Benzinsteuer wurde erhöht. Die erstenPauschalbesteuerungen von ausländischen Reichen im Kanton Obwal-den bekämpfte Otto Stich hartnäckig: Er setzte die dortige Steuerver-waltung kurzerhand unter die Vormundschaft des Bundes. Für ihn wardie Beihilfe zur Kapitalflucht vor ausländischen Steuerbehörden ein mo-ralisches Delikt, das er nicht mitverantworten wollte.

Ein sozialer Mensch, vor allemIn seiner Autobiografie forderte Otto Stich dringend einen Systemwech-

sel in der Sozialpolitik und schrieb: «Ziel muss die Sicherung der Existenzaller im Lande lebenden Menschen sein.» Die nur ganz selten ausgespro-chene Leitlinie seines Wirkens war eine schlichte: soziale Gerechtigkeit.Daran mass er sein eigenes und das politische Handeln anderer. ■

Oswald Sigg, Journalist und Ex-Bundesratssprecher, arbeitete zwischen 1980 und

1987 für die Bundesräte Willi Ritschard und Otto Stich als Informationschef des

Eidg. Finanzdepartements.

Der im September verstorbene Alt-Bundesrat Otto Stich aus Dornach SO war ein regelmässiger Surprise-Käufer und ein Sympathi-sant unserer Institution. Er war keiner, der viel Lärm um seine Person machte. Auch sein Surprise kaufte er jeweils ohne viel Aufhe-bens zu machen. So war es eine grosse Überraschung, dass seine Angehörigen in der Todesanzeige zu Spenden für uns aufriefen undauch die Kollekte der Abdankungsfeier vollumfänglich an Surprise ging. Wir bedanken uns postum ganz herzlich! Und wir baten OttoStichs langjährigen Sprecher Oswald Sigg, für uns einen persönlichen Blick auf das Leben dieses in vieler Hinsicht aussergewöhn-lichen Politikers zu werfen.

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Kulturtipps

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BuchDes Phönix’ KernEinhorn, Phönix, Drache und Co. – blosse Fantasie oder Realität?Der Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf behauptet: Es gab undgibt sie wirklich.

VON CHRISTOPHER ZIMMER

Fabelwesen haben die Menschen zu allen Zeiten fasziniert – und tun esnoch heute. Davon zeugen zahlreiche Bücher und Filme. Bei Harry Pot-ter etwa tummeln sich unter anderem Phönix, Einhorn, Kentaur, Hip-pogreif oder Basilisk – und begeistern uns. Das hat Tradition. Jeden Le-bensbereich, schreibt der Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf, habendie Menschen mit Fabelwesen bevölkert: Luft, Gewässer, Wälder, Berge,selbst die eigene Lebensgemeinschaft.Aber hat es diese Fabelwesen wirklich gegeben? Ja, behauptet Reich-holf. Alles lässt sich auf einen Ursprung zurückverfolgen. Für alles gibtes ein Vorbild, einen Ausgangspunkt des Fabulierens, das den Menschenim Blut liegt. Damit schaffen sie sich Orientierung, starke Symbole, dieTeil eines Überlebensprogramms sind. Dabei «entstellen» mündlicheÜberlieferung, Übersetzungsfehler und absichtliche Veränderungen dierealen Vorbilder so sehr, dass – davon ist Reichholf überzeugt – auswirklichen Lebewesen Fabelwesen werden.Also macht er sich daran, den Beweis dafür zu liefern. Er rückt dem an-geblich nur Fantastischen mit den Mitteln der Wissenschaft auf denPelz: Zoologie, Paläontologie, Sprachwissenschaft, Geschichte und My-thologie. Aus diesem scheinbaren Widerspruch zwischen Erfundenemund harten Fakten schöpft sein Buch einen besonderen Reiz, nicht zu-letzt, weil er zwar faktenreich und detailliert vorgeht, aber zugleich ineiner klaren, verständlichen und gut lesbaren Sprache.Ganz Wissenschaftler, klärt uns Reichholf so in nachvollziehbarenSchritten darüber auf, dass der Phönix auf den Flamingo zurückgeht,das Einhorn auf die Oryx-Antilope, und dass Drachen nicht tierische,sondern menschliche Vorbilder haben. Dazu gibt es noch eine bunte Pa-lette von weiteren Enthüllungen: etwa zum Weihnachtsmann und sei-nem Rentier Rudi, zu den zwölf Aufgaben des Herakles, zu Zyklopen,Wolpertingern oder den Tierkreiszeichen – eine wahre Fundgrube für al-le Wissbegierigen.Und weil Reichholf durch und durch Biologe ist, schildert er die leben-digen Vorbilder mit einer solchen Begeisterung, dass sie nicht wenigerfaszinieren als die unglaublichsten Fabelwesen.Josef H. Reichholf: Einhorn, Phönix, Drache. Woher unsere Fabeltiere kommen.

S. Fischer 2012. CHF 37.90

KinoWarum sitzt du so still, Grossmutter?Die frühen Arbeiten von Marina Abramović verstörten. Mittlerwei-le spricht die Performance-Künstlerin ein breites Publikum an.«Marina Abramović: The Artist Is Present», der Dokumentarfilmvon Matthew Akers, ist faszinierender Beweis dafür.

VON MICHAEL GASSER

Marina Abramovic und ihre Performance-Kunst haben es geschafft. Undzwar bis ins Museum of Modern Art in New York. Was Regisseur Mat-thew Akers zum Anlass nahm, einen Dokumentarstreifen über die 65-Jährige und ihre Show im MoMA zu drehen. «Endlich bekommst du alldiese Anerkennung», sagt Abramovic, die in diesem Jahr mit dem Ro-bert-Wilson-Spektakel «The Life and Death of Marina Abramovic » inBasel gastierte, leicht irritiert, aber hochzufrieden. Die Tochter eines ju-goslawischen Kriegshelden geniesst ihren späten Erfolg in vollen Zügen.Und so ist der Zuschauer mit dabei, wenn die selbsterklärte «Grossmut-ter der Performance-Kunst» Designer-Kleider vom Teuersten shoppt, mitder Luxus-Limousine zum Museum chauffiert wird und sich im perfektdrapierten, roten Satinbett von einer Grippe erholt.Vielleicht wirkt es deshalb wie nostalgisches Beiwerk, wenn Abramovicdavon erzählt, wie sie in den Siebzigerjahren in einem Citroen-Bus leb-te – samt Hund und damaligem Partner. Zu jener Zeit war ihre Kunstverstörend, sie peitschte sich selbst, schnitt sich mit einer Rasierklingeein Pentagramm in den Bauch oder fuhr stundenlang mit dem Auto imKreis und schrie dazu ins Megaphon. Tempi passati. 2012 sitzt Abramo-vic täglich 7,5 Stunden auf einem Stuhl im MoMA – brav, still, stummund ohne Pause zu machen. Und das während dreier Monate. Ihr gegen-über nimmt ein Museumsbesucher nach dem nächsten Platz. Die Ka-mera fängt ein, wie sich die Blicke von Künstlerin und Besucher treffen,was sich in ebenso feierlichen wie berührenden Bildern äussert. Sie se-he so viel Traurigkeit in den Leuten, äussert Abramovic mal nach geta-nem Tageswerk. Was zunehmend und sichtlich an den Kräften der Per-formerin zehrt.Matthew Akers konnte sich nicht so recht entscheiden, ob er eine fil-mische Biografie drehen oder sich auf den Hype um Abramovics Showkonzentrieren wollte. Dennoch gelingt es ihm, die Stärke, Härte, aberauch die Verletzlichkeit der Künstlerin zu visualisieren. Was macht,dass «Marina Abramovic: The Artist Is Present» fasziniert.Matthew Akers: «Marina Abramović: The Artist Is Present», USA 2012, 105 Min.,

mit Marina Abramović und Weggefährten.

Der Film läuft ab dem 25. Oktober in den Deutschschweizer Kinos.

Marina Abramović provoziert: Heute in Designerklamotten, früher ganz ohne.

Das Tierchen hier habe menschliche

Vorfahren, sagt der Evolutionsbiologe.

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Die 25 positiven FirmenDiese Rubrik ruft Firmen und Institutionenauf, soziale Verantwortung zu übernehmen.Einige haben dies schon getan, in dem siedem Strassenmagazin Surprise mindestens500 Franken gespendet haben. Damit helfensie, Menschen in pre kären Lebensumstän-den eine Arbeitsmöglichkeit zu geben undsie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zube g leiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? DieSpielregeln sind einfach: 25 Firmen werdenjeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jenerBetrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet

werden?

Mit einer Spende von mindestens 500 Franken

sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3,

Verein Surprise, 4051 Basel

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Klimaneutrale Druckerei Hürzeler AG,

Regensdorf

Scherrer & Partner GmbH, Basel

Balcart AG, Carton Ideen Lösungen, Therwil

Psychiatrische Dienste Aargau AG (PDAG)

Locher, Schwittay Gebäudetechnik GmbH, BS

fast4meter, storytelling, Bern

Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

Schweiz. Tropen- und Public Health-Institut, BS

seminarhaus-basel.ch

Supercomputing Systems AG, Zürich

AnyWeb AG, Zürich

VXL gestaltung und werbung ag, Binningen

Cilag AG, Schaffhausen

Coop

Zürcher Kantonalbank

Kibag Management AG

Knackeboul Entertainment

Brother (Schweiz) AG

Musikschule archemusia, Basel

Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

Proitera GmbH, Betriebliche Sozialberatung, BS

responsAbility Social Investments AG

BEVBE Ingenieurbüro, Bonstetten

Judith Turcati, Englischunterricht, Wila

Axpo Holding AG, Zürich

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Piatto fortePasta fatta in casaWenn man der Pasta auf den Zahn fühlen kann, dann ist sie «aldente». Noch viel besser geht das, wenn man die Teigwaren selberherstellt. Nach der letzten Kolumne über gekaufte Pasta beschäf-tigen wir uns dieses Mal mit der Eigenfabrikation.

VON TOM WIEDERKEHR

Wer zu Hause seine eigene Pasta herstellen will, hat prinzipiell dreiMöglichkeiten: den Teig walzen, ziehen oder von Hand formen. Die ein-fachste Art ist wahrscheinlich das Walzen. Die italienische Nonnabraucht dazu lediglich ein Wallholz. Unsereiner macht das mit einemPasta-Maschinchen, welches den Teig gleichmässiger walzt, als wir dasnördlich der Alpen mit dem Nudelholz schaffen. Aus gewalztem Pasta-teig werden Nudeln gemacht. Für gewalzte Pasta eignet sich am besten ein Nudelteig mit Eiern. DerGrundteig besteht aus 300 Gramm Hartweizendunst, 3 Eiern, 1 EsslöffelOlivenöl und einer Prise Salz. Hartweizendunst ist in der Schweiz nichtüberall erhältlich. Eine Alternative, die gute Ergebnisse liefert, ist das«Spätzlimehl», eine Mischung aus Weich- und Hartweizenmehl, wel-ches beide Grossverteiler im Sortiment haben. Wichtig ist, den Teig nachdem Kneten mindestens eine Stunde oder länger ruhen zu lassen, damiter quellen kann. Danach wird er nach eigenem Gusto dünn bis sehrdünn ausgewalzt und je nach Vorliebe in schmale bis breite Nudeln ge-schnitten. Zum Antrocknen gibt es spezielle Nudelgestelle. Eine impro-visierte Wäscheleine erfüllt den Zweck aber mindestens so gut. Gezogene Pasta wird genau genommen gepresst: Die Pressform, durchwelche der Teig gepresst wird, entscheidet über die Form der Pasta. Sowerden von Spaghetti über Penne bis Fusilli alle Teigwaren gemacht, diewir aus dem Supermarkt kennen. Eier und Weichweizenmehl sind hiertabu, denn der Teig würde für die Pressform zu weich und zu klebrig.Darum besteht er nur aus diesen Zutaten: 300 Gramm Hartweizendunst,120 bis 150 Milliliter Wasser, 1 Esslöffel Olivenöl und eine Prise Salz. Er-fahrungsgemäss wird der Teig besser, wenn er eine Nacht ruhen kann.Die Herstellung gepresster Pasta erfordert zwingend technische Hilfs-mittel. Für Universal-Küchenmaschinen von Anbietern wie Kenwoododer KitchenAid gibt es passendes Zubehör. Der Aufwand für Pasta fatta in casa ist nicht unbeträchtlich. Aber weres probiert hat, versteht, warum dies eine der wichtigsten Fertigkeitenist, welche die Mamma in Italien ihren Töchtern weitergibt.Bezugsquellen und Rezepte: http://piattoforte.ch/surprise

Pasta selbst gemacht: Der Aufwand lohnt sich.

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Ausgehtipps

ZürichChinesische PartnerinSie heisst Kunming. Und es ist mit ihr ein bis-schen ähnlich wie mit Vinnytsya und San Fran-cisco: Wir wissen nicht recht, warum sie unse-re Partnerstädte sind. Oder was das genauheisst. Noch bis November können wir nunaber erfahren, wie die bereits 30-jährige Bezie-hung zu Kunming aussieht, was Zürich schonalles von ihr lernen konnte und umgekehrt. DieJubiläumsausstellung im Museum Bärengassedokumentiert die Zusammenarbeit in der Was-serversorgung, im öffentlichen Verkehr, in derStadtplanung und im Denkmalschutz. Sie zeigtWerke, die Zürcher Künstler von ihrem Atelie-raufenthalt in der Partnerstadt nach Hause ge-bracht haben und stellt Stephan Schachers Fo-toprojekt «31 Days, 31 Ways, 31 Minds» vor: DerFotograf hat in den beiden Partnerstädten je 31Menschen porträtiert und sie befragt, wie sie in31 Tagen die Welt verändern würden. Im Be-gleitprogramm im Stadthaus wird über Kun-mings wirtschaftlichen Wandel und seine Be-deutung als Kunsthandelsplatz diskutiert. (dif)Zürich – Kunming: 30 Jahre Städtepartnerschaft,

noch bis am So, 11. November, Museum Bärengasse;

Begleitprogramm im Stadthaus mit Gesprächsrunden

am Do, 25. Oktober (Kunming im Wandel) und

Di, 30. Oktober (Im Sog der Kunst) und

Do, 8. November (Fokus Wirtschaft).

www.stadt-zuerich.ch/aussenbeziehungen

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Skater-Girls gibt’s auch in Kunming.

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Die Ringelblume geht unter die Haut. Hilft immer und überall.

grundsätzlich ganzheitlich

Beratung täglich (auch sonntags) von 8–20 Uhr St. Peterstrasse 16, 8001 Zürich (nähe Paradeplatz)Bestellung online: www.stpeter-apotheke.com

Alles wird gutAnzeigen:

LuzernSchätzele an der ReussMan könnte meinen, Luzern wolle seine Ge-burtszahlen steigern oder die Scheidungsratesenken. Jedenfalls steht die ganze Stadt unterdem Stern von «Flirten, Verlieben, Lieben undZusammensein»: Mit «Ewig Dein» findet einausuferndes Programm statt, von der titelge-benden Ausstellung im Historischen Museumüber Dessous-Apéro und Single-Brunch 35+bis hin zur, Vorsicht, «Liebes-Safari». Wenn Siealso zum Sprung auf Ihre Angebetete ansetzenwollen oder einen Heiratsantrag planen: Siekönnen bis im März 2013 aus 24 Veranstal-tungsorten den passendsten auswählen. (dif)Ewig Dein – Vom Flirten, Lieben und Zusammensein,

noch bis zum 3. März 2013.

www.ewigdein.ch

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Liebeskummer? In Luzern gibt’s Abhilfe.

BaselEin VierteljahrhundertKulturvermittlung

Die Basler ProgrammZeitung feiert ihr 25-jäh-riges Jubiläum – mit einem Spezialheft und ei-nem Fest im Ackermannshof, wo nicht nur ku-linarische, sondern auch kulturelle Häppchenserviert werden. Das ganze Surprise-Team gra-tuliert der ProgrammZeitung sehr herzlich: Aufweitere 25 Jahre beste Kulturvermittlung!Jubiläumsfest der ProgrammZeitung,

Freitag, 26. Oktober, 18 bis 2 Uhr, Ackermannshof,

St. Johanns-Vorstadt 19 – 21, Basel. Eintritt frei,

Anmeldung erwünscht: [email protected],

www.programmzeitung.ch

Derzeit erhältlich: das Jubiläumsheft.

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ZürichDie Stadt als Performance «Was können die Künste für die urbane Gesellschaft tun?», fragt die inter-disziplinäre Konferenz reART:theURBAN. Um Antworten zu bekommen,bringt sie renommierte Wissenschaftler, Künstler und Kunstschaffendezusammen, unter anderen der Philosoph Slavoj Zizek, die Performance-Wissenschaftlerin Shannon Jackson und der Soziologe Dirk Baecker.Neben Vorträgen und Diskussionsrunden in kleinem Rahmen gibt’sKunst-Happenings und Workshops von Leuten wie Lukas Bärfuss, demKünstlerkollektiv Blast Theory aus England oder der ägyptischen The-atermacherin Laila Soliman. Das Programm ist ambitioniert, die Exper-ten international. Richtig grossstädtisch, könnte man sagen. (dif)reART:theURBAN – Interdisziplinäre Konferenz, Do, 25. bis Sa, 27. Oktober,

Tagungsort Gessnerallee Zürich, künstlerische Interventionen in der ganzen Stadt.

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Auch in der Stadt gibt’s Platz für einen kleinen Schwatz.

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BaselTurnen unter freiem HimmelDie Gorillas, Schimpansen und Orang-Utans im Basler Zolli konntenendlich ihr neues Zuhause in Beschlag nehmen: Nach zweijähriger Bau-zeit wurde die bis zu 16 Meter hohe Aussenanlage eröffnet. Kaum wa-ren die Türen offen, wagten sich die Tiere eines nach dem anderen hin-aus: In der dschungelartigen Umgebung können die MenschenaffenWind und Wetter erleben und nach Würmern, Insekten und Kräuternsuchen. Das ist nicht nur für die Tiere schön, sondern auch für ihrenächsten Verwandten. www.zoobasel.ch

Ob Sonne oder Regen: Mehr Lebensqualität für Menschenaffen.

Anzeigen:

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AUFGEZEICHNET VON YVONNE KUNZ

«Am 1. November werde ich pensioniert. Das gibt mir das Gefühl,nichts mehr zu müssen. Aber ich führe trotzdem alles weiter. Surprise zuverkaufen macht Spass und die Nachtwache bei einer alten, dementenParkinsonpatientin will ich unbedingt bis zum Ende machen. Nicht nuraus Pflichtgefühl, sondern um etwas abzuschliessen. Ich mache das nunseit sechs Jahren und will die ganze Geschichte kennen. Sonst wäre es,als ob man ein Buch lesen und nach drei Vierteln aufhören würde.

Ich habe das Leben am Rande der Gesellschaft selbst gewählt. ZehnJahre lang war ich auf Tramp durch die Welt, irgendwann hatte ich aberLust, wieder sesshaft zu werden. Nie so ganz, natürlich – nennen wir es‹am Rande integriert›. Surprise verkaufen ist ein schönes Mittelding, fin-de ich. Ich bin auf der Strasse, habe meine Freundschaften auf der Stras-se, wohne aber mit meiner Katze Sina in einer Wohnung. Ich mag esschön und sauber. Mit meinem Freund könnte ich nicht mehr zu-sammenwohnen. Er ist jetzt wieder auf der Strasse, und seither freuenwir uns immer, einander zu sehen.

Früher gab es auf der Strasse einen viel grösseren Zusammenhalt undes galten andere Regeln. Man hing nicht sesshaft rum, auf Tramp so-wieso nicht. Jeder hat irgendetwas gemacht, verschiedenste Arbeiten.Ich stellte Schmuck her. Es gab keine Sozialhilfe – entweder man be-stand oder ging heim zu Mama. Heute rennt man zum Sozialamt, hängtden ganzen Tag rum, und wenn nach fünf Tagen das Geld alle ist, istman der Ärmste der Armen. Deswegen gibt mir mein Freund sein Geldund ich teile es ein für ihn. Wir treffen uns jeden Tag in der Stadt, ichgebe ihm etwas und er freut sich, dass das Geld jetzt den ganzen Monatreicht. Als wir damals gingen, hatten wir wirklich nichts. Heute sind dieÄrmsten der Armen reicher als ich. Wenn ich meinen Surprise-Ertraganschaue, bin ich schlechter dran. Das stört mich aber gar nicht.

Heute wird auf der Strasse verarscht und gelogen. Wenn dich frühereiner verarscht hat, wurde er ausgegrenzt. Es gab einen Ehrenkodex. Esgab unausgesprochene Regeln, man konnte sich nicht benehmen wieman wollte: Leute anpöbeln, rumrülpsen, überall urinieren. Und manräumte seinen Dreck weg. Wenn einer aggressiv wurde und eine Flaschezertrümmerte, musste er die Scherben aufnehmen – unter Aufsicht!Wenn jemand mit den Hunden schlecht umging, wurde sofort interve-niert. Früher war es wie eine Familie, einer ist für den anderen einge-standen. Wenn jemand starb, zündeten wir eine Kerze an.

Als die beiden Anführer an meinem früheren Verkaufsplatz auf derBrücke beim Taubenschlag weg waren – einer ist heute integriert, derandere abgestürzt –, übernahmen die Punks. Da haben sich viele der Äl-teren distanziert. Auch ich. Ich fühlte mich nicht mehr wohl. Schonmorgens um acht hatte ich besoffene, krakeelende Typen um mich he-rum, bis am Abend. Das hat mich genervt. Ich war abends aggressivund habe viel rumgemotzt im Surprise-Büro, so lange, bis ich einen an-deren Platz bekam. Jetzt bin ich schön im Quartier von Wipkingen undhabe mich noch nie so wohlgefühlt. Es hat ein paar Randständige, dieaber integriert sind. Die treffe ich abends manchmal, oder Bekannte von

Cristina Choudhary (63) aus Zürich hat das Leben auf der Strasse selbst gewählt. Heute seidort vieles nicht mehr so wie früher. Dennoch sagt sie: «Ich bin rundum zufrieden.»

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Verkäuferporträt«Am Rande integriert»

mir kommen vorbei. Das Geschäft läuft gut und stabil. Leider habe icheinige Leute verloren, die mir wichtig waren. Röfe zum Beispiel, ein Al-koholiker. Der war früher mal in Goa – von daher hatten wir schon malviel gemeinsam. Der hatte nie Geld, aber er hat mich nie angebettelt.Der hatte seinen Stolz.

Es sch… mich an, wenn ich sehe, dass der Zusammenhalt zerfällt.Ungerechtigkeit tut weh. Wenn das Gesetz nicht für alle gleich ist, undder Mächtige alles darf. Im Pfuusbus von Pfarrer Sieber, wo ich michfrüher auch engagierte, geht es zum Beispiel zu und her wie im WildenWesten. Von der Teamleitung sind viele der Guten gegangen und ersetztworden durch Habasche, die da den Chef raushängen. Was ich dort sah,ist unmoralisch, hat mit christlicher Gesinnung wenig zu tun. Die ist miraber wichtig.

Wenn ich bete, wünsche ich mir, dass es für mich so weitergeht wiebisher. Ich bin dankbar, dass ich hier bin. Wenn man sich umschaut, inanderen Ländern, dann fühle ich mich hier wohl und sicher. Ich habeeinen guten Arbeitsplatz, ich bin rundum zufrieden. Das ist nicht selbst-verständlich.» ■

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Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hat-ten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt habenund ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkaufdes Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation.Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neueSelbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialpro-gramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausge-wählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufen-den erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, U-Abonnement) und werden beiProblemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft lei-sten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Ver-dienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

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Impressum

HerausgeberVerein Surprise, Postfach, 4003 Baselwww.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9–12 Uhr, Mo–DoT +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 [email protected]äftsführungPaola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) AnzeigenverkaufT +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 [email protected] T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99Reto Aschwanden, Florian Blumer (Nummernverant -wort licher), Diana Frei, Mena Kost [email protected]ändige MitarbeitRosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Ei-senring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz,Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher ZimmerMitarbeitende dieser AusgabeMonika Bettschen, Peter Brandhorst, Michèle Faller, Michael Gasser, Heidi Klinner-Krautwald, Peter Lauth,Frances Perraudin, Nicole Pont, Oswald SiggGestaltung WOMM Werbeagentur AG, BaselDruck AVD GoldachAuflage15000, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./JahrMarketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Oscar Luethi (Leitung)

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83, M +41 79 428 97 27Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, [email protected]üro ZürichT +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, [email protected]üro BernT +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02Andrea Blaser, Alfred Maurer, Bruno Schäfer, Pappelweg 21, 3013 Bern, [email protected] T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99Paloma Selma, [email protected] T +41 61 564 90 10, F +41 61 564 90 99Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat, David Möller [email protected], www.strassensport.chVereinspräsident Peter Aebersold

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugs weiseoder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von derRedaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt.

Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsen-dungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichneteVerkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträ-ge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder demSpender – allen Verkaufenden zugute kommen.

Surprise ist:

Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialenSchwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit.Surprise hilft bei der Integration in den Ar-beitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsitua-tion, bei den ersten Schritten raus aus derSchuldenfalle und entlastet so die SchweizerSozialwerke.

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Be-nachteiligung betroffenen Menschen eineStimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellungfür soziale Gerechtigkeit.

Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinen-de Strassenmagazin Surprise heraus. Dieseswird von einer professionellen Redaktion pro-duziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illu-stratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft.Rund dreihundert Menschen in der deutschenSchweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlos-sen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur,verdienen eigenes Geld und gewinnen neuesSelbstvertrauen.

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport.In der Surprise Strassenfussball-Liga trainierenund spielen Teams aus der ganzen deutschenSchweiz regelmässig Fussball und kämpfenum den Schweizermeister-Titel sowie um dieTeilnahme an den Weltmeisterschaften für so-zial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hatSurprise einen eigenen Chor. GemeinsamesSingen und öffentliche Auftritte ermöglichenKontakte, Glücksmomente und Erfolgserleb-nisse für Menschen, denen der gesellschaft-liche Anschluss sonst erschwert ist.

Finanzierung, Organisation und internatio-nale VernetzungSurprise ist unabhängig und erhält keine staat-lichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mitdem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inse-raten finanziert. Für alle anderen Angebotewie die Betreuung der Verkaufenden, die Sport-und Kulturprogramme ist Surprise auf Spen-den, auf Sponsoren und Zuwendungen vonStiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte sozialeInstitution. Die Geschäfte werden vom VereinSurprise geführt. Surprise ist führendes Mit-glied des Internationalen Netzwerkes derStras sen zeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow,Schottland. Derzeit gehören dem Verband über100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

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Ist gut. Kaufen!Wer etwas verkauft, braucht Geld. Schlichte Wahrheit – gute Sache.Denn 50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.Alle Preise exkl. Versandkosten.

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Surprise Zeitungs-Taschen (34 x 36 cm); CHF 37.50

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Surprise City-Taschen (24,5 x 35,5 cm); CHF 40.–

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Surprise Rucksack(32 x 40 cm); CHF 89.–

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Schön und gut.Grosses Badetuch 100 x 180 cm aus sehr langlebigem Zwirngarn, 100% handgepflückte Baumwolle. Mit Surprise-Logo eingewebt und vonA bis Z in der Schweiz hergestellt. Vorder- und Rückseite verschieden-farbig: vorne kühles Aquablau, hinten heisses Rot.

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HerrenCHF 25.–

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Dazu passend: Leichtes T-Shirt, 100%Baum -wolle, für Gross und Klein.

KinderCHF 20.–

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Strandtuch (100 x 180 cm) CHF 65.–

50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.

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Surprise macht stark. Machen Sie uns stärker – und unterstützen Sie unsere Läufer. Der Verein Surprise stellt ein eigenes Team auf. Sechs Surprise-Verkäufer nehmen am 28. Oktober am Charity Run beim «Luzern Marathon 2012» teil und zeigen ihren Durchhaltewillen.

Laufen für Surprise!

Reto BommerSurprise-VertriebsleiterZH Halbmarathon

«Mir tut es gut, undSurprise profitiertauch davon.»

Ruedi Kälin Surprise-Verkäufer ZH5 Mile Run

«Ich laufe für Surprise,weil ich etwas fürmeine Gesundheitmachen möchte.»

Michael Hofer Surprise-Verkäufer ZH5 Mile Run

«Ich laufe für Surprise,weil sogar Joschka Fischer schon an vie-len Marathons war –und ich noch nie.»

Markus Thaler Surprise-Verkäufer AG5 Mile Run

«Ich möchte Surpriseetwas zurückgeben,weil ich hier eine faireChance bekommenhabe.»

Peter Conrath Surprise-Verkäufer ZH5 Mile Run

«Ich laufe beim Lu zerner Marathon, um Surprise in Luzern bekannter zu machen.»

Dieter Blumer Surprise-FanHalbmarathon

«Ich laufe für Surprise,weil ich das Magazinschätze: Es vermittelteinen anderen Blickauf die Dinge.»

Florian Blumer Surprise-Redaktor 5 Mile Run

«Ich laufe für Surprise,weil ich beeindruckt bin, wie viele Surprise-Verkäufer an denStart gehen.»

Ghide Gherezgihier Surprise-Verkäufer BEHalbmarathon

«In meiner Heimat Eritrea bin ich Velo-rennen gefahren. Hier in der Schweizlaufe ich regelmässig.»

Silvan BommerSurprise-FanHalbmarathon

«Ich laufe für Surprise,weil ich Spenden für ein gutes Projektsammeln möchte.»

Ande WeldemariamSurprise-Verkäufer BE5 Miles Run

«Ich laufe gerne amLucerne Marathonmit, wenn ich dadurchSurprise unterstützenkann!»

Spendenkonto: PC 12-551455-3Verein Surprise, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99

Setzen Sie ein Zeichen gegen soziale Aus grenzung und Ungerechtigkeit. Unterstützen Sie unsere Surprise-Läufer mit einer Spende!Weitere Informationen finden Sie unter: www.charityrun.vereinsurprise.ch