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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 FEATURE ABSCHIED VOM DALAI LAMA DIE ZUKUNFT DES TIBETISCHEN KAMPFES FÜR UNABHÄNGIGKEIT VON PETER MEIER-HÜSING 17.09.2014 /// 22.03 Uhr Redaktion: Wolfram Wessels Mitschnitte auf CD von Sendungen der Redaktion SWR2 Literatur sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 € erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 SWR 2 Feature können Sie auch als Live-Stream hören im SWR 2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/feature.xml Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

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SWR2 MANUSKRIPT

ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE

SWR2 FEATURE

ABSCHIED VOM DALAI LAMA

DIE ZUKUNFT DES TIBETISCHEN KAMPFES FÜR UNABHÄNGIGKEIT

VON PETER MEIER-HÜSING

17.09.2014 /// 22.03 Uhr

Redaktion: Wolfram Wessels

Mitschnitte auf CD von Sendungen der Redaktion SWR2 Literatur sind beim SWR

Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 € erhältlich. Bestellungen über Telefon:

07221/929-26030

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Cut 1: Musik „OOOM“ Autor: Die Nachricht kommt fast beiläufig daher und ist für die Betroffenen von einschneid-ender Bedeutung. Am 10.März 2011 verkündet der Dalai Lama bei einer öffentlichen Ansprache in Dharamsala anlässlich des Jahrestages des Aufstand in Lhasa Historisches: Er werde sich von seiner Funktion als politisches Oberhaupt der Tibeter zurückziehen! Cut 2: (O-Ton Dalai Lama, Dharamsala, tibetisch ) Übersetzer Dalai Lama: „Wir befinden uns nun im 21. Jahrhundert, und es ist Zeit für Veränderungen. Die würden irgendwann auch von allein geschehen, aber wenn sie erst durch den Druck der Menschen kämen, wäre es eine Blamage für uns. Seit dem 5. Dalai Lama gibt es nun diese Verbindung von politischer und spiritueller Führerschaft für die tibetische Nation. Ich bin jetzt der 14. Dalai Lama. Mit Stolz und Freude werde ich diese Regel nun beenden. Das kann niemand für mich tun, ich muss es selber tun. Wenn wir einen politischen Führer haben, der von den Menschen gewählt wurde und der die politische Verantwortung übernehmen kann, das wäre sehr gut. Wenn es so bleiben würde wie es jetzt ist, und ich bin eines Tages nicht mehr da, das wäre wie etwas Unvollendetes!“ Autor: Der Dalai Lama saß auf seinem Thron vor dem Tsuglagkhang-Tempel, der sich direkt gegenüber seiner Residenz befindet. Auf der zeltüberdachten Freifläche dazwischen verfolgten mehrere hundert Tibeter zunehmend verwundert oder ungläubig, wie der Mann, der sich so gerne als einen „einfachen Mönch“ bezeichnet, das Ende einer jahrhundertealten Tradition verkündete. Er wusste, dass seine Ankündigung vielen Angst machen würde. Cut 3: (O-Ton Dalai Lama, Dharamsala, tibetisch) Übersetzer Dalai Lama: „Wenn ich jetzt die politische Führung abgebe und auf jemand anderen übertrage, das soll euch nicht entmutigen und verzagen! Ich tue es zum langfristigen Nutzen Tibets und der Exil-Gemeinschaft. Sie soll voranschreiten können. Wir sind eine moderne Gesellschaft geworden, ihr müsst das verstehen. Ich bin nicht enttäuscht oder entmutigt und ich gebe nicht und nichts auf in der Tibet-Frage. Ich bin ein Tibeter, aus dem Schneeland, aus Amdo. Und wie jeder Tibeter eine Verantwortung für die Lösung des Tibet-Problems hat, habe ich sie eben auch!“ Sprecher: Abschied vom Dalai Lama Die Zukunft des tibetischen Kampfes für Unabhängigkeit Feature von Peter Meier-Hüsing Autor: Das Jahr 55 im Exil. Der Dalai Lama zieht sich langsam zurück. Die Nachricht bringt nicht nur die Menschen in Dharamsala zum Nachdenken. Was bedeutet sie für die 135.000 Exil-Tibeter zwischen Dharamsala und New York und für die sechs Millionen Tibeter im von China besetzten Tibet? Wird sich mit dem Abgang des gegenwärtigen Dalai Lama das so genannte „Tibet-Problem“ von selbst erledigen? Zerrieben und

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aufgelöst einerseits zwischen chinesischer Propaganda, politischer Unterdrückung und andererseits kultureller Assimilation? Oder öffnet sein Rückzug von der politischen Bühne neue Perspektiven auf eine mögliche Rückkehr der Exil-Tibeter in ihre Heimat? Cut 4: Musik „Tibet“ Autor: Das „alte Tibet“ war eine Theokratie. Der jeweilige Dalai Lama als wichtigste Reinkarnation des tibetischen Buddhismus und die Führer der drei Staatsklöster Drepung, Ganden und Sera bestimmten seit rund 400 Jahren den Gang der Dinge im Schneeland. Das Etikett „weltliches und religiöses Oberhaupt der Tibeter“ war die übliche Standardformel für den Dalai Lama. Aber das Exil machte aus diesem fast absoluten Herrschaftsanspruch eine Leerformel, aus dem Dalai Lama einen „König ohne Reich“. Er stammt noch aus einer feudalen, theokratischen Gesellschaft, die lange in selbstgewählter Isolation und rigoroser Traditionsbewahrung ihr Heil sah. Er war gerade 24 Jahre alt, als lebender Bodhisattva ausgestattet mit großer Macht und unbegrenztem Vertrauen seiner Untertanen, und wollte Tibet nach seiner Amtseinführung als weltlicher Herrscher 1950 reformieren und nach außen öffnen, als Maos „Macht aus den Gewehrläufen“ ihn ins Exil zwang. Cut 5: (kurz historischen Ton Mao 1949) Cut 6: Musik „China 1949“ Autor: Als der Führer der chinesischen Kommunisten am 1. Oktober 1949 in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens die Volksrepublik China ausruft, ist in den Führungskadern der chinesischen KP längst entschieden, das renitente „Schatzkästlein des Westens“, wie Tibet bei den Han-Chinesen auch genannt wird, zu besetzen. 1959 folgte die tibetische Urkatastrophe. Am 31. März diesen Jahres überschritt eine Gruppe völlig erschöpfter Tibeter einen abgelegenen Grenzübergang nach Indien, nahe der bhutanesischen Grenze, in ihrer Mitte ein durch die Ruhr völlig geschwächter Dalai Lama auf dem Rücken eines Yaks. Genau zwei Wochen zuvor war der 24jährige heimlich aus seinem Sommerpalast in Lhasa geflohen, nachdem die Chinesen das Gebäude erstmals mit Granaten beschossen hatten. Alle Verhandlungsbemühungen mit der Führung in Peking waren gescheitert, sein Leben war unmittelbar in Gefahr, das Exil der letzte Ausweg. Jedenfalls drängen sich am 18. April 1959 in der Provinzstadt Tezpur am Brahmaputra hunderte Journalisten aus aller Welt, als der Dalai Lama offiziell im indischen Exil präsentiert wird. Für den deutschen Rundfunk ist damals Heinrich Harrer vor Ort, der durch seine „Sieben Jahre in Tibet“ den Dalai Lama kennt und fließend tibetisch spricht. Cut 8: (O-Ton Harrer) „Jetzt kommt der Wagen des Dalai Lama herein auf das große Feld, sie hören die Aufregung bei den Menschen…die Kameras surren…jetzt steigt er die steile Stiege hinauf, er erreicht das mit einem goldenen Schirm überdachte Podium, er grüßt mit gefalteten Händen, er lacht herzlich, und setzt sich an einen kleinen Tisch auf dem einige Blumen stehen…das ist jetzt die Ansprache des deputy comissioner, des höchsten Beamten in diesem Distrikt. Er sagt, es ist eine einmalige und große Ehre, Seine Heiligkeit hier in Tezpur empfangen zu dürfen, das wird ein großes Ereignis im Leben aller Menschen hier bleiben…er sagt ein Gedicht auf, die letzten Worte sind

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Frieden, Frieden, Frieden…der Dalai Lama ist aufgestanden, er sagt, dass er froh ist und den Göttern dankt, mit seiner Begleitung gesund nach Indien gekommen zu sein. Er sagt, dass in Tibet die Chinesen der Religion großen Schaden angetan haben und er deshalb geflohen sei.“ (Applaus und Musik) Dem Dalai Lama folgten tausende Flüchtlinge, in einer ersten Welle sprach die indische Regierung von mindestens 12.000 Menschen Autor: Doch bald war klar: Aus einem vorübergehenden Exil müssen dauerhafte Lösungen werden, aus provisorischen Flüchtlingscamps neue Lebensperspektiven. Man benötigte nicht nur Zelte und Medikamente, man brauchte Wohnungen, Arbeits-möglichkeiten, Schulen, Ausbildung, Hospitäler, eine Verwaltung und dann auch Klöster. Cut 10: Atmo „Dharamsala Straße, leiser“ Autor: Dharamsala war 1959 ein vergessenes Bergdorf. Aber mit großer Vergangenheit. Um 1850 hatten die Briten den Ort als idyllisch gelegene und klimatisch begünstigte „hill station“ entdeckt. Eine Gurkha-Einheit wurde dort stationiert, Villen der Kolonial-beamten und ihrer Familien zogen sich bald am Hang entlang, Händler und Handwerker folgten. Ein verheerendes Erdbeben legte 1905 fast alle Gebäude der Region in Schutt. Das Ende der Kolonialherrschaft und die Abwanderung muslimischer Händler infolge der Teilung des Landes in Indien und Pakistan gaben Dharamsala 1947 den Rest. Zwei Gebäude aus dieser Zeit, die schon das Erdbeben unversehrt überstanden hatten, stehen heute noch: Die anglikanische Kirche „St.John in the Wilderness“, vor deren neogotischen Mauern sich unter anderem Lord Elgin, einst Vizekönig von Indien, 1863 beerdigen ließ. Und der unscheinbare Laden der Familie Nowrojee an Dharamsalas wichtigster Straßenkreuzung. Der flache Bau wirkt alles andere als erdbebensicher, aber ein blaues Schild über dem Eingang verkündet stolz „Gegründet 1860“. Von damals scheinen auch noch die verstaubten Verkaufsvitrinen im Hinterzimmer zu stammen, zwischen denen Werbeschilder für englische Seife und deutsches Bier verrotten, während vorne Erfrischungsgetränke und Tageszeitungen über den Tresen gehen. 1959 soll der parsische Kaufmann Nauzer Nowrojee die rettende Idee für das aussterbende Dorf gehabt haben: „Siedelt die Tibeter in Dharamsala an“, soll er Nehru vorgeschlagen haben. „Ja, so war es“, nickt bestätigend der seit 40 Jahren hier angestellte Verwalter, ein asketischer Mann aus dem Punjab. Cut 11: (O-Ton Nowrojee) „Actually that time this place was totally open, lush green, big cedars, few many few buildings, at least twenty buildings, not big ones, at that time the main personality and HH the Dalai lama came here to see the location. So they came here and found that everything was fine here. So the persons of the Dalai lama suggest him the place is very good, lush green peacefull, so if you want to see you may go there. So he came here.”

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Übersetzer Nowrojee: „Tatsächlich war zu der Zeit die Gegend hier reichlich verlassen, es gab vor allem üppige Vegetation, dichte Zedernwälder. Und höchstens 20 Häuser, kleine Häuser, keine großen. Und dann kamen die wichtigsten Leute aus dem Gefolge des Dalai Lama und haben sich hier umgeschaut. Und sie fanden, dass es ein guter Platz ist. Also schlugen sie dem Dalai Lama vor, sich hier an diesem schönen, friedlichen Ort niederzulassen. Und so kam er hierher.“ Autor: Der indische Premier soll von dem Vorschlag begeistert gewesen sein, auf so einfache Weise die politisch heiklen Flüchtlinge weit abseits der Hauptstadt ansiedeln zu können. Die weniger begeisterten Tibeter empfanden dieses Angebot anfangs eher als Abschiebung. Trotzdem zog am 30.April 1960 eine Jeep-Kolonne mit dem Dalai Lama und seinem Gefolge die Bergstraße nach McLeod Ganj empor, einem höher gelegenen Ortsteil von Dharamsala , empfangen von einem Spalier applaudierender Inder und einem Blumentor samt „Wellcome“-Gruß in goldenen Lettern. Die tibetische Entourage bezog einen Bungalow, der einst die englische Distriktverwaltung beherbergte und als Highcroft House bekannt war und nun „Swarg Ashram“ – „Haus der Freiheit“ – heißen sollte. Cut 12: Atmo „Dharamsala Straße, laut“ Cut 13: Musik „Om mani Padme Hum“ Autor: Der Swarg Ashram beherbergt heute eine Bergsteigerschule. Seit langem schon liegt die eingezäunte Residenz des Dalai Lama am anderen Ende des Ortes, auf der letzten Erhebung des flachen Bergrückens, auf dem sich die Häuser McLeod Ganjs immer dichter drängen. Vom vergessenen Bergdorf mutierte Dharamsala in wenigen Jahrzehnten zur Boomtown , dank ihres „spirituellen Popstars“, der viele Wochen im Jahr gar nicht zu Hause ist. Aber alle kommen hierher: Touristen, Pilger, Politiker und Journalisten. Das Angebots-Spektrum für leibliches wie seelisches Wohlbefinden ist breit: Man bekommt italienischen Cappuccino, frisches Müsli, französischen Wein, tibetische Heilbehandlung, Reiki-Massagen und Kundalini-Yoga, Pizza, Veggie-Burger, nepalesisches Dhal Bat oder tibetische Momos. Amerikanische „celebrities“ können im Fünf Sterne-Cottage im Zedernwald übernachten, Neo-Hippies mit Pluderhose und Dreadlocks in einer 200 Rupien-Absteige. Vor allem kommen Buddhismus-Novizen aus dem Westen hierher. Es sind häufiger Frauen als Männer und sie sind eher in ihrer zweiten Lebenshälfte. Doch ihre Motive sind ähnlich, wie hier bei Patrick, einem Iren, der gerade ein längeres Meditationsretreat absolviert hat und nun sehr zufrieden über Dharamsalas Hauptstraße schlendert. Cut 14: (O-Ton Patrick, Ire) „I really love the tibetan element, the tranquil, the good heart, the feeling, they give to the energy here. I like to talk with the people, their view is very open, they are not aggressive like sometimes Indian, they tend to be more easy, I like to build my understanding with the people, not by books or media, you know. Übersetzer Patrick: „Ich liebe das Tibetische hier, tibetische Lebensart, tibetischen Geist. Sie sind ruhig, haben ein großes Herz, das ist gut für die Energie hier. Ich mag gerne mit den Leuten hier sprechen, sie haben einen weiten Blick, sie sind nicht aggressiv wie

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leider manchmal Inder, sie nehmen „s leichter. Ich will hier mein Wissen durch den Kontakt mit den Menschen erweitern, nicht durch Bücher oder Medien.“ Autor: 11.000 Einwohner soll McLeod Ganj heute haben, ein buntes Gemisch, auch ohne die Touristen: Punjabis, Ladakhis, Kaschmiris und vor allem Tibeter. Sind es 5000 oder sogar 7000? Keiner weiß es genau, aber es sind so viele, dass der Ort als „Little Lhasa“ bekannt ist. Restaurants, Souvenirshops, Wohnhäuser und neue Hotels drängen sich auf dem engen Bergrücken, in der Saison sind die Gassen voll, laut und chaotisch, die Versorgung mit Wasser und Strom ist ebenso fragil wie die Entsorgung des Mülls. So typisch Patrick für die Dharamsala-Besucher aus dem Westen ist, so typisch ist vielleicht Purbu Tashis Schicksal für die Tibeter hier. Er stammt aus einer Bauernfamilie in der Nähe von Lhasa. Als er 16 Jahre alt war, schickte ihn seine verwitwete Mutter zusammen mit der jüngeren Schwester nach Nepal. Das war 1987, die hohen Pässe wie der Nangpa-La westlich des Everest wurden nur mäßig bewacht, tausende Tibeter kamen jedes Jahr nach Nepal und zogen dann meist weiter nach Indien. In Dharamsala angekommen, besuchte Purbu die Schule des Tibetan Children Village, des TCV, und erlernte später dort die Thangka-Malerei - das sind tibetische Heiligenbilder. Purbu ist Gläubiger Buddhist, aber kein Mönch, und kein politischer Aktivist Cut 15: (O-Ton Purbu) „I stand on my feet and rent the house, I married, have three daughters, they go to school, in 2005 my wife start work in TCV home mother, take care for the child, cleaning house, making food look after them, we advise each other,take care of each other, we feel very happy to do some other people helping, not only me.” Übersetzer Purbu: „Ich kann auf meinen eigenen Füßen stehen, habe das Haus gemietet, geheiratet, drei Töchter, die alle zur Schule gehen. 2005 begann meine Frau im TCV zu arbeiten, kümmert sich um die Kinder dort, kocht, räumt auf, schaut nach den Kindern. Wir haben unsere Kinder, helfen und kümmern uns gegenseitig. Wir sind zufrieden, gerade auch wenn wir anderen helfen Menschen helfen können.“ Cut 16: Musik „Tibet“ Autor: Dharamsala ist Herz und Hirn der tibetischen (Exil)Kultur, eine Mischung aus Hauptstadt, Flüchtlingscamp, Pilgerstätte und Sehnsuchtsort. Wo Tibeter im Exil auch leben mögen, in New York, Zürich oder Südindien, ihre Gefühle und Gedanken richten sich auf Dharamsala. Keinen anderen Platz zum Leben als diesen Bergort kann sich Tenzin Tsundue vorstellen. Politischer Aktivist und Autor nennt er sich und lebt mit vier Freunden zusammen in einem kleinen Bungalow unterhalb von McLeod Ganj. Der kleine, drahtige Mann erwartet mich vor dem Haus. Tenzins unverkennbares Markenzeichen ist ein breites, blutrotrotes Stirnband, das seine langen schwarzen Haare bändigt. Er trägt es immer, will es erst abnehmen, wenn Tibet wieder frei ist, sagt er, frei von chinesischer Besatzung. Über unseren Köpfen ragen die Himalaya-Gipfel auf, die tibetische Grenze ist nicht wirklich weit entfernt, einige Bergketten weiter östlich. Für Tenzin Tsundue ist es selbstverständlich, hier am Rande des Himalaya, so nah wie möglich zu seiner Heimat zu leben. Ein Exil in den USA? Unmöglich für ihn. Leben in Südindien? Unvorstellbar. Es gibt eine tiefe

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Beziehung zwischen der Kultur eines Volkes und dem Land, auf dem es lebt, ist Tenzin überzeugt. Cut 17: (O-Ton Tenzin) „The further you go from homeland the more you get influenced by other cultures. So therefore a lot of Tibetan feel it is like a form of pilgrimage to go back to Tibet. For me, living here next to Tibet, near Tibet in Himachal Pradesh, the neighbouring state, for me it is important, because Himalaya is a part of Tibet. The culture, the people in Himalaya are alsways the same as in Tibet.” Übersetzer Tenzin: „Je weiter du dich deinem Heimatland entfernst, desto stärker wirst du von anderen Kulturen beeinflusst. Deshalb denken tatsächlich viele Tibeter, es wäre wie eine Pilgerfahrt, zurückzukehren nach Tibet. Für mich persönlich ist es ganz wichtig hier in der Nähe zu Tibet zu leben, hier in Himachal Pradesh, dem indischen Nachbar-staat. Denn der Himalaya war immer ein entscheidender Teil Tibets, seiner Kultur, die Menschen überall im Himalaya sind wie wir Tibeter“ Autor: Einmal hat er kurz tibetischen Boden betreten. Nach dem Studium marschierte er einfach los, und passierte die indisch-chinesische Grenze unbemerkt, irgendwo im Himalaya auf einem hohen Gebirgspass. „Ich hatte eine Vision von Tibet, durch die Erzählungen meiner Eltern“, sagt er, „ein weites, schönes Land, unsere Heimat. Ich musste dorthin, glaubte, dass sei ein politisches Zeichen, ein Fanal, aber es war naiv.“ Tenzin wurde von der chinesischen Grenzpolizei verhaftet, verhört, als indischer Spion verdächtigt, und er hatte Glück, dass die Chinesen ihn nach drei Monaten wieder aus dem Land warfen und nicht für Jahre einsperrten. Sie kannten ihn noch nicht zu diesem Zeitpunkt. Das änderte sich wenige Jahre später. 2002 erklomm Tenzin in Mumbai unbemerkt das Gerüst eines Hotelkomplexes und entfaltete ein „Free Tibet“-Banner und eine Tibet Fahne, gerade als der damalige chinesische Premier Zhu Rongji das Hotel verließ. Und trotz Verhaftung und Anklage widerholte Tenzin Tsundue diese Aktion 2005 in Bangalore beim Besuch des Premiers Wen Jiabao – die Aktionen machten ihn weltweit bekannt, das indische Fernsehen berichtete ausführlich: Cut 18: (O-Ton Ausschnitt aus indischen TV-Nachrichten, Reporterin) „And for the 40.000 tibetan refugees in southern state that was their dramatic moment under the sun, the general secretary of the Friends of Tibet, Tenzin Tsundue on top of the Indian Institue of Science building hoisting the Free Tibet-banner in full glare of the international media. There were moments of fear the young man would attempt to jump from the building, that was averted when the police definitely arrested him but not before he strew the campus with Free Tibet literature and rent the Sunday afternoon quiet with his slogan “We want freedom!” Übersetzerin: „Das war für die 40.000 tibetischen Flüchtlinge hier in Südindien ein dramatischer Moment: der Generalsekretär der Friends of Tibet, Tenzin Tsundue, oben auf dem Gebäude des Indischen Wissenschaftsinstituts hisst die Free-Tibet Fahne direkt vor den Augen der internationalen Presse. Kurz befürchtete man, der junge Mann könne vom Balkon springen, aber dem war nicht so. Bevor er dann verhaftet wurde, warf er

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noch Free-Tibet-Schriften auf den Campus und durchbrach die Sonntagsruhe mit seinem Ruf: Wir wollen Freiheit.“ (man hört ihn im Hintergrund rufen) Autor: In seinem kleinen Zimmer hängt zwischen Bildern des Dalai Lamas und einer Landkarte von Tibet ein Foto, das ihn auf dem Balkon in Bangalore zeigt. Er schwenkt eine Tibet-Fahne, das rote „Free Tibet“-Banner hängt gut sichtbar über der Brüstung. „China get out of Tibet!“ habe er gerufen, erzählt Tenzin lächelnd und ist immer noch stolz, dass der chinesische Premier diesem Anblick nicht ausweichen konnte. Der Prozess gegen Tenzin ist noch nicht beendet, aber er ist optimistisch, dass er freigesprochen wird. Cut 19: Musik „Amdo“ Autor: Tenzin Tsundue weiß nicht genau, wie alt er ist und auch nicht, wo er geboren wurde. Wahrscheinlich 1975 irgendwo in Nordindien. Seine Eltern - einfache tibetische Bauern – gehörten mit zur ersten großen Flüchtlingswelle. Er wuchs auf mit den Geschichten aus einer verlorenen Heimat und der Vision von einer Rückkehr. Er konnte in Dharamsala die Schule besuchen, die der Dalai Lama bereits 1960 für tibetische Flüchtlingskinder und Waisen gegründet hatte und studierte später an Universitäten in Indien. Obwohl Tenzin Tsundue Tibet nur im Gefängnis erlebte und seit 39 Jahren im indischen Exil lebt, bezeichnet er sich als Tibeter, will sich als Tibeter fühlen. Und weiß gleichzeitig, wie schwierig das ist. Und mit jedem Jahr in Indien schwerer wird. In einem seiner Gedichte, „My Tibetanness“ schreibt er. Zitator: „I am more of an Indian, except my chinky Tibetan face… I am a Tibetan, but I am not from Tibet. Never been there. Yet I dream of dying there.” „Ich habe mehr von einem Inder, außer meinem komischen tibetischen Gesicht. Ich bin ein Tibeter, obwohl ich nicht aus Tibet stamme, war nie dort. Aber ich träume davon, dort zu sterben.“ Autor: Auch für die Exil-Tibeter der zweiten Generation steht der Dalai Lama für die Hoffnung auf Rückkehr und für die Einheit ihrer Gemeinschaft , Sein Rückzug von der politischen Verantwortung haben viele als Bedrohung empfunden, dabei war seine Botschaft klar: Ihr Tibeter müsst Euch selbst um Eure Zukunft kümmern und mehr Verantwortung für den Erhalt Eurer Gemeinschaft übernehmen, wenn ihr sie erhalten wollt! Im September 2011 sagte er einer kanadischen Journalistin, es wäre an der Zeit, mit dem alten System, mit der Tradition zu brechen. Ihr zufolge ist die Reinkarnation des nächsten Dalai Lamas immer in dem Körper eines kleinen Jungen zu finden, den hochrangige Mönche nach dem Tod des alten suchen. Wenn er aber in einem Erwachsenen wiedergeboren würde, sagte der jetzige Dalai Lama, könne er selbst seinen Nachfolger noch zu Lebzeiten finden, und fügte hinzu, es könne auch eine Frau sein! Und dann kam das für Tibeter bislang Undenkbare: Vielleicht ende mit ihm aber auch die Linie der Reinkarnationen! Cut 20: Musik „Chenrezig“

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Autor: Natürlich war dies auch eine politische Botschaft an die chinesische Führung. Deren oberste Religionsbehörde hatte bereits den Anspruch formuliert, die nächste Reinkarnation des Dalai Lama werde man nur innerhalb der chinesischen Staats-grenzen finden – ein kaum verhohlener Versuch, einen linientreuen hohen tibetischen Lama zu „produzieren“, ähnlich wie man es bereits 1995 mit der jüngsten Reinkarnation des Panchen Lama versucht hatte, einem anderen hohen geistlichen Führer. Dieser von den Chinesen bestimmte Panchen Lama wird vom Dalai Lama und den meisten Tibetern nicht anerkannt. Aber die öffentlichen Spekulationen des Dalai Lama über seine Nachfolge waren eben auch eine Botschaft an die Tibeter selbst: Die Zukunft für die Tibeter, für ihren Freiheitskampf, für ihre Kultur und Religion, für das Überleben im Exil: ihre Zukunft liege nicht mehr allein in seiner Person. Der Alles-Kümmerer, die Projektionsfläche und Wunschmaschine, die Reinkarnation des Bodhisattvas Avalokiteshvara, den die Tibeter Chenrezig nennen und der in diesem Lied besungen wird, dieser Dalai Lama könne all dies nicht mehr sein! Er werde weiter, solange er lebe, ihre geistiger Führer sein, die Buddha-Lehre verkünden, als kluger Gesprächspartner Religionsführern, Politikern, Wissen-schaftlern und Künstlern rund um den Erdball dienen, aber den politischen Kampf für ein Tibet ohne chinesische Besatzung, den Kampf für mehr Selbstbestimmung der Tibeter müssten andere führen. Der Dalai Lama hat kraft seines Amtes die Ära der tibetischen Theokratie beendet, die Trennung von Kirche und Staat eingeleitet. Cut 21: Musik Cut 22: Atmo „Dharamsala Balkon“ Autor: Das neue politische Zentrum der Tibeter liegt nun rund zwei Kilometer unterhalb der Residenz des Dalai Lama. Links der Straße hinter einer Toreinfahrt drängt sich ein unauffälliger Komplex tibetischer Häuser rund um eine goldglänzende Stupa: Sitz der Central Tibetan Administration, der CTA, wie das Schild am Eingang verkündet, der Exilregierung und des Sikyong, ihres Regierungschefs. Ein handschriftlicher Eintrag in die Besucherkladde am Empfangstresen, „tschuckche che“, „danke“, das ist alles. Kein „Security-Check“, keine Rucksackkontrolle, nur bitte den weißen Regierungs-Jeep mit kleiner Tibetstandarte vor der Tür nicht fotografieren, bittet der Mann hinter dem Tresen lächelnd. Ich nicke, lächle zurück und verstaue die Kamera wieder im Rucksack. Im dritten Stock empfängt mich dann Lobsang Sangay. Der 46jährige ist der erste demokratisch gewählte Ministerpräsident Tibets, der kein Mönch oder Lama ist. Und hier im weiteren Umkreis sicher der einzige Schlips- und Anzugträger. Er lacht, ja, das bringt der neue Job mit sich. Neue Regeln, viel mehr Verantwortung als früher. Unter einer großen Tibetfahne an der Wand seines Arbeitszimmers nehmen wir Platz. Cut 23: (O-Ton Sangay) „Now to seperate the church and the state and handle the state by someone else – does not matter if its me or not – and to fill the shoes of HH the Dalai Lama, the nobel prize laureate, global statesman it‟s a task of Himalayan proportion, so if you hike the Himalayan mountain you know how difficult it is, it is eaqually difficult for me, nonetheless, someone has to do it, and I am a hiker, a Tibetan, so genetically I am adapted to do it and I do the best I can.”

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Übersetzer Sangay: “Die Trennung von Staat und Kirche umzusetzen und die Staatsangelegenheiten zu regeln, ob ich das nun bin oder jemand anderes, der in die sehr großen Schuhe des Dalai Lama schlüpfen muss, das ist eine Aufgabe so groß wie der Himalaya. Wenn Sie in die Berge gehen, wissen Sie ja, was das bedeutet. Für mich ist es genauso schwer. Aber egal, es muss jemand machen. Ich bin auch Bergsteiger, ich bin Tibeter und so schon genetisch dafür prädestiniert, das zu tun. Also mache ich es, so gut ich kann.“ Autor: Selbstbewusst ist der Mann. Und er hat Humor. Nur zwei Wochen nach dem Rückzug des Dalai Lama von seinen politischen Funktionen fand die Wahl zum neuen Ministerpräsidenten statt. 84.000 Exiltibeter weltweit waren wahlberechtig und drei Kandidaten bewarben sich um das Amt. Lobsang Sangay setzte sich mit 55% der Stimmen durch. Eine Überraschung, denn anders als seine beiden Mitbewerber war er bis dato kein „Schwergewicht“ aus der „Exil-Szene“ Dharamsalas. Geboren 1968 in einem Flüchtlingscamp im indischen Darjeeling absolvierte er eine steile Karriere. Er war jüngstes Vorstandsmitglied des Tibetan Youth Congress, ging als Fulbright-Stipendiat an die Harvard Law School, promovierte über die Geschichte der tibetischen Exilregierung, arrangierte diverse tibetisch-chinesische Treffen und wurde 2007 von der Asian Society zu den wichtigsten asiatischen Führungspersönlichkeiten gewählt. In den letzten zehn Jahren arbeitete er in den USA als Jurist im Fachgebiet Völkerrecht. Cut 24: (O-Ton Sangay) „ Oh yes, as an academic your schedule is quite relax, you travel round the worls quite relaxed, whatever you say don‟t matter, don‟t count much. But in the political world, especially in my position, whatever I say, wether if count or not, even you make a small mistake people make you count you see…at Harvard Law School, the anonymity, you can go to starbucks, drink coffee, read the NYT and no one notice you, and now wherever I go there are three or four people around me, so everyone notives that, unless I am up in the high mountain.” Übersetzer Sangay: „Oh ja, als Akademiker hast du einen lockeren Terminkalender, kannst entspannt um die Welt reisen, keiner achtet so genau darauf, was du sagst. Aber jetzt in der politischen Arena, gerade in meiner Position, egal was ich sage, es zählt immer, auch wenn es meiner Meinung nach nicht wichtig ist, wird es wichtig gemacht (lacht herzlich)...Ja, in der Harvard Law School gab es für mich Anonymität, ich konnte zu Starbucks gehen, einen Kaffee trinken und die New York Times lesen, interessierte keinen, jetzt sind immer drei, vier und noch mehr Leute um mich rum, alles wird registriert…nur nicht wenn ich oben in den Bergen bin.“ Autor: In den ersten Jahren seiner Amtszeit war er häufig auf Reisen, um rund um den Erdball Politiker, Aktivisten, andere Exil-Tibeter zu treffen und für den neuen „säkularen“ Weg der Exil-Politik zu werben, den Aufbau einer Exil-Verwaltung nach westlichen Demokratievorstellungen. Die politische Kernforderung, die der Dalai Lama seit vielen Jahren vertritt, hat Lobsang Sangay übernommen. Die Politik des „Mittleren Weges“ für das zukünftige Tibet. Er fordert also keine volle

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Unabhängigkeit, sondern „nur“ weitgehende Autonomie in den Grenzen der Volksrepublik China. Lobsang Sangay registriert allerdings auch, dass der weltweite Blick auf China kritischer wird, die glitzernde Fassade des jahrelangen Wirtschaftswunderlandes Risse bekommt. Cut 25: (O-Ton Sangay) „On the other hand, there is a growing school in the international community who is saying we must made china a responsible member of the international community respecting human rights and democracy. And in that sense tib administration and my position is by democracy and we advocate human rights and this is an nonviolent movement for a very long time. So it is a model movement and our aspirations are just and reasonable, so this is where we are Übersetzer Sangay: “Es gibt eine wachsende Gruppe in der internationalen Politik, die sagt, wir müssen China zu einem verantwortungsvollen Mitglied der Weltgemeinschaft machen, das die Menschenrechte und demokratische Prinzipien respektiert. Die tibetische Exilregierung mit mir an der Spitze verteidigt seit langem die Menschenrechte und wir sind seit langem eine gewaltfreie Bewegung mit Modellcharakter. Das ist gerecht und vernünftig. Ja, und da stehen wir heute.“ Autor: Lobsang Sangay steht einem siebenköpfigen Kabinett vor und ist Chef von knapp 1500 Angestellten der Central Tibetan Administration. Einige von ihnen arbeiten in Verbindungsbüros im Ausland, quasi als Exil-Botschafter, oder auch in der Verwaltung der Flüchtlingslager in Nepal. Die zentralen „Ministerien“ liegen rund um den Stupa-Platz in Dharamsala, wie auch das Parlament. 44 Abgeordnete treten dort zweimal im Jahr zu zweiwöchigen Sitzungen zusammen. Sie werden alle fünf Jahre nach einem bestimmten Schlüssel gewählt: es gibt Vertreter der Provinzen, Delegierte aus den USA und Europa, sowie Vertreter der verschiedenen religiösen Schulen. Die Zahl der Ministerien ist übersichtlich, es gibt eines für Bildung, für Gesundheit, für Information und internationale Beziehungen, für Religion und Kultur, sowie eines für Finanzen, denn obwohl die Regierung keine regulären Steuern erheben darf, entrichten die Exil-Tibeter nach Möglichkeit einen regelmäßigen Obolus an die Verwaltung. Im ersten Gebäude des Regierungs-Komplexes ist das „Department for Information and International Relations“ untergebracht. Sinnvollerweise hat das „Tibetan Center for Human Rights and Democracy“ im Dachgeschoss seine Büros. Es versucht die Menschenrechte im besetzten Tibet zu schützen und die Entwicklung demokratischer Prinzipien in der Exil-Community zu fördern. Tenzing Nindje arbeitet hier und recherchiert über konspirative Kanäle die Lage im besetzten Tibet. Der junge Mann erklärt, dass sie im Vorfeld der Wahl 2011 versucht hätten, demokratische Prozesse voranzutreiben, man habe etwa Wahlkampfveranstaltungen und Diskussionsrunden organisiert; oder Artikel aus westlichen Ländern zum Thema demokratische Wahlen übersetzt und unter Tibetern verteilt. Schmunzelnd fügt er hinzu, dass dies doch die besten Wahlen weltweit gewesen wären. In westlichen Ländern spiele ja im Hintergrund immer „big money“ eine gewichtige Rolle. Und da das kein Tibeter hat, wäre die Wahlentscheidung ein echter Ausdruck von Haltung und Meinung gewesen. Den Rückzug des Dalai Lama von seinen politischen Funktionen unterstützt das Center for Human Rights and Democracy. Tenzing Nindje weiß aber, dass der Weg vom theokratischen zum

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demokratischen Denken für viele Tibeter noch lang sein wird. Umso wichtiger sei, dass der Dalai Lama selbst dafür die Voraussetzungen geschaffen habe. Cut 26: (O-Ton Tenzing Nindje) „Because of his retreat and the election of Lobsang Sangay there was a lot of debate. Before him there was a prime minister who was a monk and a Rinpoche, so we have this sacred element, it is very difficult for people to critizize. Lobsang Sangay is a lay man, so people can critize and ask question without being accused of blasphemy. So with the retreat o HH and the secular leadership slowly democracy is moving forward. You don‟t have to prostrate,. When thwe prime minister was a monk and Rinpoche I saw many people prostrating in front of him. Ans now you see on the Internet, the social media people asking the Sikyong, it is more easier. And he also has to come down from his throne talking to the people face to face, shaking hands, these symbols are good symbols. Übersetzer Nindje: „Wegen seines Rücktritts und der Wahl von Lobsang Sangay zum Premierminister gab es große Debatten. Denn der Ministerpräsident vor ihm war noch ein Mönch, ein Rinpoche. Da gab es also dieses heilige Element noch, dass es den Leuten schwer machte, ihn zu kritisieren. Lobsang Sangay ist ein Laie, die Menschen können zu ihm gehen, ihn fragen und auch kritisieren ohne etwa der Blasphemie beschuldigt zu werden. So schreitet der demokratische Prozess langsam aber sicher voran. Ich sah früher noch viele Menschen, die sich vor dem alten Ministerpräsidenten niedergeworfen haben. Das ist nicht mehr nötig. Jetzt sieht man in Zeitungen, im web und in den social media Leute, die den Sikyong fragen. Das ist viel einfacher geworden. Er redet mit den Leuten von Angesicht zu Angesicht, das sind alles gute Zeichen für die Veränderung.“ Autor: Ob Tenzing Nindje, Lobsang Sangay oder Tenzing Tsundue oder viele andere der jüngeren Generation tibetischer Exilanten: Sie kennen ihr Heimatland nicht, sie wuchsen auf unter den Einflüssen der indischen, der nepalesischen oder westlichen Kultur. Sie, die Kinder der einstigen Flüchtlinge, geben jetzt den Ton an in der Exil-Community. Der Dichter und Aktivist Tenzin Tsundue gibt sich kämpferisch Cut 27: (O-Ton Tenzin) „So we have the three important pillars of democracy, so we are basically ready to replace the chinese government in Tibet, we are ready to instroll a new democratic government. What that means is that Tibetan people are ready to take over their own responsibilities and make any kind of change we need and not remain depended on HH. When HH devolved his political power and he hand over the authority to Lobsang Sangay our new prime minister, HH said -I was there with a huge crowd – he said my dream has come true. Final authority is handed over to an elected body of Tibetan leaders Übersetzer Tenzin: „Wir besitzen die drei Grundpfeiler einer echten Demokratie und könnten zügig das chinesische Regime in Tibet ersetzen, und eine demokratische Regierung einsetzen. Das heißt, die Tibeter sind bereit, selbst die Verantwortung zu übernehmen und notwendige Veränderungen durch ihre eigene Kraft herbeizuführen und sich nicht mehr auf den Dalai Lama zu verlassen. Das ist wie Seine Heiligkeit sagte: Mein

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Traum wird Wirklichkeit! Als er seine politische Macht übertragen hat an unseren neuen Ministerpräsidenten Lobsang Sangay, war ich dabei, ich stand direkt daneben und der Dalai Lama sagte: Mein Traum wird Wirklichkeit.“ Autor: Die politische Nachfolge scheint also geregelt, aber was wird aus der religiösen Führerschaft? Was kommt nach dem gegenwärtigen Dalai Lama? Er selbst hatte ja schon einige provokante Spekulationen über seine Nachfolge in den Raum geworfen: Ein Ende der Linie? Eine Frau? Ministerpräsident Lobsang Sangay lächelt bei der Frage und richtet sich in seinem Sessel auf. Cut 28: (O-Ton Sangay) „HH the Dalai Lama was very clear in September 2011: If he passes away three ways of success will come, reincarnation, emenation, slection. Reincarnation is one has to die and will reborn as an infant, like the tradition way. Then he will recognized as the 15th DL and we go forward. Selection si alike the Pope when the cardinals meet an select the next pope. So the high Tibetan lamas will meet and decide who the next DL should be. And third way is emenation. We have in Tibetan Buddhism an way of emanation as well which means the present DL will decide over his own success before he passes away. So this three options are on the table and HH said he will decide with the age of 90.” Übersetzer Sangay: „Seine Heiligkeit war da sehr klar, denn er sagte im Herbst 2011 auch, dass seine Nachfolge auf drei Wegen gefunden werden kann: Wiedergeburt, Auswahl, Emanation. Reinkarnation würde bedeuten, der neue Dalai Lama wird nach seinem Tod in einem Kind wiedergeboren und entdeckt, dann hätten wir einen 15. Dalai Lama und würden so weitermachen wie bisher. Das wäre der traditionelle Weg. Auswahl bedeutet, so ähnlich wie beim Papst, wo Kardinäle den nächsten Papst wählen. Da würden sich die hohen Lamas treffen und entscheiden, wer Nachfolger wird. Und drittens die Emanation. Wir haben eine solche Tradition im tibetischen Buddhismus. Dabei würde der jetzige Dalai Lama noch zu Lebzeiten einen Nachfolger benennen. Diese drei Optionen liegen auf dem Tisch, und Seine Heiligkeit hat gesagt, über alles Weitere entscheidet er im Alter von 90.“ Autor: Die Welt wird also noch gut zehn Jahre warten müssen mit der Entscheidung in dieser Frage, falls der Dalai Lama so lange lebt. Aber wer zwischen den Zeilen lesen kann, für den ist klar: Der Architekt des Übergangs wird der gewählte Minister-präsident der tibetischen Exilregierung sein. Zumindest ein politisches Machtvakuum wird es nach dem Tod des gegenwärtigen Dalai Lama nicht geben – wie es früher oft der Fall war – sondern der gewählte Exil-Ministerpräsident ist legitimiert, für die Tibeter zu sprechen und zu handeln. Cut 29: Musik „Gebet/Trommel“ Cut 30: Atmo „Klosterhof“ Autor: Auch die Frage der religiösen Führerschaft könnte geklärt sein: nur wenige Kilometer von Dharamsala entfernt residiert in seinem Kloster Orgyen Trinley Dorje, ein erst 29jähriger Mönch, Oberhaupt der Karma Kagyü, einer weiteren Schule des

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tibetischen Buddhismus. Sein Titel: 17.Karmapa, Spross der ältesten Reinkarnationslinie im tibetischen Buddhismus und damit der dritthöchste Würdenträger in dieser komplexen Klerikal-Hierarchie. Viele Hoffnungen ruhen auf dem jungen Mann. Denn auch wenn er nicht der Schule des Dalai Lama, der Gelugpa, angehört, glauben viele Tibeter, dieser Karmapa besitze die nötige Integrationskraft, um nach dem Dalai Lama von möglichst vielen Tibetern als religiöse Führungsfigur akzeptiert zu werden. Der Karmapa floh 1999 aus China, und es war kein Zufall, dass er sich sozusagen im Schatten der Residenz des Dalai Lama niederließ, der mit ihm einen engen Kontakt hält und als sein Mentor auftritt. Die Flucht aus China kam für viele überraschend, denn bis dahin pflegte der Karmapa enge Beziehungen zu den chinesischen Machthabern, verzichtete allerdings auf politischen Statements und war von der KP sogar offiziell als Oberhaupt der Karma Kagyü-Schule anerkannt. Im indischen Sicherheitsapparat gibt es deshalb immer noch einige Beamte, die in ihm einen verkappten chinesischen Spion sehen wollen, und deshalb wird der Würdenträger von einem großen Aufgebot Polizei fast hermetisch abgeschirmt. Doch in diesem Frühjahr gestattete Indien ihm nach vielen vergeblichen Versuchen zum ersten Mal die Ausreise nach Europa. Jeder öffentliche Auftritt ist für den 17. Karmapa eine Gratwanderung. Er weiß genau, dass der indische Geheimdienst, die chinesische KP und nicht zuletzt viele westliche Beobachter jedes seiner Worte analysieren. Jeden Satz, jede Antwort wägt der ernste Mönch deshalb genau ab. Das Schalkhafte, das Impulsive und Überraschende, das seinen Mentor so auszeichnet, scheint Orgyen Trinley Dorje fremd zu sein. Ich treffe ihn zunächst in Frankfurt. „Politische Fragen?“ stößt die freundliche Pressefrau des Karmapa hervor und rollt etwas mit den Augen, „Sie wissen doch sicher, das hasst er!“ Muss dann aber trotzdem lachen, weil sie weiß, er kann diese Fragen zurückhaltend und vorsichtig beantworten, sie aber nicht ignorieren. Cut 31: (O-Ton Karmapa, Antwort Frankfurt, in Tibetisch) Übersetzer Karmapa: „Als ein noch junger Lama und als ein Lehrer in der buddhistischen Gemeinschaft fühle ich eine Verantwortung für die Zukunft Tibets. Die tibetische Frage ist nicht nur eine politische. Sie ist verbunden mit Fragen der Kultur, der Religion und der Umwelt. Ich sehe, dass der wichtigste Punkt des tibetischen Kampfs der Erhalt von Kultur und Religion ist. Deshalb ist es für meine Rolle und Funktion wichtig, dass ich diese Themen weiterhin studiere und den jungen Menschen helfe, das gleiche zu tun. Das ist sehr wichtig, denke ich. Und es ist ebenso wichtig die tibetische Umwelt zu erhalten, nicht nur für die Tibeter sondern auch für die restliche Menschheit. Der Schutz der Umwelt ist verbunden mit der Kultur und unserer Art zu leben. Über all diese Dinge zu sprechen und aufzuklären ist sehr wichtig.“ Autor: Wenige Tage später lässt er sich dann in Berlin doch nochmal zu einem deutlicheren politischen Statement „hinreißen“: Cut 32: (O-Ton Karmapa, Antwort Berlin, in Englisch) Übersetzer Karmapa: „Ich sehe oft, dass viele Tibeter in Indien nicht viel von China und der chinesischen Politik wissen und auch umgekehrt, die chinesische Regierung hat wenig Wissen und wenig Verständnis über seine Heiligkeit den Dalai Lama und seine Vision des

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Mittleren Weges. Deswegen liegt eine Kluft zwischen uns, und wir haben solch eine schlechte Beziehung. Ich denke, es reicht nicht, sich gegenseitig zu kritisieren. Was wir brauchen ist ein offenerer Geist zwischen Tibetern und Chinesen, dann wäre ein freier Dialog eher möglich. China und wir müssten die richtigen Leute finden, die sich dann irgendwo treffen und reden. Der Mittlere Weg brächte nicht nur Vorteile für uns Tibeter, sondern auch für China.“ Autor: Manche Kreise in der chinesischen KP glauben, dass mit dem Ableben des Dalai Lama sich das „Tibet-Problem“ von allein erledigen würde, man setzt dort auf eine biologische Lösung. Das sei Unsinn, betont Lobsang Sangay. Cut 33: (O-Ton Sangay) „Actually this is the best time fort he chinese government to negotiate the issue of Tibet. Because if you reach an agreement with HH a majority of 90 plus % of the Tibetan people will agree, wether what the agreement is. Reaching an agreement is difficult but implementing an agreement is even difficult and the success or failure of an agreement comes on the implementation level. If you are not able to implement the problems will not only continue they might get worse. So HH provides both: You can reach an agreemtn with him he is very very reliable, he is pragmatic and reasonable. And on the other hand equally important to implement and if he is there he will implement because a majority will agree. So to wait for the pass away of HH which is the stand of the hardline Chinese leadership is a wrong policy.” Übersetzer Sangay: „Tatsächlich wäre es jetzt die beste Zeit für die Chinesen, die Tibet Frage zu verhandeln. Weil, wenn man ein Ergebnis mit dem Dalai Lama erzielen würde, würden es über 90% der Tibeter anerkennen, egal welchen Inhalt die Vereinbarung hätte. Eine Vereinbarung zu erzielen ist schwer, aber auch diese Vereinbarung umzusetzen ist schwer. Und die Gefahr liegt bei der Umsetzung. Wenn die nicht gelingt, dann kann das ursprüngliche Problem sich sogar verschärfen. Der Dalai Lama würde beides gewährleisten: Er ist vernünftig und pragmatisch genug, um eine Vereinbarung zu erzielen und auf der anderen Seite hat er die Autorität, dass die Vereinbarung auch umgesetzt würde. Deshalb ist die Politik der Hardliner in Peking, auf seinen Tod zu warten, der falsche Weg.“ Cut 34: Musik „Tibet“, bis zu Cut 35 Autor: Die moralische Autorität des Dalai Lama ist vorerst ungebrochen. Seine Nachfolger müssen sie sich erst erwerben. Noch hat sein Wort etwas Verbindliches. Zwar glauben längst nicht alle Tibeter, dass seine seit Jahren propagierte Politik des „Mittleren Weges“ der wirklich richtige Weg sei. Aber offiziell wird man sich trotzdem zu seiner Politik bekennen. Das könnte nach seinem Tod schwieriger werden. Cut 35: Atmo „Dharamsala Straße, leiser“ Etwa der Tibetan Youth Congress, von den Chinesen als terroristische Organisation verleumdet, hat nie verhehlt, dass er für die völlige Unabhängigkeit Tibets kämpft. Der TYC ist eine einflussreiche Organisation in der Exil-Community mit weltweiten Zweigstellen auch in Europa und den USA. Der jetzige Exil-Ministerpräsident Lobsang Sangay war einst jüngstes Vorstandsmitglied der Organisation, kämpfte

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auch für die völlige nationale Unabhängigkeit Tibets. Heute vertritt er die Politik des „Mittleren Weges“. Ein Stück tibetische Realpolitik. Doch trotz der politischen Differenzen gehört der Tibetan Youth Congress für Lobsang Sangay mit in das Spektrum der tibetischen Organisationen, die es zu berücksichtigen gilt. Die Zentrale des TYC liegt in einem unscheinbaren Bau im Zentrum von Dharamsala. Tsewang Dolma kümmert sich um Pressearbeit und „International Relations“. Die engagierte und energische Aktivistin weiß genau um den Widerspruch ihrer Haltung zur offiziellen Linie des Dalai Lama. Cut 36: (O-Ton Tsewang) „We truly respect HH his own stand, the Middle Way, ans also the stand of CTA, it is also the Middle Way, but let me say to you TYC has its own stand and that is complete independent, thats what we are seeking and the best gift what HH gives to Tibetan community is democracy, every individual has its own right for its own stand, we have the right to go on with our own stand and fight, because the aim I the same, it is for Tibet! We respect each others stand and it is still going on. We have our stand and it is for the sake of Tibet. We do the best we can you know and we are responsible as well.” Übersetzerin Tsewang: „Wir respektieren den Standpunkt Seiner Heiligkeit und der Exilregierung zum Mittleren Weg. Aber wir haben unseren eigenen Standpunkt, und wir wollen die volle Unabhängigkeit Tibets. Wir haben das große Geschenk der Demokratie mittlerweile, jeder kann seine Meinung sagen und dafür kämpfen. Das tun wir. Und der gemeinsame Wunsch verbindet uns, es geht um Tibet. Wir respektieren unsere gegenseitigen Standpunkte. Und so geht es weiter. Wir haben unseren Standpunkt und tun das Beste zum Nutzen Tibets. So übernehmen wir Verantwortung.“ Autor: Der TYC betont – trotz immer wieder mal aufkommender gegenteiliger Gerüchte - sein Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit im Kampf für ein freies Tibet. Und er begrüßt die Säkularisierung. Natürlich ist der Dalai Lama immer noch eine wichtige Person für die Tibeter, sagt Tsewang Dolma, aber es ist an der Zeit, dass wir die Verantwortung für unser Land selbst übernehmen, wir können uns nicht immer auf Seine Heiligkeit verlassen! Tsewang lächelt und zeigt auf ihre Kleidung. Sie trägt den traditionellen langen tibetischen Rock mit bunter Schürze und Bluse. Heute ist Lhakar, der „Weiße Dienstag“ erklärt sie. Überall auf der Welt, im besetzten Tibet, im indischen Exil oder sonst wo auf der Welt besinnen sich die Tibeter jeden Dienstag auf ihre Kultur. Sie tragen tibetische Kleidung, sprechen tibetisch, essen tibetisch, kaufen tibetische Produkte. Ein stiller, gewaltfreier Protest, der in der Folge der 2008 brutal niedergeschlagenen Demonstrationen in Lhasa aufkam. Lhakar ist wichtig, Lhakar verbindet uns, sagt Tsewang Cut 37: (O-Ton Tsewang) „Unity! Unity is one of the best we can do. And also ther countries are example for us, like India. I give always example of India. It was under british for over 200 years. But at the end of that time became an independent country, because of the unity. And what we Tibetan do is also nonviolence. And if the whole Tibetan all over the world unity and fight together, definitely our goal is very near. It is changing.”

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Übersetzerin Tsewang: „Einheit! Einheit ist eines der besten Dinge die wir erreichen können. Schaut man auf Beispiele anderer Länder, etwa Indien: nach so langer Zeit unter britischer Besatzung ist das Land doch unabhängig geworden – wegen des gemeinsamen Kampfes. Und für uns Tibeter ist ganz wichtig, dass all unsere Kämpfe gewaltlos sind. Es gibt weltweit eine tibetische Einheit und einen gemeinsamen Kampf. Unser Ziel ist nahe! Es ändert sich etwas.“ Autor: Auch Ministerpräsident Lobsang Sangay gibt sich kämpferisch. Er besuchte im März 2014 den Ort, an dem der Dalai Lama vor 55 Jahren die Grenze ins indische Exil überschritt und hielt daraufhin zum Jahrestag des Lhasa-Aufstandes eine programmatische Rede. Er sprach davon, dass in Tibet nur noch wenige Menschen die Zeit vor der chinesischen Besatzung erinnern und die anderen nur noch das Leben im Exil kennen. Propaganda einerseits und fremde kulturelle Einflüsse andererseits gefährdeten das gemeinsame Gefühl, Tibeter zu sein. Mit Blick auf die Zukunft forderte der Ministerpräsident, „wir müssen Selbstbewusstsein in der tibetischen Welt fördern und aufbauen, im Denken und Handeln“. Denn ohne das verbindende Bewusstsein einer tibetischen Identität würden alle Forderungen nach Autonomie und Unabhängigkeit hinfällig! Cut 38: Musik „Chor Uprising Day 2014“ Cut 39: O-Ton Lobsang Sangay, Uprising Day 2014, Dharamsala “Dear Tibetan brothers and sisters inside Tibet, our journey may be long and the challenges may appear daunting, but we will succeed. In Tawang, I saw the path His Holiness the Dalai Lama, our parents, and grandparents took from Tibet to India. From a distance, I could see the great mountains and rivers of Tibet. I took it as a good omen to begin 2014, that like you, I saw a path back to Tibet.” Übersetzer Sangay: “Liebe tibetische Brüder und Schwestern, unsere Reise wird vielleicht lang sein und die Herausforderungen, vor denen wir stehen, manchmal entmutigend, aber wir werden siegen. Ich sah in Tawang den Weg, den Seine Heiligkeit, unsere Eltern und Großeltern einst von Tibet nach Indien nahmen. Aus der Entfernung konnte ich die großen Berge und Flüsse Tibets sehen. Ich nahm das als gutes Omen für den Beginn von 2014, dass ich wie ihr auch, einen Pfad zurück nach Tibet sah.“ Autor: Die tibetische Variante der “Trennung von Staat und Kirche”, die Arbeitsteilung von politischem Ministerpräsident und religiösem Dalai Lama wird funktionieren, solange beide die Politik der Gewaltfreiheit und des „Mittleren Weges“ vertreten. Das ist aber nur gewährleistet, solange die Welt der im Exil und der unter chinesischer Besatzung lebenden Tibeter nicht auseinanderbricht. Cut 40: (O-Ton Sangay) „The most important thing is he values that we have, that is very very important. Because Tibetan people are known as people of humility, integrity, hard work, that are the values we are known for. So the challenges are how we maintain an strengthen the Tibetan administration and a challenge is how we carry on the legacy of elder generation and values of elder generation. Our streght has been mainly

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because of HH Dalai Lama Tibet is known around the world and we have to cary that forward. And also the sense for Tibetan unity and consciousness is on the highest level in recent history. Because bevfore occupation of Tibet one village didn‟t know much about other village. Now, because of social network and mainly because of our struggle tibetand inside Tibet, in exile and abroad, everybody knows about Tibet, hence the Tibetan consciousness, Tibetan solidarity, Tibetan unity is at his highest at the moment.” Übersetzer Sabgay: „Das wichtigste sind die Werte die wir haben, die sind sehr sehr wichtig. Die Tibeter sind als herzlich, integer und fleißig bekannt. Die Herausforderungen für die Zukunft sind also, wie stärken wir unsere Exilregierung und wie erhalten wir gleichzeitig das Vermächtnis unserer Vorfahren? Unsere Kraft beruht zum guten Teil auf der Arbeit des Dalai Lama – darauf, dass Tibet in der ganzen Welt bekannt ist. Das müssen wir fortsetzen. Und das Bewusstsein für die Einheit unter den Tibetern ist derzeit so groß wie nie zuvor. Früher, vor der Zeit des Exils wusste in Tibet ein Dorf nicht viel über das nächstgelegene. Jetzt aber, durch das Internet, durch social media und nicht zuletzt durch unseren Kampf, sind die Tibeter im Land und überall im Exil gut unterrichtet. Und darum ist der Sinn der Tibeter für Einheit und Solidarität im Moment so groß.“ Autor: Dazu trägt auch die nackte Gewalt der chinesischen Besatzer bei, die völlige Unterdrückung jeden Protestes in Tibet, die sie noch enger zusammenschweißt. Cut 41: Atmo „Dharamsala, Kora“ Autor: Um jedes wichtige tibetische Heiligtum verläuft ein Pilgerpfad, eine Kora, auch um den Tsuglagkhang-Tempel und die Residenz des Dalai Lama. Das turbulente McLeod Ganj bleibt schon nach wenigen Metern zurück. Der ruhige Pfad führt durch Pinien- und Zedernwald, überall flattern Gebetsfahnen, Mani-Steine säumen den Weg, Makaken-Affen schauen von Ästen aus aufmerksam den Passanten nach. Am tiefsten Punkt der Umrundung reihen sich dutzende Gebetsmühlen vor einer prächtigen Stupa. Ihr gegenüber an der Wand einer halboffene Halle hängen lange Reihen von Fotoportraits: Namen stehen darunter, Geburtsorte, Alter und - das Todesdatum. Sie erinnern an die 136 meist jungen Tibeter, die sich seit 2011 selbst aus Protest gegen die chinesischen Besatzer verbrannt haben. Solch ein Freitod entspricht nicht dem buddhistischen Glauben, aber manche sagen, es bleibe nur der eigene Körper zum Widerstand gegen die Besatzung, nur darüber könne keine chinesische Obrigkeit verfügen. Während meines Gesprächs mit Tenzin Nindje vom Tibetan Center for Human Rights and Democracy in Dharamsala musste er einmal kurz den Raum verlassen. Als er zurückkehrte, schaute er mich ernst an Cut 42a: (O-Ton Tenzing) “We have almost 137 selfimmolations so far and today right now we receive the news of a people burning himself, so this selfimmolations are going on.” Übersetzer Nindje: “Es gibt bis inzwischen 137 Selbstverbrennungen und gerade heute, eben jetzt unmittelbar erhielten wir die Nachricht von einem neuen Fall …es geht weiter.“

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Cut 42: (O-Ton Tenzing) „This sort of selfimmolation is creating a lot of anger and resentment in the heart of the Tibetan people. Tibetans will not forget this and the Chinese people shall be fortunate that these people are killing theriself and not killing the Chinese police, the tibetan could do violence on them but they don‟t do it, the Chinese should see that noble in that act and should be greatfull for that.” Übersetzer Nindje: „Diese Selbstverbrennungen erzeugen viel Groll und Zorn im Herzen der Tibeter. Sie werden das nicht vergessen, dass sich die Menschen selbst angezündet und getötet haben. Und die Chinesen sollten froh sein, dass die Leute nur sich selbst töten. Sie töten nicht die chinesischen Polizisten. Sie wenden nur Gewalt gegen sich selbst. Die Chinesen sollten diese ja irgendwie edle Haltung erkennen und dankbar dafür sein.“ Autor: Das jüngste Opfer hieß Thrinle Namgyal aus Tawu in Osttibet. Er wurde 32 Jahre alt und starb an seinen Verletzungen. Cut 43: Musik: Gesang/Trauermarsch Autor: Am Abend formiert sich in Dharamsala ein Trauermarsch, mehrere hundert Menschen gehen in der Dämmerung durch die engen Straßen, halten Kerzen in der Hand und singen auf Tibetisch. Auch Tenzin Tsundue ist da, geht in der ersten Reihe gut erkennbar an seinem roten Stirnband. Ich frage ihn, was die Menschen singen. Es ist ein Gebet, antwortet er Zitator: "Compassion is the most precious heart, may the first seed of compassion be sown where there is none, and there is, never diminish, may it grow forever, and ever and ever." “Mitgefühl ist das kostbarste des Herzens, lasst uns die Saat des Mitgefühls dort aussähen wo keines ist, und dann wird es wachsen und nicht schwinden möge es wachsen für immer und ewig.“ Autor: Der Trauerzug sammelt sich in der einsetzenden Dämmerung am Eingang zum Tsuglagkhang-Bezirk, direkt vor einem in den gewachsenen Fels gearbeiteten Mahnmal für die Opfer des tibetischen Freiheitskampfes. Nach einer Schweigeminute ergreift Dorje Tseten von den „Students for Free Tibet“ das Wort. Er dankt den Nicht-Tibetern, dass sie gekommen sind. Cut 44: (O-Ton Tseten) „And I know it is also very hard for you to hear that people inside Tibet are burning theirselfs to express to show their grievance to show that they are not happy to show that they will not accept the rule of China and peole are using their bodies as a

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means as a last resort to express theirself. It is really hard. But Tibetans havnt give up. Tibetans here in Dharamsala, Tibetans in exile and all over the world, and even more important Tibetan inside Tibet havnet give up! Tibetan struggle is a struggle of the people and we will continue. It is a struggle against the injustice, sometimes we feel sad, sometime people ask us what can we do to challenge china, china is so powerful…to them I have only one thing to say, to fight against the injustice there is no reason, we have to fight, we have to fight against the terror, against the oppression. And we know that people like you who stand for freedom, for justice who believe in us, that there will be a place where we will live in equality, where we will not be living like a slave under someones rule, under a dictators rule. Tibet undergoes oppression of the most aggressive dictatorship of the world, that is Chinese communist party. That is why people have not giving up. The message you can take away from Dharamsala is the message of love, peace and compassion and how Tibetan people hav not giving up despite these more of 50 years.” Übersetzer Tseten: “Ich weiß, es ist auch schwer für euch zu hören, dass sich wieder ein Tibeter selbst verbrannt hat. Tibeter, die so ihre Verzweiflung darüber ausdrücken, dass sie unglücklich sind und dass sie sich nicht der Herrschaft Chinas beugen wollen. Und die Menschen benutzen ihre Körper als ein letztes Mittel, dies auszudrücken. Das ist hart. Aber die Tibeter geben nicht auf. Nicht hier in Dharamsala, nicht irgendwo sonst im Exil und am wichtigsten, auch nicht im besetzten Tibet, sie geben nicht auf! Es ist ein Kampf des tibetischen Volks, und wir werden weitermachen. Es ist ein Kampf gegen Ungerechtigkeit und manchmal fühlen wir uns auch traurig und manchmal werde ich gefragt, was können wir tun gegen einen so mächtigen Gegner wie China? Ich kann ihnen nur eines sagen: Es gibt keinen Grund, nicht gegen die Ungerechtigkeit zu kämpfen, wir müssen es tun! Wir müssen gegen die Unterdrückung weiterkämpfen. Und wir wissen, es wird einen Platz geben, wo wir in Gleichheit leben können nicht wie Sklaven leben müssen unter einer Diktatur. Tibet erleidet die Unterdrückung einer der schlimmsten Diktaturen, die der Kommunistischen Partei Chinas. Nehmt die Botschaft von Frieden, Liebe und Mitgefühl aus Dharamsala mit und dass die Tibeter auch nach über 50 Jahren nicht aufgeben!“ Autor: Er schließt mit einem Zitat von Martin Luther King: “Ungerechtigkeit irgendwo bedroht die Gerechtigkeit überall“. Es gibt keinen Applaus, die meisten haben ihre Köpfe gesenkt, manche weinen still. Langsam löst sich die Versammlung auf. (Gesang/Trauermarsch) 2011 machte eine Selbstverbrennung in Tibet noch Schlagzeilen in den westlichen Medien. Drei Jahre und viele Fälle später nicht mehr. Die Reuters-Meldung vom 15. April schaffte es in keine deutsche Zeitung. Es ist nicht nur schwierig, Nachrichten aus dem besetzten Tibet über Selbstverbrennungen in die westliche Presse zu lancieren, es ist überhaupt schwierig, Nachrichten, jenseits chinesischer Verlaut-barungen, aus dem besetzten Land zu bekommen. Aber es gibt sie. Ton- und Filmdokumente, die belegen, dass es nach wie vor Widerstand in Tibet gibt. Sie gelangen auf verschlungenen Wegen nach Indien und werden von dort aus verbreitet. Nur drei Tage vor der Selbstverbrennung tauchte so ein mit dem Handy

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aufgenommenes Video auf. Man sieht von hinten einen jungen Mann aus etwa zehn Meter Entfernung. Er läuft die Straße einer Ortschaft entlang, ruft etwas und wirft Blätter in die Luft Cut 46: (O-Ton Video Protest) Autor: Dann wirft er Gebetsfahnen hoch und ruft „Lang leben Seine Heiligkeit der Dalai Lama!“, erklären mir die Aktivisten. Und man hört im Hintergrund Passanten-Stimmen: „Was für ein mutiger junger Kerl!“ Auch dieser Protest ereignete sich in der Region Kardze, Provinz Sichuan, auf tibetischem Gebiet. Unmittelbar nach der Aufnahme erschienen chinesische Polizisten und verhafteten den Mann. Über seinen Verbleib gibt es keine Informationen. Nur das Video fand seinen Weg. Cut 47: Musik „Amdo“ Autor: Und die chinesische Regierung reagiert seit Jahrzehnten in gleicher Art und Weise: die Proteste werden unterdrückt und Kritik von außen an der ihrer Tibetpolitik als Einmischung in innere Angelegenheiten zurückgewiesen. Ein ernsthafter Dialog mit der tibetischen Exilregierung wird abgelehnt Dabei investiert die Regierung in Peking in den Regionen verstärkt in Bildung, Verkehr und Wirtschaft, um Unterstützung zu erhalten. Offenbar fürchtet sie neue Demokratie- und Autonomiebewegungen nicht nur in Tibet. Doch trotz aller wirtschaftlichen und militärischen Bemühungen ist es der Volksrepublik China auch nach über 60 Jahren Besatzung nicht gelungen, die Tibeter für sich zu gewinnen. Vom amtierenden Staatschef Xi Jinping erwarteten manche Beobachter nach seinem Amtsantritt 2013 einen pragmatischen und weniger ideologischen Führungsstil, verbunden womöglich mit politischen Liberalisierungen, auch in der Tibet-Frage. Doch davon ist bislang nichts zu sehen. Im Berliner Mercator-Institut für China-Studien erforscht die Sinologin Kristin Shi-Kupfer die Wendungen der Politik der Kommunistischen Partei. Sie meint, die KP habe derzeit so viele „Baustellen im Land“, Korruption, Umweltverschmutzung, soziale Spannungen, daß sie keinen Politikwandel in Tibet wagen wird. Cut 48: (O-Ton Shi-Kupfer) „Die zwei grundlegenden Handhabungen sind wirtschaftliche Investitionen, also die Lebensumstände der Bevölkerung zu verbessern und so die Lage zu stabilisieren und auf der anderen Seite gegen Demonstrationen repressiv vorzugehen und eine Bildungspolitik so aufzubauen, dass Chinesisch die geförderte Sprache ist und kein Raum gelassen wird für die Sprache der Tibeter und ganz klare Beschränkungen für die Religionsausübung bis hin zu sogenannten patriotischen Kampagnen, wo Mönche und Lehrer gezwungen waren, dem Dalai Lama abzuschwören und sich solidarisch zu erklären mit der chinesischen Regierung und deren Politik. Und das Hissen von chinesischen Flaggen auf Schulen und Klostergebäuden, das ist anscheinend erst in den letzten anderthalb Jahren verstärkt vorgekommen, vor allem in den tibetischen Regionen in Sichuan und Gansu.“ Autor: Kristin Shi-Kupfer hat Tibet häufig besucht, auch zu Zeiten, als die Region für Ausländer quasi tabu war. Die allermeisten Tibeter haben nichts gegen eine moderate Modernisierung, erzählt sie über ihre Gespräche, aber nicht um den Preis

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der Aufgabe von kultureller und religiöser Identität. Das hätten die Chinesen bis heute nicht begriffen, und so nimmt die Repression immer irrwitzigere Formen an, Beispiel: der chinesische Umgang mit den Selbstverbrennungen. Cut 49: (O-Ton Shi-Kupfer) „Dann hat sich das aber innerhalb weniger Monate dahingehend geändert, dass sie in der Berichterstattung begonnen haben, das zu kriminalisieren, also das sind keine unschuldigen Opfer mehr, die instrumentalisiert worden sind, sondern das sind Kriminelle. Und dann auch Verwandte oder Dorfbewohner dieser Menschen, wo das passiert ist, dafür mitverantwortlich zu machen. Das ist eine Änderung, die sich unter Xi Jinping vollzogen hat, dass Dörfer, in denen das passiert ist, die staatliche Unterstützung gestrichen wurde, oder dass Verwandte oder Freunde der Betreffenden sich auch zu verantworten hatten für diese Taten.“ Autor: Wo diese Art von Repression unmöglich ist, greift China auch zu anderen Mitteln. Etwa finanzielle Unterstützung und Investitionen im Gegenzug für politisches Entgegenkommen. So wie im Falle des kleinen Nachbarlandes Nepal. Cut 50: Atmo „Kathmandu“ Autor: Der Himalayastaat liegt eingekeilt zwischen Indien und China und muss seit Jahrhunderten einen Interessensausgleich mit den mächtigen Nachbarn suchen. Trotzdem pflegte das nepalesische Königshaus freundschaftliche und enge Beziehungen zu Tibet. Nach der chinesischen Besatzung waren die Himalaya-Pässe zwischen China und Nepal das Einfallstor für tibetische Flüchtlinge. Viele zogen weiter nach Indien, aber viele blieben auch – und sie waren willkommen. Das hat sich seit dem Ende der Monarchie 2007 radikal geändert. Die stärkste politische Kraft im nepalesischen Parlament ist heute die sich als maoistisch bezeichnende Kommunistische Partei, und es ist nicht besonders verwunderlich, dass die nepalesischen Kommunisten gute Beziehungen zur ideologischen Verwandtschaft nördlich des Himalaya suchen. Natürlich hilft China mit Investitionen, doch das hat seinen politischen Preis, etwa zulasten der tibetischen Flüchtlinge: Die Grenze zu China ist quasi geschlossen, von beiden Seiten bestmöglich kontrolliert, es kommen keine Flüchtlinge mehr herüber, und wenn welche auf nepalesischer Seite aufgegriffen werden, schicken sie Grenzsoldaten zurück nach China – und damit ins Gefängnis. Anti-chinesische Proteste in Nepal werden, anders als früher, heute verboten und unterdrückt, Tibeter in Nepal erhalten seit 1989 keine Personal-dokumente mehr: Ausbildung, Reisen und Beschäftigung werden dadurch immer schwerer, nicht mal eine Fahrerlaubnis bekommt man ohne die „RC“ die Refugee Card. Etwa 15.000 Tibeter leben noch in Nepal, die meisten in Flüchtlingslagern in Pokhara und Kathmandu. Sie sind misstrauisch geworden wegen der feindseligen Haltung der Regierung, sprechen nicht mehr gerne offen über ihre Situation. Man muss erst Vertrauen gewinnen. Das gelingt mir bei Lakpa, Anfang 20, aufgewachsen im Lager Tashiling. Ihre Eltern flohen einst über die Grenze, sie selbst träumt heute von einem Studium im Ausland. Aber ohne Papiere, ohne Nachweis einer Staatsbürgerschaft?

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Cut 51: (O-Ton Lakpa) „Any tibetan who is staying here in Nepal gets no citizenship rights due to which they have to travel abroad Without citizenship rights actually you have no freedom to do anything without freedom you feel like in cage without any rights to speak, to work, without the right to expression that‟s why Tibetan people are challenged from day one. We could not say anything about the government they are opressorized by the Chinese, we are left with nothing, no freedom.” Übersetzerin Lakpa: „Keiner der hier in Nepal lebenden Tibeter bekommt die Staatsbürgerschaft, die man ja bräuchte, um etwa ins Ausland zu reisen. Ohne Staatsbürgerschaft hast du keine Freiheit, irgendetwas hier zu tun. Und ohne Freiheit fühlst du dich hier wie in einem Käfig, ok! Ohne das Recht frei zu sprechen, eine Arbeit anzunehmen, dich auszudrücken. Das ist für alle hier eine Herausforderung vom ersten Tag an. Und wir können auch nichts über die Regierung sagen, sie steht unter dem Druck der Chinesen…wir stehen mit leeren Händen da. Ohne Freiheit!“ Autor: Auch die wenigen offiziellen Vertreter der tibetischen Exil-Verwaltung in Nepal sprechen nicht mehr gerne mit ausländischen Journalisten, man befürchtet nach china-kritischen Äußerungen weitere Nachteile für die community. Aber Tsultren Dorje spricht mit mir, nach mehrmaliger Anfrage. Er managt das größte Flüchtlings-camp Tashiling als sogenannter welfare officer. Seit 25 Jahren steht er in Diensten der Exil-Regierung in Dharamsala, ist vertraut im diplomatisch diffizilen Geflecht zwischen Indien, Nepal und China. Das Camp leitet er seit vier Jahren Cut 52: (O-Ton Tsultrem) „Nepal is a buffer state between India and China and Nepal is a really young democracy, it is lie a child, so all depends on Chinese pressure od Indian pressure. Now Tibet was captured by china and China always monitored the Nepal policy regarding the Tibet issue. Therefore by the pressure by the Chinese government Nepal government can do anything on the Tibetan issue concern , especially we have no identity, we have no passports, we have no papers that we are refugees here. That was the main issue.” Übersetzer Tsultrem: „Nepal ist ein Puffer-Staat zwischen Indien und China und es hat eine sehr junge Demokratie, sie ist noch wie ein Kind, und deshalb hängt hier sehr viel vom jeweiligen Druck aus Indien oder China ab. So, und nun steht Tibet seit langem unter chinesischer Kontrolle und umso mehr beobachtet China sehr genau, was für eine Haltung die nepalesische Regierung Tibet und den Tibetern gegenüber einnimmt, um dann Druck auszuüben in eine Richtung. Und das können sie sich erlauben. Etwa bei unserer Hauptsorge: wir haben keine Staatsbürgerschaft, keine Papiere und die jungen Leute keine refugee card.“ Autor: Auch Tsultrem Dorje will nicht zu deutlich werden in seiner politischen Bewertung. Er schiebt mir zum Abschluss eine Broschüre über den Tisch, ein offizielles Memo-randum der tibetischen Vertretung in Nepal an die nepalesische Regierung mit der Bitte, die Frage der Identitätspapiere zu klären und die Menschenrechte für die tibetischen Flüchtlinge zu wahren. Das Memorandum ist bald drei Jahre alt, es gibt

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keine offizielle Antwort. „Wir müssen das Beste erhoffen und auf das schlimmste vorbereitet sein“, sagt mir Tsultrem Dorje zum Abschied. Vertreter westlicher Botschaften in Nepal treffen sich regelmäßig, um die Informationen über die Situation der Tibeter im Land und den politischen Druck Chinas auszutauschen. Ein Teilnehmer, der anonym bleiben möchte, weiß, dass es unter den jungen Flüchtlingen „ Anzeichen für Perspektivlosigkeit gibt, die zu unachtsamen Aktionen verleiten könnte.“ Diese Einschätzungen westlicher Botschaften zur Lage der tibetischen Flüchtlinge hat sich vor Ort auch der Bundestagsabgeordnete Michael Brand angehört. Der CDU-Mann aus dem Wahlkreis Fulda ist in Berlin Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses, und er engagiert sich im „Tibet-Gesprächskreis des Deutschen Bundestages.“ Im vergangenen Jahr war eine Delegation tibetischer Exilparlamentarier zu Gast, Gespräche mit dem Sondergesandten des Dalai Lama in Europa finden regelmäßig statt, man arbeitet an einer Anerkennung als „Parlamentariergruppe“ und will die Öffentlichkeitsarbeit verbessern. Michael Brand schlägt beim Thema „Tibet-Politik Chinas“ für einen CDU-Parlamentarier eher ungewohnte Töne an. Cut 53: (O-Ton Brand) „Der chinesische Präsident hat seinen ersten Staatsbesuch in Deutschland gemacht und er wußte, dass ihm das Thema Tibet über den Weg laufen wird und zwar sehr prominent. Trotzdem hat er die erste Reise nach Berlin gemacht. Und ich glaube, dass die, die sagen, wir dürfen die Menschenrechte nicht ansprechen, weil wir nicht die Wirtschaftskontakte gefährden dürfen, unrecht haben. Andersrum wird ein Schuh draus. Wir sind ein bevorzugter Partner Chinas, und deshalb müssen wir das ansprechen in einem vernünftigen Rahmen, aber sie müssen immer wissen: Wir werden es ansprechen. Und ja nicht aus Jux und Dollerei, sondern weil es ernst ist, das Problem der Menschenrechte für Tibeter seit Jahrzehnten ungelöst ist. Manchmal braucht man einen langen Atem.“ Autor: Michael Brand hat auch China mehrfach besucht, mit chinesischen Politikern vertraulich gesprochen und ebenso hat er bereits Lobsang Sangay, den tibetischen Exil-Ministerpräsidenten getroffen. Trotz der desolaten Menschenrechtslage in Tibet und der kompromisslosen offiziellen Haltung Pekings sieht Brand Chancen für Veränderung und Dialog. Denn die politische und wirtschaftliche Weltmacht China will in Sachen Menschenrechte nicht länger am Pranger der Weltgemeinschaft stehen, ist Brand überzeugt. Cut 54: (O-Ton Brand) „Langer Atem ist das eine, aber man muss auch ein Fenster, was jetzt da ist, nutzen und das Thema nicht auf die lange Bank schieben. Die Signale durch die Selbst-verbrennungen sind nicht gut, und wir müssen deshalb drängen auf einen neuen Dialog von Chinesen und Tibetern und dass die Chinesen erkennen, dass es auch eine win-win-Situation für sie ist, dass sie nicht mehr länger in der Ecke stehen, dass sie auch nicht schlechter dastehen würden, wenn sie die Rechte der Tibeter anerkennen würden, sondern in der Weltgemeinschaft und bei vielen Partnern mehr anerkannt wären, wenn endlich Schluss ist mit der Unterdrückung der Tibeter.“ Autor: Der Deal des Deng Xia Ping vor dreißig Jahren mit den Chinesen war: Wir geben euch Wohlstand, dafür nehmen wir eure Freiheit und bleiben als KP an der Macht.

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Das hat lange funktioniert. Aber neben Umweltverschmutzung und wachsender sozialer Ungleichheit hat dieser nur auf materiellen Besitz ausgerichtete Staats-kapitalismus mittlerweile ein Vakuum an Moral und Werten erzeugt. Ein Indiz für die daraus resultierende Sinnsuche: Die Zahl chinesischer Buddhisten nimmt seit Jahren massiv zu. Ein weiterer Effekt des chinesischen Wirtschaftswunders: Man reist. Gerne und viel, natürlich auch nach Indien und Nepal. Auch in Dharamsala und Pokhara begegnet man immer häufiger han-chinesischen Reisegruppen. Es entstehen bizarre Situationen: Sie besuchen tibetische Flüchtlingscamps und man posiert lachend und fotografierend vor Tempeln, in die gerade Mönche zur Puja-Zeremonie streben und in denen natürlich Bilder des Dalai Lama hängen. Was im Heimatland als politisches Verbrechen geahndet würde, mutiert im Urlaub zum hübschen folkloristischen Ambiente. Aber kann es so einfach sein? Veränderung über direkte Begegnung? Ja, sagt Liao Yiwu ganz schlicht. Der chinesische Autor und Dissident lebt seit seiner Flucht aus China 2011 in Berlin. Fünf Jahre saß er wegen eines kritischen Textes über das Tiananmen-Massaker von 1989 in Gefängnissen und Umerziehungslagern. Auch später blieben seine Texte verboten, er lebte unter dauernder Beobachtung der chinesischen Staatssicherheit. Als junger Mann Anfang der 80er Jahre hatte er als LKW-Fahrer gejobbt und war auch nach Tibet gekommen, interessierte sich danach für die Tibeter, ihre Kultur und Religion, suchte Kontakt und Begegnung und lüftete so auf seine Weise die Schleier der Propaganda. Liao Yiwu wurde zu einem der prominentesten chinesischen Verfechter für die Sache Tibets. Cut 55: (O-Ton Liao, chinesisch) Übersetzer Liao: „Das tibetische Volk ist wie ein Muster für die Menschheit…was sie erlitten haben! 1959 nach dem Massaker der KP und der Volksbefreiungsarmee sah sich der Dalai Lama gezwungen nach Indien zu fliehen – wie es ja auch der junge Karmapa gemacht hat – das ist nun alles ein halbes Jahrhundert her, aber sie sind gewaltfrei geblieben. Es gibt nur die Gewalt gegen sich selbst, wie bei den Selbst-verbrennungen. Sie haben eine sehr hochstehende Ethik, wollen keinem Wesen Schaden zufügen. Es ist ein wunderbarer und respektvoller Geist, den sie der Menschheit damit zeigen.“ Autor: Später hatte er die Möglichkeit, den Dalai Lama persönlich kennenzulernen, den nach Pekinger Lesart „Wolf im Schafspelz“. Doch statt einem „Wolf“ fand er einen „väterlichen Geist“, wie er sagt. Liao Yiwu hält zum Dalai Lama Kontakt ebenso wie zum Karmapa. In den vergangenen Jahren bemühte er sich intensiv um die Ausreisemöglichkeit des jungen Mönches nach Deutschland . Cut 56: (O-Ton Lia, chinesisch) Übersetzer Liao: „Meine Haltung, meine Meinung zu Tibet sind durch meine individuellen Erfahrungen entstanden. Wenn Sie mich fragen, denken viele Chinesen oder chinesische Intellektuelle auch so, ich kann es wirklich nicht sagen, denn die Wahrheit wird in dieser chinesischen Diktatur unterdrückt. Die KP kontrolliert die Medien, sie macht die Meinung, definiert die Geschichte. Aber ich weiß genau, wenn es eines Tages Freiheit geben wird, wenn es freies Reden über Geschichte geben wird, dann werden die Chinesen meine Betrachtung teilen können!“

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Cut 57: Musik „Tibet“ Autor: Die historische Rolle des aktuellen Dalai Lama neigt sich dem Ende zu. China hätte jetzt die große Chance zu verhandeln über den Mittleren Weg – ohne Gefahr „das Gesicht zu verlieren“, sondern etwas zu gewinnen: Anerkennung und Respekt in der Weltgemeinschaft, einen Frieden in Tibet, Ausgleich mit dem Nachbarland. „Siegen“ kann hier niemand allein. Das Schicksal dieser beiden Länder ist seit Jahrhunderten aufs engste verflochten. Auf einer über 1000 Jahre alten Steinstele in Lhasa versicherten sich damals der tibetische König und der chinesische Kaiser ihres Respekts und der Sicherheit ihrer Grenzen. Die Zukunft Tibets wird in Dharamsala und Peking entschieden. Das ist der „offene Dialog“, von dem der Karmapa und der Sikyong sprechen. Und den Liao Yiwu und Tenzin Tsundue auf ihre Weise bereits beherrschen: Zwei Dichter, ein Chinese und ein Tibeter, beide leben im Exil. Liao Yiwu meinte zum Abschied: „Die Geschichte der Menschheit ist ein langer Fluss, die Ära der KP darin nur eine Episode“ aber das ist nicht von mir, sagt er schmunzelnd, sondern vom Dalai Lama. Und Tenzin Tsundue verabschiedete sich mit einem Gedicht. Cut 58: (O-Ton Tenzin Tsundue, Gedicht) „My father died Defending our home Our village, our country I too wanted to fight But we are Buddhist. People say we should be Peaceful and non-violent So I forgave my enemy But sometimes I feel I betrayed my father” “Mein Vater starb/als er unser Haus verteidigte/unser Dorf, unser Land/Ich wollte auch kämpfen/Aber wir sind Buddhisten/Die Leute sagen wir sollten/friedlich und gewaltfrei sein/Also vergab ich meinen Feinden/Aber manchmal fühle ich so/als ob ich meinen Vater betrogen hätte.“