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Dieter Lamping: Die Wahrheiten der Geschichtslyrik.

Bertolt Brecht Der Schuh des Empedokles 1

Peter Huchel An taube Ohren der Geschlechter 3

Bertolt Brecht Fragen eines lesenden Arbeiters 4

Ernesto Cardenal Oráculo sobre Managua

Orakel über Managua

5

Primo Leví Shemá

Sch’ma

12

Fr., 14.15h

Primo Leví Alzarsi

Aufstehen

13

Eva Müller-Zettelmann: Geschichtslyrik, kulturelles Gedächtnis und metamnemonische

Reflexion.

Fr., 15h

Henry Reed Lessons of the War 14

Peter Hühn: Formen der Sinngebung von Geschichte in der Lyrik – mit englischen

Gedichtbeispielen.

Thomas Hardy The Convergence of the Twain

Die Zusammenkunft der Zwei

15

Fr., 16.15h

William Butler Yeats

Easter 1916

Ostern 1916

16

Katharina Grätz: Geschichte als Erlebnis. Die Inszenierung von Trümmern, Resten und

Ruinen in historischer Lyrik.

Conrad Ferdinand Meyer Die alte Brücke 18

Friedrich Hölderlin Burg Tübingen 19

Sa., 10.15h

Friedrich Schiller Pompeji und Herkulanum 21

Heinrich Detering: Geschichtsphilosophie und Poetik. Zum Beispiel Arnim. Sa., 11.30h

Achim von Arnim Des ersten Bergmanns ewige Jugend 23

Markus Fauser: Männer, Helden, Standbilder. Fontanes „Preußen-Lieder“ und die

vaterländisch-historische Lyrik.

Theodor Fontane Der alte Derffling 28

Theodor Fontane Der alte Dessauer 29

Theodor Fontane Der alte Zieten 30

Theodor Fontane Seydlitz 31

Theodor Fontane Schwerin 33

Theodor Fontane Keith 34

Theodor Fontane Die Fahne Schwerins 35

Sa., 12.15h

Theodor Fontane An den Märzminister Graf Schwerin-Putzar 36

Frieder von Ammon: Ernst Jandls Geschichtslyrik

Ernst Jandl doixannda 37

Ernst Jandl ode auf N 38

Ernst Jandl wien : heldenplatz 39

Ernst Jandl 25. februar 1989 40

Ernst Jandl kaisers geburtstag 40

Ernst Jandl d’oide antisemitin 40

Sa., 16.30h

Ernst Jandl nackt 41

René Dietrich: „The Angel of History”. Zerstörung, Zeugenschaft und Erinnerung in der

Geschichtslyrik Carolyn Forchés.

Carolyn Forché The Angel of History [Auszug] 42

So., 9.30h

Carolyn Forché The Angel of History [Auszug] 43

Aniela Knoblich: „nenn' Sie mich einfach Historia“. Geschichtslyrik bei Thomas Kling. So., 10.15h

Thomas Kling Archäologischer Park 44

Katrin Kohl: Geschichtslyrik und die ‚Autonomie’ der Literatur.

Horaz Carmen I, XII

12. [An Augustus]

12. [Roms Göttter und Helden]

46

Friedrich Gottlieb Klopstock Sie, und nicht wir 49

August von Platen Das Grab im Busento 50

Max Schneckenburger Die Wacht am Rhein 51

Alfred Tennyson The Charge of the Light Brigade 52

So., 13.30h

Paul Celan Denk Dir 53

Nachtrag

Sa., 9.30h Hans Graubner: Geschichte und Panegyrik. Zu Herders und Lindners Herrscherlob-

Texten im Preußen und Livland des 18. Jahrhunderts.

Johann Gottfried Herder Gesang an den Cyrus 54

Johann Gotthelf Lindner Der Thron Peters des Dritten 56

Johann Gotthelf Lindner Am Namenstage der Kaiserin aller Reussen und Grossen

Frauen, Catharina Alexiewna, zum Beschluß der Schulfeier

59

Johann Gottfried Herder [Auf Katharinens Thronbesteigung] 62

Dieter Lamping (Mainz): Die Wahrheiten der Geschichtslyrik. Freitag, 6.3., 14.15h

1

Bertolt Brecht

Der Schuh des Empedokles 1 Als Empedokles, der Agrigenter Sich die Ehrungen seiner Mitbürger erworben hatte zugleich Mit den Gebrechen des Alters Beschloß er zu sterben. Da er aber Einige liebte, von denen er wieder geliebt ward Wollte er nicht zunichte werden vor ihnen, sondern Lieber zu Nichts. Er lud sie zum Ausflug, nicht alle Einen oder den andern ließ er auch weg, so in die Auswahl Und das gesamte Unternehmen Zufall zu mengen. Sie bestiegen den Ätna. Die Mühe des Steigens Erzeugte Schweigen. Niemand vermißte Weise Worte. Oben Schnauften sie aus, zum gewohnten Pulse zu kommen Beschäftigt mit Aussicht, fröhlich, am Ziel zu sein. Unbemerkt verließ sie der Lehrer. Als sie wieder zu sprechen begannen, merkten sie Noch nichts, erst später Fehlte hier oder da ein Wort und sie sahen sich um nach ihm. Er aber ging da schon längst um die Bergkuppe Nicht so sehr eilend. Einmal Blieb er stehen, da hörte er Wie entfernt weit hinter der Kuppe Das Gespräch wieder anhub. Die einzelnen Worte Waren nicht mehr zu verstehen: das Sterben hatte begonnen. Als er am Krater stand Abgewandten Gesichts, nicht wissen wollend das Weitere Das ihn nicht mehr betraf, bückte der Alte sich langsam Löste sorglich den Schuh vom Fuß und warf ihn lächelnd Ein paar Schritte seitwärts, so daß er nicht allzu bald Gefunden würd, aber doch rechtzeitig, nämlich Bevor er verfault wär. Dann erst Ging er zum Krater. Als seine Freunde Ohne ihn und ihn suchend zurückgekehrt waren Fing durch die nächsten Wochen und Monate mählich Jetzt sein Absterben an, so wie er’s erwünscht hatte. Immer noch Warteten einigen auf ihn, während schon andere Ihn gestorben gaben. Immer noch stellten Einige Ihre Fragen zurück bis zu seiner Wiederkehr, während schon andere Selber die Lösung versuchten. Langsam wie Wolken

Dieter Lamping (Mainz): Die Wahrheiten der Geschichtslyrik. Freitag, 6.3., 14.15h

2

Sich entfernen am Himmel, unverändert, nur kleiner werdend Weiter weichend, wenn man nicht hinsieht, entfernter Wenn man sie wieder sucht, vielleicht schon verwechselt mit andern So entfernte er sich aus ihrer Gewohnheit, gewöhnlicherweise. Dann erwuchs ein Gerücht. Er sei nicht gestorben, da er nicht sterblich gewesen sei, hieß es. Geheimnis umgab ihn. Es wurde für möglich gehalten Daß außer Irdischem anderes sei, daß der Lauf des Menschlichen Abzuändern sei für den einzelnen: solches Geschwätz kam auf. Aber zu dieser Zeit wurde dann sein Schuh gefunden, der aus Leder Der greifbare, abgetragene, der irdische! Hinterlegt für jene, die Wenn sie nicht sehen, sogleich mit dem Glauben beginnen. Seiner Tage Ende War so wieder natürlich. Er war wie ein anderer gestorben. 2 Andere wieder beschreiben den Vorgang Anders: dieser Empedokles habe Wirklich versucht, sich göttliche Ehren zu sichern Und durch geheimnisvolles Entweichen, durch einen schlauen Zeugenlosen Sturz in den Ätna die Sage begründen wollen, er Sei nicht von menschlicher Art, den Gesetzen des Verfalls Nicht unterworfen. Dabei dann Habe sein Schuh ihm den Possen gespielt, in menschliche Hände zu fallen (Einige sagen sogar, der Krater selbst, verärgert Über solches Beginnen, habe den Schuh des Entarteten Einfach ausgespien). Aber da glauben wir lieber: Wenn er den Schuh tatsächlich nicht auszog, hätte er eher Nur unsere Dummheit vergessen und nicht bedacht, wie wir eilends Dunkels noch dunkler machen wollen und lieber das Ungereimte Glauben, als suchen nach einem zureichenden Grund. Und dann hätte der Berg Zwar nicht empört über solche Nachlässigkeit oder gar glaubend Jener hätte uns täuschen wollen, um göttliche Ehren zu heimsen (Denn der Berg glaubt nichts und ist mit uns nicht beschäftigt) Aber doch eben Feuer speiend wie immer, den Schuh uns Ausgeworfen, und so hielten die Schüler Schon beschäftigt, großes Geheimnis zu wittern Tiefe Metaphysik zu entwickeln, nur allzu beschäftigt! Plötzlich bekümmert den Schuh des Lehrers in den Händen, den greifbaren Abgetragenen, den aus Leder, den irdischen.

Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht u. a.,

Bd. 12: Gedichte 2. Sammlungen 1938 – 1956. Berlin u. a. 1988.

Dieter Lamping (Mainz): Die Wahrheiten der Geschichtslyrik. Freitag, 6.3., 14.15h

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Peter Huchel

An taube Ohren der Geschlechter

Es war ein Land mit hundert Brunnen.

Nehmt für zwei Wochen Wasser mit.

Der Weg ist leer, der Baum verbrannt.

Die Öde saugt den Atem aus.

Die Stimme wird zu Sand

Und wirbelt hoch und stützt den Himmel

Mit einer Säule, die zerstäubt.

Nach Meilen noch ein toter Fluß.

Die Tage schweifen durch das Röhricht

Und reißen Wolle aus den schwarzen Kerzen.

Und eine Haut aus Grünspan schließt

Das Wasserloch,

Als faule Kupfer dort im Schlamm.

Denk an die Lampe

Im golddurchwirkten Zelt des jungen Afrikanus:

Er ließ ihr Öl nicht länger brennen,

Denn Feuer wütete genug,

Die siebzehn Nächte zu erhellen.

*

Polybios berichtet von den Tränen,

Die Scipio verbarg im Rauch der Stadt.

Dann schnitt der Pflug

Durch Asche, Bein und Schutt.

Und der es aufschrieb, gab die Klage

An taube Ohren der Geschlechter.

Huchel, Peter: Gesammelte Werke in zwei Bänden. Hrsg. von Axel Vieregg, Bd. 1: Die Gedichte. Frankfurt am Main 1984.

Dieter Lamping (Mainz): Die Wahrheiten der Geschichtslyrik. Freitag, 6.3., 14.15h

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Bertolt Brecht

Fragen eines lesenden Arbeiters

Wer baute das siebentorige Theben?

In den Büchern stehen die Namen von Königen.

Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?

Und das mehrmals zerstörte Babylon

Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern

Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?

Wohin gingen an dem Abend, wo die chinesische Mauer fertig war,

Die Maurer? Das große Rom

Ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie? Über wen

Triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz

Nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis

Brüllten doch in der Nacht, wo das Meer es verschlang

Die Ersaufenden nach ihren Sklaven.

Der junge Alexander eroberte Indien.

Er allein?

Cäsar schlug die Gallier.

Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?

Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte

Untergegangen war. Weinte sonst niemand?

Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer

Siegte außer ihm?

Jede Seite ein Sieg.

Wer kochte den Siegesschmaus?

Alle zehn Jahre ein großer Mann.

Wer bezahlte die Spesen?

So viele Berichte

So viele Fragen.

Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht u. a., Bd. 12: Gedichte 2. Sammlungen 1938 – 1956. Berlin u. a. 1988.

Dieter Lamping (Mainz): Die Wahrheiten der Geschichtslyrik.

Freitag, 6.3., 14.15h

5

Ernesto Cardenal

Oráculo sobre Managua

[…] Algo más que un movimiento de acomodación de capas terrestres. En la acera el 5° piso de Comunicaciones (era el de la censura tefelónica) partera geológica o como se llame esa noche los presos sandinistas salieron libres el Palacio de Justicia oblicuo y quebrado los bancos dinamitados, caídos todos los colegios religiosos –eran sólo para ricos– los templos ¡todos! allí se celebraban ritos falsos liturgias que e Dios le juegan el estómago Una nochebuena sin pavos rellenos Y ya no hay calles “la horrible noche estrellada” (Ver crónica de “La Prensa” 3 meses después) los muertos llevados en roperos, en puertas Sin luz sin comida sin agua Managua toda una gran Acahualinca –como la noche en que no hubo posada para ellos todo Belén celebrando sus cenas de Navidad– se volcaron las cloacas caos sangre pillaje –La idea de ellos del Comunismo los que nunca rezaban rezaron, los cristianos no rezaron una repartición de Juicio Final a domicilio

Ernesto Cardenal

Orakel über Managua

[…] Etwas mehr als eine leichte Anpassungsbewegung der Erdkruste. Im 50. Stock des Wolkenkratzers (hier war die Telefonzensur untergebracht) die geologische Hebamme oder wie sie nun heißt. In dieser Nacht wurden die Gefangenen der Sandinistenbewegung befreit. Der Justizpalast schief und brüchig die Banken gesprengt am Boden alle religiösen Privatschulen – sie waren nur für die Reichen – die Kirchen – alle! – dort feierte man falsche Riten Liturgien, bei denen Gott übel wurde. Eine Weihnacht ohne gefüllten Truthahn. Es gibt keine Straßen mehr ››die schreckliche sternenklare Nacht‹‹ (siehe Artikel in ››La Prensa‹‹ drei Monate später) die Toten auf Brettern, auf Türen transportiert ohne Licht ohne Nahrung ohne Wasser Managua alles ein großes Acahualinca – wie in der Nacht als sie keine Herberge fanden und ganz Bethlehem am Weihnachtstisch saß – die Kloaken flossen über Chaos Blut Plünderung – ihre Vorstellung von Kommunismus. Die nie beteten, beteten, die Christen beteten nicht das Jüngste Gericht frei Haus

Dieter Lamping (Mainz): Die Wahrheiten der Geschichtslyrik.

Freitag, 6.3., 14.15h

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lo que creíamos que sólo se ve en otras partes o en tv no había más lugar en la morgue la Guardia Nacional saqueando como ejército de ocupación con los ayes de los heridos y los plañidos de las ambulancias Pero “¿Puede haber una catástrofe en una ciudad que no la mande Yavé?” estallaron los armamentos como candelas romanas la Casa Pellas encendida como un árbol navideño tiendas ... ahora sólo las de campaña arriba brillaban las constelaciones Los techos se hundieron con todos sus anuncios Ésta era la Avenida Roosevelt ... todavía se ve ITT KODAK Un santa claus entre escombros. Aplastados los automóviles amados más que los hijos ojos para no ver y oídos para no oir virecas las letras UN AÑO NUEVO/UN CARRO NUEVO masa de tejas reglas barro y ladrillos todavía una guirnalda navideña en lo que fue una tienda a las 12 : 27 a.m. callaron todos los villancicos y commercials ladrillos adobes hierros retorcidos perdidas todas las calles y todos los recorridos habituales ruinas ennegrecidas avenidas de vidrio concreto escritorios y bloques regados un olor como a ratón muerto por todas partes cajas de hierro volcadas, un rótulo “El Barbero de Sevilla”

das man sonst nur anderswo oder im Fernsehn sieht es war kein Platz mehr im Leichenhaus die Nationalgarde plünderte wie ein Besatzungsheer unter den Schreien der Verwundeten und dem Heulen der Krankenwagen. Aber ››Kann es denn eine Katastrophe wie diese geben

Die nicht von Jahwe geschickt wäre?‹‹ Das Kriegsmaterial explodierte wie Feuerwerkskörper das Kaufhaus Pellas erhellt wie ein Weihnachtsbaum Geschäfte …

jetzt nur noch Zelte oben glänzten die Sterne. Die Dächer brachen ein mit allen Reklamen dies war die Avenida Roosevelt … man sieht noch ITT KODAK Ein Weihnachtsmann zwischen Trümmern. Zerdrückt die Autos, geliebter als Söhne Augen um nicht zu sehen und Ohren um nicht zu hören in Scherben die Worte IM NEUEN JAHR EIN NEUER WAGEN Ziegel Balken Putz und Steine eine einzige Masse noch ein Weihnachtsschmuck wo einmal ein Laden war … Um 12 Uhr 27 schweigen die Weihnachtslieder und Werbeslogans Backsteine Zement verbogene Eisen alle Straßen verloren, die bekannten Wege verloren schwarze Ruinen Straßen aus Scherben und Zement, verstreute Schreibtische und Blöcke ein Geruch nach toten Ratten überall umgestürzte Geldschränke, eine Aufschrift ››Der Barbier von Sevilla‹‹

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cuando las ventas de Navidad estaban tan buenas en los lujosos almacenes sobre los que ahora pasa el bulldozer ADQUIERA ... maniquíes mutilados zapatos de baile bidets todo lo que van arrastrando los tractores televisores mantenedoras lavadoras –Mandabais a vuestros profetas que no profetizaran– perdieron todas sus casas los caseros todos igual ahora el subsuelo liberó su energía ninguno de sus amantes la consuela ay la ciudad amada, la de la propiedad privada tus profetas anunciaron para ti falsedad y babosadas siguen echando al lago ladrillos televisores cajas de hierro (los pagarés carbonizados) muebles rotos carros todas las cosas que fabricaron los trabajadores floreros alfombras trajes licuadoras pero les eran vendidas como si fueran de otro todo lo que sigue llevando el tractor tocadiscos los juguetes imposibles de comprar registradoras caviar pesebres velocidad pasmosa de la evolución, esto es un preludio telúrco de la revoluvión El cuento del agrónomo que llevó a su hijita a ver el centro “ve hija para que no creás jamás en estas cosas” Para Faraón y sus técnicos eran sólo ‘reveses económicos’ Y todavía nos dicen no profeticen Estamos bajo Ley Marcial, no profeticen Y vendrán más horrores todavía

als der Weihnachtsumsatz so gut war in all den eleganten Geschäften, über die jetzt ein Bulldozer fährt KAUFT … verstümmelte Schaufensterpuppen Tanzschuhe Bidets alles was die Traktoren jetzt abschleppen Fernseher Kühlschränke Waschmaschinen – ihr befahlt euren Propheten, nicht zu weissagen – alle Hausbesitzer verloren ihre Häuser alle gleich jetzt die Erde befreite ihre Energie

keiner der Geliebten tröstet ay, die geliebte Stadt, die Stadt des Privateigentums deine Propheten weissagten dir Falschheit und Dummheit und immer noch werfen sie Steine Fernsehapparate Geldschränke in den See (die Wechsel verbrannt) Möbel Wagen alles Dinge, die die Arbeiter produzierten Blumenvasen Teppiche Kleider Küchenmixer die ihnen verkauft wurden als ob sie anderen gehörten alles was die Traktoren abschleppen Plattenspieler Spielzeug unmöglich Registriermaschinen Kaviar Krippen zu kaufen unglaubliche Geschwindigkeit der Evolution

dies ist ein tellurisches Präludium der Revolution. Die Geschichte von dem Bauern, der sein Töchterchen in das Geschäftsviertel führte: ››Sieh dir alles an, meine Tochter, damit du nie an dies alles glaubst‹‹ Für Pharaonen und seine Techniker nur ein ››wirtschaftlicher Rückschlag‹‹ Und dann sagen sie, wir sollen nicht weissagen. Wir haben das Kriegsrecht, also weissagt nicht! Aber noch größere Schrecken werden kommen.

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Horas antes unos jóvenes iniciaron un ayuno en Catedral pancartas “Comida para la gente de Acahualinca” y “Una nochebuena sin presos políticos” Dos maneras de ver una plaga: el punto de vista de Egipto y el de los hebreos Ruinas y ruinas y ruinas sin una luz eléctrica en esas ruinas aún el gran árbol de Navidad en la Plaza de la República Es triste pensar No volver a ver más la avenida Bolívar. –Las negras ruinas bajo la luna. Conocí aquí un lugar que se llamó Las Delicias del Volga Ésta fue mi ciudad donde yo iba de tarde con Adelita de la mano evitando el centro por callejones rosados, donde había siempre buses parados y atravesábamos grupos de choferes. Chichería Paris Pensión Fátima Cafetería La India Las negras ruinas y las intermitentes explosiones de la demolición en las tinieblas Aquí era una esquina que se llamó El Arbolito Celles donde vendían chancho frito, carne-en-vajo, vigorón Las Cinco Hermanas era una cantina simpática de piso de tierra y buenas bocas (hace tiempo) y había direcciones de barrio como: De la Caimana tres cuadras abajo y una arriba –Era fabricante de cohetes la Caimana y se vestía de hombre y tenía bigotes. El Mandarín de los Pobres era una cantina de los ferrocarrileros.

Vor ein paar Stunden begannen einige Jungen und Mädchen ein Protestfasten in der Kathedrale Spruchbänder: ››Nahrung für die Menschen in Acahualinca‹‹ und ››Ein Weihnachtsfest ohne politische Gefangene‹‹ Es gibt zwei Arten, eine Plage zu sehen: vom Gesichtspunkt der Ägypter und dem der Hebräer. Ruinen und Ruinen und Ruinen ohne elektrisches Licht in diesen Ruinen noch immer der große Weihnachtsbaum auf dem Platz der Republik. Es ist traurig zu denken nie wieder die Bolivar-Straße zu sehen.

Die schwarzen Ruinen unter dem Mond. Ich kannte dort einen Ort, der ››Las Delicias del Volga‹‹ hieß Dies war meine Stadt in der ich mit Adelita an der Hand am Abend spazierte die Hauptstraßen meidend durch rosafarbene Gassen, in denen Busse parkten und wir gingen durch Grüppchen von Fahrern. Chichería Paris Pensión Fátima Café La India Schwarze Ruinen und von Zeit zu Zeit Explosionen in der Finsternis. Hier war eine Ecke, die ››El Arbolito‹‹ hieß Straßen, in denen es geröstete Speckschwarten und Räucherfleisch gab. Die ››Cinco Hermanas‹‹ war eine gemütliche Kneipe aus Erde der Fußboden und gutes Essen (das ist lange her). Und manche Viertel hatten Namen wie zum Beispiel: La Caimana drei Häuserblocks bis zum See und ein Block aufwärts. La Caimana stellte Feuerwerksraketen her, kleidete sich wie ein Mann und trug einen Schnurrbart. ››El Mandarin de los Pobres‹‹ war eine Wirtschaft der Eisenbahnarbeiter

Dieter Lamping (Mainz): Die Wahrheiten der Geschichtslyrik.

Freitag, 6.3., 14.15h

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Con carbón en una pared de tablas: Nos fuimos donde la Manuela González

Aquí fuerin burdeles tablas piedra y tierra burdeles hogares tiendas pensión modesta (“Se venden nacatamales”) todo lo mismo piedras de los estratos volcánicos de aquellas huellas de Acahualinca con que se construyó Managua la luna tras las alambradas y las detonaciones Ave. Bolívar donde yo la vi por la primera vez (hace años) (de amarillo) retumbos de los edificios que están siendo dinamitados No lloraremos por estos escombros sino por los hombres pero la muerte nace con el cuerpo y muere con él la muerte es la del individuo “un matiz” de dolor para resucitar hay que morir (amaste el porvenir y moriste por él. Aceptaste antes que éstos este matiz, murió tu muerte compañero) Implacable partera. En la gasolinera Chevrón uno acariciaba la cara de su hija como si la durmiera (como todo lo que no puede morir: entonces pasaste a vivir en otra forma) Dichosos los del dolor que es liberador “Un resto” El pueblo se fue en camiones con sus trastes, sus roperos cogió las carreteras

Mit Kreide an die Holzwand geschrieben: Wir sind eben bei Manuela González. Hier war ein Bordell Holzwände und Stein und Erde Bordelle Wohnungen Läden bescheidene Pensionen (››Heute Kuttelsuppe‹‹) In Acahualica jene Spuren in den Steinen der vulkanischen Schichten mit denen Managua erbaut wurde. Der Mond hinter Drähten und Detonationen die Straße Bolívar, wo ich sie zum ersten Mal sah (vor Jahren) (in einem gelben Kleid) das Krachen der gesprengten Gebäude. Weinen wir nicht um diese Trümmer, sondern um die Menschen. Aber der Tod wird geboren mit dem Körper und stirbt mit ihm der Tod ist der Tod des Individuums ››ein Anflug von Schmerz‹‹ um aufzuerstehen muß man sterben

(du liebtest die Zukunft und starbest für sie. Du akzeptiertest den Schmerz es starb dein Tod, Bruder).

Unerbittlicher Geburtshelfer. An der Tankstelle Chevrón streichelt einer das Gesicht seiner Tochter als ob sie nur schliefe (Wie alles was nicht sterben kann: damals begannst du auf andere Art zu leben) Selig sind, die voller Schmerz sind, der befreit ››ein Überrest‹‹ Das Volk flüchtete auf Lastwagen mit seinem Kram, seinen Bündeln. Es nahm die Straßen unter seine Füße.

Dieter Lamping (Mainz): Die Wahrheiten der Geschichtslyrik.

Freitag, 6.3., 14.15h

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el pueblo nunca muere “Partieron en medio de lágrimas pero los hago regresar contentos” –Y el simbolismo de estas tiendas de campaña. Condiciones propicias ¿para qué? (Signo de interrogación.) Con el sismo el capitalismo se hundió más en el capitalismo La diversión de unos guardias, hacer correr a la gente tras los camiones de alimentos, lanzando de vez en cuando unas cuantas latas al suelo. Medios de producción no en manos de los pocos cabrones. ¿Van a parar la marcha hacia la sociedad de promisión? A una clase salvaré y a otra clase perderé. Oráculo de Yavé. Nadie sabe cuándo se realizará, dijo Lenin (el parasío) El pueblo está intacto limpian los escombros y transforman la ciudad macabra constructores de a ciudad trabajando sólo por la comida van ya muy noche a dormir a las afueras, unas horas después a formar otra vez los pelotones y marchar a los escombros. Uno de 15: sólo por la comida –y le cayó la marquesina de cine. Pero el pueblo es inmortal. Sale sonriente de la morgue. Los vendedores de chicles de diarios los cuidadores de coches pepenadores afiladores están en todas partes, son la base si se sacuden caen los rascacielos Van trenes y camiones cargados de cortadoras de algodón los grandes graneros brillantes están vacíos, llenos de hambre (o arroz de Somoza) su risa en la bodega frente a la bahía –y en todos los paisajes

Das Volk stirbt nie. ››Sie gingen aus mit Weinen, aber ich mache daß sie wiederkehren mit Lachen‹‹ Unter der Symbolgehalt dieser Zelte. Angemessene Bedingungen. Wofür? (Fragezeichen) Mit dem Erdbeben versank der Kapitalismus noch mehr im Kapitalismus. Der Zeitvertreib einiger Soldaten: die Leute hinter den Lebensmittelwagen herzuhetzen ab und zu ein paar Büchsen unter die Menge werfend. Die Produktionsmittel nicht in den Händen einiger weniger Böcke. Wollen sie den Marsch zur Gesellschaft der Verheißung aufhalten? Eine Klasse werde ich retten und die andere verderben. Weissagung Jahwes. Niemand weiß, wann es Wirklichkeit wird, sagte Lenin (das Paradies). Das Volk ist unversehrt es säubert die Trümmer und verändert die makabre Stadt Städtebauer, die nur fürs Essen arbeiten. Sie gehen spät in der Nacht in die Außenbezirke schlafen, um Stunden später sich wieder in Gruppen zu sammeln und Trümmer zu räumen. Ein Fünfzehnjähriger (nur fürs Essen): ein Kinodach stürzte auf ihn. Das Volk ist unsterblich. Lächelnd tritt es aus der Leichenhalle. Kaugummiverkäufer Zeitungsmänner Parkplatzwärter Obstentkerner Scherenschleifer sind überall, sind die Basis. Wenn sie sich schütteln, fallen die Wolkenkratzer. Züge und Lastwagen voller Baumwollpflückerinnen die großen glänzenden Kornspeicher sind leer, voller Hunger (oder Reis für Somoza) ihr Lachen in der Garküche gegenüber der Bucht – und woanders.

Dieter Lamping (Mainz): Die Wahrheiten der Geschichtslyrik.

Freitag, 6.3., 14.15h

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De nuevo tu lanchón va por Siquia con cerros de cajillas de cerveza llenas o vacías ... y nuestro delito es anunciar un paraíso Los monopolios son sólo desde el Neolítico El Reino de Dios está cerca la Ciudad de la Comunión compañeros Sólo los muertos resucitan Otra vez hay otras huellas: no ha terminado la peregrinación A medianoche una pobre dio a luz un niño sin techo y ésa es la esperanza Dios ha dicho: “He aquí que hago nuevas todas las cosas” y ésa es la reconstrucción.

Wieder fährt dein Boot über den Siquia mit Hügeln von leeren oder vollen Bierkästen an den Ufern … Und unser Verbrechen ist, ein Paradies zu verheißen. Die Monopole bestehen erst seit dem Neolithikum das Reich Gottes ist nahe die Endgültige Stadt, meine Brüder! Nur die Toten können auferstehen. Es gibt wieder neue Spuren über den alten: die Pilgerfahrt ist noch nicht zu Ende. Um Mitternacht gebar eine Frau ein Kind, obdachlos und dies ist die Hoffnung Gott sagte: ››Siehe, ich mache alles neu.‹‹ Und das ist der Wiederaufbau.

Cardenal, Ernesto: Oráculo de Managua, Buenos Aires 1973.

Cardenal, Ernesto: Wir sehen schon die Lichter. Gedichte bis 1979. Aus dem Spanischen von

Stefan Baciu u. a.. Wuppertal 1986.

Dieter Lamping (Mainz): Die Wahrheiten der Geschichtslyrik.

Freitag, 6.3., 14.15h

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Primo Leví

Shemá Voi che vivete sicuri Nelle vostre tiepide case, Voi che trovate tornando a sera Il cibo caldo e visi amici:

Considerate se questo è un uomo, Che lavora nel fango Che non conosce pace Che lotta per mezzo pane Che muore per un sì o per un no. Considerate se questa è una donna, Senza capelli e senza nome Senza più forza di ricordare Vuoti gli occhi e freddo il grembo Come una rana d’inverno.

Meditate che questo è stato: Vi comando queste parole. Scolpitele nel vostro cuore Stando in casa andando per via, Coricandovi alzandovi: Ripetetele ai vostri figli. O vi si sfaccia la casa, La malattia vi impedisca, I vostri nati torcano il viso da voi.

10 gennaio 1946

Primo Leví

Sch’ma Ihr, die ihr sicher wohnt In euren gewärmten Häusern, Ihr, die ihr bei der Heimkehr am Abend Warmes Essen findet und Freundesgesichter:

Fragt, ob das ein Mann ist: Der arbeitet im Schlamm Der kennt keinen Frieden Der kämpft um ein Stück Brot Der stirbt auf ein Ja, auf ein Nein hin. Fragt, ob das eine Frau ist: Kahlgeschoren und ohne Namen Ohne Kraft der Erinnerung mehr Leer die Augen und kalt der Schoß Wie eine Kröte im Winter.

Denkt, daß dieses gewesen: Diese Worte gebiete ich euch. Ins Herz schärft sie euch ein, Wenn ihr im Haus seid oder hinausgeht, Wenn ihr euch niederlegt oder erhebt: Sprecht sie wieder und wieder zu euren Söhnen. Sonst sollen eure Häuser zerbersten, Krankheiten über euch kommen, Eure Nachgeborenen das Gesicht von euch wenden.

10. Januar 1946

Dieter Lamping (Mainz): Die Wahrheiten der Geschichtslyrik.

Freitag, 6.3., 14.15h

13

Primo Leví

Alzarsi

Sognavamo nelle notti feroci Sogni densi e violenti Sognati con anima e corpo: Tornare; mangiare; raccontare. Finché suonava breve sommesso Il comando dell’alba:

“Wstawać”: E si spezzava in petto il cuore. Ora abbiamo ritrovato la casa, Il nostro ventre è sazio, Abbiamo finito di raccontare. È tempo. Presto udremo ancora Il comando straniero: “Wstawać”.

11 gennaio 1946

Primo Leví

Aufstehen

Wir träumten in den entsetzlichen Nächten Schwere Träume voller Gewalt, Wir träumten mit Seele und Leib: Heimkehr, Essen, Erzählen. Bis der kurze, leise Befehl der Frühe ertönte:

››Wstawać!‹‹ – Und es zersprang in der Brust uns das Herz. Jetzt haben wir unser Haus wiedergefunden Unser Bauch ist gesättigt, Wir sind mit dem Erzählen am Ende. Es ist an der Zeit. Bald hören wir wieder Den fremden Befehl:

››Wstawać!‹‹ 11. Januar 1946

Levi, Primo: Ad ora incerta. Milano 1990. Levi, Primo: Zu ungewisser Stunde. Gedichte. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn.

München 1998.

Eva Müller-Zettelmann (Wien): Geschichtslyrik, kulturelles Gedächtnis und metamnemonische Reflexion. Freitag, 6.3., 15h

14

Henry Reed (1914-1986)

LESSONS OF THE WAR (1942) To Alan Michell

Vixi duellis nuper idoneus

Et militavi no sine gloria

I. NAMING OF PARTS

1. To-day we have naming of parts. Yesterday,

2. We had daily cleaning. And to-morrow morning,

3. We shall have what to do after firing. But to-day,

4. To-day we have naming of parts. Japonica

5. Glistens like coral in all of the neighbouring gardens,

6. And to-day we have naming of parts.

7. This is the lower sling swivel. And this

8. Is the upper sling swivel, whose use you will see,

9. When you are given your slings. And this is the piling swivel,

10. Which in your case you have not got. The branches

11. Hold in the gardens their silent, eloquent gestures,

12. Which in our case we have not got.

13. This is the safety-catch, which is always released

14. With an easy flick of the thumb. And please do not let me

15. See anyone using his finger. You can do it quite easy

16. If you have any strength in your thumb. The blossoms

17. Are fragile and motionless, never letting anyone see

18. Any of them using their finger.

19. And this you can see is the bolt. The purpose of this

20. Is to open the breech, as you see. We can slide it

21. Rapidly backwards and forwards: we call this

22. Easing the spring. And rapidly backwards and forwards

23. The early bees are assaulting and fumbling the flowers:

24. They call it easing the Spring.

25. They call it easing the Spring: it is perfectly easy

26. If you have any strength in your thumb: like the bolt,

27. And the breech, and the cocking-piece, and the point of balance,

28. Which in our case we have not got; and the almond-blossom

29. Silent in all of the gardens and the bees going backwards and forwards,

30. For to-day we have naming of parts.

Peter Hühn (Hamburg): Formen der Sinngebung von Geschichte in der Lyrik – mit englischen

Gedichtbeispielen. Freitag, 6.3., 16.15h

15

Beispiel 1: Thomas Hardy (1840−1928)

3

5

10

15

20

25

30

Übersetzung: Werner von Koppenfels

Peter Hühn (Hamburg): Formen der Sinngebung von Geschichte in der Lyrik – mit englischen

Gedichtbeispielen. Freitag, 6.3., 16.15h

16

Beispiel 2: W. B. Yeats (1865−1939)

5

10

15

20

25

30

35

40

Peter Hühn (Hamburg): Formen der Sinngebung von Geschichte in der Lyrik – mit englischen

Gedichtbeispielen. Freitag, 6.3., 16.15h

17

45

50

55

60

65

70

75

80

Übersetzung: J. Utz

Katharina Grätz (Freiburg): Geschichte als Erlebnis. Die Inszenierung von Trümmern, Resten und Ruinen in historischer Lyrik. Samstag, 7.3., 10.15h

18

C. F. Meyer

Die alte Brücke

Dein Bogen, grauer Zeit entstammt

Steht manch Jahrhundert ausser Amt;

Ein neuer Bau ragt über dir:

Dort fahren sie! Du feierst hier.

Die Strasse, die getragen du,

Deckt Wuchs und rote Blüte zu!

Ein Nebel netzt und tränkt dein Moos,

Er dampft aus dumpfem Reussgetos.

Mit einem luftgewobnen Kleid

Umschleiert dich Vergangenheit,

Und statt des Lebens geht der Traum

Auf deines Pfades engem Raum.

Das Carmen, das der Schüler sang,

Träumt noch im Felsenwiderklang,

Gewieher und Drommetenhall

Träumt und verdröhnt im Wogenschwall.

Du warst nach Rom der arge Weg,

Der Kaiser ritt auf deinem Steg,

Und Parricida, frevelblass

Ward hier vom Staub der Welle nass!

Du brachtest nordwärts manchen Brief,

Drin römische Verleumdung schlief,

Auf dir mit Söldnern beuteschwer

Schlich Pest und schwarzer Tod daher!

Vorbei! Vorüber ohne Spur!

Du fielest heim an die Natur,

Die dich umwildert, dich umgrünt,

Vom Tritt des Menschen dich entsühnt!

Katharina Grätz (Freiburg): Geschichte als Erlebnis. Die Inszenierung von Trümmern, Resten und Ruinen in historischer Lyrik. Samstag, 7.3., 10.15h

19

Friedrich Hölderlin

Burg Tübingen

Still und öde steht der Väter Feste,

Schwarz und moosbewachsen Pfort' und Turm,

Durch der Felsenwände trübe Reste

Saust um Mitternacht der Wintersturm,

Dieser schaurigen Gemache Trümmer,

Heischen sich umsonst ein Siegesmal,

Und des Schlachtgerätes Heiligtümer

Schlummern Todesschlaf im Waffensaal.

Hier ertönen keine Festgesänge,

Lobzupreisen Manas Heldenland,

Keine Fahne weht im Siegsgepränge

Hochgehoben in des Kriegers Hand,

Keine Rosse wiehern in den Toren,

Bis die Edeln zum Turniere nahn,

Keine Doggen, treu, und auserkoren,

Schmiegen sich den blanken Panzer an.

Bei des Hiefhorns schallendem Getöne

Zieht kein Fräulein in der Hirsche Tal,

Siegesdürstend gürten keine Söhne

Um die Lenden ihrer Väter Stahl,

Keine Mütter jauchzen von der Zinne

Ob der Knaben stolzer Wiederkehr,

Und den ersten Kuß verschämter Minne

Weihn der Narbe keine Bräute mehr.

Aber schaurige Begeisterungen

Weckt die Riesin in des Enkels Brust,

Sänge, die der Väter Mund gesungen,

Zeugt der Wehmut zauberische Lust,

Ferne von dem törigen Gewühle,

Von dem Stolze der Gefallenen,

Dämmern niegeahndete Gefühle

In der Seele des Begeisterten.

Hier im Schatten grauer Felsenwände,

Von des Städters Blicken unentweiht,

Katharina Grätz (Freiburg): Geschichte als Erlebnis. Die Inszenierung von Trümmern, Resten und Ruinen in historischer Lyrik. Samstag, 7.3., 10.15h

20

Knüpfe Freundschaft deutsche Biederhände,

Schwöre Liebe für die Ewigkeit,

Hier, wo Heldenschatten niederrauschen,

Traufe Vatersegen auf den Sohn,

Wo den Lieblingen die Geister lauschen,

Spreche Freiheit den Tyrannen Hohn!

Hier verweine die verschloßne Zähre,

Wer umsonst nach Menschenfreude ringt,

Wen die Krone nicht der Bardenehre,

Nicht des Liebchens Schwanenarm umschlingt,

Wer von Zweifeln ohne Rast gequälet,

Von des Irrtums peinigendem Los,

Schlummerlose Mitternächte zählet,

Komme zu genesen in der Ruhe Schoß.

Aber wer des Bruders Fehle rüget

Mit der Schlangenzunge losem Spott,

Wem für Adeltaten Gold genüget,

Sei er Sklave oder Erdengott,

Er entweihe nicht die heilge Reste,

Die der Väter stolzer Fuß betrat,

Oder walle zitternd zu der Feste,

Abzuschwören da der Schande Pfad.

Denn der Heldenkinder Herz zu stählen,

Atmet Freiheit hier und Männermut,

In der Halle weilen Väterseelen,

Sich zu freuen ob Thuiskons Blut,

Aber ha! den Spöttern und Tyrannen

Weht Entsetzen ihr Verdammerspruch,

Rache dräuend jagt er sie von dannen,

Des Gewissens fürchterlicher Fluch.

Wohl mir! daß ich süßen Ernstes scheide,

Daß die Harfe schreckenlos ertönt,

Daß ein Herz mir schlägt für Menschenfreude,

Daß die Lippe nicht der Einfalt höhnt.

Süßen Ernstes will ich wiederkehren,

Einzutrinken freien Männermut,

Bis umschimmert von den Geisterheeren

In Walhallas Schoß die Seele ruht.

Katharina Grätz (Freiburg): Geschichte als Erlebnis. Die Inszenierung von Trümmern, Resten und Ruinen in historischer Lyrik. Samstag, 7.3., 10.15h

21

Friedrich Schiller

Pompeji und Herkulanum

Welches Wunder begibt sich? Wir flehten um trinkbare Quellen,

Erde! dich an, und was sendet dein Schoß uns herauf!

Lebt es im Abgrund auch? Wohnt unter der Lava verborgen

Noch ein neues Geschlecht? Kehrt das entflohne zurück?

Griechen, Römer, o kommt! o seht, das alte Pompeji

Findet sich wieder, aufs neu bauet sich Herkules' Stadt.

Giebel an Giebel steigt, der räumige Portikus öffnet

Seine Hallen, o eilt, ihn zu beleben, herbei!

Aufgetan ist das weite Theater, es stürze durch seine

Sieben Mündungen sich flutend die Menge herein.

Mimen, wo bleibt ihr? Hervor! Das bereitete Opfer vollende

Atreus' Sohn, dem Orest folge der grausende Chor.

Wohin führet der Bogen des Siegs? Erkennt ihr das Forum?

Was für Gestalten sind das auf dem kurulischen Stuhl?

Traget, Liktoren, die Beile voran! Den Sessel besteige

Richtend der Prätor, der Zeug' trete, der Kläger vor ihn.

Reinliche Gassen breiten sich aus, mit erhöhetem Pflaster

Ziehet der schmälere Weg neben den Häusern sich hin.

Schützend springen die Dächer hervor, die zierlichen Zimmer

Reihn um den einsamen Hof heimlich und traulich sich her.

Öffnet die Läden geschwind und die lange verschütteten Türen,

In die schaudrigte Nacht falle der lustige Tag.

Siehe, wie rings um den Rand die netten Bänke sich dehnen,

Wie von buntem Gestein schimmernd das Estrich sich hebt!

Frisch noch erglänzt die Wand von heiter brennenden Farben,

Wo ist der Künstler? Er warf eben den Pinsel hinweg.

Schwellender Früchte voll und lieblich geordneter Blumen

Fasset der muntre Feston reizende Bildungen ein.

Mit beladenem Korb schlüpft hier ein Amor vorüber,

Emsige Genien dort keltern den purpurnen Wein,

Hochauf springt die Bacchantin im Tanz, dort ruhet sie schlummernd,

Und der lauschende Faun hat sich nicht satt noch gesehn.

Flüchtig tummelt sie hier den raschen Zentauren, auf einem

Knie nur schwebend, und treibt frisch mit dem Thyrsus ihn an.

Knaben! Was säumt ihr? Herbei! Da stehn noch die schönen Geschirre,

Frisch, ihr Mädchen, und schöpft in den etrurischen Krug.

Steht nicht der Dreifuß hier auf schön geflügelten Sphinxen?

Schüret das Feuer! Geschwind, Sklaven! Bestellet den Herd!

Kauft, hier geb ich euch Münzen, vom mächtigen Titus gepräget,

Katharina Grätz (Freiburg): Geschichte als Erlebnis. Die Inszenierung von Trümmern, Resten und Ruinen in historischer Lyrik. Samstag, 7.3., 10.15h

22

Auch noch die Waage liegt hier, sehet, es fehlt kein Gewicht.

Stecket das brennende Licht auf den zierlich gebildeten Leuchter,

Und mit glänzendem Öl fülle die Lampe sich an.

Was verwahret dies Kästchen? O seht, was der Bräutigam sendet,

Mädchen! Spangen von Gold, glänzende Pasten zum Schmuck!

Führet die Braut in das duftende Bad, hier stehn noch die Salben,

Schminke find ich noch hier in dem gehöhlten Kristall.

Aber wo bleiben die Männer? die Alten? Im ernsten Museum

Liegt noch ein köstlicher Schatz seltener Rollen gehäuft.

Griffel findet ihr hier zum Schreiben, wächserne Tafeln,

Nichts ist verloren, getreu hat es die Erde bewahrt.

Auch die Penaten, sie stellen sich ein, es finden sich alle

Götter wieder, warum bleiben die Priester nur aus?

Den Caduceus schwingt der zierlich geschenkelte Hermes,

Und die Viktoria fliegt leicht aus der haltenden Hand.

Die Altäre, sie stehen noch da, o kommet, o zündet,

Lang schon entbehrte der Gott, zündet die Opfer ihm an!

[Quelle: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Band 1, München 31962, S. 234-236.]

Heinrich Detering (Göttingen): Geschichtsphilosophie und Poetik. Zum Beispiel Arnim. Samstag, 7.3., 11.30h

23

Achim von Arnim

Des ersten Bergmanns ewige Jugend Ein Knabe lacht sich an im Bronnen,

Hält Festtagskuchen in der Hand,

Er hatte lange nachgesonnen,

Was drunten für ein neues Land.

Gar lange hatte er gesonnen

Wie drunten sei der Quelle Lauf;

So grub er endlich einen Bronnen,

Und rufet still in sich: »Glück auf!«

Ihm ist sein Kopf voll Fröhlichkeiten,

Von selber lacht der schöne Mund,

Er weiß nicht, was es kann bedeuten,

Doch tut sich ihm so vieles kund.

Er höret fern den Tanz erschallen,

Er ist zum Tanzen noch zu jung,

Der Wasserbilder spiegelnd Wallen

Umzieht ihn mit Verwandelung,

Es wandelte wie Wetterleuchten

Der hellen Wolken Wunderschar,

Doch anders will es ihm noch deuchten,

Als eine Frau sich stellet dar:

Da weichen alle bunten Wellen,

Sie schauet, küsst sein spiegelnd Bild,

Er sieht sie, wo er sich mag stellen,

Auch ist sie gar kein Spiegelbild.

»Ich hab nicht Fest, nicht Festes Kuchen,

Bin in den Tiefen lang verbannt!«

So spricht sie, möchte ihn versuchen,

Er reicht ein Stück ihr mit der Hand;

Er kann es gar kein Wunder nennen,

Viel wunderbarer ist ihm heut,

In seinem Kopf viel Lichter brennen

Und ihn umfängt ganz neue Freud;

Von seiner Schule dumpfem Zimmer,

Von seiner Eltern Scheltwort frei,

Umfließet ihn ein sel’ger Schimmer,

Und alles ist ihm einerlei.

Sie fasst die Hand, dem Knaben schaudert,

Sie ziehet stark, der Knabe lacht,

Heinrich Detering (Göttingen): Geschichtsphilosophie und Poetik. Zum Beispiel Arnim. Samstag, 7.3., 11.30h

24

Kein Augenblick sein Mut verzaudert,

Er zieht mit seiner ganzen Macht,

Und hat sie kräftig überrungen

Die Königin der dunklen Welt,

Sie fürchtet harte Misshandlungen

Und bietet ihm ihr blankes Geld.

»Mag nicht Rubin, nicht Goldgeflimmer«,

Der starke Knabe schmeichelnd spricht,

»Ich mag den dunklen Feuerschimmer

Von deinem wilden Angesicht.«

»So komm zur Kühlung mit hinunter!«

Die Königin, ihm schmeichelnd, sagt,

»Da unten blüht die Hoffnung bunter,

Wo bleichend sich das Grün versagt.

Dort zeige ich dir große Schätze,

Die reich den lieben Eltern hin,

Die streichen da nach dem Gesetze,

Wie ich dir streiche übers Kinn.«

So rührt sie seiner Sehnsucht Saiten,

Die Sehnsucht nach der Unterwelt,

Gar schöne Melodien leiten

Ihn in ihr starres Lagerzelt.

Gar freudig klettert er hinunter,

Sie zeigt ihm ihrer Adern Gold,

In Flammen spielt Kristall da munter,

Der Knabe spielt in Minnesold.

Er ist so gar ein wackrer Hauer

Mit wilder Kühnheit angetan,

Hat um sein Leben keine Trauer,

Macht in den Tiefen neue Bahn,

Und bringet dann die goldnen Stufen

Von seiner Kön’gin Kammertür,

Als ihn die Eltern lange rufen

Zu seinen Eltern kühn herfür.

Die Eltern freuen sich der Gaben

Und sie erzwingen von ihm mehr,

Viel Schlösser sie erbauet haben

Und sie besolden bald ein Heer:

Er muss in strenger Arbeit geben,

Worin sie prunken ohne Not.

Einst hört er oben festlich Leben,

Den trocknen Kuchen man ihm bot.

Da kann die Kön’gin ihn nicht halten,

Heinrich Detering (Göttingen): Geschichtsphilosophie und Poetik. Zum Beispiel Arnim. Samstag, 7.3., 11.30h

25

Mit irdisch kaltem Todesarm,

Denn in dem Knaben aufwärts wallten,

So Licht als Liebe herzlich warm.

Er tritt zum Schloss zum frohen Feste,

Die Eltern staunen ihn da an,

Es blickt zu ihm der Jungfraun Beste,

Es fasst ihr Blick den schönen Mann,

Im Bergkleid tritt er mit zum Tanze

Und hat die Jungfrau sich erwählt,

Und sie beschenkt ihn mit dem Kranze,

Er hat die Küsse nicht gezählt.

Da sind die Brüder zugetreten

Und seine Eltern allzugleich,

Die alle haben ihn gebeten,

Dass er doch von dem Feste weich.

Da hat er trotzig ausgerufen:

»Ich will auch einmal lustig sein,

Und morgen bring ich wieder Stufen

Und heute geh ich auf das Frein!«

Da hat er einen Ring genommen,

Vom Gold, wie es noch keiner fand,

Den hat die Jungfrau angenommen,

Als er ihn steckt an ihre Hand,

Dann sitzt er froh mit ihr zum Weine,

Hat manches Glas hinein gestürzt;

Spät schwankt er fort und ganz alleine,

Manch liebreich Bild die Zeit verkürzt.

Die Lieb ist aus, das Haus geschlossen

Im Schacht der reichen Königin;

Er hat die Türe eingestoßen

Und steigt so nach Gewohnheit hin.

Die Eifersücht’ge hört ihn rufen,

Sie leuchtet nicht, er stürzt herab,

Er fand zur Kammer nicht die Stufen,

So findet er nun dort sein Grab.

Nun seufzt sie, wie er schön gewesen,

Und legt ihn in ein Grab von Gold,

Das ihn bewahrt vor dem Verwesen,

Das ist ihr letzter Minnesold.

Die Eltern haben ihn vergessen,

Da er nicht kommt zum Licht zurück,

Und andre Kinder unterdessen

Heinrich Detering (Göttingen): Geschichtsphilosophie und Poetik. Zum Beispiel Arnim. Samstag, 7.3., 11.30h

26

Erwühlen neu der Erde Glück,

Und bringen andre schöne Gaben,

An Silber, Kupfer, Eisen, Blei,

Doch mit dem Gold, was er gegraben,

Damit scheint es nun ganz vorbei.

Die Jungfrau lebet nur in Tränen,

Die Liebe nimmt der Hoffnung Lauf

Und meint in ihrer Hoffnung Wähnen,

Ihr steh das Glück noch einmal auf.

Glück auf! nach funfzig sauren Jahren

Ein kühner Durchschlag wird gemacht,

Die Kön’gin kämpfet mit den Scharen

Und hat gar viele umgebracht.

Sie hat gestellt viel böse Wetter,

Die um des Lieblings Grabmal stehn,

Doch Klugheit wird der Kühnen Retter,

Sie lassen die Maschinen gi'hn;

Da haben sie den Knaben funden

In kalten Händen kaltes Gold,

So hat er sterbend noch umwunden

Die Königin, die ihm einst hold.

Zur Luft ihn tragend alle fragen,

»Weiß keiner, wer der Knabe war,

Ein schöner Bursche, zum Beklagen,

Gar viele rafft hinweg das Jahr,

Doch keiner je so wohl erhalten

Kam aus der Erde Schoß zurück,

Denn selbst die flüchtigen Farben walten

Noch auf der Wangen frohem Glück;

Es sind noch weich die starken Sehnen,

Es zeigt die Tracht auf alte Zeit,

Er kostete wohl viele Tränen,

Jetzt kennt ihn keiner weit und breit.«

Die Jungfrau war tief alt geworden,

Seit jenem Fest, wo sie ihn sah,

Spät trat sie in den Nonnenorden

Und geht vorbei und ist ihm nah;

Sie kommt gar mühsam hergegangen,

Gestützt auf einem Krückenstab,

Ein Traum hielt sie die Nacht umfangen,

Dass sie den Bräut’gam wieder hab.

Sie sieht ihn da mit frischen Wangen,

Als schliefe er nach schöner Lust,

Heinrich Detering (Göttingen): Geschichtsphilosophie und Poetik. Zum Beispiel Arnim. Samstag, 7.3., 11.30h

27

Gern weckte sie ihn mit Verlangen,

Hier stürzt sie auf die stille Brust.

Da fühlt sie nicht das Herz mehr schlagen,

Die Männer sehn verwundert zu:

»Was will die Hexe mit dem Knaben,

Sie sollt ihm gönnen seine Ruh.

Das war doch gar ein schlimm Erwachen,

Wenn er erwachte, frisch gesund,

Und sie ihn wollte froh anlachen

Und hätte keinen Zahn im Mund.«

Jetzt schauet sie sein hart Erstarren,

An dieser neuen Himmelsluft,

Die Farbe will nicht länger harren,

Die treu bewahrt der Kön’gin Gruft.

Hier ist die Jugend, dort die Liebe,

Doch sind sie beide nicht vereint,

Die schöne Jugend scheint so müde,

Die alte Liebe trostlos weint.

Was hülf es ihr, wenn er nun lebte,

Und wäre nun ein alter Greis,

Ihr Herz wohl nicht mehr zu ihm strebte,

Wie jetzt zu dieses Toten Preis.

Wie eine Statue er da scheinet

Von einem lang vergessnen Gott,

Die Alte treu im Dienst erscheinet

Und ist der jungen Welt zum Spott.

Es mag der Fürst sie nimmer scheiden,

Er schenket ihr den Leichnam mild,

Verlassne möchten ihr wohl neiden

Ein also gleich und ähnlich Bild.

Da sitzet sie nun vor dem Bilde,

Die Hände sanft gefalten sind,

Und sieht es an und lächelt milde,

Und spricht: »Du liebes, liebes Kind,

Kaum haben solche alte Frauen,

Wie ich noch solche Kinder schön,

Als meinen Enkel muss ich schauen,

Den ich als Bräut’gam einst gesehn.«

Markus Fauser (Vechta): Männer, Helden, Standbilder. Fontanes „Preußen-Lieder“ und

die vaterländisch-historische Lyrik. Samstag, 7.3., 12.15h

28

Markus Fauser (Vechta): Männer, Helden, Standbilder. Fontanes „Preußen-Lieder“ und

die vaterländisch-historische Lyrik. Samstag, 7.3., 12.15h

29

Markus Fauser (Vechta): Männer, Helden, Standbilder. Fontanes „Preußen-Lieder“ und

die vaterländisch-historische Lyrik. Samstag, 7.3., 12.15h

30

Markus Fauser (Vechta): Männer, Helden, Standbilder. Fontanes „Preußen-Lieder“ und

die vaterländisch-historische Lyrik. Samstag, 7.3., 12.15h

31

Markus Fauser (Vechta): Männer, Helden, Standbilder. Fontanes „Preußen-Lieder“ und

die vaterländisch-historische Lyrik. Samstag, 7.3., 12.15h

32

Markus Fauser (Vechta): Männer, Helden, Standbilder. Fontanes „Preußen-Lieder“ und

die vaterländisch-historische Lyrik. Samstag, 7.3., 12.15h

33

Markus Fauser (Vechta): Männer, Helden, Standbilder. Fontanes „Preußen-Lieder“ und

die vaterländisch-historische Lyrik. Samstag, 7.3., 12.15h

34

Markus Fauser (Vechta): Männer, Helden, Standbilder. Fontanes „Preußen-Lieder“ und

die vaterländisch-historische Lyrik. Samstag, 7.3., 12.15h

35

Markus Fauser (Vechta): Männer, Helden, Standbilder. Fontanes „Preußen-Lieder“ und

die vaterländisch-historische Lyrik. Samstag, 7.3., 12.15h

36

Frieder von Ammon (München): Ernst Jandls Geschichtslyrik. Samstag, 7.3., 16.30h

37

Ernst Jandl: Poetische Werke. Bd. 2, S. 28f.

Frieder von Ammon (München): Ernst Jandls Geschichtslyrik. Samstag, 7.3., 16.30h

38

Ernst Jandl: Poetische Werke. Bd. 2, S. 41ff.

Frieder von Ammon (München): Ernst Jandls Geschichtslyrik. Samstag, 7.3., 16.30h

39

Ernst Jandl: Poetische Werke. Bd. 2, S. 46.

Frieder von Ammon (München): Ernst Jandls Geschichtslyrik. Samstag, 7.3., 16.30h

40

Ernst Jandl: Poetische Werke. Bd. 9, S. 30.

Ernst Jandl: Poetische Werke. Bd. 9, S. 31. Ernst Jandl: Poetische Werke. Bd. 9, S. 200.

Frieder von Ammon (München): Ernst Jandls Geschichtslyrik. Samstag, 7.3., 16.30h

41

Ernst Jandl: letzte gedichte, S. 33.

René Dietrich (Gießen): „The Angel of History”. Zerstörung, Zeugenschaft und Erinnerung in der Geschichtslyrik Carolyn Forchés. Sonntag, 8.3., 9.30h

42

Folgender Auszug aus Walter Benjamins neunter These „Über den Begriff der Geschichte“

(1940) dient dem Gedichtband in der englischen Übersetzung als Epigraph:

Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet.

Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die

unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl

verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom

Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht

mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken

kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.

Aus den „Notes“ zu zu Carolyn Forché: The Angel of History, 1994: Comment me vint l’écriture… is from René Char’s poem “La bibliothèque est en feu.“ Tr.: “How did writing come to me? As goose-down on my window in winter.” le silence de Dieu est Dieu is from Elie Weisel’s poem “Ani Maamin.”

René Dietrich (Gießen): „The Angel of History”. Zerstörung, Zeugenschaft und Erinnerung in der Geschichtslyrik Carolyn Forchés. Sonntag, 8.3., 9.30h

43

Aus den „Notes“ zu zu Carolyn Forché: The Angel of History, 1994:

Puerto Diablo and El Playon were “body dumps” in El Salvador, where the remains of the “disappeared” were often left.

Aniela Knoblich (Freiburg): „nenn' Sie mich einfach Historia“. Geschichtslyrik bei Thomas Kling. Sonntag, 8.3., 10.15h

44

Thomas Kling (2002)

Archäologischer Park

5

bald ist die sanfte eisenzeit

der weidenkätzchen schon

vorbei; dies vorgeschobene

isabelle gelb, wie nasses

schamhaar, fransig, halbes triefen.

10

gleich links römischer lagergraben,

vorgelagert. ich trag das mit, die halbe

mergelgrube (emscher-mergel) an der

hacke. hier lippe, äste, preussen, lippe-

ursprung, faules laub. im äußeren

15

pfostengraben stümpfe. was ist

die dunkle farbe da im pfostenloch?

holz scheint wie licht, und licht

wie holz. was alles in die binsen geht,

sie kratzen küchenabfall aus der grube.

20

schlagpfostenreihung, entwässerungs-

gräben, baracken in fachwerkmanier.

ich fress die reste, grabungs-schrift,

und habe schon das weiden-flechtwerk

abgenagt; kantinen-wandbewurf, und

25

seh: warn hügel hier. verkohltes stück,

die harten lehmpartikel – indizien für eine

feuersbrunst? den widerschein im auge

mischt sich nun die frauenstimme ein:

„kopfhörer ab, jetzt!

Aniela Knoblich (Freiburg): „nenn' Sie mich einfach Historia“. Geschichtslyrik bei Thomas Kling. Sonntag, 8.3., 10.15h

45

30

die bodenverhältnisse, herrschaftn,

wechseln – nenn’ Sie mich einfach

Historia. was heißt hier schon: römisch?

beachten Sie’s eiszeit-klima! eisenzeit-

siedlungshorizont! komm’ Sie ruhich

35

näher. profilschnitt: das hier, die grube:

wo die latrine gewesen ist. in eiche, birken-

holzverschalt. das feine? is fäkalienschicht.“

klart auf jetzt. im gegenlicht hinten: baumarkt,

china-imbiß; war mal ne feldbrandziegelei.

40

„… centurionen-messe. der rest in lederzelten.

die lederbahnen fetten? sind von ABM.

Sie kriegn gleich die grabungs-filme noch

gezeigt. wie’s aussah, damals – alles. damit –

Sie könn’ hier keine fotos machen! – damit

45

Sie sich ’n bild von machen könn’. die neue

kampagne, damn-nd-herrn, wird klar noch

erfolgreicher sein. museums-shop drüben! alles klar?“ … PING!

ist Historia im zwischenhorizont verschwunden.

fäkalienschicht: vier traubenkerne, schwarz,

50

von dakern oder thrakern frierend weg-

gespuckt. noch anderes einfüllmaterial;

keramiksplitter, grobgemagert. ein ofen-

rest: lehm rotdurchglüht. feucht-labbrige

karten. faßspuren im kantinenbereich.

55

kätzchen im niesel. sonne kommt raus,

als milchige schleuderkugel aus ton.

im brunnenbereich bleilot. fünf münzn.

stümpfe. und hier noch und hier noch

und hier noch dies pilumfragment.

Katrin Kohl (Oxford): Geschichtslyrik und die ‚Autonomie’ der Literatur.

Sonntag, 8.3., 13.30h

46

Horaz

Carmen XII

Carmen liber primus

12. An Augustus.

12. Roms Götter und Helden

Übersetzung: Johann Heinrich Voß Übersetzung Manfred Simon und Wolfgang Ritschel.

1 5 10 15 20

Quem virum aut heroa lyra vel acri

tibia sumis celebrare, Clio?

quem deum? cuius recinet iocosa

nomen imago

aut in umbrosis Heliconis oris

aut super Pindo gelidove in Haemo?

unde vocalem temere insecutae

Orphea silvae,

arte materna rapidos morantem

fluminum lapsus celerisque ventos,

blandum et auritas fidibus cancris

ducere quercus.

quid prius dicam solitis parentis

laudibus, qui res hominum ac deorum,

qui mare ac terras variisque mundum

temperat horis?

unde nil maius generatur ipso

nec viget quidquam simile aut secundum.

proximos illi tamen occupavit

Welchem Mann lobsingest du, welchem Heros

Auf der Laut' und klingenden Flöte, Klio?

Welchem Gott? wes Namen soll froh erwidernd

Tönen der Nachhall?

Sei's, wo grün sich Helikons Flur umschattet,

Sei's, wo Pindus ragt und der kalte Hämus,

Dem sich wild entdrängte der Wald zur hellen

Stimme des Orpheus!

Als durch Kunst der Zeugerin er des Bergstroms

Jähen Fall aufhielt und den Flug der Winde,

Schmeichelnd auch, nicht taub sie dem Saitenwohlklang

Eichen heranzog.

Was erheb' ich eher als Zeus gewohnte

Ehren? Ihn der Menschen- und Götterschicksal,

Ihn, der Meer und Land und im Zeitenwechsel

Lenket das Weltall!

Welchem nichts, das größer denn er, entstammet,

Welchem nichts auch ähnliches blüht noch zweites!

Wen, ob Mensch, ob Heros, willst preisen, Klio,

du zur Leier oder zur hellen Flöte?

Welchen Gott? Wes Name erschallt im Klange

scherzenden Echos,

sei's am Saum von Helikons Schattenwäldern,

sei's auf Pindus' Höhn und im kalten Haemus,

dort, wo blindlings folgte der Wald dem lieder-

kundigen Orpheus,

der mit seiner Kunst – ein Geschenk der Mutter –

wilde Ströme hemmte und schnelle Winde

und mit Saitenklängen so schmeichelnd lockte

lauschende Eichen?

Als den ersten lob ich wie stets den Vater,

der da lenkt der Menschen und Götter Schicksal,

Meer und Land regiert und den Kreis des Alls im

Wechsel der Zeiten;

ihm entstammt nichts Größeres, als er selbst ist,

neben ihm bestehet nichts Gleiches, Zweites.

Katrin Kohl (Oxford): Geschichtslyrik und die ‚Autonomie’ der Literatur.

Sonntag, 8.3., 13.30h

47

25 30 35 40 45 50

proximos illi tamen occupavit

Pallas honores

proeliis audax. neque te silebo,

Liber et saevis inimica virgo

beluis, nec te, metuende certa

Phoebe sagitta.

dicam et Alciden puerosque Ledae,

hunc equis, illum superare pugnis

nobilem; quorum simul alba nautis

stella refulsit,

defluit saxis agitatus umor,

concidunt venti fugiuntque nubes

et minax, quod sic voluere, ponto

unda recumbit.

Romulum post hos prius an quietum

Pompili regnum memorem an superbos

Tarquini fasces dubito an Catonis

nobile letum.

Regulum et Scauros animaeque magnae

prodigum Paulum superante Poeno

gratus insigni referam camena

Fabriciumque.

hunc et incomptis Curium capillis

Doch zunächst nach jenem gewann der Ehren

Herrlichste Pallas.

Du im Kampf Mutvoller, von dir nicht schweig' ich,

Liber! und jungfräuliche Macht, du Feindin

Grausem Wild, noch dir mit Geschoß des Schreckens

Treffender Phöbus!

Auch Herakles sing' ich, die Söhn' auch Ledas,

Den zu Roß, den, Sieger zu sein im Faustkampf,

Hochberühmt. Hat jener Gestirn dem Seemann

Heiter gefunkelt;

Nieder fleußt am Fels der empörte Salzschaum,

Alle Wind' auch ruhn, es entfliehn die Wolken,

Rings im Meer, wenn jene gewollt, entsinket

Drohende Brandung.

Ob zuerst nun Romulus ich, ob Numas

Friedensreich ich sing', ob vielmehr das stolze

Machtgebund Tarquinius, oder Catos

Rühmliches Ende?

Regulus, ihr Scaur', und erhabner Paulus

Der die Seel' aushaucht in der Pöner Obmacht,

Seid gegrüßt, Fabricius auch, mit hohem

Liede des Dankes!

Ihm zunächst jedoch hat die höchsten Ehren

Pallas errungen,

kühn im Kampf. Auch dich will ich nicht vergessen,

Liber, nicht Diana, der wilden Tiere

Feindin, noch Apoll, dessen sichre Pfeile

Schrecken verbreiten.

Den Alkiden preis ich und Ledas Söhne,

kühn zu Roß der eine, im Kampf der Fäuste

siegberühmt der andre; erstrahlt ihr Sternbild

freundlich den Schiffern,

fließt vom Fels die gischtende Brandung nieder,

schweigt der Sturm, die Wolken entfliehn, es sinket,

dem Gebot gehorchend, ins Meer zurück die

drohende Woge.

Nächstens sollt von Romulus ich nun künden

oder Numas friedlichem Reich, Tarquinius'

stolzer Herrschaft oder vielleicht von Catos

ruhmvollem Ende.

Singe dankbar, Lied, auch vom Geist der Skaurer,

singe von des Regulus Tat, von Paulus,

der, besiegt vom Punier, als Held sich hingab,

sing von Fabricius!

Katrin Kohl (Oxford): Geschichtslyrik und die ‚Autonomie’ der Literatur.

Sonntag, 8.3., 13.30h

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55 60 65 70

hunc et incomptis Curium capillis

utilem bello tulit et Camillum

saeva paupertas et avitus apto

cum lare fundus.

crescit occulto velut arbor aevo

fama Marcelli: micat inter omnis

Iulium sidus velut inter ignis

luna minores.

gentis humanae pater atque custos,

orte Saturno, tibi cura magni

Caesaris fatis data: tu secundo

Caesare regnes.

ille seu Parthos Latio imminentis

egerit iusto domitos triumpho

sive subiectos Orientis orae

Seras et Indos,

te minor latum reget aequos orbem:

tu gravi curru quaties Olympum,

tu parum castis inimica mittes

fulmina lucis.

Den und dich, o Curius rauhgelockten,

Zog zu Kriegsheilanden, und dich, Camillus,

Strenge Armut auf, und der Ahnenflur gleich-

mäßiger Hausgott.

Wie geheim fortaltend der Baum emporwächst,

So Marcellus Ruhm. Es durchblinkt das Sternheer

Dein Gestirn, o Julius, gleich wie Luna

Kleinere Funken.

Vater du, uns Erdengeschlecht', und Hüter,

Kronos Sohn! dir gab das Geschick des großen

Cäsars Sorg': Allwaltender du, ein zweiter

Walte dir Cäsar!

Ob er nun auf Latium hergewandte

Parther scheucht, durch Rächertriumph gebändigt,

Ob des Ausgangs äußerstem Rand' entsproßne

Serer und Inder;

Unterthan dir. richt' er mit Fug den Erdkreis!

Du durchkrach' auf grausem Gespann den Äther;

Du entsend' in nicht unbefleckte Haine

Strafende Blitze.

Ihn und Curius mit seinen wilden Haaren

und Camillus formten zu tapfren Kriegern

hartes Darben und auf ererbtem Gut die

ärmliche Hütte.

Still wächst wie ein Baum im Verlauf der Jahre

des Marcellus Ruhm: Das Gestirn der Julier

aber strahlt hervor wie der Mond vor allen

kleineren Sternen.

Du, der Menschheit Vater und ihr Beschützer,

Sohn Saturns, dir gab das Geschick die Sorge

um den großen Caesar: So herrsche du und

neben dir Caesar!

Ob er Latiums grimmigen Feind, die Parther,

siegreich in verdientem Triumph einherführt

oder von den Küsten des fernen Ostens

Serer und Inder,

unter dir regier er gerecht den Erdkreis;

du erschüttre mit deinem Donnerwagen

den Olymp und wirf auf entweihte Haine

rächende Blitze!

Katrin Kohl (Oxford): Geschichtslyrik und die ‚Autonomie’ der Literatur.

Sonntag, 8.3., 13.30h

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Friedrich Gottlieb Klopstock

Sie, und nicht wir

An La Rochefoucauld.

Hätt' ich hundert Stimmen; ich feyerte Galliens Freyheit

Nicht mit erreichendem Ton, sänge die göttliche schwach.

Was vollbringet sie nicht! So gar das grässlichste aller

Ungeheuer, der Krieg, wird an die Kette gelegt!

Cerberus hat drey Rachen; der Krieg hat tausend: und dennoch

Heulen sie alle durch dich, Göttin, am Fesselgeklirr.

Ach mein Vaterland! Viel sind der Schmerzen; doch lindert

Sie die heilende Zeit, und sie bluten nicht mehr.

Aber es ist Ein Schmerz, den sie nie mir lindert! und kehrte

Mir das Leben zurück; dennoch blutet' er fort!

Ach du warest es nicht, mein Vaterland, das der Freyheit

Gipfel erstieg, Beyspiel strahlte den Völkern umher:

Frankreich wars! du labtest dich nicht an der frohsten der Ehren,

Brachest den heiligen Zweig dieser Unsterblichteil nicht!

O ich weiss es, du fühlest, was dir nicht wurde; die Palme,

Aber die du nicht trägst, grünet so schön, wie sie ist,

Deinem kennenden Blick. Denn ihr gleicht, ihr gleichet die Palme,

Welche du dir brachst, als du die Religion

Reinigtest, sie, die entweiht Despoten batten, von neuem

Weihtest, Despoten voll Sucht Seelen zu fesseln! voll Blut,

Welches sie strömen liessen, so bald der Beherschte nicht glaubte,

Was ihr taumelnder Wahn ihm zu glauben gebot.

Wenn durch dich, mein Vaterland, der beschornen Despoten

Joch nicht zerbrach; so zerbrach das der gekrönten itzt nicht.

Könt' ein Trost mich trösten; er wäre, dass du vorangingst

Auf der erhabenen Bahn! aber er tröstet mich nicht.

Denn du warest es nicht, das auch von dem Staube des Bürgers

Freyheit erhob, Beyspiel strahlte den Völkern umher;

Denen nicht nur, die Europa gebar. An Amerika's Strömen

Flamt schon eigenes Licht, leuchtet den Völkern umher.

Hier auch winkte mir Trost, er war: In Amerika leuchten

Deutsche zugleich umher! aber er tröstete nicht.

Katrin Kohl (Oxford): Geschichtslyrik und die ‚Autonomie’ der Literatur.

Sonntag, 8.3., 13.30h

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August von Platen

Das Grab im Busento

1820.

Nächtlich am Busento lispeln, bei Cosenza, dumpfe Lieder,

Aus den Wassern schallt es Antwort, und in Wirbeln klingt es wider!

Und den Fluß hinauf, hinunter, ziehn die Schatten tapfrer Goten,

Die den Alarich beweinen, ihres Volkes besten Toten.

Allzufrüh und fern der Heimat mußten hier sie ihn begraben,

Während noch die Jugendlocken seine Schulter blond umgaben.

Und am Ufer des Busento reihten sie sich um die Wette,

Um die Strömung abzuleiten, gruben sie ein frisches Bette.

In der wogenleeren Höhlung wühlten sie empor die Erde,

Senkten tief hinein den Leichnam, mit der Rüstung, auf dem Pferde.

Deckten dann mit Erde wieder ihn und seine stolze Habe,

Daß die hohen Stromgewächse wüchsen aus dem Heldengrabe.

Abgelenkt zum zweiten Male, ward der Fluß herbeigezogen:

Mächtig in ihr altes Bette schäumten die Busentowogen.

Und es sang ein Chor von Männern: Schlaf in deinen Heldenehren!

Keines Römers schnöde Habsucht soll dir je dein Grab versehren!

Sangen's, und die Lobgesänge tönten fort im Gotenheere;

Wälze sie, Busentowelle, wälze sie von Meer zu Meere!

Katrin Kohl (Oxford): Geschichtslyrik und die ‚Autonomie’ der Literatur.

Sonntag, 8.3., 13.30h

51

Max Schneckenburger

Die Wacht am Rhein

1

Es braust ein Ruf wie Donnerhall, wie

Schwertgeklirr und Wogenprall:

Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!

Wer will des Stromes Hüter sein?

Lieb Vaterland, magst ruhig sein,

Fest steht und treu die Wacht am Rhein.

2

Durch Hunderttausend zuckt es schnell,

und aller Augen blitzen hell:

der deutsche Jüngling, fromm und stark,

beschirmt die heilge Landesmark.

Lieb Vaterland, magst ruhig sein,

Fest steht und treu die Wacht am Rhein.

3

Er blickt hinauf in Himmelsaun,

wo Heldengeister niederschaun,

und schwört mit stolzer Kampfeslust:

„Du, Rhein, bleibst deutsch wie meine Brust!

Lieb Vaterland, magst ruhig sein,

Fest steht und treu die Wacht am Rhein.

4

Und ob mein Herz im Tode bricht,

wirst du doch drum ein Welscher nicht.

Reich wie an Wasser deine Flut

ist Deutschland ja an Heldenblut.“

Lieb Vaterland, magst ruhig sein,

Fest steht und treu die Wacht am Rhein.

5

„So lang ein Tropfen Blut noch glüht,

noch eine Faust den Degen zieht,

und noch ein Arm die Büchse spannt,

betritt kein Feind hier deinen Strand.“

Lieb Vaterland, magst ruhig sein,

Fest steht und treu die Wacht am Rhein.

6

Der Schwur erschallt, die Woge rinnt,

die Fahnen flattern hoch im Wind:

Zum Rhein, zum Rhein, am deutschen Rhein!

Wir alle wollen Hüter sein!

Lieb Vaterland, magst ruhig sein,

Fest steht und treu die Wacht am Rhein.

Katrin Kohl (Oxford): Geschichtslyrik und die ‚Autonomie’ der Literatur.

Sonntag, 8.3., 13.30h

52

Alfred Tennyson

The Charge of the Light Brigade

I

Half a league, half a league,

Half a league onward,

All in the valley of Death

Rode the six hundred.

‘Forward the Light Brigade!

Charge for the guns!’ he said.

Into the valley of Death

Rode the six hundred.

II

‘Forward, the Light Brigade!’

Was there a man dismay’d?

Not tho’ the soldier knew

Some one had blunder’d.

Theirs not to make reply,

Theirs not to reason why,

Theirs but to do and die.

Into the valley of Death

Rode the six hundred.

III

Cannon to right of them,

Cannon to left of them,

Cannon in front of them

Volley’d and thunder’d;

Storm’d at with shot and shell,

Boldly they rode and well,

Into the jaws of Death,

Into the mouth of hell

Rode the six hundred.

IV

Flash’d all their sabres bare,

Flash’d as they turn’d in air

Sabring the gunners there,

Charging an army, while

All the world wonder’d.

Plunged in the battery-smoke

Right thro’ the line they broke;

Cossack and Russian

Reel’d from the sabre-stroke

Shatter’d and sunder’d.

Then they rode back, but not,

Not the six hundred.

V

Cannon to right of them,

Cannon to left of them,

Cannon behind them

Volley’d and thunder’d;

Storm’d at with shot and shell,

While horse and hero fell,

They that had fought so well

Came thro’ the jaws of Death,

Back from the mouth of hell,

All that was left of them,

Left of six hundred.

VI

When can their glory fade?

O the wild charge they made!

All the world wonder’d.

Honor the charge they made!

Honor the Light Brigade,

Noble six hundred!

Katrin Kohl (Oxford): Geschichtslyrik und die ‚Autonomie’ der Literatur.

Sonntag, 8.3., 13.30h

53

Paul Celan

Denk Dir

Denk dir:

der Moorsoldat von Massada

bringt sich Heimat bei, aufs

unauslöschlichste,

wider

allen Dorn im Draht.

Denk dir:

die Augenlosen ohne Gestalt

führen dich frei durchs Gewühl, du

erstarkst und

erstarkst.

Denk dir: deine

eigene Hand

hat dies wieder

ins Leben empor-

gelittene

Stück

bewohnbarer Erde

gehalten.

Denk dir:

das kam auf mich zu,

namenwach, handwach

für immer,

vom Unbestattbaren her.

Hans Graubner (Göttingen): Geschichte und Panegyrik. Zu Herders und Lindners Herrscherlob-Texten im Preußen und Livland des 18. Jahrhunderts. Samstag, 7.3., 9.30h

54

Johann Gottfried Herder

Gesang an

den Cyrus. __________________

Aus dem Hebräischen übersezzt.

__________________________________

St. Petersburg, 1762. im Januar.

Quaerit patria Caesarem.

HORAT.

An den großen

König Cyrus, den

Enkel

Astyages. ________

Von

einem gefangnen Israeliten. ___________________________________________________________

Dieser Gesang hat in der Uebersezzung beinahe den römischen oder vielmehr deutschen Liederkarakter angenommen.

Du bist! Gesalbter, den uns GOtt versprach! Es glänzt Dein neues Reich

Den Himmel auf. Die Völker feiren nach Und knien. Der Mond erhebt es bleich.

Jehovah, der zu Meeren spricht: verseigt! 5

Es wachse Land hervor, Und aus ihm Gold! sprach zu den [Strömen:] weicht!

Er sprachs! es wuchs ein Baum empor!

Aus der Mandane dunklem Schoos kam Er, Und Asien ist kaum 10

Zum weiten Schatten gnug, vom schwarzen Meer, Bis zu des rothen Purpursaum.

Der HERR rief Dich, und nahm Dich bei der Hand, Man sah Dich – alles wich,

Die Hügel flohn: es bückte sich das Land, 15 Denn Er ging vor Dir königlich!

Und Riegel, Thore, Schloß zerbrach der HERR Da gab er Dir zum Lohn

Der Tiefe Schäzze – wer ist mächtiger Und schöner, als Jehovens Trohn. 20

Hans Graubner (Göttingen): Geschichte und Panegyrik. Zu Herders und Lindners Herrscherlob-Texten im Preußen und Livland des 18. Jahrhunderts. Samstag, 7.3., 9.30h

55

Er schaffet Frieden, spricht des Lichts Aufgang

Er ist, Er ist der HERR! Er schaffet Uebel, spricht der Niedergang

Und Cyrus spricht: Er ist der HERR!

Die Ceder bebe – durch des Tempels Schutt 25 Rausch heilge Sympathie.

Er spricht zur Stadt, und Tempel: seyd gebaut! – es thut Es Cyrus, und – da stehen sie!

Der gürtet Königen das Blutschwert ab Und regnet Ruh und Glück 30

Auf seine Heerden. Fremde gibt sein Stab Dem ersten Hirten gern zurück.

O hüpfe Volk! wie sich die Taube freut Wenn sich ihr Retter naht.

So lechzt das Kind zur Mutter hin – sie beut 35 Ihm ihre Brust, um die es bat,

Und weint, und sieht herab. Es trinkt und blickt Ihr lächelnd Dank herauf. O König! schau vom Throne. Juda schickt Dir mindstens eine Thräne auf. 40

Hans Graubner (Göttingen): Geschichte und Panegyrik. Zu Herders und Lindners Herrscherlob-Texten im Preußen und Livland des 18. Jahrhunderts. Samstag, 7.3., 9.30h

56

Der Thron

Peters des Dritten

allerunterthänigst verehret von

M. Johann Gotthelf Lindner, Rector der Domschule zu Riga.

**************************************************

Te renouante annum – – –

**************************************************************************

1762

Sie wird, Sie wird – – die fromme Kaiserin Bellonens Fackeln auszulöschen trachten. Den blutbeschäumten Mars in tagelangen Schlachten Zieht Sie bald sanft zum Arm Irenens hin. – Sie hängt Ihr Schild umpalmt zu Friedenszweigen. 5 Europa lehnt vergrämt sich dran, Und seufzt Ihr Herz mattathmend an, Ein solch olympisch Gut ihr mütterlich zu zeugen. Mit diesem Wunsch aus tausendfacher Brust Flog Rußlands Schutzgeist zum Gestirn der Zaare 10 Und bracht zum Heiligthum die Kohle vom Altare

ELISABETHS, der Völker Stern und Lust – Wie Engel sich mit Glanz umflossen regen, Wie in dem Blau mit Silberlicht Der Vollmond durch die Wolken bricht, 15

Als der Monarch am Pol, – kommt PETER ihm entgegen. Ich betete, spricht er, die Gottheit an Und flehte um die Hoffnung mürber Staaten, Um diese Krone noch zu meiner Tochter Thaten – – (Hier stand er ernst, doch ruhigstill, und sann) – – 20 Sie aber wird zu uns im Frieden fahren, Und von der Last des Zepters ruhn. – Sie zu umarmen geh ich nun, Und Ihres Erben Thron zu segnen, zu bewahren. Er stieg herab, – der Todesengel nach. 25 Der Vater schwebet um die Trauerbühne Kühlt Ihre matte Brust, wacht über jede Mine, Bis sich das Paar liebvoller Augen brach. Die Stunde schlug – Der Wächter Rath und Wille Ruft Sie – Sie folgt – Er löste drauf 30 Sanft Diadem und Geist ihr auf, Und Sie entschlief – – Umher herrscht wartend hohe Stille.

Hans Graubner (Göttingen): Geschichte und Panegyrik. Zu Herders und Lindners Herrscherlob-Texten im Preußen und Livland des 18. Jahrhunderts. Samstag, 7.3., 9.30h

57

Erhebe nun, o grosse Seele! Dich Von himmlischen Umarmungen begrüsset Welch elisäisch Fest, da Dich die Mutter küsset, 35 Ihr Ebenbild, und Ahnherrn freuen sich. Du eilst zum Glanz, der frommen Fürsten winket, – Hier feierte Dein Land, und lag, Wie auf den sonnenreichen Tag Ein duftend Abendfeld in laue Schatten sinket. 40 Noch sog Dein Reich in sich den süssen Thau Der Gnade die Du sterbend ihm vermachet. – Gleich wird es wieder hell, ein neues Licht erwachet, Wie Phöbus strömt es durch ein frisches Blau So fiel sein Strahl auf Memnons güldne Säule (*) 45 Im Morgen, und ihr Gold erklang. So macht ein festlicher Gesang

Den Aufgang PETERS kund zu seiner Völker Heile (*) Man erzählt, daß wenn die Sonnenstralen auf diese Säule in Asien gefallen, sie geklungen habe.

Nun öfnet Dir die Gnade Herz und Thor, Du Reis von dem unsterblichen Geschlechte! 50 Und führt Dich im Triumph zum Sitze Deiner Rechte; Du aber streichst den keuschen Trauerflor Von Rußlands Stirn, und in dem Angesichte Wallt eine Freudenthräne Dir, – Es kniet, und schwört, und wünscht: regier, 55 Regier mit Peters Geist, – Muth, Klugheit und Gewichte. Treu jenem Blut, aus dem Du HERR entsprangst, Verbreite Leben über Millionen

Und wie ELISABETH; so lächle auf die Zonen Mit Huld hinab, in der Du Schutzgott! prangst, 60 Wo Fürsten sich sonst Jahre zugemessen, Da hast Du Tage nur verwandt. – (*) Die Freiheit küsset Dir die Hand, Und streuet Blumen hin, wo sie in Staub gesessen. (*) Wie bald nach einander sind so viele huldvolle Befehle, Verordnungen und weise Anstalten getroffen worden? O fahre fort! Eil zur Unsterblichkeit 65 Schon auf der ersten Bahn mit großen Schritten Gestirn! das kaum erscheint, und schon das Stroh der Hütten Vergüldend wärmt, und den Pallast erneut. Groß hieß mit Recht der schöpferische Kaiser Und gnädig Seine Tochter, Sie, 70 Die Liebe selbst; – zu Deinem Knie Rühmt Rußland stolz: mich hebt sein Enkel und ein Weiser.

Hans Graubner (Göttingen): Geschichte und Panegyrik. Zu Herders und Lindners Herrscherlob-Texten im Preußen und Livland des 18. Jahrhunderts. Samstag, 7.3., 9.30h

58

Und dann ein Held – Die Helden suchen sich – Zur Probe steur dem zügellosen Kriege Erstick, wie Herkules die Schlangen in der Wiege, 75 So Du mit erster Kraft der Zwietracht Gift und Stich, Und Saat zu frischem Blut, und Flammen, die schon gleischen. – – So raset durch der Heide Strauch Ein Feur, und braust aus vollem Schlauch, Und brennt den Wald zu Staub, wie Wind und Sturm es heischen. 80

O PETER! sey ein Friedensengel, sey Europens Trost, wohlthätig fremden Erden. Ohnmächtig fliehe dann mit höllischen Gebärden Der Zwist vor Dir, und Wuth und Raserey Mag angeschmiedt an Deinem Wagen keichen, 85 Indessen soll von Dir erfüllt Der Nachruhm voller Pomp dein Bild Von Pol zu Pol verehrt, den Sternen überreichen.

Hans Graubner (Göttingen): Geschichte und Panegyrik. Zu Herders und Lindners Herrscherlob-Texten im Preußen und Livland des 18. Jahrhunderts. Samstag, 7.3., 9.30h

59

Am

Namenstage der

Kaiserin aller Reussen und Grossen

Frauen,

Catharina Alexiewna, zum Beschluß der Schulfeier

von dem Rector

M.J.G. Lindner

Tu regere imperio populos – – memento, Parcere subiectis et debellare superbos.

Virgil.

O Jahr! – o Jahr! was brachtest du? – Vom wolkigten Olymp zu uns herab gestiegen, Hier Trauerflor, und dort Vergnügen,

Hier blutend Leid, und dort die Ruh. So wechseln kreiselhafte Scenen; 5

So wie der Tag die Nacht vertreibt, Wie auf die Sonnen Regen stäubt,

Wie nach dem Donnerknall der Vögel Lieder tönen. Wie war dein Eintritt? – Tief geschwärzt Bog Rußland Haupt und Knie bey weinenden Cypressen, 10 Elisabeth! – Sie war nicht mehr. – Indessen Füllt ihr Gebein ein stolzes Erzt. Ein Schatten von Melancholien Schwimmt bey der Lampen trüber Gluth, Wo die verwaiste Krone ruht. 15 Doch – Phosphorus blickt auf und Graus und Dunkel fliehen Was die Leutseligste gedacht, Der letzte Wunsch, den dort die Brust der Mutter hauchte, Erscheint. – Wo noch die Kriegesfackel rauchte, Stralt nun ein Glücksgestirn und lacht – – 20 Komm Friede! rief der Gott der Götter, Das trunkne Schwert hat gnung getobt, Der Menschen Plage mich gelobt. Steh Blut! – Die Sonne trennt den Klumpen dichter Wetter. So gleich verlischt der Blitze Brand, 25 Und seht! es öfnet sich, wo auf den Aschenhügel Verwüstung trof, bespannt mit ihrem Flügel, Ein Friedenstempel – für das Land. Da knien auf dem Moos der Schwelle, Auf Palmen, die die Freude streut, 30 Viel tausend, und die Dankbarkeit Hebt ihre Hände auf zu Gott der Friedensquelle.

Hans Graubner (Göttingen): Geschichte und Panegyrik. Zu Herders und Lindners Herrscherlob-Texten im Preußen und Livland des 18. Jahrhunderts. Samstag, 7.3., 9.30h

60

Was seh ich? – – Kerker springen auf, Und Männer ziehen her, der Preis der ersten Jahre, Anjetzt umglänzt in ihrem Silberhaare 35 Durch der Erfahrung Wunderlauf. Von da, wo auf die öde Fluren Die starre Kälte niedersinkt, Wo man das Eis des Nordpols trinckt, Führt sie der Weg zum Hof und ihrer Lorbeern Spuren. 40 Dich, welchem das verjüngte Haupt Ein prächtger Herzogshut bald wieder würdig schmücket, Und seinen Stuhl zu Curlands Fürsten rücket, Den ihm die Liebe neu umlaubt. – – O Vorsicht! durch die Wüsteneien 45 Machst du den frommen Prinzen Bahn, Und Strassen durch den Ocean Und schaubst Hiskiens Uhr zu weitern Lebensreihen. Ja! so erwacht Epimenid, Den einstens dreissig Jahr die Götter schlummern liessen. 50 So eilt zur Stadt mit frischbelebten Füssen Ein wäldersatter Eremit. Euch Alle hebt die neue Bühne Zu Proben von gewohntem Muth, Und schenket der Verdienste Gut. 55 Wie Peters Enkel rief, so ziert euch Catharine. Dich Greis, Dich lorbeerwerthen Held, Dem muntres Jugendblut der Adern Frost entfaltet, Dem Geiste nach zu Thaten nicht veraltet, Dich Münnich! ehrt Sie und die Welt, 60 Dich, erst der kühnen Türken Grauen, Liebt jetzt Portumnus und Neptun,

Dir schäumt sein Stahl zum Ruhme nun; Trophäen Vater! wird dir Narva dankbar bauen.

Indessen, daß balsamisch Oel 65 Des Friedens Glied und Arm der müden Kämpfer tränket, Den Ackersmann zu seinem Pfluge lenket, Und mit belastetem Kameel In Caravanen und auf Wagen Der Handel sichre Güter zollt, 70 Und ein freisegelnd Schiff das Gold Von Pol zu Pol verführt, wohin nur Fluthen tragen – Indessen nährt die Muse sich Bey der gewürzten Ruh und stillem Lampenscheine, Fliegt ungekränkt durch Städte und durch Haine, 75 Umarmt die Freunde brüderlich, Und segnet Mutter und Verwandten. – – Kein raubbegieriges Gewehr

Hans Graubner (Göttingen): Geschichte und Panegyrik. Zu Herders und Lindners Herrscherlob-Texten im Preußen und Livland des 18. Jahrhunderts. Samstag, 7.3., 9.30h

61

Schwärmt zu der Wandrers Angst vorher, Kein Erzt der Thürme zischt, die prasselnd niederbrannten. 80 Die Du das allgemeine Gut Mit Mutterhand erhältst, den Herold mildrer Zeiten,

Laß, CATHARINA! Dich zum Altar festlich leiten, Wo Rußlands Krone auf Dir ruht. Der Ewige hat es beschlossen, 85 Du wurdest unsre Kaiserin. – O! sey mit Deiner Ahnen Sinn, Mit Tugenden geschmückt, die sanft vom Throne flossen! Sie stehn als Wächter um den Thron, Nur für sie bücken sich unabgesehne Schaaren, 90 Die sich entzückt bey Deinem Adler paaren.

Dein köstlich Pfand, Dein holder SOHN, Reist nah bey Dir zum Heldenpfade.

Dein Auge bild Ihn uns zum Glück, Dein Z[e]pter winke dem Geschick; – 95

Und Riga schmecke dann auch einen Strahl der Gnade.

Hans Graubner (Göttingen): Geschichte und Panegyrik. Zu Herders und Lindners Herrscherlob-Texten im Preußen und Livland des 18. Jahrhunderts. Samstag, 7.3., 9.30h

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Johann Gottfried Herder Rigische Anzeigen 1765 Stück XXVII. Montag, den 4. Juli

[Auf Katharinens Thronbesteigung] Die unsre Mutter ist, Die Gratie auf Europens höchstem Throne, Die Heldin in der Palmenkrone, Die von dem Throne stieg und Riga küßt: Die Göttin singt mein patriotisch Lied! – 5 Erhebe dich, Gesang! so wie der Adler glüht, Wenn er zur Sonne zielt, stark in ihr Feuer sieht, Und oben denn an Jovis Thron der Donner Last Mit kühnem Griffe faßt: – – So hebe dich, mein Lied! im feierlichsten Tone, 10 Zur tiefsten Stuff’ an Katharinens Throne Auf den Sie Sich heut schwang. Sie gieng, sie gieng, den königlichen Gang Hinauf zum Thron: und nahm die Kaiserkrone Und Rußlands Zepter in die Hand. 15 O jauchze dreimal, Land! Den Zepter küßte Sie, und wägt’ ihn mit der Rechte, Und sprach: du sollt kein Stecken meiner Knechte, Ein Gnadenzepter sollt du seyn! – Sie sprachs. – 20 Und Rußland jauchzete darein, vom Eismeer bis zu uns; von China bis zum Belt: Da jauchzte Katharinens Welt, Und bebte nicht mehr. – Und der Himmel brach, 25 Und Jova sah herab, und sprach: „Du meines Thrones Tochter! sey mein Bild „Und bitte, was du willt!“ – „Nicht! Vater, sprach sie, gib mir Pracht, „Die vom entnervten Mark des Landes glänzet, 30 „Nicht Lorbeer, der nur Menschenfeinde kränzet, „Und weil er blutig trift, Tyrannen lüstern macht: „Nicht Reichthum, der vom Schweiß des Armen glänzet, „Und nur für Schmeichler lacht – „Nicht gib mir dies! – 35

Hans Graubner (Göttingen): Geschichte und Panegyrik. Zu Herders und Lindners Herrscherlob-Texten im Preußen und Livland des 18. Jahrhunderts. Samstag, 7.3., 9.30h

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Doch soll ich etwas flehen, „Für mich nicht – für die Kinder, für mein Land, „So gib mir Mutterherz, und Salomons Verstand.“ Da feierten die Engel: da floß von Jovas Höhen Der Weisheit Oel, wie Thau vom Hermon fließt 40 In Strömen auf ihr Haupt, und – Sie ward, was Sie ist! Monarchin, Mutter, Kaiserin, Europens Schiedesrichterin, Die Göttin Rußlands und der Glanz in Norden, – 45 Das alles und noch mehr ist Katharine worden. Ihr Waffenträger, stark durch ihre Macht, Ihr Adler, deckt in majestätscher Pracht Sein weites Reich mit Ruh: Und eilt mit feuerdrohndem Blick 50 Voll Ihres Ruhms, den Sternen zu. Wohin, wohin Sie sieht, blüht Glück! Ein Blick der Gratie schafft Tempe aus den Wüsten: Dort, wo die Wilden früh die Morgensonnen grüßten: Vom Newa bis zum Don, von unsrer Düna Strand 55 Bis zu des Nordpols ewger Nacht, Wird Ihr Unsterblichkeit gebracht. Denn sie, Sie segnet alles Land, Und uns! – Heil uns! – sie segnet alles zwar, Doch uns, doch uns besucht Sie gar! 60 Sie kam zu uns, die Göttin! – Sie lachte auf uns Gnade, auf Jüngling, Greis und Mann, Sie küßte unsre Kinder, nahm unser Opfer an, Sie segnete die Väter, und Rigas Wohl – Ja unsern Tempel der Gerechtigkeit 65 Hat Katharine eingeweiht. Drum, Kaiserin! Dein großer Name soll Das Haus des Rechts, das wir Dir weihn, beglücken, Den Tempel, den wir baun, soll Dein, Dein Name schmücken, Er schmücke unsre Zeit! – 70 Jünglinge, die ihr uns einst Nachwelt seyd Nennt, wenn wir schlafen, nennt zu unserm Ruhm Das eurer Väter Säkulum,

Da Peter sie in seine Staaten nahm, Und nennt das unser Säkulum, 75

Da Katharine zu uns kam.