Veränderung und Reproduktion des Gewöhnlichen: Lehrerpraktiken in Neuerungskontexten

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87 Helga Jungwirth Veränderung und Reproduktion des Gewöhnlichen: Lehrerpraktiken in Neuerungskontexten Zusammenfassung: Aus der strukturtheoretischen Perspektive auf die Lehrerprofession ist die Analyse von Praktiken zur Bewältigung beruflicher Situationen von besonderem Interesse. In meinem Beitrag befasse ich mich mit Praktiken von Mathematiklehrerinnen, 1 die in verschiedenen, auf Veränderung des Ma- thematikunterrichts gerichteten Zusammenhängen beobachtbar waren. Die Analyse zeigt, dass Neuerungen stattfinden, aber grundlegende Gewohnheiten nicht berühren. Es ist die Frage, was das für Veränderungsbestrebungen bedeutet und wie sich die Mathematikdidaktik dazu stellen soll. Abstract: Structural approaches to the profession of teachers stress analyses of professional practices. My contribution is about practices of mathematics teachers in contexts aiming at new ways of mathe- matics teaching. The analysis shows that innovations really take place yet are limited by basic views and routines. These findings are up to discussion with respect to reform endeavours; mathematics educators might value them differently. 1 Zur Einordnung der Arbeit - professionstheoreti- sehe Perspektiven auf den Lehrerberuf Die Frage nach der Professionalität der pädagogischen Berufe und der des Lehrerberufs im besonderen lässt zwei grundsätzlich verschiedene Antwortversuche erkennen (vgl. dazu Dewe/FerchofflRadtke 1992a). 1.1 Die Suche nach der Professionalität der Lehrerin Das "indikatorische" Vorgehen (ibid, S. 12ft) hält Ausschau nach Anzeichen der klassi- schen Professionen im pädagogischen Bereich. Als diese gelten gemeinhin die Berufs- gruppen der Ärzte, Juristen und Geistlichen. Nach Stichweh (1992) resultiert dies daraus, dass als Professionen ursprünglich jene Berufe ausgezeichnet wurden, deren wissens- mässiger Bezugspunkt die Fakultäten der spätmittelalterlichen und frühmodemen Uni- versitäten waren - und diese Fakultäten waren Medizin, Recht und Theologie. Als einen tieferliegenden Grund identifiziert er die hohe gesellschaftliche Bedeutung der damit verbundenden sachlichen Thematiken: das Verhältnis zum eigenen Leib, zu den anderen 1 Da (auch) das simultane Anführen des männlichen und weiblichen Genus ("Lehrer/-innen", "Schülerinnen und Schüler" etc.) zur Konstitution der Welt als zweigeschlechtliche beiträgt, wähle ich hier den neutralisierenden Weg des willkürlichen Wechsels zwischen beiden For- men. (JMD 25 (2004) H. 2, S. 87-111)

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Helga Jungwirth

Veränderung und Reproduktion des Gewöhnlichen: Lehrerpraktiken in Neuerungskontexten

Zusammenfassung:

Aus der strukturtheoretischen Perspektive auf die Lehrerprofession ist die Analyse von Praktiken zur Bewältigung beruflicher Situationen von besonderem Interesse. In meinem Beitrag befasse ich mich mit Praktiken von Mathematiklehrerinnen, 1 die in verschiedenen, auf Veränderung des Ma­thematikunterrichts gerichteten Zusammenhängen beobachtbar waren. Die Analyse zeigt, dass Neuerungen stattfinden, aber grundlegende Gewohnheiten nicht berühren. Es ist die Frage, was das für Veränderungsbestrebungen bedeutet und wie sich die Mathematikdidaktik dazu stellen soll.

Abstract:

Structural approaches to the profession of teachers stress analyses of professional practices. My contribution is about practices of mathematics teachers in contexts aiming at new ways of mathe­matics teaching. The analysis shows that innovations really take place yet are limited by basic views and routines. These findings are up to discussion with respect to reform endeavours; mathematics educators might value them differently.

1 Zur Einordnung der Arbeit - professionstheoreti­sehe Perspektiven auf den Lehrerberuf

Die Frage nach der Professionalität der pädagogischen Berufe und der des Lehrerberufs im besonderen lässt zwei grundsätzlich verschiedene Antwortversuche erkennen (vgl. dazu Dewe/FerchofflRadtke 1992a).

1.1 Die Suche nach der Professionalität der Lehrerin

Das "indikatorische" Vorgehen (ibid, S. 12ft) hält Ausschau nach Anzeichen der klassi­schen Professionen im pädagogischen Bereich. Als diese gelten gemeinhin die Berufs­gruppen der Ärzte, Juristen und Geistlichen. Nach Stichweh (1992) resultiert dies daraus, dass als Professionen ursprünglich jene Berufe ausgezeichnet wurden, deren wissens­mässiger Bezugspunkt die Fakultäten der spätmittelalterlichen und frühmodemen Uni­versitäten waren - und diese Fakultäten waren Medizin, Recht und Theologie. Als einen tieferliegenden Grund identifiziert er die hohe gesellschaftliche Bedeutung der damit verbundenden sachlichen Thematiken: das Verhältnis zum eigenen Leib, zu den anderen

1 Da (auch) das simultane Anführen des männlichen und weiblichen Genus ("Lehrer/-innen", "Schülerinnen und Schüler" etc.) zur Konstitution der Welt als zweigeschlechtliche beiträgt, wähle ich hier den neutralisierenden Weg des willkürlichen Wechsels zwischen beiden For­men.

(JMD 25 (2004) H. 2, S. 87-111)

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Gesellschaftsmitgliedern und zu Gott. Heutige soziologische Professionstheorien spre­chen allgemeiner von der "Zentralwertbezogenheit" der Professionen (vgl. etwa De­we/Ferchoff/Radtke 1992a), d.h. der Wahrnehmung gesellschaftlich grundlegender Thematiken jenseits ebenfalls wesentlicher alltäglich-privater und alltäglich­ökonomischer Gegebenheiten.

Die Suche nach der Gleichwertigkeit der pädagogischen Berufe mit den anderen Pro­fessionen hat seine Wurzel im standespolitischen Interesse der Erhöhung ihres Status, vor allem des des Lehrerberufs. Am Beginn der Auseinandersetzung wurde denn auch die wissenschaftliche Fundierung der Lehrerinnenarbeit besonders herausgestrichen bzw. die Forderung nach deren Verwissenschaftlichung erhoben, um den Professionalitätsan­spruch Genüge zu tun. Im Fall des Lehrerberufs ist bei diesem Vorgehen eine Engfüh­rung auf die Beschäftigung mit der Frage der Kompetenzen von Lehrerinnen festzustel­len. Sie ist einem psychologischen Zugang zur Professionsthematik geschuldet, der nur das Individuum mit seiner Ausstattung kennt. Der vielverwendete Begriff Kompetenz kann zwar grundsätzlich auch als kollektives Phänomen verstanden werden oder als in­teraktives, zwischen den Menschen zu verortendes (vgl. Jungwirth 1991), doch er wird in der gegenständlichen Diskussion auf das Individuum bezogen und als ein dem Men­schen innewohnendes Merkmal gesehen. Die Kompetenzen des professionellen Lehrers stellen dabei Idealisierungen von empirischen Befunden dar oder werden aus Überle­gungen zu den Tätigkeiten einer Lehrerin abgeleitet. Unübersehbar ist dabei die norma­tive Ausrichtung: Die Charakteristika erscheinen als Anforderungen, die eine Lehrerin erfüllen sollte. So führt etwa Beck (2002) im Rahmen seiner "Debatte um die Professio­nalisierung des Lehrerberufs" eine lange Liste von Fähigkeiten der Kommissionen "Schulpädagogik" der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft an, die Lehr­kräfte zur Bewältigung ihrer Aufgaben besitzen müssen. Bauer (2000, S. 30) fragt: "Gibt es eine Basiskompetenz, über die alle beruflichen Pädagogen verfügen oder verfügen sollten?" (Hervorhebung HJ.), bevor er sich dann dieser widmet. Man könnte darin eine Pädagogisierung der Auseinandersetzung mit pädagogischer Professionalität sehen, d.h. eine gewohnheitsmässige Konstruktion einer Differenz zwischen Gegebenem und Er­strebten, die auch dem Bildungsbegriff in der deutschen Geistesgeschichte eigen ist (vgl. Ehrenspeck/Rustemeyer 1996). Professionalisierung wird in dem Strang der Auseinan­dersetzung entsprechend zu einem Prozess der Entwicklung der einzelnen Lehrer in Richtung auf gewünschte Eigenschaften.

Auch die mathematikdidaktische Diskussion über Professionalität greift bzw. griff jedenfalls den normativ-kompetenzorientierten Zugang auf. Es ist m.E. bezeichnend, dass im International Handbook of Mathematics Education 1996 auf den Begriff der Pro­fessionalität bzw. Professionalisierung explizit nur im Abschnitt über Lehrerbildung Be­zug genommen wird - also in einem Kontext, in dem erstens die berufliche Entwicklung von Lehrerinnen und zweitens ein präskriptiver Zugang zum Gegenstand einen besonde­ren Stellenwert hat. Der erste Artikel dieses Abschnitts von BoerolDapueto/Parenti etwa konzentriert sich eindeutig auf auszubildende Kompetenzen ("The teacher must become more and more competent in mathematics" etc., ibid, S. 1099ff), und in den beiden Fol­geartikeln zumindest werden auch (zukünftig) wichtige Merkmale von Lehrerinnen an­visiert (z.B. teachers as researchers). Auch viele andere Arbeiten greifen das Thema Pro­fessionalität in Form der Beschäftigung mit der Ausbildung von Kompetenzen auf (vgl. etwa diverse Beiträge im Journal of Mathematics Teacher Education), stellen Program­me vor, identifizieren Bedingungen für Erfolg und beschreiben beobachtete Entwicklun­gen in Richtung angestrebter Fähigkeits- oder auch Tätigkeitsprofile (die Fähigkeiten

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brauchen ja auch eine Ebene, auf der sie sich zeigen können). Erst in den letzten Jahren bahnt sich in der Mathematikdidaktik eine gewisse Änderung im Zugang an. Er lässt zwar weiterhin eine Diskussion allgemeiner professions theoretischer Überlegungen vermissen, und der Zugang bleibt auch vorwiegend normativ, was vor allem in der Dar­stellung von Entwicklungsperspektiven zum Ausdruck kommt. Es zeigen sich jedoch Tendenzen einer Verschiebung des Interesses von den Lehrkräften mit ihren Eigen­schaften zur Praxis des Unterrichtens selbst, d.h. weg vom individuellen Subjekt und stattdessen hin zu einer sozialen Entität mit ihren Strukturen: "it is the standard, common practice that must improve ... what is required is a steady, continuing effort to gradually improve the standard ways in which we teach" (StieglerlHiebert 1998, S. 175; vgl. in dem Sinn auch Steinbring 2002).

1.2 Die Suche nach Strukturmomenten der Lehrerinnenar­beit

Die andere Art der Auseinandersetzung mit der Professionalität der pädagogischen Beru­fe kann mit dem Terminus "strukturtheoretisch" gefasst werden (vgl. De­we/Ferchoff/Radtke 1992a). Strukturtheoretische Betrachtungen von Professionen su­chen in ihrer jeweiligen Sprache grundlegende Prinzipien der Arbeit dieser Typen von Berufen sowie für deren Herausbildung darzustellen. In der Professionstheorie der Chi­cagoer Schule der Soziologie (vgl. Hughes 1971, zit. nach Schütze 1992) steht etwa­um·ein Beispiel zu geben - der Gedanke der "Lizenz" der Profession am Beginn der Ü­berlegungen, also die gesellschaftlich legitimierte Erlaubnis, für die Gesamtheit wie für das Individuum wesentliche Thematiken zu "verwalten" und zu "schützen": "Professio­nen nehmen für sich in Anspruch ... ein weites rechtliches, moralisches und intellektuel­les Mandat übertragen bekommen zu haben. Nicht nur machen die professionellen Be­rufspraktiker ... individuell von ihrer Lizenz Gebrauch, Dinge zu tun, die andere nicht tun; darüber hinaus setzen sie kollektiv für sich das Recht voraus, der Gesellschaft zu sagen, was in einem weiten und entscheidenden Bereich ihrer Lebensvollzüge gut und richtig ist" (ibid, S. 141). Diese Sicht impliziert vielleicht deutlicher noch als andere auf der einen Seite eine Autonomie der Professionen gegenüber den anderen gesellschaftli­chen Bereichen und Einrichtungen, und auf der anderen Seite eine besondere Verant­wortung für die Behandlung ihrer Thematiken. Dieser Zugang kann also in besonderem Maße verständlich machen, dass die üblichen Professionsattribute Unabhängigkeit, ins­besondere von staatlichen Instanzen, eine besondere Berufsethik und Selbstkontrolle um­fassen. Ein immer wieder angesprochener Aspekt in den Professionstheorien ist das Ver­hältnis der Professionen zum wissenschaftlichen Wissen. Die Vorstellung einer schlich­ten technologischen Anwendung greift zu kurz, weil der Professionelle stets auch den Einzelfall sehen und ihm gerecht werden muss, was mit dem allgemeinen wissenschaft­lichen Wissen nicht gelingt (vgl. etwa Schütze 1996). Ausserdem wird die mit der An­wendungssicht verbundene Höherwertigkeit der Wissenschaften auch als problematische Bevormundung der Lebenspraxis und der dortigen Kompetenzen gesehen (Oevermann 1978, zit. nach Terhart 1992).

Bezogen auf die pädagogischen Berufe wird nun versucht, Strukturmomente des Er­ziehens in Insitutionen zu einer Eigenlogik des pädagogischen Handeins zu verdichten. Dies bedeutet "eine Abkehr von der bisher favorisierten Normativität und eine Hinwen­dung zu empirischen Untersuchungsstrategien ... mit denen beschrieben werden kann,

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wie unter gegebenen institutionellen Rahmenbedingungen und in einem bestimmten historischen Kontext eine Berufsgruppe mit den komplexen Anforderungen umgeht und welche typischen Handlungsmuster sie zur Bewältigung der beruflichen Situationen aus­gebildet hat" (ibid, S. 16). Gegenstand der Betrachtung werden dabei also Formen des Handeins abgelöst von den einzelnen Ausführenden und deren Ausstattungen, wobei verschiedenen sozialwissenschaftlichen Theorierichtungen gefolgt wird (vgl. etwa den Sammelband von Combe/Helsper 1996). Eine positive Antwort auf die Frage nach dem Professionsstatus der pädagogischen Berufe wird in dem Diskussionsstrang unwichtig. Es werden Gemeinsamkeiten mit den "gesicherten" Professionen rekonstruiert; wie etwa die Zentralwertbezogenheit von Erziehung oder das Verhältnis zum wissenschaftlichen Wissen. Es werden aber auch Differenzen benannt: in Hinblick auf den Lehrerberuf vor allem der besondere Status der Klienten (sie unterliegen der Schulpflicht und sind als Kinder und Jugendliche in einer prinzipiell abhängigen Position gegenüber Erwachse­nen) sowie die Autonomie der Profession (schulische Erziehung ist staatlich organisiert). Allerdings wird dem ersten Argument auch wieder entgegengehalten, dass die peer groups mit ihrer Rückbindung an die Jugendkultur doch auch eine gewisse Eigenstän­digkeit aufweisen (Brunkhorst 1992), und die Problematik der fehlenden Autonomie der Lehrerprofession wird mit dem Argument entschärft, dass in der heutigen Gesellschaft auch die klassischen Professionen mehr oder minder reglementiert werden.

1.3 Zur Präferenz der strukturtheoretischen Perspektive

Meine Arbeit hat die strukturtheoretische Sicht von (pädagogischer) Profession als Hin­tergrund. Ich gehe davon aus, dass der Lehrerberuf bereits heute als Profession gesehen werden kann und befasse mich mit der Bewältigung bestimmter beruflicher Situationen einer Teilgruppe der Profession, nämlich von Mathematiklehrerinnen. Dafür benötige ich zwar nicht eine Strukturtheorie als direkte Basis im Sinn eines Fundaments meiner empirischen Analyse, aber als allgemeine Perspektive erscheint mir die strukturtheoreti­sehe vor allem aus folgenden Gründen besonders geeignet.

In der strukturtheoretischen Perspektive geht es nicht um die einzelnen Lehrkräfte mit ihren angelagerten Kompetenzen; Professionalität wird nicht länger in den Lehrerin­nen verortet. Sie ist ein Phänomen auf der Ebene der professionellen Arbeit wie immer dieses dann im Einzelnen gedacht wird: als Merkmal des Kollektivs, der Berufsgruppe, ohne die damit gegebene Sozialität weiter auszuführen, oder theoretisch ausdifferen­zierter etwa als Ausdruck der Beziehung von Individuum und Handlungsraum wie dies im Konzept der "relationalen Professionalität" geschieht (Jungwirth 2004).

Ein Vorteil des strukturtheoretischen Zugangs liegt somit in der Lösung von der Ka­pazität der einzelnen Professionellen. Insbesondere ist ihr Bewusstsein von ihren Dispo­sitionen, Intentionen und Tätigkeiten keine bestimmende Größe mehr. Es ist also vom Ansatz her möglich, Formen der beruflichen Arbeit ohne Bedachtnahme auf deren Rep­räsentationen bei den Betroffenen zu rekonstruieren. Objektivierte Handlungsstrukturen werden auf diese Weise zugänglich. Ein weiterer - damit verbundener - Vorteil ist, dass die Profession als Begriff nicht entschwindet. Selbst wenn die berufliche Entwicklung zum Thema wird, geschieht dies unter dem Aspekt der Kollektivität, d.h. der gemeinsa­men Biographie auf grund strukturidenter Erfahrungen (vgl. GelIert 2003). Es wird also die Schwierigkeit vermieden, die einzelnen Professionellen auf irgendeine Weise nach­träglich gedanklich miteinander in einen Zusammenhang bringen zu müssen, der erfor­derlich ist, um Aussagen über das Gesamte, die Profession, machen zu können.

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Ein dritter Grund für die Präferenz des strukturtheoretischen Ansatzes liegt in der damit gewonnenen Ausblendung des Normativen: der Aufstellung von Normen für das Lehrerinnensein bzw. der Suche nach deren Erfüllung. Dies lässt einen umfassenderen Einblick in die Professionalität von Mathematiklehrkräften erhoffen, da Phänomene in ihrer Eigenlogik besser zur Geltung gebracht werden können, wenn kein derartiger Such­raster vorgegeben ist. (Eine Diskussion unter normativen Aspekten kann immer noch nachgeholt werden.) Für die Profession mag die gewählte Perspektive zu einer Entspan­nung ihres Verhältnisses zu ihrer Arbeit beitragen, das durch die Präsentation diverser Kataloge von Anforderungen an ihre beruflichen Kompetenzen und Aufgaben oftmals belastet wird; ja sie mag gleichsam deren Professionalität befOrdem als sie den Zugriff von aussen ein Stück weit zurücknimmt. Zur Untermauerung meiner Hoffnungen möchte ich die Fruchtbarkeit der interpretativen Analyse von Mathematikunterricht an­führen wie sie von Bauersfeld, Krummheuer und Voigt begonnen wurde. Die Rekon­struktion von Deutungsgewohnheiten, Handlungspraktiken und Mustern der Entwick­lung mathematischen Wissens jenseits pädagogischer Wertungen hat den body of knowledge der Mathematikdidaktik über Unterricht wesentlich bereichert und ausdiffe­renziert und vermittelt über entsprechende Veranstaltungen im Rahmen der Lehrerbil­dung auch Mathematiklehrerinnen eine neue, pragmatischere Sicht auf (ihren) Unter­richt.

2 Forschungsinteresse und begrifflich-theoretische Fassung des Gegenstands: Soziale Praktiken

In meiner Arbeit wende ich mich der Ebene des professionellen Handeins von Mathe­matiklehrkräften zu. Mein Interesse gilt der Art und Weise, wie Lehrer agieren, wenn sie darangehen, ihren Unterricht zu verändern. Wie handhaben sie dieses Anliegen der Neu­erung? Der Ausdruck "Neuerung" rekurriert dabei auf die Binnenperspektive der Lehre­rinnen. Ob bzw. inwieweit es sich auch gemessen an einem äusseren Anspruch um Ver­änderungen handelt, bleibt offen.

Ich fasse die Handhabung der Veränderungsversuche mit dem Begriff der "sozialen Praktiken" (Hörning 1999). Damit erfolgt eine spezifische theoretische Zuspitzung des Untersuchungsgegenstandes, die der allgemeinen Zuwendung der strukturtheoretischen Professionsforschung zur Handlungspraxis in der Profession entspricht. Der Begriff ent­stammt der Diskussion über die Bedeutung der Cultural Studies für die Soziologie, oder etwas allgemeiner: der über das Verhältnis von Kulturtheorie und Soziologie (vgl. Hör­ning/Winter 1999), und markiert ein verbindendes Element. In Praktiken manifestiert sich auch Kultur, nicht bloß im schöngeistigen Überbau einer Gesellschaft oder in Welt­bildern und gros sen Diskursen. Praktiken umfassen Sprechen und Handeln, verwenden also explizites Wissen, rekurrieren aber auch auf "ein anderes - mehr performatives, kontextuelles und eingelebtes -, dabei nicht weniger soziales Handlungswissen" (Hör­ning 1999, S. 95; Hervorhebung im Original). Die hier zu Tage tretende Annahme eines nichtartikulierbaren, überindividuellen Wissens und somit eines Könnens, das zumindest nicht ohne weiteres begründbar ist, hat sich nicht nur für das Verständnis professionellen Tuns im allgemeinen (vgl. Schöns Ausführungen über den "Reflective Practitioner" 1991), sondern im speziellen für das der Lehrerinnen (vgl. etwa Bromme 1992) als er­hellend erwiesen. Der Begriff erlaubt also, ins Handeln eingelassene Wissensbestände

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und Sichtweisen mit anzusprechen und somit der Bedeutung von Objekten des Handeins Raum zu geben.

Der Terminus "sozial" deutet darauf hin, dass Praktiken grundsätzlich an einem Ge­genüber orientiert sind, wobei aber offen ist, ob diese Orientierung einseitig ist oder auf Gegenseitigkeit beruht, ob sie einen unmittelbaren Bezug auf den Anderen meint oder nur eine mittelbare Ausrichtung (vgl. Knoblauch 1994, S. 53). Praktiken verbinden je­denfalls Individuen und Kollektiv. Denn sie werden gedacht als "Komplex von Hand­lungssträngen und Prozeduren" (ibid, S. 96) und als "fortlaufende Handlungsmuster" (i­bid, S. 95). Damit kommt zum Ausdruck, dass sie sowohl autonome Handlungen bzw. Handlungsketten unfassen können, die einem Einzelnen zuordenbar sind, als auch Gefu­ge, die sich aus Handlungen mehrerer Menschen zusammensetzen und soziale Entitäten darstellen, die gleichsam in einem Zwischenraum zwischen Menschen, in einer Sphäre des Sozialen, existieren. Wenn der Mensch realistisch erweise als eingebunden in vielfäl­tige Kommunikationen angesehen wird, werden fortlaufende Muster jedenfalls gemein­schaftlich konstituiert. Praktiken umfassen also auch kommunikatives Handeln, das ein direktes Gegenüber hat, das Handeln mit Handeln beantwortet. "Soziale Praktiken wei­sen als soziales Phänomen über die einzelnen Handelnden sowie die spezielle Situation, in der die Praktiken ins Spiel gebracht werden, hinaus" (ibid, S. 95), schreibt Hörning weiter. Das bedeutet auf der einen Seite, dass sie mit den einzelnen Handelnden und de­ren Situationen zu tun haben. Sie realisieren sich dadurch, dass konkrete Handelnde in konkreten Situationen Bestimmtes tun (isoliert oder interaktiv verbunden). Auf der ande­ren Seite werden damit aber Praktiken als etablierter Bestand eines Kollektivs ausgewie­sen, der ihm als Ganzes zugehört, und in bestimmten Grenzen überzeitlich und übersitu­ativ ist. Mit dieser doppelten Zuschreibung werden die Perspektiven auf das Individuum und die Gesamtheit miteinander verklammert. Der Praktikenbegriff bietet somit die Möglichkeit einer Fokussierung aufbeide.

Dieser Doppelcharakter stellt eine Gemeinsamkeit mit dem Routinenbegriff dar (vgl. zum Überblick Schlöglmann 2003): Auch Routinen werden - wenn sie auch dann im einzelnen unterschiedlich verstanden werden - auf der einen Seite dem Individuum zu­geordnet und auf der anderen Seite einem sozialen Korpus. In der Organisationstheorie wird eine Routine "considered as a regular and predictible behavioral pattern of firms that is part of the recursive process that constitutes an organisation" (Cohen et al. 1995; zit. nach Schlöglmann 2003). Der Doppelcharakter hat sich in dem Zusammenhang for­schungs- und theoriestrategisch als wertvoll erwiesen, da bestimmte Phänomene, wie etwa die Rationalität des Handeins in einer Firma gleichsam von beiden Enden aus an­gegangen werden können.

Inhaltlich gesehen berühren sich Praktiken und Routinen ebenfalls. Auch Praktiken können einen Anteil an festgefügten, repetitiven Repertoires haben; sie sind aber nicht völlig starr, sondern stehen in der Spannung von Verfestigung und Auflösung: "Prakti­ken sind Anwendungen von bereits bestehenden Möglichkeiten, sind wiederholendes Entfalten, sind immer wieder Neuaneignungen von bereits Vorhandenem. Aber zur glei­chen Zeit müssen Praktiken auch als produktiv angesehen werden, als In-Gang-Setzen von Neuem, als kreative Fortsetzung, als unkonventionelle Hervorbringung von Ver­trautem" (Hörning 1999, S. 96).

In meiner Sicht ist also nun die Lehrerprofession auf der Handlungsebene gekenn­zeichnet durch diverse Praktiken, die sich auf die verschiedenen Bereiche der Lehrerin­nenarbeit beziehen: "Praktiken bringen das soziale Leben in einen gegliederten und fur die Teilnehmer einsichtigen Zusammenhang" (ibid, S. 97). Nach welchen Gesichts-

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punkten dabei gegliedert wird, ist letztlich eine Frage der Empirie. Oft reproduzierte Einteilungen und Ordnungen erscheinen als äussere Gegebenheiten. So könnte man bei­spielsweise von Praktiken der Elternarbeit sprechen oder von Praktiken der Schulent­wicklung oder eben von Praktiken des Unterrichtens, als deren eine Ausprägung der be­kannte fragend-entwickelnde Unterricht zu nennen wäre.

3 Methodologie und Methodik: der ethnographische Ansatz

Zugang zu den Praktiken finde ich über die "hemdsärmelige" (Honer 1993, S. 241) sozi­alwissenschaftliche Untersuchungsmethode wie dort das ethnographische Vorgehen be­zeichnet wird. Für die Ethnographie (vgl. dazu insbesondere Amann/Hirschauer 1997) ist die (zeitweilige) Kopräsenz von Beforschten und Forschenden konstitutiv. Diese rea­lisiert sich in der teilnehmenden Beobachtung des Geschehens durch Letztere. In ihrem Verlauf können dann auch verschiedene besondere Verfahren zum Einsatz kommen wie schriftliche Befragungen, Interviews, video- oder audiogestützte Beobachtung; auch die Auswertung von Statistiken oder sonstigen Texten über Feldgegebenheiten ist möglich. Wesentlich bleibt allerdings der Zugang zu den gelebten Praxen, zu den im Handeln der Beforschten eingelassenen Deutungen der Gegebenheiten. Es gilt, "eben nicht nur die Selbstbeschreibungen, d.h. die Interpretationen, Meinungen und kognitiven Wissensbe­stände der Teilnehmer zu erheben, sondern die (präreflexiven) 'Selbstformulierungen' ihrer Praxis" (ibid, S. 23ft).

Der für die Ethnographie charakteristische Erkenntnisstil ist der des "Entdeckens". Ursprünglich bezogen auf das Leben in fremden Ethnien wurde "die Entdeckung des Fremden ... zur Heuristik subkultureller Felder in westlichen Gesellschaften" (ibid, S. 9). Die Befremdung des Gegenstands ist der interpretativen Forschung mit ihren Verfahren der extensiven Interpretation der Dokumente, die möglichst vielfältige Lesarten zu gene­rieren versucht (vgl. etwa BeckiMaier 1994), immer schon Grundlage des Erkenntnis­gewinns. Hier kommt nun dazu, dass die Forscherin dieses Prinzip auch auf Daten an­wendet, die ihrer alltäglichen Kommunikation mit den Beforschten entstammen. Zu be­denken ist dabei, dass die Datengewinnung selbst schon ein selektives und interpretati­ves Unternehmen ist. Zum Teil wird die damit potentiell gegebene Willkür durch die Bezugnahme von Daten aufeinander und deren gegenseitige Kontrolle aufgehoben. Aus­gangspunkt - und somit Grundargument gegen die Willkür des Ergebnisses - ist aber, daß jedes Feld eine ihm eigene Logik aufweist und daß "in der schrittweisen Positionie­rung und 'Eichung' der Ethnographin im Feld diese Sozio-Logik handhabbar gemacht und als empirisches Wissen mobilisiert werden kann" (ibid, S. 20; Hervorhebung im O­riginal). Methodologisch gesehen bietet die Grounded Theory (Glaser/Strauss 1967) ein geeignetes Fundament, die ja selbst im Zuge von, wenn auch nicht als ethnographisch gesehenen, Feldforschungen entstand. Die eigentliche Interpretation erfolgt aber beim ethnographischen Arbeiten nicht in der kleinschrittigen Sequenzanalyse, wie sie etwa in der Mathematikdidaktik bei Unterrichtsprotokollen aus dem Interesse an der Rekon­struktion von Feinstrukturen kommunikativer Handlungen praktiziert wird. Das ist nicht bloß durch die Fülle und Vielfalt der Daten in der Ethnographie bedingt, sondern auch durch das Vorliegen längerer und auch zwischenzeitlich unterbrochener Handlungsket­ten oder Kommunikationen, die aber doch als Sinneinheiten zu sehen sind. Dazu kommt

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noch, dass einzelne Teile dieser Handlungsketten auch verschiedenen Datenkörpern ent­stammen können. Ein Aufzeigen der Grenzen der kleinschrittigen Interpretationsweise kommt allerdings keineswegs nur aus der ethnographischen Ecke interpretativer For­schung (Schneider 1994).

Die Daten, die die Grundlage meiner Ausführungen bilden, stammen aus meiner Ar­beit mit Mathematiklehrkräften in verschiedenen Zusammenhängen. Gemeinsam ist die­sen das Anliegen der Veränderung des Mathematikunterrichts in Richtung mehr und hö­herer Bildungsqualität (etwa im Sinn von Heymann 1996), und zwar mehr oder minder stark orientiert an den Interessen und Fragestellungen der Lehrer. Dazu zählen punktu­elle Fortbildungsveranstaltungen oder auch Seminarfolgen, in denen sie Möglichkeiten der Analyse von Unterricht und der fachdidaktischen Ausdeutung von Schülerarbeiten erproben und/oder Ansätze zur Innovation von Unterricht zumindest teilweise für ihren Fall ausarbeiten konnten. Ein besonders datenreicher Kontext ist der von mir verant­wortete Mathematikbereich des Schwerpunkts "Lehr- und Lernprozesse" des österreichi­schen Bildungsprojekts IMST2 ("Innovations in Mathematics, Science and Technology Teaching"; vgl. Jungwirth 2002, zum Projekt insgesamt KrainerlDörfler/Jungwirth/ KühneltlRauch/Stern 2002). Ich greife also zurück auf Memos von diversen Gesprächen mit Lehrerinnen bzw. von der Beobachtung ihrer Gespräche untereinander, auf mündli­che und schriftliche Veranstaltungsrückmeldungen sowie im Fall des Kontextes "Lehr­und Lernprozesse" auch auf e-mail-Korrespondenzen, Telefonatsnotizen, einzelne Inter­views und Videoaufzeichnungen von Unterrichtsstunden und, soweit vorhanden, auf schriftliche Darstellungen ihrer Neuerungsversuche seitens der Lehrer. Die Fülle des empirischen Materials findet wie in ethnographischen Arbeiten üblich Eingang in die Darstellung in Form zusammenfassender Beschreibungen; Originalzitate sind nicht der Ausgangspunkt für deren Entwicklung vor den Leserinnen, sondern haben nur illustrie­renden Charakter.

Wie sich zeigen wird, kommt in meinen Ausführungen mitunter auch mein eigenes Handeln vor. Das ist unvermeidlich, als Praktiken ja auch Interaktionen umfassen kön­nen, und ich mit den Lehrern zeitweilig in direktem Kontakt stand. Ich blicke aber von aussen auf mein Handeln und stelle keinen Bezug zu situativen Intentionen oder über­greifenden Vorstellungen von einer auf Unterrichtsveränderung gerichteten Arbeit mit Lehrkräften meinerseits her. In der vorliegenden Darstellung mit ihrem Fokus auf soziale Praktiken geht es nicht darum, was ich wollte, ob ich das erreicht habe, was ich wollte bzw. wenn nicht, wie ich hätte anders agieren sollen, genausowenig wie bei den Lehre­rinnen deren subjektiv präsente Ausgangspunkte der Gegenstand sind. Soziale Praktiken sind Konfigurationen im Tun, die von den einzelnen Handelnden nicht unbedingt über­blickt werden, ja sich sogar gleichsam hinter ihrem Rücken verwirklichen können.

4 Die beobachteten Praktiken

4.1 Praktiken der Konzipierung von Unterricht

Eine Komponente in den Planungsaktivitäten sind vorbereitende Handlungen, die auf die spätere Interaktion mit den Klienten - sprich: den Unterricht - gerichtet sind. Einen be­sonderen Umfang nehmen sie an, wenn eine auf der methodisch-didaktischen Ebene vom sonstigen Mathematikunterricht deutlich abgehobene Art des Unterrichts stattfinden soll. Ansonsten bleibt die Unterrichtsvorbereitung in dem in der Literatur dokumentier-

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ten Rahmen; die diesbezüglichen Praktiken der Profession werden reproduziert. Es zeigt sich aber auch, dass in einer Hinsicht zumindest die Vorbereitungen des "besonderen" Unterrichts die etablierten Praktiken fortschreiben: Bezugspunkt ist, was in der Klasse von der Lehrerin bzw. den Schülern getan werden soll wie das etwa schon Bromme (1986) aufgewiesen hat. Das Geschehen, das für die Neuerung besonders wichtig ist, wird von den Lehrern antizipiert. Beispielsweise schildert eine Lehrerin, die ein Vermes­sungsprojekt durchführen möchte, wie sie sich die Praxisphase vorstellt. Der gewohn­heitsmässige Charakter der Orientierung am "Machen" kommt dann besonders deutlich zum Ausdruck, wenn vorausgehende Handlungen einen anderen Fokus erwarten lassen. So äussert eine Lehrerin, dass sie der Umgang mit dem Computer beim Aufgabenlösen interessiert, detailliert aber dann nicht dieses Interesse, sondern schwenkt darauf um, dass sie von den Schülern bei der Arbeit eine gewisse Form der Excelblätter verlangt, dass sie immer auf bestimmte Parameter Bezug nehmen sollen etc.

Im allgemeinen richten sich die Vorbereitungen zu Beginn auf die gros sen Linien des Tuns. Es sind also nicht gleich die einzelnen Aufgaben, die ansonsten Gegenstand der Planungsaktivitäten sind. Für besondere Formen des Unterrichtens muss zunächst der äussere Rahmen geklärt werden; d.h. wann die Bedingungen im schulischen lahresablauf solche Unternehmen zulassen bzw. begünstigen. Wenn spezielle Lernformen praktiziert werden, die eine vorgängige, sozial-organisatorische Sicherung erfordern, weil sie dann im Vollzug viel auf Eigentätigkeit der Schülerinnen setzen, richten sich die Handlungen der Lehrer verstärkt auch auf den Aspekt der Präsentation der mathematischen Themen wie auf die Erstellung von Arbeitsblättern. Darin kommt allerdings dann der bekannter­maßen grosse Stellenwert der Aufgaben wieder zum Tragen - es geht darum, passende Aufgaben zu formulieren.

Lehr- und Lernziele hingegen haben in den Praktiken der Vorbereitung von unter­richtlichen Neuerungsversuchen keine prominente Rolle. Dass sie in Routinevorberei­tungen nur im Hintergrund mitschwingen ist bekannt, doch auch im Zusammenhang mit Neuerungen ist es kaum anders. Wenn man davon ausgeht, dass sich dort die Frage nach dem Sinn und Zweck der Arbeit ganz besonders stellen müsste, da sie ja den gewohnten Gang der Dinge unterbricht und auch einen Mehraufwand bedeutet, der sich lohnen sollte, ist das überraschend. So bleiben Ziele etwa in Konzipierungsrunden auf Semina­ren, in denen die Lehrkräfte ihre Vorhaben vorstellen, wenig explizierte Planungsele­mente. Ein Teil der Lehrerinnen kommt in pauschalisierender Form (z.B. "möchte das Interesse an Technischem fördern") auf sie zu sprechen, nachdem bereits das Vorhaben auf der Aktivitätenebene umrissen wurde, ein anderer Teil geht gar nicht darauf ein.

Ein neues oder jedenfalls nun forciertes Element in den Praktiken ist die Einbindung von Expertenwissen. Lehrkräfte, insbesondere im Kontext des Schwerpunkts "Lehr- und Lernprozesse", suchen in einem weiteren Kreis als sonst nach Material, das sie für ihren Unterricht nutzen können. Das Schulbuch ist nicht der alleinige Bezugspunkt. Sie re­cherchieren im Internet, kontaktieren Personen oder Einrichtungen, die ihnen ansprech­bar erscheinen oder empfohlen wurden, suchen Bibliotheken auf oder erwerben ein­schlägige Literatur. Die Suche gilt in erster Linie passenden Aufgaben für den anderen Unterricht oder auch ganzen Unterrichtsreihen, die eine Orientierung bieten. Doch auch fachliche Informationen abseits der methodisch-didaktischen Ebene sind gefragt. Bei­spielsweise legt sich ein Lehrer ein Excel-Handbuch zu, um auch für die Feinheiten der Excel-Anwendung gewappnet zu sein. Die Lehrer werden also in den Richtungen aktiv, die sie aus ihrer Sicht mit ihrem Wissensstand und Erfahrungsschatz nicht ausreichend bedienen können. Die Mathematik selbst betrifft das den Beobachtungen zufolge nicht.

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Ich habe den Status einer Vermittlerin von Materialien oder Bezugsquellen. Speziell auf punktuellen Veranstaltungen wird direkt im Unterricht Einsetzbares moniert. Zu ei­ner Diskussion zwischen den Lehrerinnen und mir über Materialien kommt es, auch wenn es organisatorisch machbar ist, nicht. Das gilt überhaupt für die gesamte Unter­richtsvorbereitung. Es wäre z.B. möglich, über fachdidaktische Charakteristika von Zu­gängen zu Themen vor dem Hintergrund des geplanten Vorhabens zu sprechen (z.B. was leisten verschiedene Einführungen von Folgen, wenn dabei Excel verwendet werden soll), oder mich nach der fachdidaktischen Einschätzung von anvisierten Aufgaben zu fragen, doch Derartiges geschieht nicht. Ich dränge mich nicht auf, aber Nachfragen meinerseits bleiben auch unbeantwortet. So sind etwa in einem facherübergreifenden Anwendungsprojekt nach der ersten Konzipierungsrunde die Fächer und damit auch die mathematischen Gebiete offen, da diese ja in den Fächern Relevanz besitzen müssen. Da ich eine mathematisch ergiebige Auswahl für wesentlich halte, frage ich nach und deute an ("Auswahlkriterien gibt es natürlich viele"), dass es sich um eine diskutierenswerte Angelegenheit handelt. Doch eine Diskussion kommt nicht zustande, ich erfahre von der Entscheidung später. Die Vorbereitung ist offensichtlich Lehrergeschäft und fallt zur Gänze in ihren Zuständigkeitsbereich.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass unterrichtsrelevante Vorbereitungs­praktiken eine Ausweitung erfahren. Mit den Metaphern von Levi-Strauss (1991) ausge­drückt wird der Lehrer in Neuerungskontexten zum "Ingenieur", während er sonst ein "Bastler" ist. Auch der Ingenieur kann nicht alles einbeziehen, aber er sucht das Gege­bene zu überschreiten: "Man könnte versucht sein zu sagen, der Ingenieur befrage das Universum" (ibid, S. 32). Für den Bastler hingegen gilt: " ... die Welt seiner Mittel ist be­grenzt, und die Regel seines Spiels besteht immer darin, jederzeit mit dem, was zur Hand ist auszukommen" (ibid, S. 30).

4.2 Praktiken der Konzipierung von Aktionsforschung

Im Rahmen des Programms "Lehr- und Lernprozesse" sowie in einzelnen Seminaren werden auch Aktionsforschungstätigkeiten geplant. Aktionsforschung bedeutet, dass Lehrkräfte Daten zu ihrem Unterricht sammeln, um damit Erkenntnisse über sie interes­sierende Aspekte zu gewinnen und das Wissen der Profession von innen zu bereichern (vgl. Altrichter 1990). Die Praktiken der Vorbereitung in der Lehrerprofession bekom­men damit zwar nicht unbedingt einen gänzlich neuen Strang an Aktivitäten dazu, doch erfahrt er nun eine Betonung. Für die Mehrzahl der Lehrkräfte sind diese Aktivitäten subjektiv neu. Thematisch relevant werden in dem Zusammenhang die Methoden, mit­tels derer die Lehrerinnen zu Daten kommen möchten. Sie geben an, welche Verfahren sie einzusetzen gedenken: "Schülerinterviews" heisst es etwa, oder "SchülerInnenbefra­gungen", "Beobachtungen durch Kollegen", "Forschungstagebuch", "Videoanalysen", "Tonbandaufzeichungen", "Stundenprotokolle von Schülern"; verwendet werden auch Arbeiten der Schülerinnen wie Hausübungen oder Referate.

Die interessierenden Fragestellungen spielen eine völlig untergeordnete Rolle; ent­weder wird gar nicht darauf eingegangen werden oder das Interesse wird nur global for­muliert. So beginnt etwa eine Gruppe von Lehrkräften auf einem Seminar gleich mit der Formulierung der einzelnen Fragen für einen Schülerfragebogen, mit dem sie Rückmel­dungen zum Unterricht einholen möchte, ohne vorher explizit zu klären, auf welche As­pekte sich diese beziehen sollen. Methoden decken das Interesse auch nur ungefahr ab. Beispielsweise hat eine Lehrerin den Eindruck, dass durch den Computereinsatz die

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Schüler weniger bereit sind, sich intensiv mit der Mathematik selbst auseinanderzuset­zen, nennt dies auch als einen sie interessierenden Punkt und spricht dann lapidar von "Befragungen von Schülerinnen und Schülern, die bereits länger mit dem TI-92 arbei­ten", die sie durchfuhren möchte. Bei der Konzipierung der Aktionsforschung wird also auch das thematisiert, was getan werden soll, wobei sogar die Tendenz besteht, sich auf die grossen Linien zu beschränken. Die Antizipation der Betrachtung des Unterrichts fo­kussiert wieder auf das zu Machende wie schon die Antizipation des Unterrichts selbst. Diese Gewohnheit wird auch auf den neuen oder zumindest nicht geläufigen Arbeitsbe­reich ausgeweitet.

Auch im Aktionsforschungszusammenhang kommt es zur Einbindung von Exper­tenwissen. In dem Fall ist meine Expertise gefragt. Im Gegensatz zur Unterrichtsvorbe­reitung ergeben sich Kommunikationen zwischen den Lehrerinnen und mir über Akti­onsforschungsfragen. Zum einen resultieren diese aus direkten Fragen an mich: "Falls Du Vorschläge zum Fragebogen hast, wäre ich Dir sehr dankbar", heisst es etwa; oder eine Lehrerin, der ich fiir ihren Fall concept mapping vorschlage, wünscht dann eine ge­naue Anleitung, woraus sich ein von mir begleiteter Probe galopp entwickelt. Zum ande­ren etabliere auch ich die Aktionsforschung als Thema, indem ich auf diesbezügliche Vorhabensskizzen der Lehrer mit Problematisierungen bzw. Ausdifferenzierungen rea­giere. Immer wiederkehrender Gegenstand sind dabei die aus meiner Sicht fehlenden Untersuchungsfragen. Die Resonanz bleibt dabei auch aus wie etwa im Fall der erwähn­ten Lehrergruppe. Ebenso schlage ich auch direkte Beobachtungen zumindest von Drit­ten, aber besser in Form von Tonband- oder Videoaufnahmen, vor, um Material fur ge­nauere Analysen der interaktiven Generierung von Wissen zu haben. Meine Anregungen haben aber immer nur Vorschlagscharakter; ich entscheide nicht über die Gestaltung der Aktionsforschung.

In einigen Fällen im Kontext "Lehr- und Lernprozesse" nimmt die Einbeziehung des Expertenwissens die Form meiner direkten Einbindung an. Ich übernehme selbst Unter­suchungsaufgaben verbunden mit einem Analyseangebot; konzipiere also Befragungen von Schülerinnen oder nehme bei vier Lehrkräften Unterrichsstunden auf Video auf. Diese Delegation bedeutet auf der einen Seite die Reproduktion der Trennung von Wis­senschaft und Schulpraxis: Beide erledigen, was ihre angestammten Aufgaben sind. Auf der anderen Seite eröffnet sie die Möglichkeit, einen Aspekt gleichzeitig aus wissen­schaftlicher Sicht und aus Lehrersicht parallel zu behandeln, da ich meine Daten auch den Lehrerinnen zur Verfugung stelle.

4.3 Praktiken des Unterrichtens

Die Durchfuhrung der Vorhaben muss in die sonstige schulische Arbeit eingepasst wer­den. Auch wenn die Rahmenbedingungen bereits bei der Konzipierung bedacht werden, kann es im Vollzug zu Divergenzen zwischen den Neuerungsanliegen und den schuli­schen Umständen kommen, die in irgendeiner Weise bewältigt werden müssen. Diese Praktiken können als "Sich Anpassen an die Gegebenheiten" qualifiziert werden (vgl. dazu auch Jungwirth 2003): das normale schulische Leben geht im Zweifelsfall vor.

Die Praktiken des Unterrichtens lassen verschiedene Formen erkennen, die in beson­derem Maß auf selbständiges (ohne ständige Interventionen des Lehrers) oder auch selbstbestimmtes (die Auswahl bzw. die Reihenfolge der Aufgaben betreffendes) Arbei­ten der Schülerinnen setzen. Offenes Lernen, Stationenbetrieb, Gruppenunterricht, Schülerreferate mit Präsentation, Lernen in (ausserschulischen) Praxiskontexten, an-

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satzweise auch das neosokratische Gespräch (Loska 1995) werden durchgeführt. Das Anliegen, einem "Neuen Lernen" (vgl. etwa Heuvel-Panhuizen 2003) Geltung zu ver­schaffen, ist hier sehr präsent. Die Mathematik hat dabei unterschiedlichen Stellenwert. Zum einen ist die Erwartung eines besonderen mathematischen Gewinns ausschlagge­bend für das Praktizieren neuer Lernformen: So soll etwa Schülerinnen ein "breiter Zu­gang" zum Vektorbegriff ermöglicht werden, und dafür erscheint dann ein Stationen­betrieb als Mittel der Wahl. Zum anderen steht die sozial-organisatorische Dimension des Unterrichts im Vordergrund: Die Schüler sollen andere Lernerfahrungen machen; das mathematische Thema ist nachrangig, es hätte auch ein anderes als das behandelte sein können. Ansonsten, eben insbesondere im "normalen" Unterricht, liegt das neue E­lement in der mathematischen Arbeit; so etwa wenn Aufgaben zur Förderung der Meta­kognition (Sjuts 2003) eingesetzt werden, der Computer als Mittel zum Gewinn eines umfassenderen mathematischen Verständnisses verwendet oder ModelIierung an Befun­den aus vorheriger Laborarbeit (Keimwachstum) betrieben wird.

Auf die Praktiken des Unterrichtens soll in der vorliegenden Arbeit allerdings nicht weiter eingegangen werden. Der Grund ist, dass dafür der Begriff Praktiken nicht mehr als theoretisches Beschreibungsmittel ausreicht. Er ist zu grob; Praktiken umfassen zwar Handlungsgefüge, doch für die Analyse von unterrichtlichem Geschehen im Detail ist er nicht mehr geeignet. Dies gilt erst recht dann, wenn - wie ich es tue - die mikrosoziolo­gische Perspektive auf Unterricht präferiert wird, wonach es die Interaktionsprozesse mit den in sie eingelassenen Aushandlungen des Wissens sind, die den Unterricht ausmachen und über die Qualität des Mathematiklernens entscheiden. Deshalb sei an der Stelle nur erwähnt, dass sich - soweit eben die punktuellen Unterrichtsbeobachtungen Auskunft geben - klassische Muster der fragend-entwickelnden Aufgabenbearbeitung auch in Neuerungskontexten wiederholen. Sie lassen sich nicht nur in Klassengesprächen rekon­struieren, sondern auch bei Interventionen von Lehrerinnen in selbständigen Arbeitszu­sammenhängen der Schüler. Ein Abgehen davon ist rar, zwischendurch in einzelnen Stunden rekonstruierbar, dann wieder nicht.

4.4 Praktiken der Aktionsforschung

Sie umfassen wie bereits festgestellt verschiedene Formen von Befragungen und direk­ten Unterrichtsbeobachtungen. Besonderes Schwergewicht liegt auf der Evaluation des Unterrichts, und die geschieht vor allem in der Erhebung seiner Resonanz bei den Schü­lerinnen. Es liegt nahe zu vermuten, dass die Meinungsbefragung den Lehrerinnen als Modell Pate steht: Die (mediale) Präsenz von Meinungsbefragungen gewöhnt generell an die Vorstellung, die Qualität einer Maßnahme bemesse sich immer an den Aussagen der Betroffenen. So gesehen würde die Aktionsforschung nicht nur in Praktiken der Pro­fession eingepasst, sondern rekurrierte auch auf gängige, allgemein-gesellschaftliche Praktiken der Evaluation. Insgesamt zeigt sich eine Präferenz für Befragungen; auch Be­obachtungen werden noch gerne von Befragungen begleitet. Das besondere Interesse an den Vorlieben, Sichtweisen etc. der Schülerinnen kann als Zeichen des Handeins zum Wohle des Klienten, das die Professionen auszeichnet, gewertet werden. Beispielsweise nutzt eine Lehrerin das concept mapping zum genaueren Kennenlernen ihrer Schützlin­ge, d.h. um die einzelnen Schüler dem Denk- und Arbeitsstil nach klassifizieren und nicht, um Denkstrukturen in ihrer Klasse rekonstruieren zu können.

Die Analyse der Daten lässt eine Tendenz zu einem raschen Schließen von Deu­tungsspielräumen erkennen. Zum Teil zielen schon die Fragen auf globale Einschätzun-

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gen der kognitiven bzw. affektiven Qualität des Unterrichts ("Schwierigkeiten" bzw. "Mögen"), doch einfache Erhebungsinstrumente als solche verunmöglichen noch nicht unbedingt differenzierte Auswertungen. Doch die werden dann nicht vorgenommen. Es wird aber auch das interpretative Potential von frei formulierten Antworten nicht ausge­schöpft. Sie werden etwa nach Häufigkeiten gereiht aufgelistet oder sofort kategorisiert ("Vor- und Nachteile der Unterrichts form" z.B.) und so vorgestellt, u.a. auch ohne jegli­chen Kommentar. Die Daten scheinen für sich zu sprechen. Man kann hierin eine Re­produktion der Bewertungspraxis der Profession sehen: Lehrerinnen sind gewohnt und entsprechend versiert darin, Schülerdokumente rasch zu beurteilen und daraus ihre Schlüsse zu ziehen, ohne dafür schriftliche Explikationen der Sinngehalte der Doku­mente zu benötigen. Nicht, dass die Lehrer auf Auslegungen völlig verzichten würden: So werden etwa Gründe für Ergebnisse vorgebracht, die von den Erwartungen abwei­chen wie beispielsweise für eine eher negative Einschätzung einer selbstbestimmten Ar­beitsform (mit dem vorherrschenden Bild vom Mathematiklernen); ein Lehrer versucht, die Bedeutung der Äusserung einer Schülerin über die Mathematik zu erfassen, die ihn beschäftigt hat. Doch insgesamt geschieht eine interpretierende und argumentierende Auseinandersetzung mit den Daten nicht in dem Maß, wie es von aussen betrachtet ge­schehen könnte. Wenn es für die hermeneutische Analyse kennzeichnend ist (Bude 1994), dass sie eine "Nostrifizierung" der Phänomene betreiben muss, weil sie sie zuerst ihrer gewöhnlichen Lesart entkleidet hat, dann lässt sich fUr die Aktionsforschung sagen, dass sie gar nicht zu deren "Ethnologisierung" gekommen ist, sondern die Phänomene immer nur als heimatliche, also vertraute betrachtet. Es fällt beispielsweise auf, dass quantitative Auswertungen die Instrumente der Beschreibenden Statistik nicht wirklich ausnutzen, um etwa Einsichten in mögliche, aber jedenfalls verdeckte Zusammenhänge von Einzelergebnissen zu erhalten; wie z.B. um festzustellen, ob ein von Schülerinnen gewünschter Realitätsbezug ein unmittelbares Anküpfen an eigene Alltagserfahrungen bedeutet oder doch nicht. Es genügt auch das Offensichtliche. Auch Daten der direkten Beobachtung unterliegen dieser zusammenfassend-beschreibenden Behandlung. So lau­tet etwa ein Bericht über eine Gruppenarbeit zur Elementaren Algebra: "Auch hier wur­de in den Gruppen viel diskutiert, vor allem über die Substitution einzelner Buchstaben durch andere. Die Addition der Buchstaben machte in keiner Gruppe ein Problem. Erst in der nächsten Stunde interessierte es ein Mädchen, warum a+a nicht aa ist?"

Insbesondere bedeutet die Schließung von Deutungsspielräumen, dass mathematik­didaktisches Wissen als Interpretationsfolie wenig ins Spiel kommt. Beispielsweise könnte die obige Ansicht die Frage nach dem subjektiven Verständnis der Schülerin aufs Tapet bringen bzw. die allgemeinere, wie algebraische Notationen und Regeln "noch" interpretiert werden können. Doch Derartiges unterbleibt. Ausdeutungen haben, wo sie vorgenommen werden, vorrangig Sozialverhalten zum Gegenstand: dasjenige der Schü­lerinnen - dass sie gut oder nicht gut zusammenarbeiten, einander helfen etc. oder auch das eigene bzw. wenn auf Seminaren Fremdtranskripte analysiert werden, auch das an­derer Lehrer: ob ein Bemühen um alle Schüler vorhanden ist, ein Interesse an ihren Bei­trägen etc.

Feststellbar ist auch eine Bindung der Analysen ans Handeln. Das geschieht zum ei­nen retrospektiv, wenn Ergebnisse mit Handlungsnotwendigkeiten begründet werden; wie etwa von einer Lehrerin angesichts einer nicht thematisierten Fehlinterpretation von Schülern: " ... habe versucht, die Schüler zur richtigen Zeichnung zu führen .,. ich war schon so knapp dran mit der Zeit und wollte mich auf keinen Fall verzetteln". Zum ande­ren geschieht es auch prospektiv, wenn Analysen soweit vorangetrieben bzw. von mir

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verlangt werden, wie es für ein Ziehen von Handlungskonsequenzen erforderlich er­scheint.

Bei der Datenauswertung in selbständigen Aktionsforschungen bin ich dann kaum gefragt. Nur eine Lehrerin korrespondiert mit mir über ihre Art der Datenanalyse; sie verwendet aber auch ein Verfahren (concept mapping), dem eine gewisse Elaboriertheit eigen ist. Ansonsten äussem die Lehrerinnen keine Wünsche zur Unterstützung ihrer Ar­beit, und Angebote bzw. Nachfragen meinerseits werden nicht aufgegriffen. Aber es ist eben auch die Frage, was die Lehrer mit mir besprechen sollten, wenn sie aus ihrer Sicht die Auswertungen ohnedies zweckentsprechend und gekonnt zu erledigen vermögen.

5 Interpretationsfolie: (soziologische) Sichtweisen von Praxis

Im Folgenden versuche ich nun, das übergreifende Merkmal der Praktiken herauszuar­beiten. Eine erste, von ihren je besonderen Tätigkeitsarten mit ihren thematischen Foki absehende Charakterisierung erfolgte schon dadurch, dass sie auf Arbeitsbereiche der Lehrerarbeit bezogen und danach gebündelt wurden. Nun soll der Abstraktionsprozess weiter vorangetrieben und die grundlegende Handlungslogik, die den Praktiken inne­wohnt, aufgezeigt werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sie dem Typus des Alltagshandelns angehören. Alltag meint in dem Zusammenhang nicht eine spezifische Form menschlichen Tuns, die sich durch Eintönigkeit und Fadesse auszeichnen würde. Alltag wird als Sphäre des ganz normalen Seins der Menschen gesehen wie dies in den verschiedenen soziologischen Ansätzen geschieht, die sich mit der Lebenswelt und dem menschlichen Handeln befassen. Was nun die Merkmale dieses basalen Modus des In­der-Weit-Seins sind, stelle ich unter Bezug auf ausgewählte Arbeiten dar. Damit wird dann auch die Beschaffenheit der hier rekonstruierten Praktiken greifbar.

5.1 Die alltägliche Lebenswelt

Schütz/Luckmann (1988) sehen die Lebenswelt der Menschen als gegliedert in verschie­dene, in sich geschlossene Sinngebiete an; d.h. in BereiGhe, in denen die Erfahrungen ei­nen je "besonderen Erlebnis- und Erkenntnisstil auf(weisen)" (ibid, S. 49), also diesbe­züglich einheitlich und untereinander verträglich sind. Wichtige Wirklichkeits bereiche sind verschiedene Phantasiewelten wie die Welt der Dichtung oder des Traumes, die Welt des Religiösen, der Wissenschaft unf des alltäglichen Lebens, die die fundamen­talste Welt, die "Wirklichkeit par excellence" (Berger/Luckmann 1990, S. 24) ist. Schütz/Luckmann unterscheiden verschiedene Bestimmungsstücke des Erlebnis- und Erkenntnisstils, etwa die Form der Sozialität, der Realitätsbegegnung ("Spontanität") o­der den grundsätzlichen Glauben bezüglich der Verfasstheit der Welt ("Epoch6"), der jeweils andere Einstellungen ausser Kraft setzt. Charakteristisch tUr den Alltag ist die Hinnahme der Weltwirklichkeit, die Realitätsbegegnung im Modus des Eingreifens und der dabei praktizierte Bezug der Menschen aufeinander bis hin zur direkten Kommuni­kation. Die besondere Leistung des "kognitiven Stils der Praxis" (Soeffner 1983) ist die Hervorbringung der Normalität. Es wird abgezielt "auf Beseitigung oder Minimierung des Ungewöhnlichen, des Zweifels: Auf problemlose und damit ökonomische Koorien­tierung und Handlung" (ibid, S. 17). Dass dies in der Regel auch rasch und sicher ge-

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lingt, liegt an der Unterstellung einer geteilten Sicht vom Sosein der Welt und somit ei­ner gemeinsam geteilten Welt: "Ich weiß, daß meine natürliche Einstellung zu dieser Welt der natürlichen Einstellung anderer dazu entspricht, daß sie wie ich die Objektiva­tionen erfassen ... Ich weiß selbstverständlich auch, daß die anderen diese gemeinsame Welt aus Perspektiven betrachten, die mit der meinigen nicht identisch sind '" Dennoch - ich weiß, daß ich in einer gemeinsamen Welt mit ihnen lebe" (Berger/Luckmann 1990, S.26).

Das Interesse gilt in der Alltagswelt der Erledigung der Dinge. Es wird im Handeln jenes Wissen mobilisiert, das gerade dafür nötig ist. Das kann wissenschaftlich gene­riertes Wissen sein - ein zunehmend vielfältiges Angebot steht hier zur Verwendung be­reit -, doch im Allgemeinen reicht das alltägliche Rezeptwissen: "Wenn ich zum Beispiel einen Paß brauche, weiß ich, daß ich ihn beantragen und dann eine Weile auf ihn warten muß. Was mich interessiert, ist nur, daß ich meinen Paß nach der Wartezeit bekomme. Ich weiß nicht, wie mein Antrag bearbeitet wird, wer schließlich die Genehmigung er­teilt und wer den Paß mit welchen Stempeln versieht. Ich mache keine Studie über Ver­waltungsbürokratie. Ich möchte nur in den Ferien ins Ausland reisen" (ibid, S. 44). Na­türlich treten für die Handelnden in der Alltagswelt auch Probleme auf. Das bedeutet dann, dass besondere Auslegungsanstrengungen nötig werden, also wissensmäßig weiter ausgegriffen wird und alltägliche Deutungsschemata umgestaltet bzw. um neue Aspekte bereichert werden. Der Prozess findet aber auch wieder seinen Abschluss, wenn die zu­nächst problematischen Elemente die "vom plan-bestimmten Interesse vorgegebene Klarheitsstufe, Vertrautheitsstufe und Widerspruchsfreiheit erreicht haben" (Schütz/Luckmann 1988, S. 150). Solange solch eine Lösung im Alltag gelingt, das Problem also sich nicht etwa als eines des Sinngebiets der Wissenschaft erweist, sind so­gar die Probleme unproblematisch (BergerlLuckmann 1990).

5.2 Denken, Wissen, Handeln im beruflichen Alltag

Auch das berufliche Leben gehört zum Alltag, wenn auch nicht gänzlich als Jedermann­serfahrung, sondern auch als besondere, die nur die jeweiligen Berufsgruppen teilen (i­bid). Nicht nur, aber insbesondere bei professionalisierter Tätigkeit fließt damit auch je spezifisches wissenschaftliches Wissen in den Alltag ein. Dessen Verwendung (vgl. Böhle 2003) ist aber erstens nicht als schlichte Übernahme zu denken, sondern als um­gestaltende Rekontextualisierung und erfordert zweitens auch eine Veränderung des praktischen Handeins selbst in Richtung Planmäßigkeit und Objektivierung im Sinne ei­ner Orientierung an vergegenständlichten Kriterien. Diese Veränderung bereitet erst den Boden für das wissenschaftliche Wissen auf. Feststellbare Hemmnisse der oder Wider­stände gegen eine Verwissenschaftlichung sind auf der Ebene des Handeins zu verorten: Sie sind Zeichen der Grenzen der vorgenommenen Veränderung bzw. überhaupt der grundsätzlichen Veränderbarkeit des alltäglichen beruflichen Handeins. Forschungen im Bereich der personenbezogenen Dienstleistung wie der technischen Produktion führen zu seiner Konzeptualisierung als "subjektivierendes Arbeitshandeln". Der Terminus ist gewählt, "weil zum einen subjektive Faktoren wie Gefühle und Empfindungen nicht ausgegrenzt werden, sondern konstitutive Elemente sind und weil zum anderen die Um­welt, auf die sich das Handeln bezieht, primär in ihrer subjektiv bedeutsamen Relevanz und als bzw. wie ein Subjekt wahrgenommen wird. Nicht Distanz und Trennung, son­dern die Verbindung und die Gemeinsamkeiten mit dem 'Gegenüber' sind dabei die Grundlagen der Generierung von Wissen" (ibid, S. 167). Dieses Erfahrungswissen ist

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eingelassen ins Handeln und nicht davon separierbar. Das hat Konsequenzen für seine Kommunizierbarkeit: Seine Vermittlung braucht den Handlungszusammenhang als Dar­stellungsmedium.

Eng verknüpft mit der Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Handeln ist die nach der Relation von Erkennen und Handeln. Damit befassen sich soziologische Hand­lungstheorien (auch) ohne Bezugnahme auf das Handeln in einzelnen Bereichen. In der Theorie, die Joas (1996, 1999) in Fortführung der Konzepte der Pragmatisten entwickelt, wird Erkennen als Teil des Handeins gesetzt. Es ist die Phase, "durch welche das Han­deln in seinen situativen Kontexten geleitet und umgeleitet wird" (Joas 1996, S. 232). Die Zwecksetzung erfolgt nicht vorab, sondern ist das Ergebnis der Betrachtung immer vorhandener praktischer Strebungen, die sich letztlich der Körperlichkeit des Menschen unhd der dadurch gegebenen Fähigkeit zur Fortbewegung, zur Manipulation von Objek­ten und zur Kommunikation verdanken. Eine solche Betrachtung erfolgt, wenn den Be­strebungen auf grund der situativen Gegebenheiten zu folgen nicht mehr ohne Weiteres möglich ist. In diesem Schritt der (Neu)justierung sieht Joas dann auch das kreative Moment des Handeins.

Um das Besondere dieser Position zu verdeutlichen, sei auch das Modell des ratio­nalen Handeins kurz skizziert. Die Empirie kennt zwar genügend Gegenanzeigen, insbe­sondere aus dem Alltag, doch als grundsätzliche theoretische Position hat es seinen fes­ten Stellenwert. Im Modell des zweckrationalen Handeins legt der Handelnde vorab sinnvolle Zwecke fest, wählt seine Mittel und fasst dann den Entschluss zu handeln; d.h. "daß zunächst im Erkennen der Welt Orientierungen gefunden werden, die dann im Handeln verfolgt werden" (ibid, S. 231; Hervorhebung im Original). Erkennen wird zu "einer kontemplativen Beziehung eines erkennenden Subjekts zu einer Welt der Tatsa­chen" (ibid, S. 231); Ich und Welt, Geist und Körper werden separiert wie es der cartesi­anischen Tradition entspricht.

Der Gedanke der Existenz von Erkennen und Denken im Handeln findet sich auch bei Schön (1991), den ich an der Stelle insofern erwähnen möchte, weil für das Konzept der Aktionsforschung seine Arbeit einen wichtigen Ausgangspunkt bildet. Schön rekon­struiert bei Praktikern verschiedener Berufe "reflection-in-action" als Umgang mit Situ­ationen, deren Bewältigung mit dem gewöhnlichen "knowledge-in-practice" nicht mehr gelingt. In diesen Phasen wird die Handelnde zum "researcher in the practice context. He is not dependent on the categories of established theory and technique, but constructs a new theory of the unique case. His inquiry is not limited to adeliberation about means which depends on a prior agreement about ends. He does not keep means and ends sepa­rate, but defines them interactively as he frames a problematic situation. He does not separate thinking from doing, ratiocinating his way to adecision which he must later convert to action" (ibid, S. 68).

Diesen Modus von Handeln praktizieren auch Lehrkräfte zur Vergegenwärtigung und Rekonzeptualisierung laufenden Verhaltens. Aktionsforschung verlangt aber nun noch mehr bzw. Anderes: Die Lehrerinnen sollen auch "Reflexion-über-die-Handlung" (Alt­richter 1990) betreiben, d.h. Handlungen vollziehen, "bei denen die Reflexion aus dem Handlungsfluß heraustritt, sich von ihm distanziert, ihn vergegenständlicht und sich auf diese vergegenständlichte Form der primären Handlung richtet" (ibid, S. 214). Sie sind also gefordert, Daten zu ihrem Tun, dem Unterricht, zu erheben und diese zu analysie­ren. Das Motiv ist die Anhebung seiner Qualität. Dieser Typ von Lehrerhandlung wird als wesentlicher Bestandteil der Lehrerprofession gesehen, weil erst er eine ausreichende Umstrukturierung der Handlungsgrundlagen in einer kompexen Situation ermöglichen

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und weil zweitens damit Handlungswissen versprachlicht würde, was wiederum als not­wendige Voraussetzung für dessen geforderte Kommunizierbarkeit gilt (Altrichter 1990, vgl. auch Altrichter/Posch 1990).

Insbesondere die Ausführungen von Böhle (2003; s.o.) über Erfahrungswissen und die ihm entsprechende Organisation des praktischen Handeins lassen diese Begründun­gen allerdings aus heutiger Sicht sehr fraglich werden. Denn sie setzen auf objektivie­rende Formen des gewöhnlichen Tuns, die die genuine Praxis so nicht kennt und deren F orcierung auch als problematisch gewertet und als Sicherung der Orientierung an der Wissenschaft kritisiert wird. Anknüpfend an Böhle ist die Aktionsforschung somit als ein Versuch der Generierung eines bestimmten beruflichen Wissens zu sehen, deren bzw. dessen Struktur erst zu analysieren ist. Sie erscheint schlicht als Möglichkeit zur Veränderung der Lehrerpraxis mit noch offenem Ende. Ohne an der Stelle ausführlicher darauf eingehen zu können, sei angemerkt, dass die Aktionsforschung handlungstheore­tisch Fragen aufwirft, etwa hinsichtlich des Verständnisses des Begriffs Reflexion. Möglicherweise ist trotz des Bezugs auf Schön doch auch hierbei das rationale Handeln die Leitvorstellung geblieben, und es ist Parker (1990) Recht zu geben, der die heute feststellbare exzessive Verwendung dieses Vokabels so interpretiert.

6 Die Lehrerpraktiken aus alltagstheoretischer Sicht

6.1 Lehrerinnenarbeit im kognitiven Stil der Praxis

Der Vergleich der beobachteten Praktiken der Vorbereitung und Durchführung mit dem beruflichen Alltagshandeln zeigt, dass sie Praktiken unter der Ägide des Erlebnis- und Erkennnisstils dieser Sphäre sind. Egal, ob es um den Unterricht geht oder die Aktions­forschung, die Vorbereitung konzentriert sich immer auf das, was getan werden muss bzw. soll. Zielsetzungen für den Unterricht wie Erkenntnisinteressen bei der Aktionsfor­schung werden nicht explizit formuliert, sondern sind mitlaufendes Element bei der Konzipierung des Tuns, das erwähnt wird, wenn sich die Lehrer gleichsam erinnern, dass sie ja auch Ziele haben sollten. Es wird auch keine Diskussion eröffnet über didak­tische Konzepte, die verfolgt werden sollen oder über einzelne Aufgaben; das sind Rou­tineangelegenheiten, mit denen man sich nicht aufhalten braucht und will. Thematisiert wird, womit die Lehrerinnen noch nicht genügend vertraut sind - die Gestaltung der Er­hebungs instrumente etwa - und zwar soweit, bis für das Handeln genügend Klarheit be­steht. Auch beim Unterrichten werden neue Formen als bekannte gehandhabt; d.h. weit­gehend als Routinepraxis inszeniert. Aus der alltagstheoretischen Perspektive wird also die Zählebigkeit des fragend-entwickelnden Gespächs einmal mehr verständlich, erlaubt doch das Aufeinander-Eingespielt-Sein von Lehrer und Schülern in dem Modus die ra­sche und problemlose Abwicklung des Unterrichts. Mit der Aktionsforschung streben die Lehrerinnen in besonderem Maß nach unmittelbar handlungsrelevantem Wissen; d.h. nach Rückmeldungen, aus denen sie Schlüsse ziehen können hinsichtlich der künftigen Gestaltung des Unterrichts. Dabei genügen ihnen bereits wenige oder pauschale Daten, was als Zeichen für das dichte und reiche Handlungswissen interpretiert werden kann, das Lehrer besitzen. Auch wenn es nicht die Resonanz bei den Schülerinnen ist, die inte­ressiert, dient die Aktionsforschung der Erfassung der lokalen Gegebenheiten. Es sind

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nicht Erkenntnisse, die sich vom Fall lösen, die produziert werden; es sind Einsichten in dessen Konstellation, also in das, womit die Lehrer in ihrer täglichen Praxis konfrontiert werden oder jedenfalls jederzeit wieder werden können. Typisch ist auch hier die Orien­tierung auf ein definitves Ergebnis oder mit anderen Worten: die Suspendierung der Fragwürdigkeit von Lesarten. Nicht ein abwägendes Interpretieren ist die Regel, sondern das Fixieren von plausiblen Deutungen, die Handeln lassen. Möglicherweise würden die Lehrer für manche Ergebnisse gar nicht die Aktionsforschung benötigen; vielleicht wäre z.B. eine schnell herusgerufene Bemerkung einer Schülerin schon genauso aufschluss­reich wie ein extra durchgeführtes Interview.

Dass die Praktiken nichts Mathematikspezifisches erkennen lassen, mag an der All­gemeinheit des Begriffs liegen, also an meinem zu allgemeinen Zugang zu den interes­sierenden Phänomenen. Doch andererseits thematisieren die Lehrer eben auch nicht mathematische Gesichtspunkte, auch nicht in didaktischer Absicht. Die Konzentration aufs Machen bleibt auch diesebezüglich aufrecht; und was getan werden muss, ist un­problematisch. Fehlvorstellungen bei Schülern bedeuten nur, dass die unproblematische Mathematik noch in anderen Varianten, die auch wieder unproblematisch sind, bearbei­tet werden muss. Trotzdem ist die Mathematikleere ein Punkt, der noch der weiteren Aufmerksamkeit bedürfte.

6.2 Neuerungen als Erfahrungen von Zeitobjekten

In rund einem Viertel der dreizehn schriftlichen Darstellungen der Lehrerinnen von ihren Neuerungsversuchen, die aus dem Mathematikteil des Programms "Lehr- und Lernpro­zese" vorliegen, lassen sich auch allgemeinere Aussagen zur Mathematik und dem Un­terrichten von Mathematik erkennen. Die Lehrerinnen sprechen Positionen an, die ihnen wichtig sind als Grundlage ihrer Unterrichts arbeit wie etwa das Entdeckende Lernen o­der Konzepte vom Verhältnis von Mathematik und Gesellschaft; z.T auch unter Ver­wendung von Literaturzitaten. Doch auch dann ist der Ablaufbericht die dominierende Form der Darstellung. Zum einen ist das durch die Richtlinien für das Abfassen dieser Texte provoziert, die den Punkt "Durchführung" beinhalten, der sinnvollerweise in der Form realisiert wird. Doch auch in Kapiteln, die Anderes thematisieren - etwa Materia­lien vorstellen, Datenauswertungen präsentieren, Bewertungen vornehmen - bzw. auch bei einem Aufbau, der von den Richtlinien abweicht, finden sich berichtende Passagen, die auf den Fortgang von Ereignissen abstellen und ihn zusammenfassend beschreiben. Berichte darüber, "wie es war" ziehen sich wie ein roter Faden durch die Darstellungen.

Unter Bezug auf Schütz (1981, 1982, ebenso Schütz/Luckmann 1988) kann die Be­richtsförmigkeit als Zeichen eines "poly thetischen" Aufbaus des Sinns der durchgeführ­ten Arbeiten gesehen werden. Sie werden gleichsam noch einmal durchlaufen - die ein­zelnen Schritte, die Phasen mit ihren wahrgenommenen Besonderheiten, kommen wie­der in ihrer Abfolge in den Blick. Eine derartige Vergegenwärtigung von Unternehmen, ja von Erfahrungen überhaupt kann immer erfolgen. Sie muss aber sogar in der Form ge­schehen, wenn es sich um Erfahrungen von "Zeitobjekten" handelt (Schütz/Luckmann 1988) , d.h. um Erfahrungen, deren Sinn darin bestand bzw. besteht, dass etwas im zeit­lichen Ablauf arrangiert wird; im speziellen also um Unternehmen, für die die praktische Durchführung sinnstiftend ist. Bei Erfahrungen hingegen, die begrifflich formuliert wer­den, kann der Sinn auch in einem Akt, im Zugriff auf dieses Ergebnis - monothetisch -

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erfasst bzw. dargestellt werden.2 So gesehen sind berichtende, nacherzählende Darstel­lungen keineswegs ein Phänomen, das typisch für Lehrkräfte ist, sondern für die Sinn­qualität des Dargestellten. Allerdings haben Unterricht und dazu durchgeführte Erhe­bungen für die Lehrerinnen eben das Tun in seiner notgedrungenen Sequentialität als sinngebenden Bezugspunkt. In den Texten kommt also zum Ausdruck, was diese Arbei­ten sinnmäßig bestimmt.

6.3 Lehrerpraktiken und Wissenschaft

Die hier rekonstruierten Praktiken in der Lehrerprofession sind also Handlungskomplexe im Sinngebiet des Alltags; die Vorbereitung, der Unterricht und, wo sie stattfindet, die Aktionsforschung. Sie bleiben in seinem Rahmen, obwohl die Lehrer ihren Unterricht in irgendeiner Hinsicht verändern möchten. Sicherlich werden Vorbereitungen z.T. umfas­sender, werden auch neue Unterrichtsorganisationen ausprobiert und Erkenntnisse ge­wonnen, doch es geht um die Bewältigung der Dinge und nicht um die Begründung oder Analyse der jeweiligen Art, in der diese stattfindet. So ist eben die Welt des Alltags. Ein Problem ergibt sich nur dann, wenn von Lehrerinnen in Neuerungskontexten mehr er­wartet wird; insbesondere wenn die Aktionsforschung als Mittel zur Etablierung einer etwas wissenschaftsförmigeren Professions praxis angesehen wird. Das lässt sich nicht aufzeigen. Die Grenze zur wissenschaftlichen Forschung bleibt gewahrt.

Um hier nicht einen übergroßen Gegensatz aufzubauen, sei angemerkt, dass selbst­verständlich auch die Wissenschaft ihren Alltag hat, also diesen Erfahrungs- und Er­kenntnsistil praktiziert. Doch das, was sie als Sinngebiet auszeichnet und auch ihre ge­sellschaftliche Funktion begründet, ist nicht die Erledigung ihrer Alltagsgeschäfte. Al­lerdings gibt es auch in der eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit noch die Verbindung zum Alltagswissen und nicht einmal in Hinblick auf die grundlegende Erkenntnismetho­de einen Unterschied, wenn man Garfinkel (1981) folgt, nach dem auch die (Sozi­al)wissenschaftler das Alltagsverfahren der "dokumentarischen Interpretation" verwen­den. Doch der "kognitive Stil der Theorie" (Soeffner 1983, S. 21) zielt ab auf die "Ent­faltung des Erkennbaren" (ibid, S. 25); d.h. im hier interessierenden Bereich auf die Her­ausarbeitung von Alternativen zu den gewohnten Perspektiven, und das in einer begriff­lich-theoretischen Form (und insofern auch angewiesen auf den Modus der Sprache), die selbst eine Einzelfallstudie Allgemeines transportieren lässt wie die methodologischen Arbeiten zur interpretativen Forschung klarstellen.

6.4 Die Veränderbarkeit von (Lehrer)alltag

Es kommt zu Veränderungen im Handeln der Profession und doch wieder nicht: Die Praktiken produzieren Neues und sind dabei eine Wiederholung von Bekanntem, eine Neuauflage des Gleichen; eben dann, wenn man den Modus der Zuwendung zur Welt als Maßstab nimmt. Auch wenn der also bleibt, lässt sich aber noch genauer nach dem Weg fragen, auf dem das Neue entsteht. Die Frage ist insofern von Bedeutung, als es sich hier um Neuerungskontexte handelt; d.h. um Kontexte, mit denen von aussen Veränderungs­bestrebungen verbunden sind, deren Realisierbarkeit interessiert.

2 Schütz bringt hier das Beispiel des Pythagoräischen Lehrsatzes: Man könne seine Bedeutung polythetisch über die Rekonstruktion seiner Ableitung erfassen oder monothetisch anhand der resultierenden Fonnel.

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Wie geschieht Veränderung im Alltag überhaupt? Eine Antwort darauf bietet die pragmatistisch orientierte Handlungstheorie von Joas, die hier heranzuziehen naheliegt als sie insgesamt das Handeln im Alltag adäquat rekonstruiert. Veränderung resultiert aus dem Widerstand der Welt. Wenn er zu groß wird, können die Handelnden nicht län­ger ihren bewährten Gewohnheiten folgen; Handeln wird zum Zweifeln: "Dies ist die Phase des realen Zweifels. Aus dieser Phase heraus führt nur eine Rekonstruktion des unterbrochenen Zusammenhangs. Die Wahrnehmung muß neue oder andere Aspekte der Wirklichkeit erfassen; die Handlung muß an anderen Punkten der Welt ansetzen oder sich selbst umstrukturieren" (Joas 1996, S. 190). Es muss also etwas vorliegen, das das "business as usual" verunmöglicht. Der Gedanke findet sich auch bei Schön, wenn er von "troublesome 'divergent' situations" (ibid, S. 62) als dem gewöhnlichen Ausgangs­punkt von reflection-in-action spricht.

In Hinblick auf Neuerungskontexte wie ich sie im Auge habe, ist das ein kritischer Punkt. Denn die Lehrkräfte kommen in der Regel nicht mit Problemen, die ein Aufgeben von Gewohnheiten in dieser Ausdrücklichkeit verlangen; diejenigen, die tatsächlich vor großen Schwierigkeiten stehen, werden vermutlich sogar eher nicht solche Angebote wahrnehmen. Ausserdem hat der Alltag eben stets seine Normalisierungsmechanismen, die Probleme erledigen. Vor diesem Hintergrund stellt sich also die Frage - ich spreche nun nicht mehr als Ethnographin, sondern als Mathematikdidaktikerin mit bestimmten Interessen am Mathematikunterricht -, wie gleichsam eine produktive Krise inszeniert werden kann. Dieser Ansatzpunkt findet sich auch in der Erwachsenenbildung generell. So schreibt Dewe (1999, S. 166) über die erforderliche Ausgangslage der Teilnehmer in den Veranstaltungen: "Ihre Situation ist daher zunächst einmal keine alltägliche, da sie sich gerade dadurch auszeichnet, daß die Teilnehmer systematisch mit außeralltäglichen Ereignissen und der Notwendigkeit, sie durch neue Erkenntnisprozesse zu bewältigen, konfrontiert werden". Da hier nicht der Ort für Ausführungen ist, sei nur angemerkt, dass versucht werden kann, dies auch durch eine spezifische Einbeziehung von Wissen­schaftlerinnen zu erreichen.

Die im Projekt IMST2, dem Rahmen des Neuerungskontextes "Lehr- und Lernpro­

zesse", vorhandene Kennzeichnung von Neuerungen als "Weiterentwicklung" muss an­gesichts des genannten Ansatzpunktes zur Veränderung von Alltag als problematisch gewertet werden, da diese Kennzeichnung der Idee des Fortschreibens grundsätzlicher Gewohnheiten erst recht Vorschub leistet. Tatsächlich präsentierten im Programm "Lehr- und Lernprozesse" die Lehrer ihre Neuerungen als logische Folge ihres jeweili­gen jetzigen status quo: Sie griffen in ihrer Arbeit ein allgemeines Problem auf, mit dem sie sich schon längere Zeit befassten, oder gingen einem grundsätzlich vorhandenem In­teresse nach, oder setzten bereits entwickelte Konzepte um, oder sie täten, was sich durch die schulischen Bedingungen aufgedrängt hat, oder, bei bereits längerer Beteili­gung, bauten auf dem Ergebnis der vorherigen Arbeit auf. Möglicherweise handelt es sich nur um rhetorische Gesten, die dem Anzeigen der Konformität mit IMST2 dienen o­der vielleicht auch der wechselseitigen Versicherung von Rationalität und somit von Se­riosität (vgl. zu erzähl baren Lebensgeschichten etwa Gergen 1991). Dass Zielformulie­rungen von untergeordneter Bedeutung bleiben, ist dann aber jedenfalls noch einmal mehr normal - es gibt ja eigentlich gar keine neuen Ziele, oder dass stoffdidaktische Konzepte nicht neu aufgerollt werden - es gibt ja eigentlich nichts in Frage zu stellen und ganz neu zu anzugehen. Ob die Weiterentwicklungsbotschaft darüber hinaus eine ganz besonders ausgeprägte Handhabung der Neuerungen als "business as usual" mit­konstituiert hat, muss allerdings offen bleiben. Jedoch ließen sich ausserhalb der "Lehr-

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Lehrerpraktiken in Neuerungskontexten 107

und Lernprozesse" einzelne (subjektiv) größere Neuerungen feststellen: So wagte ein Lehrer nach einem Seminar erstmals eine Gruppenarbeit, und ein anderer versuchte sich im Neosokratischen Gespräch, das einen Bruch mit den Gesprächgewohnheiten von Lehrern im Unterricht erfordert. Zu denken gibt auch die Untersuchung von Geliert (2003), die besagt, dass für die Innovativität von Innovationen, d.h. für ihren Neue­rungsgehalt aus äusserer, mathematikdidaktischer Sicht, die Eigeneinschätzung der Leh­rer wesentlich ist: "Nur wenn die Weiterentwicklung der Praxis des Mathematikunter­richts nicht als kontinuierlich fließend vorgestellt wird, ist es aussichtsreich, eine Typi­sierung von Innovationsprozessen zu versuchen" (ibid, S. 160). Allerdings ist bei Gellert nur der Umgang mit einem neuerungsträchtigen Schulbuch der Gegenstand.

7 Wer hat das (letzte) Wort? - Zum Verhältnis von Lehrerinnentätigkeit und Wissenschaft

Die Praktiken in den Neuerungskontexten bereichern den Alltag der Profession, und auch subjektiv gesehen haben die Lehrerinnen aus ihrer Arbeit dort Gewinn gezogen; das belegen auch diverse Rückmeldungen explizit. Doch es ist die Frage, ob das zur mathematikdidaktischen Bewertung der Praktiken genügt. (Ich nehme also weiterhin die Position der Didaktikerin mit ihren Interessen am Mathematikunterricht ein.)

Beispielsweise konzentrieren sich Lehrer, wenn sie zur Beurteilung von Unterricht das Interaktionsgeschehen betrachten, auf die Teilnehmer mit ihren Eigenheiten: was sich die Schülerinnen gedacht haben und warum, was der Lehrer wollte' und wie sie selbst zu diesen Absichten stehen etc. Das entspricht ihrem Interaktionsverständnis und auch ihrem Selbstverständnis als Gestalterinnen des Unterrichts. Die (interpretative) Mathematikdidaktik hingegen richtet in so einem Fall die Aufmerksamkeit auch auf die Interaktion im Sinne einer sich etablierenden Struktur jenseits der Dispositionen der Be­teiligten; und sie kennt und nennt auch gute Gründe für dieses Interesse. Aus der wissen­schaftlichen Sicht ist also der gewöhnliche Zugang der Lehrerinnen erkenntnismäßig zu eng, und wenn Praktiken der Aktionsforschung sich darauf beschränken, lassen sie also ein wichtiges Element zur Unterrichtsveränderung unberücksichtigt. Mathematikdidak­tisch können somit wie dieses Beispiel illustriert Praktiken ganz anders eingeschätzt werden als von der Praxis selbst. Derartige Diskrepanzen sind bedingt durch die Diffe­renz in den Relevanzsystemen und insofern erwartbar. Doch wie sollen sie in der Begeg­nung zwischen Wissenschaft und Praxis gehandhabt werden? Ich mische mich dann ein, veweise auf meine Sicht, praktiziere sie auch ein Stück weit; mit unterschiedlicher Re­sonanz Der springende Punkt ist nicht, dass sich die Wissenschaft zu Wort meldet, son­dern welcher Anspruch damit verbunden ist.

Die Frage, die sich also stellt, ist die nach der Rolle des wissenschaftlichen Wissens. Soll es den Orientierungspunkt für das Handeln der Lehrerinnen bilden? Die Frage ist nichttrivial, wenn es sich um Neuerungskontexte mit einem zumindest gewissen Bestre­ben der Veränderung "von unten" handelt, wie sie der Arbeit hier zugrundeliegen; und sie stellt sich noch-einmal schärfer, wenn die Lehrer aufgefordert sind, ihren eigenen In­teressen gemäß Aktionsforschung zu betreiben. Und sie ist auch nicht naiv, da in der so­ziologischen Debatte der Wissensgesellschaft die Nutzbarkeit des wissenschaftlichen Wissens in anderen gesellschaftlichen Feldern sowie auch seine grundsätzliche Leit­funktion dort sehr kontrovers diskutiert werden (vgl etwa Wehling 2003).

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Noch etwas allgemeiner geht es um die Frage, wie sich Kulturen bei ihrer Begegnung zueinander positionieren bzw. positionieren lassen; eine Frage, die die Ethnographie im engen Sinn schon seit geraumer Zeit beschäftigt (FuchsIBerg 1993). Ihr Dilemma besteht aus heutiger Sicht in der "Spannung zwischen dem (nicht nur) kognitiven Aneignungs­anspruch und dem Anspruch, die Anderen in ihrer Andersheit zu respektieren - was ein­zuschließen hätte, daß sie sich selbst zur Geltung bringen" (ibid, S. 93). Die Mathema­tikdidaktik hat diese Frage noch nicht diskutiert (lungwirth 2001), obwohl sie sie mehr und mehr betrifft, da die großen internationalen Studien wie PISA mit ihren Ergebnissen verstärkt Interventionen in der Praxis zur Folge haben, und dabei auch der Gedanke der gemeinsamen Arbeit von Wissenschaftlern und Lehrern am Unterricht verfolgt wird. Die Positionierung der Wissenschaftlerinnen als Instanz der "Unterstützung" der Lehrerinnen in solchen Maßnahmen erscheint unbefriedigend, da sie geeignet ist, die Autorität der (Mathematik)didaktik zu verschleiern: So kann wie sich zeigt die Perspektive der Wis­senschaftler doch zur gültigen werden (egal, wieviel Wissenschaftliches sie tatsächlich transportieren) oder, wenn das bewusst unterbleibt, kann an die Stelle der Glaube an den Sieg der Vernunft treten, die aber wieder gerade in der Wissenschaft und ihren Erkennis­sen verortet wird bzw. werden muss, um am Maßnahmenziel festhalten zu können. Nicht von ungefähr rekonstruiert Parker (1999) als das Ideal, das den Entscheidungssituationen des "reflective teacher" zugrundeliegt, die ideale Sprechsituation nach Habermas. Will man die Differenz zwischen Lehrerpraxis und Wissenschaft hinnehmen ohne zu werten, sind andere Lösungen gefragt. Sie könnten bei Überlegungen Anleihe nehmen, die in Richtung "polyphone Dezentrierung" (Fuchs/Berg 1993, S. 87) oder "kubistisches Bild" (Radtke 1988; zit. nach Dewe/Ferchoff/Radtke 1992b, S. 79) gehen, die alle ein Neben­einander von Perspektiven ohne Vorranganspruch (auch eine selbstverantwortete Neue­rung einer Lehrerin ist dann nicht per se schon höherwertiger als eine wissenschaftsdo­minierte ) mit offenem Ende bei der Rezeption meinen. Vielleicht ist das aber doch eine zu postmoderne Wende. Dann bliebe noch, die Figur der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Lehrerprofession zu überdenken.

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