Von Der Unausweichlichkeit Des Utopischen in Romanen MH

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Visionen des Urbanen (Anti-)Utopische Stadtentwürfe in der französischen Wort- und Bildkunst Herausgegeben von KURT HAHN MATTHIAS HAUSMANN Universitätsverlag WINTER Heidelberg

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Visionen des Urbanen (Anti-)Utopische Stadtentwürfe in der französischen Wort- und Bildkunst

Herausgegeben von KURT H A H N MATTHIAS H A U S M A N N

Universitätsverlag W I N T E R Heidelberg

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U M S C H L A G B I L D

Blackland, die anti-utopische Stadt in Michel Vernes L'étonnante aventure de la mission Barsac ( 1 9 1 9 )

I S B N 9 7 8 - 3 - 8 2 5 3 - 6 0 3 1 - 3

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KIAN-HARALD KARIMI

Nous n 'étions que des machines conscientes: Von der Unausweichlichkeit des Utopischen in Romanen Michel Houellebecqs

Ich bin, wir sind. Das ist genug. Nun haben wir zu beginnen. In unsere Hände ist das Leben gegeben. Für sich selber ist es längst schon leer ge-worden. Es taumelt sinnlos hin und her, aber wir stehen fest, und so wol-len wir ihm seine Faust und seine Ziele werden. Ernst Bloch, Geist der Utopie (1918)

Der Mensch als Vernunftwesen der Aufklärungszeit ist nicht weniger Subjekt als der Mensch, der sich als Nation begreift, als Volk will, als Rasse züchtet und schließlich zum Herrn des Erdkreises sich ermächtigt. Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes (1938)

I

Überblickt man die beiden Romane Michel Houellebecqs Les particules élémentaires (1998) und La possibilité d'une île (2005)1, tut man sich schwer, diese anstandslos in das klassische Schema positiver und negativer Utopien einzuordnen. Ihre Gedanken-spiele heften sich mit den Wissenschaften und der Religion an Kategorien, die als Partei des Fortschritts bzw. der Tradition nach gängigen Auffassungen entgegengesetzte Weltbilder bedingen müssten. Entgegen dem überkommenen Apriori hat es aber den Anschein, als ob diese Erzählungen unserer Rezeption und Erwartung anheimgestellt sind, so wie uns utopische Romane zumindest seit der Moderne in unserer gesellschaft-lichen Existenz und als Metaphysik treibende Subjekte ansprechen: Nach den Verwer-fungen der Geschichte, den Kriegen und Diktaturen, den gelungenen wie gescheiterten Revolutionen, liegt es an uns, die in utopischen Entwürfen projektierte Entwicklung der Polis als Fortschritt, Stagnation oder Niedergang gegenüber dem geltenden Status Quo zu interpretieren.

Gemeinsam ist allem Utopischen die „Erwartung, Zukunft, Intention auf noch un-gewordene Möglichkeit [als] Grundstimmung innerhalb der objektiven Wirklichkeit insgesamt".2 Im Verhältnis zwischen Eutopie und Dystopie oszilliert diese Erwartung in den vorliegenden Romanen aber über diese Definition Blochs hinaus zwischen Hoff-nung, Zweifel und Verzweiflung, ohne zu einem für jedermann akzeptierten Endpunkt

1 Wir beziehen uns hier auf die Ausgaben Les particules élémentaires, Paris 1998 bzw. La possibilité d'une île, Paris 2005. Im Folgenden erhalten diese Titel die Abkürzung LPE bzw. LPI. 2 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, Frankfurt/Main 1959, S. 5f.

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zu gelangen. Denn wie die Kritik anmerkt,3 nimmt gerade das Finale von LPE einen merkwürdigen Zwischenstatus ein, der „den Lesern die Möglichkeit zu eigenen Wer-tungen"4 eröffnet, übrigens auch gegenüber wissenschaftlichen und religiösen Autoritä-ten, deren Gewissheiten als Illusion, aber auch als Faszinosum zur Sprache kommen. Dabei könnte das Ende der alten Menschheit als Apokalypse gedeutet werden, der gleich dem biblischen Vorbild der Anfang einer neuen Erde folgte. Die Entfesselung der wissenschaftlichen Produktivkräfte zöge die Aufhebung einer verfehlten Spezies und ihrer Geschichte „à une nouvelle espèce, asexuée et immortelle, ayant dépassé l'individualité, la séparation et le devenir"5 nach sich. Es wäre auch denkbar, dass sich diese Rettung als Apokalypse erwiese, die anstelle eines zeitlich absehbaren und abge-schlossenen Ereignisses einem endlos anmutenden Dekompositionsprozess, „evidences of decadent humanity"6, gleichkäme. Man könnte der zweiten Option aber umso mehr Glauben schenken, als die „furchterregenden Aspekte [der Zukunft] in aller Deutlich-keit"7 mit der komplementären Lektüre des später erschienenen Romans so zutage tre-ten, dass dieser Ambivalenz, des religiösen Untertons ungeachtet, offenkundige Gren-zen gesetzt sind.

Es wäre indes zu reflektieren, ob beide Deutungen nicht im Grunde verschiedene Entwicklungsphasen eines neuzeitlichen Weltbilds perspektivieren, das unseren histori-schen Horizont bis heute bestimmt. Von Extension du domaine de la lutte (1994)8 bis zu den vormals genannten Romanen eröffnet sich ein Zyklus, in dem das Utopische in seinen eutopischen und dystopischen Ausprägungen unausweichlich Hoffnungen und Enttäuschungen eines anthropozentrischen Weltbilds artikuliert. Überdies bleibt diese Dimension spätestens seit der Moderne nicht mehr dem Spielraum der Philosophen überlassen, um in die wissenschaftliche Praxis überführt zu werden.9 Auf eben jenen epistemologischen Übergang bezieht sich der implizite Autor, der diesbezüglich einen mittleren Status einnimmt: Er sucht die Nähe zu Spekulationen, die im Zeichen des Szientismus aber vor die Notwendigkeit gestellt sind, den wissenschaftlichen Kenntnis-stand in den eigenen utopischen Entwurf aufzunehmen, um ihn zeitlich zu transzendie-ren. Hatte sich die positive Utopie im Zuge eines von den Wissenschaften automati-sierten Prozesses auch überflüssig gemacht, so wird letzterer zur Grundlage einer „Kri-

3 Vgl. dazu Rita Schober, „Weltsicht und Realismus in Michel Houellebecqs utopischem Roman Les particules élémentaires" in: Romanistische Zeitschrift fiir Literaturgeschichte 33 (2001), S. 177-211, hier S. 207 bzw. Matthias Hausmann, „Die Zukunftssicht in Michel Houellebecqs La possibilité d'une île", in: Schau ins Blau. Zeitschrift des interdisziplinären Zentrums für Literatur und Kultur der Gegenwart 1 (2008), O.S. [URL: http://www.schauinsblau.de/matthiashausmann/ wissenschaftliches/die-zukunftssicht-in-michel-houellebecqs-la-possibilite-d-une-ile-2005/]. 4 Hausmann. „Zukunftssicht", O.S. 5 LPE, S. 308. 6 Herbert George Wells. Time Machine. A Melancholy Satire, Rockville 2008, S. 89. 7 Hausmann, „Zukunftssicht", O.S. 8 Wir beziehen uns hier auf die Ausgabe Extension du domaine de la lutte, Paris 1994. Im Folgen-den erhält dieser Titel die Abkürzung EDL. 9 Vgl. dazu Peter Mulser, „Die Welt ist unser Bild von ihr. Einleitung", in: Valentin Brakenberg, Inga Hosp (Hg.), Die Natur ist unser Modell von ihr. Forschung und Philosophie, Reinbek 1996, S. 7-13.

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tik an der Fortschrittsgläubigkeit".10 Aus ihr leiten dystopische Modelle ihre neue Legitimation ab und verschaffen sich vor allem seit der Moderne als eigenständige Diskursart einen Platz in der Literatur.

Denn sosehr die literarische Anti-Utopie auf das Gemeinwohl setzt, um die gefähr-dete Autonomie des Menschen „als sittliches Wesen" zu verteidigen11, sowenig vermag sie noch bedenkenlos einer Transzendenz zu folgen, die sich von Wissenschaft oder Religion in die Zukunft schicken ließe. In diesem Sinn spielen die vorliegenden Ro-mane das Diskurspotenzial von Glaubenstradition und Maschinentechnik so aus, dass sie sich weder der einen noch der anderen Seite einer vorgefassten Deutung zuordnen lassen. Sie verweigern sich einer aufklärerischen Dialektik, nach der „der Entwurf einer hypothetisch möglichen negativen Welt"12 dem bloßen Niedergang der Religion und anderer Transzendenzen geschuldet, eine ideale Gesellschaftskonstruktion im Gegenzug das Resultat einer stürmischen Entwicklung der Produktivkräfte sei. In Frage gestellt sind aber auch Postulate eines wissenschaftlichen Sozialismus, denen zufolge die im technischen Fortschritt erreichte Naturbeherrschung die Sache der sozialen Revolution sekundiere, auf dass „die Menschen, endlich Herren ihrer eignen Art der Vergesell-schaftung, damit zugleich Herren der Natur, Herren ihrer selbst - frei" werden.13 Auch führt die zunehmende Durchdringung der Welt durch die Wissenschaften nicht dazu, dass „die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt" sei14, wie dies noch vom jungen Marx angenommen wurde.

Unterschiedliche religiöse und säkulare Transzendenzen koexistieren miteinander, sofern sie einander nicht gar bedingen. So zeigt sich im Debütroman EDL, dass selbst ein Priester, „bisher die letzte Festung des Altruismus, der Tugenden und festen Über-zeugungen im Leben des Protagonisten"15, das Göttliche nur noch in seinem Entzug wahrnimmt.16 In LPE hat die Menschheit im alten Gott die letzte Barriere überwunden, die sie noch von der körperlichen Unsterblichkeit auf Erden trennt, „[puisque] tout ceci se développe en l'absence de toute métaphysique, ou de toute ontologie. Nous n'avons plus besoin des idées de Dieu, de nature ou de réalité".17 Doch dieser Materialismus hat

10 Matthias Hausmann, Die Ausbildung der Anti-Utopie im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Von Charles Nodier über Emile Souvestre und Jules Verne zu Albert Robida (1833-1882), Heidelberg 2009, S. 19. 11 Richard Saage, Utopische Horizonte: Zwischen historischer Entwicklung und aktuellem Geltungsanspruch, Berlin/Münster 2010, S. 155. 12 Birgit Affeldt-Schmidt, Fortschrittsutopien. Vom Wandel der utopischen Literatur im 19. Jahr-hundert, Stuttgart 1991, S. 35. 13 Friedrich Engels, „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", in: MEW, Bd. 19, Berlin 41973, S. 117-228, hier S. 228. 14 Karl Marx, Friedrich Engels, „Die heilige Familie", in: MEW, Bd. 2, Berlin 1972, S. 3-223, hier S. 116. 15 Susanna Frings, „Zur Funktion der Kirche und des Glaubens in Michel Houellebecqs moderner Apokalypse La possibilité d'une île", in: Thomas Fornet-Ponse, Benedikt Gilich (Hg.), Wofür haltet ihr uns? Katholische Kirche in interdisziplinären Perspektiven oder: Zur Wechselwirkung von Fremd- und Selbstbild, Münster 2011, S. 60-77, hier S. 66. 16 EDL, S. 163. 17 LPE, S. 299.

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wahrlich nicht das letzte Wort, verbindet er sich in LPI doch mit einer nachchristlichen Erlösungsreligion, deren Lehre „einem biblischen Schöpfungsmythos" entstammt.18 Der katholische Glauben, der ganze Völker per omnia saecula saeculorum in Mentalitäten und sozialen Hierarchien geprägt hatte, geht innerhalb einer Generation zugrunde. Was einstmals Religions- und Bürgerkriege heraufbeschworen hatte, hat sich ohne größere Konflikte, aber auch ohne allgemeine Aussprachen in einem Nichts aufgehoben. Spiri-tuelle Bindungen haben sich endgültig aus ihrem Bestand gelöst, so dass mit ihnen auch jene religiösen Energien erloschen sind, die in einer mehrtausendjährigen Geschichte von Generationen an Generationen weitergereicht wurden. Eingedenk dieses unwider-ruflichen Verfalls wird sich der Mensch umso stärker bewusst, „ce qu'il y avait en [lui] de plus fugace, de plus fragile, de plus prompt à naître et à mourir".19

Der Abschied von Tradition und Christentum korrespondiert mit der Ankunft einer neuen Religion, die sich eng an die Mischkultur aus Unterhaltung, Konsum, Technik-faszination sowie Jugend- und Körperidealen anschmiegt, sich vor allem aber aus der Privatisierung des Glaubens legitimiert. Und dennoch ist der alte Gott in seiner Abwe-senheit immer wieder Gegenstand von Gespräch und Klage.20 Belebt wird seine Präsenz in „optischer Analogie zur biblischen Verszählung"21 durch einen biblischen Intertext, der Denkstruktur und Vokabular der Akteure durchdringt.22 Wiewohl die Technik alle Lebensbereiche kontrolliert, scheint sich eine menschenwürdige Existenz eher außer-halb der durch Zwang gesetzten Grenzen abzuzeichnen. Zwei Mitglieder einer mit Spit-zentechnologie ausgerüsteten Elite „gehen lieber in der für sie feindlichen Außenwelt zugrunde, als in einem Technikkosmos zu existieren, der ihnen Sicherheit" allein um eines seelenlosen und kalten Daseins verspricht.23 Am Ende stellt sich womöglich für den Leser die Frage, ob es sich tatsächlich lohnt, ein Leben zu prolongieren, das nicht imstande ist, „die emotionale Taubheit und unser kategoriales Desinteresse an der Au-ßenwelt, am Anderen"24 abzustreifen.

In dem Maße, wie die Vision eines Neuen Menschen25 als Gegenstand planmäßiger Züchtung in die Immanenz eingeht, scheint „die vollends aufgeklärte Erde im Zeichen triumphalen Unheils" zu erstrahlen, wie schon Th. W. Adorno und Max Horkheimer in den 1940er Jahren eine totalitär gewordene Rationalität bilanzierten.26 Die bittere

18 Frings, „Funktion der Kirche", S. 72f. 19 LPI, S. 355. 20 LPI, S. 473. 21 Frings, „Funktion der Kirche", S. 74. 22 Frings, „Funktion der Kirche", S. 71. 23 Saage, Utopische Horizonte, S. 169. 24 Frings, „Funktion der Kirche", S. 76. "5 Gottfried Küenzlen, Der Neue Mensch. Zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, Mün-chen 1994. Aus pragmatischen Gründen können wir an dieser Stelle nicht auf dieses zentrale Hoffnungsziel der Moderne eingehen, das wir als Axiom der politischen Theologie in einem anderen Zusammenhang untersucht haben. Vgl. dazu neben dem obengenannten Titel auch Kian-Harald Karimi, Jenseits von altem Gott und „Neuem Menschen". Präsenz und Entzug des Gött-lichen im Diskurs der spanischen Restaurationsepoche, Frankfurt/Main 2007, S. 214f. 26 Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Theodor W. Adorno, Bd. 3 der Gesamtausgabe, Darmstadt 1998, S. 19.

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Befreiung aus sexueller Duldsamkeit, die letztlich einer aufklärerischen Entzauberung gleichkommt, schlägt erneut in einen Mythos der Unsterblichkeit um und macht diesen in Maschinenträumen selbst unsterblich. Was den meisten Zeitgenossen zunehmend im alten christlichen Glauben abhandengekommen war, wird nun zu einem neuen Credo an die Unfehlbarkeit der Wissenschaften. Der Umstand, dass das ewige Leben von wissen-schaftlicher Magie eingelöst wird, liest sich wie die Gleichung einer historischen Logik, in der Utopia und Anti-Utopia unausweichlich miteinander verstrickt sind. Der von Houellebecq als unabwendbar empfundene Verfallsprozess des Westens transzendiert sich bis in seine Zukunftsentwürfe hinein. Deren Determinismen treiben nur mit be-schleunigtem Tempo und gesteigerten Mitteln voran, was schon in der Jetztzeit untrüg-liche Zeichen hinterlassen hat:

Or s'il y a une idée, une seule, qui traverse tous mes romans, jusqu'à la hantise parfois, c'est bien celle de l'irréversibilité absolue de tout processus de dégradation, une fois en-tamé. Que cette dégradation concerne une amitié, une famille, un couple, un groupement social plus important, une société entière; dans mes romans il n 'y a pas de pardon, de re-tour en arrière, de deuxième chance [...].27

Die Ambivalenz des Utopischen erfasst sich hier aus der bisherigen Wirkung vorgängi-ger Utopiediskurse, „[puisque] le langage n'est déjà plus que citations"20, die hingegen nicht mehr in ihren positiven wie negativen Varianten einen statischen Kontrast bilden, sondern sich in ihrem wechselseitigen Verhältnis erst aus einer bestimmten Lektüre erschließen. Erst wenn wir neben unserem eigenen sozialen Standort auch die metaphy-sischen Voraussetzungen unserer Zeit bedenken, tun sich uns Qualitäten des Utopischen kund, die nicht an die engeren Grenzen der Diskursart gebunden sind. Auf Grund be-stimmter historischer Konstellationen können sich diese in Texten wiederfinden, die wir nicht eben utopisch nennen würden. So weist bereits der bürgerliche Roman im Einge-denken an die Tradition des Epos und aufgrund seines Anspruchs „die Totalität der Welt abzubilden, einen utopischen Zug"29 auf, der seine Kehrseite in der Melancholie des enttäuschten Totalitätsanspruchs hat. Entgegen einem vermeintlichen „Ende des utopischen Zeitalters"30, wie es seit dem XIX. Jahrhundert, zunächst für sozialistische, dann für liberale Kritiker zum historischen Apriori wurde, geben wir mit unserer eige-nen Rezeption zu erkennen, wie es tatsächlich um das Mögliche als Teil des Wirklichen in unserer Zeit bestellt ist. Im gebrochenen Spiegel der vorliegenden Romane erfahren wir, wie die Mechanismen von Eutopie und Dystopie ineinander verlaufen.

27 Michel Houellebecq, Bernard-Henri Lévy, Ennemis publics, Paris 2008, S. 114f. 28 Simon St-Onge, „De l'esthétique houellebecquienne", in: Murielle Lucie Clément, Sabine van Wesemael (Hg.), Michel Houellebecq sous la loupe, Amsterdam/New York 2007, S. 69-80, hier S. 74. 29 Wolfgang Braungart, „Apokalypse und Utopie", in: Gerhard R. Kaiser (Hg.), Poesie der Apo-kalypse, Würzburg 1991, S. 63-102, hier S. 73. 30 Joachim Fest, Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, Berlin 1991.

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II

Utopische Leitbilder gehen „auf ein heimliches Ziehen und Zucken durch die Gesell-schaft"31 zurück, das jedoch nicht auf den Ausgleich sozialer Interessen, sondern auf eine Überwindung bestehender Verhältnisse gerichtet ist. Mehr als nur eine literarische Gattung, bauen sie auf geschichtliche Triebkräfte, die „so stark an der Zerstörung und Umformung einer gegebenen Gesellschaft interessiert sind, dass sie unwissentlich nur jene Elemente der Situation sehen, die diese zu negieren suchen".32 Während die Erfül-lung positiver Utopien im „Erleben, Denken und Handeln"33 nach dem Willen ihrer sozialen Subjekte noch aussteht, sind auch deren negative Pendants in der Gegenwart schon angelegt, so dass sie auf Grund zunehmender Anzeichen drohen, zu den Topien von morgen zu werden.

Seismograph und gemeinsame Ebene dieser divergierenden utopischen Erwartungen ist jene urbane Umwelt, deren Zeichnungen in den vorliegenden Romanen ein verän-dertes Verhältnis der Menschen zu ihrer Natur, des Einzelnen zur Gesellschaft sowie der Geschlechter untereinander gleichermaßen diagnostizieren. Charakter und Ausmaß dieses Wandels lassen sich am besten vor dem Hintergrund des Ideals einer gelungenen Polis ablesen, in der der Bürger mit seiner von ihm gestalteten Lebenswelt auch seinen Mittelpunkt und seine Mitte findet.34 Angesichts der Erschöpfung, die der städtische Raum erfährt, beginnt man zu verstehen, was zerrissenen Figuren wie Bruno und Mi-chel verwehrt ist und eine Leerstelle bleibt: die Tradition der Agora (,Versammlung', .Marktplatz')35, wie sie zunächst in der griechisch-hellenistischen Welt zum Ausgangs-punkt der Staatsutopien, schließlich in den Städten des Mittelmeerraums zum Topos heilsgeschichtlicher Erwartungen wurde. Als Ergebnis einer mehrtausendjährigen Re-volution36 suggeriert die in sich geordnete Polis die „Übernahme von Verantwortung durch die Bürger bzw. der Freundschaft und Eintracht (homonoia) in der Bürger-schaft"37, die dieser zu ihrem Bestand und zum inneren seelischen Gleichgewicht ihrer Angehörigen gleichwohl bedarf.

31 Theodor Mündt, Die Geschichte der Gesellschaft in ihren Neureren Entwickelungen und Problemen (1844), zit. nach Lucian Hölscher, „Utopie", in: Otto Brunner, Reinhart Koselleck, Werner Conze (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, Stuttgart 2004, S. 733-788, hier S. 783. 32 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt/Main 41965, S. 36. Vgl. auch Hölscher, „Uto-pie", S. 784. 33 Mannheim, Ideologie und Utopie, S. 169. 34 Vgl. dazu Herfried Münkler, Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung, Berlin 2010 und Leonardo Benevolo, Die Stadt in der europäischen Geschichte, München 1999. 35 Vgl. Carl Andresen (Hg.), Lexikon der Alten Welt, Augsburg, 1994, S. 18. Vgl. auch Gilles Deleuze, Félix Guattari, Qu'est-ce que la philosophie?, Paris 1991. 36 Vere Gordon Childe, „The Urban Revolution", in: The Town Planning Review 21 (1950), S. 3-17; vgl. auch Michael E. Smith, „V. Gordon Childe and the Urban Revolution: An Historical Perspective on a Revolution in Urban Studies" in: Town Planning Review 80 (2009), S. 2-29. 37 Wilfried Nippel, „Polis", in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1971f„ Bd. 8, S. 1031-1034, hier S. 1032.

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Von Amtslokalen, sakralen Gebäuden und Läden umgeben, symbolisiert die Agora eine Harmonie zwischen Stadt und Gesellschaft, Religion und Handel, von der die Tex-te Houellebecqs weit entfernt sind. Von der Kritik als „Baudelaire des supermarchés"38

bezeichnet, überbietet nicht zuletzt seine stadtbezogene Lyrik die Düsternis seines Vor-bilds noch bei weitem. Lassen sich bereits bei jenem Anzeichen der Entfremdung nachweisen, die den flanierenden Stadtbewohner erfasst, „[puisque] l'accumulation des capitaux a remplacé la religion"39, wird diese auch von Houellebecq aufgenommene Erfahrung nicht mehr durch Eindrücke des Neuen kompensiert. Obschon vom Spleen nicht explizit die Rede ist, kehrt er dennoch auch hier in der Selbstzerstörung des lyri-schen Ichs durch den Alkohol, in dessen Niedergeschlagenheit angesichts seiner finan-ziellen und seelischen Desaster wieder. Als Folien vager Befindlichkeiten bilden Me-tropolen von New York bis Rom die Niedergeschlagenheit einer bleiernen Zeit ab. Sie sind gewissermaßen Hardware jener Verfallselemente, die sich von der Gegenwart in die Zukunft schleichen und diese mit umso größerer technischer Finesse vorbereiten.

Auch in den vorliegenden Romanen sind Stadtrand und Provinz Treffpunkte gesell-schaftlicher Außenseiter: Mit den Geschäftsreisen sexuell frustrierter IT-Spezialisten durch so reizlose Städte wie Rouen oder belanglose Orte wie La Roche-sur-Yon erwei-tert sich die Hauptkampflinie in EDL über die gesellschaftliche Sphäre hinaus auch in topographischer Hinsicht. In LPE schließt die emotionslose Tristesse die biedere Ge-schäftigkeit der bürgerlichen Vorstadtquartiere ebenso ein wie die öden Außenbezirke von Nizza „avec ses HLM d'Arabes, ses affiches de Minitel rosé et ses scores de 60 % au Front national"40, wie auch die Leere, die Michel nach dem tragischen Ableben Annabeiles „dans le bâtiment de béton blanc et d'acier" befällt und an den Tod seiner Großmutter erinnert.41 Auch die metaphysische Mutation, von der hier die Rede ist, vollzieht sich im Stillen, an vergleichsweise belanglosen Orten wie der innovativen Westküste Irlands, wo der Geburt einer andersartigen Existenz der Weg bereitet wird, ebenso wie die Sehnsucht des neuen Lebens nach einem alten menschlichen Dasein in LPI, die sich hingegen im unwirtlichen ausgedörrten Süden Spaniens abspielt.

Die Polis selbst ist allenfalls noch düsterer Schauplatz eines Geschehens, das zwi-schen Großstadt und Provinz changiert. So beliebig wie die Stätten sind auch die Bezie-hungen, die sich in den meisten Fällen als unbedingt austauschbar erweisen. Da das Gleichgewicht zwischen Agora und Markt, Handel und Geist längst zerbrochen ist, greift das ökonomische Prinzip von Angebot und Nachfrage selbst auf die vermeintlich intimsten Bereiche des Lebens über: Die Familie als letzter Ort affektiver Dichte löst sich in subkulturellen Räumen auf, in denen sich die Sexualität dem heiligen Diktat der Reproduktion entwindet, aber dem des Marktes beugt. Doch nicht die sexuelle Phanta-sie kommt hier zur Macht, sondern ein Stadium fortgeschrittener Automatisierung, die

38 Dominique Noguez, Houellebecq, en fait, Paris 2003, S. 30. Vgl. auch Julia Pröll, „La poésie urbaine de Michel Houellebecq: sur le pas de Charles Baudelaire", in: Murielle Lucie Clément, Sabine van Wesemael (Hg.), Michel Houellebecq sous la loupe, Amsterdam/New York 2007, S. 53-68, hier S. 53. 39 Pröll, „Poésie urbaine", S. 57. 4 0 L P £ , S . 251. 41 LPE, S. 356.

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sich in dem von Kritikern immer wieder geschmähten Übermaß an pornographischen Szenen abbildet.42 Sexuelle Maßlosigkeit, die im deutlichen Gegensatz zu jener von Aristoteles geforderten (freilich auch erzwungenen) Ökonomie des Lebens steht, belegt den Verlust einer psychischen Mitte „zwischen dem Zuviel und Zuwenig" 4 j Auch in dieser Hinsicht zeichnen Seelenlandschaften ihre Karten. In Heterotopien, wie dem Friedhof, dem Garten, der Bibliothek, dem Museum und dem Bordell44, erleben sich Menschen in Krisen- und Grenzsituationen: Angesichts dieser Ausweglosigkeit sind sie weit davon entfernt, jene „empreintes successives du profil humain"45 zu hinterlassen, die nach christlichem Verständnis aus dem Dunkel ins Licht führen, „la transfiguration paradisiaque de l'enfer terrestre, l'éclosion lente et suprême de la liberté".46

III

Angesichts dieser Topographie dürfte es zunächst eigentlich nicht schwerfallen, den dystopischen Anteil an den vorliegenden Romanen höher zu veranschlagen als dessen Gegenseite. Gerade ein „réalisme cru, brut et souvent choquant"47 birgt indes die Ge-fahr, auf Grund seines schlichten sprachlichen Duktus dessen Evidenzen zur Tautologie zu machen. Die moralische Haltung des impliziten Autors, die sich zu einer inneren Teilnahme an seinen Darstellungen verpflichtet, verbietet es diesem zwar, den Erzähl-prozess gegenüber der Geschichte zu akzentuieren und aufzuwerten. Doch aus dieser Verweigerung gegenüber selbstreferenziellem Schreiben lässt sich keineswegs auf eine Transparenz der Realien schließen. Andernfalls wäre es unverständlich, warum die Erzähler Houellebecqs des trockenen sachlichen Tons überdrüssig sind und sich eines an Zola erinnernden Stils annehmen, „[une écriture] qui se veut faussement neutre ou objective"48, um der Entfremdung des Menschen auf drastische Weise Rechnung zu tragen. Indem der Erzähldiskurs den Leser mit derben pornographischen Bildern provo-ziert, die in EDL von der Tierwelt selbst ausgedeutet werden, wird der metaphysische Wandel angesprochen. Das platonische Schema, das sich auf die Oppositionen zwi-

42 Vgl. Medard Ritzenhofen, „Das Lebensziel ist verfehlt! Michel Houellebecq: ein Provokateur zwischen Trash und Tragik", in: Dokumente 6/57 (2001), S. 481-488. 43 Vgl. Ursula Wolf, Aristoteles' Nikomachische Ethik, Darmstadt 2002, S. 72. 44 Roland Spiller, „Sex, Lust, Digression. Michel Houellebecqs Kult elementarer Energien", in: Rudolf Freiburg, Markus May, Roland Spiller (Hg.), Kultbücher, Würzburg 2004, S. 201-222, hier S. 203. 45 Victor Marie Hugo, La légende des siècles, Bd. 1, Paris 1859, S. IX. 46 Hugo, La légende, S. 136. 47 Wolfgang Asholt, „Deux retours au réalisme? Les récits de François Bon et les romans de Michel Houellebecq et de Frédéric Beigbeder", in: Lendemains 27 (2002), S. 42-55, hier zitiert nach dem Typoskript [URL: www.tierslivre.net/univ/X2000_WAsholt_Real.pdf, Stand: 30. April 2011], S.1-15, hier S. 10. 48 Sandrine Rabosseau, „Houellebecq ou le renouveau du roman expérimental", in: Murielle Lucie Clément, Sabine van Wesemael (Hg.), Michel Houellebecq sous la loupe, Amsterdam/New York 2007, S. 43-51, hier S. 44. Vgl. auch Martin Robitaille, „Houellebecq, ou l'extension d'un monde étrange", in: Tangence 76 (2004), S. 87-103.

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sehen Geist und Materie, Seele und Körper, Substanz und Phänomen bezieht, weicht einem naturalistischen Organisationsprinzip.

Hatte der Geist den Menschen in der christlichen Tradition mit einem höheren Selbst ausgestattet, das ihm nach dem Ende seiner physischen Existenz zu einem ewigen Da-sein verhelfen sollte, so bildet sich diese Tendenz hier bereits in der Eigenbewegung des Lebens ab, in dessen „natürlichen Bausteinen (Elementarteilchen und physikalische[n] Grundkräfte[n])".49 Aus diesem Bedeutungstransfer ergibt sich unterhalb der realisti-schen Oberfläche eine Spannung zwischen jener metaphysischen Tradition, die noch auf Schrift, Philosophie und Religion beruht, und einer kreativen Selbstorganisation der Materie, immer komplexere Strukturen im Bereich der Molekularbiologie und Physik zu bilden. Diese bis in die Definition gleichlautender Begriffe reichenden Widersprüche begünstigen ein Innehalten unserer Vernunft, die gezwungen ist, die Bedingungen unse-res menschlichen Daseins zu überdenken. Ebendies geschieht in den vorliegenden Ro-manen: Eine unvermindert in ermatteten Traditionen eingebundene Sprache, „qui ne semble être que des fragments d'autres discours usés et vidés de leur sens"50, bricht sich an einer von neuartigen Informationen durchfluteten Welt.51 Die Darstellung der Wirklichkeit, „profondément infectée par le sens"52, hat Anmerkungen und Reflexionen einzuschließen, die zu notwendigen Strukturmerkmalen des Erzählens werden, „[comme Houellebecq] photographie intérieurement les paysages, s'imprègne des commentaires et des comportements"5", wie dies in seinem jüngsten Roman La carte et le territoire (2010) problematisiert wird: Da verfällt der Künstler Jed Martin einer wachsenden Faszination für raumhafte Darstellungen von Landschaften und Regionen. Dem flüchtigen Betrachter mögen derartige Karten nur abstrakt erscheinen. Doch ein Kartograph, in dessen präzisen Blick sich ebenso lebendige Phantasie und ästhetisches Gespür mischen, erfasst unter der Oberfläche der Farbflächen und Linien die Geschicke der Lebenden:

Mais dans chacun des hameaux, des villages, représentés suivant leur importance, on sentait la palpitation, l'appel, de dizaines de vies humaines, de dizaines ou de centaines d'âmes - les unes promises à la damnation, les autres à la vie éternelle.54

Auch mit der Biographie der beiden Brüder Michel und Bruno breitet sich eine Karto-graphie vor uns aus, die allerdings zur „Gesellschaftsdiagnose eines katastrophalen Niedergangs des Humanums in allen Bereichen"33 kommt und aus diesem Befund den ersten künstlichen Menschen auf die Agenda des Jahres 2079 setzen wird. Die kulturell

49 Bertold Schweitzer, „Anti-Naturalismus als seltsamer Attraktor: Kommentar zu Hilary Putnam, ,Gehalt und Attraktivität des Naturalismus'", in: Thomas Sukopp, Gerhard Vollmer (Hg.), Natu-ralismus: Positionen, Perspektiven, Probleme, Tübingen 2007, S. 41-46, hier S. 42. 50 St-Onge, „Esthétique", S. 75. 31 Vgl. Asholt, „Retours", S. 9. 52 Michel Houellebecq, Inten'entions (essais), Paris 1998, S. 72. 53 Denis Demonpion, Houellebecq non autorisé. Enquête sur un phénomène, Paris 2005, S. 57. 54 Michel Houellebecq, La carte et le territoire, Paris 2010, S. 54. 55 Schober, „Weltsicht", S. 189.

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gesteuerte Gefühlskälte, wie sie letztlich zunehmend auch zum Leitbild eines souverä-nen bürgerlichen Subjekts gehört, wird nun in einen genetisch kodierten Selbstlauf überführt. Dem automatisierten Koitus der alten Menschen folgt die nicht minder fest-gelegte Abstinenz der neuen Wesen, in deren Bewusstsein die frühere Not noch gegen-wärtig und folglich umso nachhaltiger zu vermeiden ist. Dabei tritt der Roman Brave New World von Aldous Huxley als ein Intertext zutage, der jedoch nicht in seinem dys-topischen Bezug gelesen wird. Das Problem liegt demnach nicht allein in zukünftigen Technologien, sondern in einer Gegenwart, deren Lebensperspektiven bereits mit der Ausweitung der Kampfzone ebenso aufgezehrt sind wie deren heilstiftendes Potenzial. Der Utopie vom unsterblichen Menschen geht die Gegenwart des liebesunfähigen Men-schen voraus, „à l'impossibilité d'un projet amoureux [qui] correspond donc l'impossibilité du projet romanesque".56

Der Erzähler in LPE ermuntert uns dennoch, es ihm gleich zu tun und die Zeitachse zwischen Gegenwart und Zukunft in eine für das Utopische bindende metaphysische Ordnung zu stellen. Da zumal „das literarische Motiv der Stadt mit Utopie wie Apoka-lypse aufs engste verknüpft"57 ist, erscheint es zunächst geraten, das denkwürdige Span-nungsverhältnis, das zwischen Eutopie und Dystopie besteht, in unserem Zusammen-hang an den Archetypen des corpus Christi und des corpus Diaboli zu messen. Obschon „das ungeheure utopische Vorkommen in der Welt explizite fast unerhellt ist"58, prägt die Vision des Johannes von der Verheißung eines neuen Himmel und einer neuen Erde eine antithetische dualistische Grundstruktur vor, an der sich schon die zumeist mani-chäisch gezeichneten Utopien von der Renaissance bis zur Aufklärung zu orientieren pflegen. Mit ihr eröffnet sich zugleich ein eschatologischer Horizont, der seit dem spä-ten Mittelalter aus der christlichen Offenbarungsreligion in die säkularen Zukunftsent-würfe einwandern sollte. Mit dem Ideal einer friedlichen irdischen Gesellschaft werden jene Schätze, die bisher „an den Himmel verschleudert worden sind"59 als „eine in der historischen Entwicklung des Menschen wirksame göttliche Immanenz" entdeckt, als „evolutionäres Vertrauen oder revolutionärer Glauben an ein kommendes diesseitiges Utopia".60 Auf der einen Seite steht demnach das himmlische Jerusalem, von der Herrlichkeit Gottes erleuchtet und vom Heiligen Wasser durchströmt (Offb 21,3; 22,1), auf der entgegengesetzten „die säkulare Dirne Babylons".61

Nach dieser Tradition sind die Menschen vor die Wahl gestellt, sich entweder für die Stadt Gottes oder für die Stadt Satans zu entscheiden. Doch der Übergang von der alten zur neuen Menschheit entzieht sich den manichäistischen Zuschreibungen von Himmel

56 Asholt, „Retours", S. 11. 57 Braungart, „Apokalypse", S. 72. 58 Bloch, Hoffnung, S. 4. 59 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, Bd. 1: Frühe Schriften, hg. von Eva Moldenhauer. Karl Markus Michel, Frankfurt/Main 1986, S. 209. 60 Richard Tarnas, Idee und Leidenschaft. Die Wege des westlichen Denkens, Hamburg 1997. S. 405. 61 Peter Strasser, „Die Moderne - eine Endzeit ohne Eschatologie", in: Gerhard Larcher, Kan Matthäus Woschitz (Hg.), Religion, Utopie, Kunst: die Stadt als Fokus, Wien 2005, S. 36-66. hier S. 66.

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und Hölle, die sich den beiden Brüdern als Entweder/Oder nicht erschließen wollen. Allenfalls wird das Motiv noch in jenem Drehbuch zitiert, das Bruno über die Zions-stadt des Friedens („Schwerter zu Pflugscharen", Jes 2,4, Mi 4,3), die himmlische Stadt der Apokalypse, hinterlassen hat. Christus habe seinen Kampf gegen den Tod verloren und sei nicht auferstanden, was letztlich im ausschließlichen Glauben an die irdischen Güter seine Bestätigung fände. Ausschließlich sanften Frauen und fröhlichen Hunden ist in dieser Utopie noch ein paradiesisches Leben beschieden, das als Folge einer biolo-gischen Katastrophe nur sporadisch an die untergegangene Phallokratie erinnert.62 So-weit des biblischen Traums vom Advent Christi und vom Ende der Zeiten gedacht wird, liegt dieser in dem vom impliziten Autor bemühten sprachlichen Erbe, das auch bei der Ankunft des neuen Menschengeschlechts gegenwärtig ist. Einem liberum arbitrium haben biogenetische Verfahren ungeachtet des moralischen Gestus, den der Erzähler geltend macht, längst jede Grundlage entzogen. Referenzen dieser Art scheinen ins Leere zu laufen, auch wenn der sprechende Name Daniel in LPI abermals an die apo-kalyptischen Visionen des biblischen Propheten anknüpft, der „die schrecklichen Fol-gen der Wut Gottes über die Sünden der Menschen beschwor sowie das Kommen einer neuen, besseren Menschheit verkündete".63

Weniger als in einer heilsgeschichtlichen Dimension liegt die Schöpfung des Ho-munkulus in der Logik eines Zeitalters, das mit Descartes seinen Anfang genommen hatte und seine eigenen Grundlagen als ein metaphysisches zerstört. Auch die Rekon-struktion von Nachkommen, wie sie in LPE und LPI nahezu empfindungsarme Züge trägt, zeichnet sich bereits im Gesicht der alten Menschen, ihren bleiernen Familienver-hältnissen und ihrem defizitären gesellschaftlichen Gefüge ab. So ist das Verschwinden des Subjekts in jenem keineswegs statischen Weltbild angelegt, mit dem der Mensch ebenso „zur Bezugsmitte des Seienden als solchen wird" wie „Natur und Geschichte zum Gegenstand des erklärenden Vorstellens".64 Denn nicht, dass „das Weltbild von einem vormals mittelalterlichen zu einem neuzeitlichen" wird, sondern dass „überhaupt die Welt zum Bild wird, zeichnet das Wesen der Neuzeit aus".65 Zur bloßen eidetischen Vorlage seiner Entwürfe geworden, erscheint den Menschen die Welt jeglichen Zaubers entkleidet und im starren Objektsein entfremdet. Doch den Göttern folgen bald auch die Menschen, insoweit sich diese als gestaltende souveräne Subjekte verstehen. Im Vorge-hen, „alle Denkgehalte im Subjekt sich selbst vorstellend"66 zu subsumieren, unterwirft sich der Mensch die Welt als Objekt, um infolge der von ihm angestoßenen Dynamik

62 LPE, S. 258. 63 Frings, „Funktion der Kirche", S. 75. 64 Martin Heidegger, „Die Zeit des Weltbildes", in: Ders., Holzwege, Frankfurt/Main 71994, S. 75-114, hier S. 87. Wir beziehen uns im Folgenden auf den Vortrag „Die Zeit des Weltbildes" (1938), in dem Heidegger die Orientierung von Mensch und Welt auf Technik und Wissenschaft kritisiert, wie sie im metaphysischen Zeitalter zur Grunderscheinung wird. Seine Einwände be-treffen auch das nationalsozialistische Regime, dem sein Engagement zunächst gegolten hatte. Der Vortrag erschien 1950 mit anderen zwischen 1935-1946 entstandenen Arbeiten in dem Band Holzwege. 65 Heidegger, „Weltbild", S. 90. 66 Hans Ebeling, Martin Heidegger. Philosophie und Ideologie, Reinbek 1991, S. 91.

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selbst zum organischen Teil eines Gefüges zu werden, das ihn mit der Zeit absorbiert und überflüssig macht. Die allgemeine Tendenz zur Bebilderung oder Illustration um-fasst auch den menschlichen Körper selbst, dessen Transformation ins Bild angestrebt wird. Die visuelle Verschmelzung des Menschen mit den technologischen Strukturen und Apparaten ist demnach notwendige Folge jener Forschung67, die die Natur zum Gegenstand macht, um sie mit zunehmender Genauigkeit zu quantifizieren und zu mes-sen. Als „einweisende Zeichenstruktur, die eine Weltrichtung zeigt"68 ist das Weltbild ein ununterbrochenes Spiel von Bildern, in das der Betrachter als gestaltendes Subjekt immer stärker hineingezogen wird.

In dem Maße, wie sich der Mensch in die Mitte seiner Welt bringt und diese nach seinem Maß ausrichtet, wird das Vergehen der Zeit als Erkenntnis- und Leistungsfort-schritt wahrgenommen, wie dies bei den großen geschichtsphilosophischen Entwürfen des XIX. Jahrhunderts (Hegel, Marx, Comte) ins Auge fällt. Besonders das Dreista-dienmodell Auguste Comtes, das auch Houellebecq zu einem ständigen Referenzpunkt wird,69 richtet den Menschen auf seine zunehmende technische Verwertbarkeit zu. Da die vorgängigen Stadien, das theologische oder fiktive bzw. das metaphysische und abstrakte, die wissenschaftlich-positive Phase vorbereiten, bezeichnen auch die in LPE benannten Wandlungen, die Ausbreitung des Christentums seit der Spätantike, der Tri-umph der Naturwissenschaften seit der Renaissance und schließlich die Geburt des Neuen Menschen lediglich wichtige Etappen innerhalb der Zeit des Weltbildes. Auch das von Comte angeregte Ziel einer neuen Menschheitsreligion befindet sich „en ligne droite dans l'histoire de la civilisation occidentale"70 und gerät so in den Blickpunkt Houellebecqs. Mit dem Positivisten teilt der Autor die Auffassung, dass der Niedergang des Christentums eine Gesellschaft ohne Maß und Ordnung hinterlassen hat. Ein Ge-meinwesen, das als Ergebnis des ökonomischen Liberalismus und der sexuellen Liberti-nage keine Integrationsleistungen mehr gegen den eignen Zerfall aufzubieten hat, bedarf aus seiner Sicht eines neuen religiösen Fundaments.71

Doch entbehrt es nicht einer gewissen Logik, dass die neue Religion die Grenzen der christlichen Ikonographie erreicht und über sich hinausdenken muss. Indem sie mit ihrer historischen Nachfolgerin, der Maschinentechnik, eine Allianz eingeht, vermag sie sich aus den sich entfaltenden Produktivkräften selbst zu erneuern. Comte hatte in der Se-xualität noch ein brisantes Konfliktfeld vorausgesehen, „le plus perturbateur de tous nos

67 Vgl. dazu auch Kian-Harald Karimi, „Von der äußeren in die innere Mongolei. Medialität und Domestizierung des Körperlichen bei Mario Sa Carneiro, Bioy Casares und Michel Houellebecq", in: Gisela Febel, Cerstin Bauer-Funke (Hg.), Das Andere der Vernunft oder der künstliche Mensch in der Literatur - Automaten, Marionetten, Puppen, Berlin 2005, S. 259-283. 6S Vasile Pädurean, Spiel, Kunst, Schein: Nietzsche als ursprünglicher Denker, Stuttgart 2008, S. 51. 69 Vgl. auch George Chabert, „Michel Houellebecq - lecteur d'Auguste Comte", in: Revue Ro-mance 37 (2002), S. 187-204. 70 Chabert, „Auguste Comte", S. 189. 71 Vgl. LPE, S. 119.

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instincts"72, allerdings ohne diesem Übel der natürlichen Reproduktion durch konkrete Lösungen beizukommen. Führte diese in den europäischen Gesellschaften des XIX. Jahrhundert noch zu dem Erfolg, dass Generationen tüchtiger Bürgerkinder das Licht der Welt erblicken sollten, so wollen sich im Zuge der sexuellen Emanzipation keine ähnlich befriedigenden Resultate mehr einstellen. Comte wusste indes noch keine Ant-wort auf die Frage zu geben, wie denn eine Menschheitsreligion auszusehen habe, deren Gefährten, „conscients de leur disparition individuelle"73, sich wohl oder übel mit dem Tod abfinden müssen. Wie Houellebecq schlussfolgert, stellt sich diese Frage für die neueren Technologien heute in einem anderen Licht. Indem sie dem Traum von der Unsterblichkeit konkrete Gestalt verleihen, geben sie mit einer neuen Religion auch der Lehre Comtes neuen Auftrieb und damit eine umso größere Resonanz. An dieser Stelle schließt sich der Kreis: Der so in die Unendlichkeit eingehende Mensch wäre unter diesen Voraussetzungen mit jenem Bild identisch, das er sich von der Welt geschaffen hatte, selbst um den Preis seiner Selbstzerstörung, „comme si l'homme ne pouvait atteindre à l'humanité qu'au prix de son sabordage".74 Mit einem technischen Zeitalter, in dem sich die Konstruktion der Neuzeit vollendet, wird umso offensichtlicher, „[que nous sommes nous-mêmes] des objets dans un monde d'objets".75 Dabei löst diese Auferstehung in der immanenten Welt zumindest scheinbar ein wesentliches Problem, auf das gerade die Bilderwelt des Christentums keine Antwort zu geben wusste. Denn obwohl im Menschensohn Jesus schon eine ungeheure Konkretion des Göttlichen er-reicht worden war, sollten die religiösen Einbildungsstrukturen mit der Kreuzigung des Erlösers doch eher im Moment des Leidens verharren und diesen überhöhen. Nun aber erhält auch die Auferstehung eine unmittelbar sinnliche Dimension, allerdings mit dem Ergebnis, dass den Unsterblichen alle Sinne abhandengekommen sind.

IV

Auch wenn philosophische Spekulationen unter diesen neuen Gesichtspunkten in den Hintergrund treten müssen, steht die Anthropologie noch im Bann christlicher Überlie-ferung und säkularisierter humanistischer Postulate. Diesen geht es in den Bestimmun-gen des Menschen als sprachbegabtem Tier (Aristoteles) oder als erstem Freigelassenen der Schöpfung (Herder) darum, den Menschen im Sinn eines höheren Selbst zu zähmen und in seiner Gottesebenbildlichkeit zu nobilitieren. Auch unser Autor vertritt die An-sicht, dass wir die Metaphysik auf mentaler Ebene noch längst nicht überwunden haben, unterlassen wir es doch nicht, Fragen nach dem Sinn der Naturgesetze zu stellen, anstatt sie als Gegebenheiten hinzunehmen.76 Wie indes im erzählerischen Abspann von LPE

72 Auguste Comte, Système de politique positive ou de traité de sociologie, instituant la religion de l'humanité. Bd. 3, S. 233. Vgl. auch Michel Houellebecq, „Préliminaires au positivisme", in: Auguste Comte, Théorie générale de la religion, Paris 2005, S. 5-13. 73 Houellebecq, „Positivisme", S. 13. 74 Laurence Dahan-Gaida, „La fin de l'histoire (naturelle): Les particules élémentaires de Michel Houellebecq", in: Tangence 73 (2003), S. 93-114. 75 Interview mit Houellebecq, zit. nach Dahan-Gaida, „Fin de l'histoire", S. 110. 16 Interview mit Michel Houellebecq in der Züricher Weltwoche am 28. Februar 2002.

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ersichtlich, sind pädagogische Projekte dieser Art zum Scheitern verurteilt und haben sich mit der neuen metaphysischen Wandlung erübrigt. Denn indem sich diese nicht im Geist, sondern in den Genen vollzieht, wird unterstellt, dass Menschen „Biomechanis-men und letzten Endes Maschinen sind".77 Dennoch kommt die neue Lebensform hier schließlich auf verhältnismäßig leisen Sohlen daher: Obschon die weitreichenden Ver-änderungen seit den 1960er Jahren auf der mentalen und juristischen Ebene vorbereitet werden, findet die vom Erzähler zitierte Weltöffentlichkeit vor allem an Hochschulen und in internationalen Organisationen wie der UNESCO statt. Eine durch demokrati-sche Willensbildung mitnichten legitimierte Priesterherrschaft der Wissenschaftler be-reitet schon in der kritischen Übergangsphase vor, was alsbald zur autoritären herr-schenden Norm werden wird: die Verabschiedung der gesellschaftlichen Akteure aus der Verantwortung für das Gemeinwesen. Die Resistenzen, die sich noch anfangs gegen das Projekt einstellen wollen („une réprobation et un dégoût unanimes, par une part croissante de l'opinion publique mondiale"78), brechen am allgemeinen Ruin menschen-rechtlicher Kategorien (individuelle Freiheiten, Menschenwürde, Fortschritt) allmählich in sich zusammen.

Aber das Versagen der Sprache, die in einer von Klonen und Automaten beherrsch-ten Welt ihre Referenzen zu verlieren beginnt, wird sekundiert von der Geistesabwe-senheit der Sprecher, die diesen Wandel von den kleinen bis zu den größeren Anzeichen nicht zu bemerken scheinen. Auch tritt der Umstand ein, auf den bereits Georg Lukäcs in den 1920er Jahren in seinem Einwand gegen die materialistische Anthropologie Ludwig Feuerbachs hingewiesen hatte. Wenn „der Mensch als Maß aller Dinge gefaßt" werde und diese Abstraktion des Humanums „einfach an die Stelle jener transzendenten Mächte tritt, die er zu erklären, aufzulösen und methodisch zu ersetzen berufen wäre", verwandele sich „die Philosophie in eine ,Anthropologie'".79 Der Mensch selbst ver-kehre sich so in eine unverrückbare Gegenständlichkeit, die nicht mehr Teil der Ge-schichte sei, sondern über deren Bewegungen stehe. Dass aber auch das Subjekt einen bestimmten Modus im Verhältnis zur Welt einnimmt, wenn nicht sogar auf Grund eines bestimmten Bezugs zu dieser erst entsteht, wird nicht nur von einem Humanismus aus-geblendet, der unbeirrt von einer anthropologischen Überlegenheit des Menschen aus-geht. Die Anspielung des Erzählers auf die Ahnungslosigkeit der Gebildeten und Halb-gebildeten impliziert nämlich eine Kritik am Szientismus, der seine eigenen historischen Konstitutionsbedingungen stillschweigend voraussetzt und nicht zur Disposition stellt. Sie schließt aber auch ein anthropologisches Denken ein, dass „[der] Entfaltung eines metaphysischen Fragens"80 im Namen des Humanismus hinderlich ist und den arbeiten-den, sprechenden und lebenden Menschen gegenüber der Technik schwächt.

Als Kontrapunkt zu jenem von Friedrich Engels vorausgesagten Reich der Freiheit, in dem Natur und Geschichte als die alles beherrschenden „objektiven, fremden Mächte

77 Strasser, „Moderne", S. 44. 78 LPE, S. 308-309. 79 Georg Lukäcs, Werke, Bd. 2: Frühschriften II. Geschichte und Klassenbewußtsein, Neu-wied/Darmstadt 1968, S. 322. 80 Martin Heidegger, „Was ist Metaphysik?", in: Ders., Wegmarken, Frankfurt/Main 1976, S. 103-122, hier S. 103.

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unter die Kontrolle der Menschen selbst"81 treten, ist uns eine andere Prognose von Marx bekannt: Dass „alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige entweiht [wird], und die Menschen endlich gezwungen [sind], ihre Lebensstellung, ihre gegen-seitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen"82, gehört ebenso zum Ergebnis jener entfesselten Produktivkräfte, die ihre überschüssigen Energien auf neue Ziele zu lenken wissen. In den Signaturen, die zwischen Unsicherheit und Bewegung dahin-taumeln, kündigt sich zwar eine neue Herrschaft über die Natur an. Aber diese Ent-wicklung schreibt sich mit einem ihrem Charakter eigenen unerbittlichen Automatismus fort, der auch dem Menschen sein Oktroi auferlegt und diesen, auch wenn nicht explizit vom Erzähler vermerkt, selbst in eine Warenform verwandelt: Bereits in der Epoche des aufkommenden Industriekapitalismus hatte dieser Tauschwert „den Menschen die ge-sellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Ar-beitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge [zurückge-spielt]".83 Im Zuge der genetischen Revolution und ihrer Vollendung tritt nun dem alten Menschen auch die neue Spezies im Fetischcharakter eines vollkommenen Produkts gegenüber. Nichts erinnert mehr auch nur im Entferntesten an eine Geschichte, die ihn als sündhaftes Mangelwesen mit einem umso idealeren Schöpfer konfrontiert hatte. Mag diese Geschichte auch ein Werden aus Knechtschaft und Entfremdung gewesen sein, ist sie bis zur Abdankung des Menschen doch immerhin seine eigene gewesen, „gemacht nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmit-telbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen".84

Die serielle Fabrikation unsterblicher Wesen entzieht sich indes jedem philosophi-schen Diskurs, dem nach Jahrzehnten maßloser Uberschätzung nur noch Gelächter entgegen schlägt. Mit der neuen Ordnung lassen sich die zukünftigen Klone auch nach erreichter Laufzeit, wie in LPI ersichtlich, ohne jegliche Mitsprache ganz unproblema-tisch durch Nachfolger aus neuer Produktion ersetzen. Dass der Neue Mensch als „her-stellbar gedacht wird", markiert als Folge gesellschaftlichen Fortschritts schon „die inhaltliche Differenz zu allen christlichen Auffassungen"85, mit denen dieses einflussrei-che Konzept der politischen Theologie seinen Anfang genommen hatte. Doch im Fall dieser sehr naturalistisch verstandenen Inkarnation ist es nicht mehr um eine propa-ganda fides zu tun, die sich gegenläufigen Diskursen und materialistischen Menschen-bildern letztlich nicht zu entziehen wusste. Hier geht es um die Unumkehrbarkeit des Geschehens, das Kategorien wie Brüderlichkeit, Sympathie und Liebe entbehrlich macht. Wie aber soll die Metaphysik, „ihren geschichtlichen Wandlungen" entspre-

81 Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in: MEW, Bd. 19, Berlin 41973, S. 177-228, hier S. 226. 82 Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW, Bd. 4, Berlin 61972,S. 459-493, hier S. 465. 83 Karl Marx, Das Kapital Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 23, Berlin 1962, S. 11-802, hier S. 86. 84 Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW, Bd. 8, Berlin 1960, S. 111-207, hierS. 115. 83 Küenzlen, Neue Mensch, S. 61.

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chend, „ihre eigene Geschichtlichkeit einbeziehen"86, wenn die Menschen ihre Rolle ausgespielt haben?

Das Ende der Geschichte als einer menschlichen schließt auch Dimensionen des Utopischen kategorisch aus, sofern wir mit Bloch postulierten, dass der Mensch „noch überall in der Vorgeschichte [lebe], ja alles und jedes noch vor der Erschaffung der Welt, als einer rechten" stehe.87 Dass die Genesis nicht der Anfang sei, sondern das Ende, dass der wahre Mensch in Analogie zur Auferstehung Christi erst noch geboren werden muss, macht die eigentliche Distanz dieser neuen Spezies zu jener Heimat aus, die sich der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch erst erwerben muss. Wie auch die Unsterblichkeit, die doch erst durch Leiden und Opfertod errangen wurde und nicht im Supermarkt, „l'authentique paradis mo-derne"88. Der Triumph des von Djerzinski angestoßenen Projekts beruht indes nicht auf einer Höherentwicklung der Menschheit. Es ist vielmehr die Kapitulation vor einer menschlichen Realität, der mit den alten Methoden, den humanistischen Mythen von der anthropologischen Güte und Perfektibilität des Menschen, offenbar weniger beizu-kommen ist als mit der Züchtung einer neuen Rasse. Paradoxerweise kommt dieses Ansinnen einer falschen Rettung jenes Humanismus gleich, der sich in diesen Konse-quenzen selbst liquidiert, im „Traum von einem Zustand der Menschheit, der des Bösen nicht mehr bedarf, weil kein Mangel mehr sein muß".89 Das bislang sinnlos hin und her taumelnde Leben ist uns Menschen in die Hände gegeben, war die Aussage Blochs. Wir haben es wieder aus der Hand gegeben und damit auch unsere Kompetenzen, wäre wo-möglich die Antwort Houellebecqs.

V

Das Oszillieren zwischen Eutopie und Dystopie, wie wir es in LPE und LPI erfahren dürfen, erklärt sich einerseits aus dem konsequenten Durchdenken des Zeitalters der Welt als Bild und Vorstellung von einem mutmaßlichen Endpunkt aus, andererseits aber aus der Unsicherheit, ob der Mensch nicht doch imstande sein sollte, aus dieser Ent-wicklung auszusteigen und die Abspaltung von der Natur zu überwinden, ohne hinter seine zivilisatorische Entwicklung zurückzufallen. In LPI, wo uns von „auswegloser Düsternis"90 erzählt wird, beschränkt sich die Auferstehung des Neuen Menschen nicht mehr auf eine kurze Nachrede, die immerhin noch in unserer Zeit gehalten wird. In diesem Roman werden die letzten Konsequenzen des seit dem Ende des Mittelalters geltenden Weltbilds im vierten Jahrtausend gezogen. In Dialog tritt eine zur Gegenwart gewordene Zukunft (Daniel24 und 25) mit jener Vergangenheit (Daniell), deren Refe-renzen den Nachgeborenen ein Geheimnis bleibt: Auf Grand dieser Einträge, die zwi-

86 Walter Schulz, „Metaphysik", in: Kurt Galing (Hg.), Religion in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 31956, Bd. 4, S. 908-913, hier S. 908. 87 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/Main 1959, Bd. 2, S. 1628. 88 Michel Houellebecq, Interventions 2: traces, Bd. 2, Paris 2009, S. 58. 89 Theodor W. Adorno, Vermischte Schriften ////, in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 20.2, hg. von Rolf Tiedemann, G. Adorno u.a., Darmstadt 1998, S. 684. 90 Hausmann, Anti-Utopie, S. 579.

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sehen beiden Zeitebenen changieren, stellen sich die Ursachen des Menschheitsendes aus den Kommentaren, aber auch aus der Leserperspektive ein. Dank der Unvereinbar-keiten, die sich im neuzeitlichen Schlüsselbegriff Tsxvr| (.ars) sammeln, schält sich die Utopie unumwunden in ihrer Negation heraus.

Zunächst fasst sich in diesem Terminus die Kunst des Menschen zusammen, sich durch „schöpferische Betätigung [im] Zeichen des vernünftigen Verhaltens gegenüber der Natur"91, von den Göttern, von der Härte der Natur, von den Bedingungen des Mittelalters „zu sich selbst zu befreien."92 Indem er sich eine zweite Natur oder Welt schafft, die er wie ein Objekt vor sich stellt, verwandelt sich dieser Akt der Selbstbe-stimmung jedoch in einen Zwang, die Technik von einer Tätigkeit zu einer bloßen Res-source, die die Dinge der Natur auf ihre ausschließliche Verwendung ausrichtet. Aus den Kommentaren der Neo-Menschen erfahren wir vom unwiederbringlichen Verlust, den diese in Hinblick auf eine zum Überleben notwendige Téxyr|, verstanden als zielge-richtetes, sachgemäßes Können, erlitten haben. Da technisches Wissen ganz mit dem Lebenswissen identisch wird, bleibt ihnen, mehr noch als ohnehin schon den alten Men-schen, eine Welt jenseits der Ts%vr| weithin verborgen. Gefahren ergeben sich aus dieser Einseitigkeit, insoweit „das Riesige und das scheinbar' durchaus jederzeit zu Berech-nende gerade dadurch zum Unberechenbaren" wird, in dem Maße wie „das Riesenhafte der Planung und Berechnung und Einrichtung und Sicherung aus dem Quantitativen in eine eigene Qualität umspringt".93 Ihren Prototypen bis ins genetische Detail ähnlich, leben die Klone unvermindert im Bann des Endlichen ohne Hoffnung auf ein ewiges Leben in zahlreichen weiteren Sukzessionen fort. Doch diese bilden keinen Stamm-baum, der der in Matthäus 1 angeführten Genealogie Jesu auch nur annähernd ent-spräche. Denn während hier noch der Namen großer Stammesväter, Propheten und Patriarchen aus vorangegangenen Erzählungen gedacht wird, trennt den ersten Daniel von seinen sehr viel späteren Abbildern eine verrinnende Zeit ohne Zweck und Ziel. Von Generation zu Generation potenziert sich die Minderung an Affekten als Gefühle von Lust oder Unlust ebenso wie an expressiven Möglichkeiten: Angesichts dieses Referenzgemetzels verwandeln sich die Neo-Menschen in matte Naturen, die in ihrer überwiegenden Zahl unfähig sind, ihr Leben vom Netz in die eigenen Hände zu neh-men. Resistenzen kollektiver Art sind in dieser Phase nicht mehr möglich, sondern wie in der Erzählung illustriert, nur noch als Ausbruch vereinzelter Klone aus dem stahl-harten Gehäuse eines von Techniken verstellten Universums vorstellbar.

Eine Geschichte, die vom Bedürfnis des Menschen bestimmt ist, „die Natur zu unse-rem Nutzen zu verwenden, sie abzureiben, aufzureiben, kurz, sie zu vernichten"94, hat

91 Branko Bosnjak, „Techne als Erfahrung der menschlichen Existenz. Aristoteles - Marx -Heidegger", in: Walter Biemel, Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hg.), Kunst und Technik, Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger, Frankfurt/Main 1989, S. 93-108, hier S. 95. 92 Heidegger, „Weltbild", S. 87. 93 Heidegger, „Weltbild", S. 95. 94 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, Bd. 9: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaf-ten im Grundrisse 1830. Zweiter Teil. Die Naturphilosophie, hg. von Eva Moldenhauer. Karl Markus Michel. Frankfurt/Main 1986, S. 12.

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sich mit der Entfesselung der Naturgewalten, Atomexplosionen und klimatischen Ver-änderungen erübrigt. Doch nicht nur die äußere Natur, auch die innere des Menschen, lässt nichts mehr von diesem erkennen. Die Kolonisierung seines Körpers hat die Ent-zweiung der Gattung zur Folge: Der Geist hat sich von seiner körperlichen Schlacke getrennt, um sich auf die zerebral betonten Neomenschen zurückzuziehen, „conceived in isolation, as Cartesian substances"95, deren Denken und Handeln so ferngesteuert ist, dass sie sich wie Automaten in geschlossenen Räumen bewegen. Die zu bloßen Raub-tieren verkommenen Reste des alten Menschengeschlechts „justement comme des singes un peu plus intelligents" 6 entsprechen jenen höchst künstlich eingerichteten Maschinen, als die schon Descartes den menschlichen Körper bezeichnet hatte, als „ein aufgezogenes Uhrwerk, völlig unabhängig von der Seele nur ihrem eignen Mechanis-mus gemäß alle natürlichen Handlungen [verrichtend]".97 Von „einem Leitbild des Citoyen, der durch direkte Diskussion mit seinesgleichen das bonum commune ermit-telt"98, sind die zu Relais gewordenen Neo-Menschen weiter denn je entfernt. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern der alten Art, deren Körper noch in der Gefangenschaft einer Seele waren, sind sie sich ihres Maschinencharakters gewiss, „[comme], contrai-rement à eux, nous avions conscience de n'être que des machines".99 Lust und Leid bleibt ihnen ebenso erspart wie den Mitgliedern jener beklemmenden Gemeinschaft in Bradburys Fahrenheit 451, denen das Leben vorwiegend in den Dimensionen von Fern-sehprojektionen bekannt ist. Allerdings ist an diesen nichts mehr von jener göttlichen Genialität erkennbar, die derartige Maschinen unvergleichlich besser zu ordnen wusste als jene von Menschen erfundenen Automaten.100 Sie reagieren nur auf elementare Reflexe und neigen mit ihren scheußlichen Ritualen zum Kannibalismus.

Eine humane Mitte, die Körper und Geist auf gleichberechtigte Weise miteinander vereinte, ist zerrissen. Jener menschliche Demiurg aber ist nur noch ein Detail in seinem Weltentwurf, in dem es ihm fortan beschieden ist, das dumpfe Dasein animalischer oder geklönter Automaten zu führen. Dieser Öde überdrüssig, begibt sich Daniel25 auf die ungewisse Suche nach einem Leben, das seinesgleichen allenfalls aus den Nachlässen der Prototypen geläufig ist. Angesichts dieser Einsamkeit bleibt ihm lediglich die Ener-gie, sich dem programmierten Dasein zu entziehen, ohne jenes Inselglück auf der ima-ginären Kartographie des Utopischen zu finden. Die Kritik hat zu Recht darauf auf-merksam gemacht, dass die im Titel evozierte Perspektive „eine klare Verbindung zu Huxley"101 und seinem letzten Roman Island (1962), „[his] most enduring and lasting

95 Ioan Pânzaru, „Post-Ego: Michel Houellebecq and Man's Aufhebung", in: University of Bucha-rest Review 10 (2008), S. 7-20, hier S. 18. 96 LPI, S. 26. 97 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie, Sämtliche Werke, hg. von K.F.A. Schelling, Stuttgart 1856, S. 45. 98 Saage, Utopische Horizonte, S. 168. 99 LPI, S. 469. 100 Vgl. René Descartes, Philosophische Werke, Übersetzung von J. H. von Kirchmann, Abt. 1, Berlin 1870, S. 65-66. 101 Hausmann, „Zukunftssicht", O.S.

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testimony"102 herstellt und „die Möglichkeit der Liebe und somit eines irdischen Paradieses"103 in Aussicht stellt. Anders als in Brave New World stehen Leser und schiffbrüchiger Held nicht mehr vor der Wahl zwischen dem Irrsinn verwilderter Tier-menschen und der Gleichförmigkeit programmierter Roboter. Da ist es den Bewohnern vergönnt, das Glück einer gelungenen, ökologisch orientierten Gemeinschaft, „a reso-lution of the human problem, a synthesis of opposites", zu erleben, in der Erfahrungen fernöstlicher Religionen mit Wertvorstellungen des Okzidents eine innige Allianz ein-gehen.104 Dass Daniel25 eben dieser glückliche Ausweg versagt ist, dass sich seine als sterblich empfundene Existenz schließlich mit dem Meer als symbolischem Ursprung verbindet, deren „Beschreibung eindeutig an Genesis 1 erinnert"105, zeugt von der äu-ßersten Konsequenz des impliziten Autors. Die technisch-wissenschaftliche Zurichtung der Welt, als deren Subjekt sich der Mensch in Renaissance und Aufklärung wähnte, fällt auf ihn selbst zurück und macht ihn zum Objekt tiefgreifender Operationen. Die neuen biogenetischen Kulturtechniken beschränken sich nicht mehr auf die Oberfläche der Haut. Sie dringen bis in das Körperinnere vor, um zunächst Teile seines Körpers und schließlich sein gesamtes Erbgut zu reproduzieren.106 Das Bemühen Huxley s, die westliche Quadratur des Kreises durch den Buddhismus zu umgehen, muss eingedenk der nahezu vollständigen Integration aller Weltzonen in die kapitalistische Weltwirt-schaft, auch entgegen der von Houellebecq gehegten Sympathien für fernöstliche Reli-gionen, ein esoterisches Unterfangen bleiben:

Das Ende der Philosophie zeigt sich als der Triumph der steuerbaren Einrichtung einer wissenschaftlich-technischen Welt und der dieser Welt gemäßen Gesellschaftsordnung. Ende der Philosophie heißt: Beginn der im abendländisch-europäischen Denken gegrün-deten Weltzivilisation.107

VI

Dass die Anti-Utopie der Brave New World in LPE zu einem Ideal umgedeutet werden kann,11'8 dass sich in LPI aber kein idyllisches Eiland mehr als erbaulicher Fluchtpunkt vor dem großen Finale der Menschheit findet, scheint aus unserer Sicht nur einen Schluss zuzulassen. Man kann der metaphysischen Logik, der sich Mensch gleich Ma-schine, Kultur gleich Natur bedingungslos zu unterwerfen scheinen, nur mit einer ähn-lich kompromisslosen erzählerischen Logik antworten. Wenn „der Mensch die uneinge-

102 Ronald T. Sion, Aldous Huxley and the Search for Meaning: A Study of the Eleven Novels, North Carolina 2010, S. 177. 103 Frings, „Funktion der Kirche", S. 72. 104 Sunnita Roy, Annie Pothen u.a., Aldous Huxley andIndian Thought, New Dehli 2003, S. 52. 105 Frings, „Funktion der Kirche", S. 76. 106 Vgl. Karimi, „Mongolei" bzw. Kian-Harald Karimi, „Creado, pero no segun la imagen de Dios - Metamorfosis de la inmortalidad en la obra de Bioy Casares", in: Alfonso de Toro, Susanna Regazzoni (Hg.), Homenaje a Adolfo Bioy Casares. XJna retrospectiva de su obra. Frankfurt/Main 2002, S. 69-87. 107 Martin Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S. 65. 108 Vgl. Hausmann, „Zukunftssicht", o.S. bzw. LPE, S. 156-159.

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schränkte Gewalt der Berechnung, der Planung und der Züchtung aller Dinge ins Spiel"109 bringt, darf auch die Erzählung nicht zur tröstlichen Kontemplation neigen. Vielmehr muss sie sich eine Radikalität zu Eigen machen, wie wir sie am Schluss des Romans kennenlernen. Gleich dem Himmel erinnert das Weltmeer als Symbol des Ewi-gen oder Unendlichen an die Sehnsucht des Menschen nach Unsterblichkeit, im christli-chen Kontext an die Überwindung des Todes durch die Auferstehung des Menschen-sohns. Am Ende seiner Reise angelangt, hat sich der vollkommen isolierte Daniel25 aus der Regenerationskette seiner Namensvetter entfernt und ist demnach von jener Un-sterblichkeit ausgeschlossen, deren Sehnsucht in Analogie zu den sexuellen Obsessio-nen in LPE - als „schwache säkulare Stellvertreterin für Transzendenz"110 - nur in der „quête sans relâche d'une proximité humaine, d'une familiarité, de l'amour" besteht.111

Seine letzten Blicke finden am Horizont „point l'objet du désir qui l'avait fait naître".112

Es bleibt nur ein Nichts, in dem sich seine soeben entdeckte Individuation wieder auf-zulösen beginnt: „Quittant de mon plein gré le cycle des renaissances et des morts, je me dirigeais vers un néant simple, une future absence de contenu".113

In dem Maße, wie sich die Metaphysik in der Technik vollendet und diese in der in-strumentellen Vernunft alle anderen Verhältnisse, auch Philosophie und Literatur, zu Kolonien erklärt,114 kann auch der Roman nicht mehr an die Tradition fiktionaler Biographien anknüpfen. Die Dichte von Figuren, wie sie etwa bei Balzac „das höchste Niveau (illusionärer) Historizität repräsentieren"115, ist aufgrund eines sich dezentrierenden Subjekts nicht mehr erreichbar. Angesichts „der Zusammenhangs- und Richtungslosigkeit moderner Lebensläufe"116, die auf die vom Arbeitsmarkt geforderte Flexibilität menschlicher Ressourcen reagieren, lassen sich Persönlichkeiten nicht län-ger „als Manifestationen von espèces sociales" beschreiben.117 Die Figuren bei Houelle-becq reagieren auf den allmählichen Zerfall sozialer Milieus und Bindungen, auf die Entmachtung des Patriarchats in Familie und Gemeinwesen.118 Diese Gegebenheiten machen es erforderlich, dass seine Figuren „mal als Individuum, mal als historische

109 Heidegger, „Weltbild", S. 90f. 110 Peter Sloterdijk, Selbstversuch. Ein Gespräch mit Carlos Oliveira, München/Wien 1996, S. 91. 111 Rita Schober, „Vision du monde et théorie du roman, concepts opératoires des romans de Michel Houellebecq", in: Bruno Blanckeman, Aline Mura-Brunel, Marc Dambre (Hg.), Le roman français au tournant du XXIe siècle, Paris 2004, S. 505-515, hier S. 511. 112 Anne-Marie Picard-Drillien. „No Future! Le désistement mélancolique de Michel Houelle-becq", in: Sabine van Wesemael (Hg.), Michel Houellebecq, Amsterdam/New York 2004, S. 185-199, hier S. 186. 113 LPI, S. 481. 114 Vgl. Ebeling, Heidegger, S. 95. 115 Joachim Küpper, Balzac und der effet de réel. Eine Untersuchung anhand der Textstufen des ..Colonel Chabert" und des „Curéde village", Amsterdam 1986, S. 46. 116 Schober, „Weltsicht", S. 182. 117 Küpper, Balzac, S. 52. 118 Kian-Harald Karimi, „,L'histoire, le chaos humain et le chaos métaphysique': Eine Geschichte jenseits der Geschichte in Texten von Maurice Dantec, Michel Houellebecq und Frédéric Beigbe-der", in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 3/4 (2009), S. 415-434.

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Bewegung" auftreten.119 Ebenso wenig, wie deren Ohnmacht mit einer „puissance sexu-elle proprement merveilleuse"120 kontrastiert, lassen sich diese Aggregatzustände zu einer Persönlichkeit vereinen. In ihrer Auflösung begriffen, „[dans] une société compo-sée d'individus se sentant isolés, séparés les uns des autres, se croisant dans un espace neutre"121, lassen Michel, Bruno oder gar Daniel25 einen fragmentarischen Charakter erkennen, wie er für die Strategien des impliziten Autors eines „roman à thèse"122 wohl angemessen sein und dem von Niels Bohr eingeführten „Komplementaritätskonzept zur Beschreibung der Realität als zweier sich gegenseitig ausschließender und ergänzender Zustände" entsprechen mag.123 Ganz in Technik und Naturwissenschaften aufgegangen, ist die Metaphysik in den Namen großer Physiker und Mathematiker präsent, aber eben auch in Prozessen einer Entpersönlichung, wie sie Bruno erleidet, „qui n'était que l'élément passif du déploiement d'un mouvement historique".124 Auch wenn Wissen-schaft und Technik das Erbe der Metaphysik antreten und menschliche Herrschaft auf letzte Residuen und Zufluchtsorte verschieben, sind sie nicht in der Lage, den Legiti-mationsverlust großer Metaerzählungen zu kompensieren. Mit ihrem wachsenden Pro-jektionsrahmen vergrößert sich im Gegenteil sogar die Ungewissheit menschlicher Exis-tenz, wie sie nicht zuletzt auch zum Hauptmotiv unserer Romanenfiguren wird.

VII

Abschließend können wir festhalten, dass die in den vorliegenden Romanen entworfene Utopie in ihrer positiven Deutung erscheint, wenn sie als Vollendung eines Weltbilds gedacht wird, dessen unumkehrbar erscheinende Entwicklung der Betrachter für alter-nativlos hält. Das Gegenteil ist zutreffend, wenn ihm gerade diese letzte Konsequenz vor Augen führt, dass sich der Mensch seit der Neuzeit auf dem Weg zu seiner Selbst-aufhebung befindet. Denn die Welt als Bild zu denken, hat nicht allein zur Folge, dass Körper und Geist ebenso wie der Schöpfer in der Natur aufgehen (Spinoza). Es hat auch zum Ergebnis, dass der Künstler hinter seine Kunst, der Sprecher hinter seine Aussage, der Schriftsteller hinter seine Schrift zurücktritt. Entgegen den Postulaten der biographi-stischen Schule (Sainte-Beuve), die den Autor und sein Leben zum Wahrheitsgaranten seines Werks beschieden hatte, sollte dessen Subjekt seit Proust, Unamuno und Gide zu Gunsten seines Textpendants zunehmende Abwertung erfahren. Zumal seitdem die Philosophie die Domäne des Denkens an die Wissenschaft abtritt, „seule sur le terrain pour satisfaire notre ,désir de connaissance' et de ,certitude rationelle'"125, ist man geneigt, aus dieser größeren Sachlichkeit den metaphorischen Tod des Autors oder wenigstens doch dessen geschmälerte Bedeutung abzuleiten. Und doch ist dieser im

119 Schober, „Weltsicht", S. 182. 120 Sabine van Wesemael, „Lire Houellebecq - Introduction", in: Dies. (Hg.), Michel Houelle-becq, Amsterdam/New York 2004, S. 5-28, hier S. 7. 121 Interview mit Houellebecq, zit. nach Dahan-Gaida, „Fin de l'histoire", S. 103. 122 Wesemael, „Lire", S. 29. 123 Schober, „Weltsicht", S. 184: vgl. Houellebecq, Inte n'entions, S. 34. 124 LPE, S. 221. 125 Dahan-Gaida, „Fin de l'histoire", S. 108.

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Zuge der Mediengesellschaft seiner Auferstehung gewichen. So wenig wir die Romane Houellebecqs auf eine bestimmte Lesart festlegen können, so wenig können wir an das Verschwinden ihres Autors glauben. Wie die negative Utopie als ein auf den Kopf ge-stelltes Inbild einer gerechten Polis erscheint, die noch die Umrisse ihres einstmals herbeigesehnten Ideals erkennen lässt, so will auch das sich in der Sprache auflösende Subjekt noch in seiner Biographie triumphieren. Diese ist präsent, wann immer seine Romane die Stimmung unserer Zeit treffen, deren Geist, wie einmal erwähnt, „in Houellebecqs Denken an Gottes Stelle getreten ist; er denkt in ihm und zwischen uns, und wir sind seine Ausführungsorgane; darin ist Houellebecq ein Kind des französi-schen Strukturalismus und seiner Entmachtung des freien Subjekts".126

Es entspräche freilich eher einer historischen Logik, wenn diese Ermächtigung des literarischen Sprechens die Entmachtung des Subjekts nach sich zöge, die dem Nieder-gang der Polis dann ihrerseits eine umso größere Plausibilität verliehe. Vom Gegenteil ist freilich zu sprechen, wenn sich Houellebecq ausgiebig wie ein Popstar in der media-len Öffentlichkeit zelebrieren lässt. Seine Sprache wirft sich in entsprechenden Insze-nierungen auf das Subjekt des Autors zurück, das diese wie eine Ikone überwölbt. Houellebecqs Tendenz zur Selbstdarstellung scheint auf den ersten Blick in einem merkwürdigen Gegensatz zum anonym empfundenen Determinismus metaphysischer Umwälzungen zu stehen. Zugleich zeichnen seine Protagonisten auf so offensichtliche Weise die biographischen Wendungen ihres Schöpfers nach, bekräftigen sie so pointiert dessen Haltung zum Islam, zum Sextourismus und zur Studentenbewegung von 1968, tragen sie so öffentlich persönliche Konflikte aus, wie etwa in der beklemmenden Zeichnung des tragischen Blumenmädchens Jane ersichtlich mit der Mutter. In seinem jüngsten Roman tritt der Schriftsteller sogar „als Nebenfigur und zugleich als Haupt-motiv des Malers Jed Martin auf".127 So ist es kaum zulässig, den Autor in die Rolle eines bloßen Skribenten zu drängen, „[qui] n'a plus en lui passions, humeurs, senti-ments, impressions, mais cet immense dictionnaire où il puise une écriture qui ne peut connaître aucun arrêt".128 Noch immer hängt Houellebecq dem Traum eines André Malraux nach, der seine Feder im Geist kämpferischer Tugenden zur Waffe machte. Zu gern bringt er sich selbst in einen Vergleich zu großen Vorbildern, denen vormals grö-ßere Achtung als ihm erwiesen wurde:

La France des années 1950 supportait sans broncher des gens comme Camus, Sartre, Ionesco ou Beckett. La France des années 2000 a déjà du mal à supporter des gens comme

• 129 moi.

Seine Polemiken, wie etwa jene gegen den hochgeschätzten antibürgerlichen Poeten Jacques Prévert, sollten ebenso die politische Linke irritieren wie seine Ausfälle gegen den Islam. Insofern gilt auch für ihn, dass Subjektivierung mit Normalisierung identisch

126 Harald Jähner, „Das Ich als Bankier der Sexualität", in: Berliner Zeitung, 27.11.1999. 127 Joseph Hanimann, „Vom Glück der Playmobilfiguren", in: Süddeutsche Zeitung, 7.9.2010. 12N Roland Barthes, „La mort de l'auteur", in: Ders., Le Bruissement de la langue. Essais critiques IV, Paris 1984, S. 64-65. 129 Houellebecq, Lévy, Ennemis, S. 69.

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ist und auch seine Identität entsteht, „wenn er sein eigenes Sein im Verhältnis zu dieser Norm, die ihm gar nicht bewusst sein muss, abgleicht".130 Doch diese „expérience de l'étrangeté, qui concerne d'abord le monde technique, puis l'individu libre"131, die zum Objekt des Erzählens gemacht wird, ist auch die den Autor in Szene setzende Medien-welt. Aus ihr gewinnt er Spielräume auf dem Büchermarkt und gegenüber seinem Pu-blikum, selbst um den Preis, dass seine Romane mitunter so sehr in den Hintergrund treten, dass sie, wie 1998 im Zusammenhang mit Houellebecqs Publikationsverbot in der Zeitschrift Perpendiculaires, wie aussätzige reaktionäre Pamphlete behandelt wer-den, „[oubliant] que Houellebecq [...] est l'arrière-petit-fils le plus doué du Flaubert de Bouvard et Pécuchet"P2 Aus der Sicht der Kritik exemplifiziert sich gerade an diesem im heutigen Literaturbetrieb stark verankerten Autor, dass das literarische Feld in ein neues Stadium getreten ist,

[puisque] toute une génération d'écrivains nés dans l'ère de la culture de masse [...] as-sument désormais pleinement la mise en scène publique de l'auteur à travers les fré-quentes polémiques portant sur leur personne et leurs écrits. L'échange littéraire s'étant peu à peu calqué sur les exigences de la publicité et de l'image [...], ces mises en scène sont devenues partie intégrante d'une nouvelle manière d'envisager l'existence publique de la littérature.133

Houellebecq ist das Paradebeispiel einer für das Massenpublikum inszenierten Projek-tion, die wahrscheinlich mehr als andere dieser Art zu einem Eigenleben neigt. So wird der Autoreninstanz eine Authentizität zuteil, derer sich ein Alltagsmensch ähnlich den verstörten Figuren der Romane kaum noch sicher sein kann. Das Schweben zwischen Dichte und Gebrochenheit entspricht wiederum einem Zeitalter, in dem sich die Meta-physik vollendet. Der Tod des Subjekts reicht seiner Auferstehung die Hände, wie Adorno dies in der Zeitdiagnose seiner Minima Moralia vorgeprägt hatte:

Der Narzißmus, dem mit dem Zerfall des Ichs sein libidinöses Objekt entzogen ist, wird ersetzt durch das masochistische Vergnügen, kein Ich mehr zu sein, und über ihrer Ich-losigkeit wacht die heraufziehende Generation so eifersüchtig wie über wenigen ihrer Güter, als einem gemeinsamen und dauernden Besitz.134

130 Dirk Daiber, Subjekt, Freiheit, Widerstand. Die Stellung des Subjekts im Denken Foucaults, Konstanz 1999, S. 78. 131 Robitaille, „Extension", S. 100. 132 Dominique Noguez, „Un ton nouveau dans le roman", in: La Quinzaine littéraire 655 (1998), S. 11. 133 Jérôme Meizoz, L'œil sociologique et la littérature, essai, Genf 2004. S. 202-203. Vgl. auch Corina da Rocha Soares, „Michel Houellebecq, Amélie Nothomb et Jacques Chessex: Perfor-mances sous contexte médiatisé", in: Carnets, Cultures littéraires: nouvelles performances et développement, numéro spécial (2009), S. 207-220, hier S. 209. 134 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 4, hg. von Rolf Tiede-mann, G. Adorno u.a., Darmstadt 1998, S. 73.

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Diese mediale Selbstbezogenheit droht indes ebenso die aus unserer Sicht ausgespro-chen aufklärerische Wirkung135 dieser Romane wie die Einsprüche ihres Autors in den Schatten zu stellen, der „zum ersten Mal nach den Existenzialisten"136 wieder so viele Gemüter bewegt. Besonders eine Kultgemeinde, die ihren Autor wie einen Propheten verehrt137, schwankt zwischen Aufklärung und Verklärung. Wenn der Meister im Spie-gel der christologischen Lichtmetapher auf einschlägigen Seiten Verehrung erfährt, verwandelt sich „das Internet statt der Kirche"138 zu einem Ort der Anbetung. Derartige Phänomene gedeihen zumal in einer Zeit, die sich auf der Suche nach privateren Trans-zendenzen in einem ähnlichen Manierismus gegenüber verschmähten Prinzessinnen, gekrönten Häuptern und gescheiterten Politikern ergeht. Allerdings problematisiert diese gekünstelte Liturgie - wohl mehr unbewusst als willkürlich - das für die vorlie-genden Romane nicht minder essentielle Verhältnis von Mensch und höheren Mächten, deren Entzug sich letztlich auch im ungestillten Verlangen nach Unsterblichkeit, Sinn-lichkeit und Liebe Ausdruck verschafft. Der Autor nimmt selbst zwar ein „kritisches bzw. sarkastisches Verhältnis"139 zur katholischen Kirche ein. Dennoch ist seine Fas-zination für deren spirituellen Traditionshorizont unverkennbar, „parce que croire en Dieu, tout bonnement, comme le faisaient nos ancêtres, rentrer dans le sein de la re-ligion maternelle présente des avantages, et ne présente même que des avantages".140

Zugleich aber sehnt Houellebecq sich in dem von Comte vorgezeichneten positiv-wissenschaftlichen Stadium nach einem symbolischen Endpunkt, an dem sich metaphysisches Fragen nach Sinn und Zweck des Daseins erübrigt. Er ist seinem Lesepublikum denkbar ähnlich, wenn es sich auf der Bühne narrativer und medialer Fiktionen wiedererkennt, einmal als Teilnehmer imaginärer Kultfeiern, ein anderes Mal als Besucher ebensolcher Kabaretts, die die vormals angebeteten Götter verhöhnen. In jenen Wendungen tut sich eine Subjektivität kund, die sich nicht zwischen ihrer Ermattung oder Steigerung entscheiden kann. Schon gar nicht vermag sie auf einen Gott zu verzichten,141 der ihren Glauben mit Selbstsicherung belohnt, ihren Unglauben hingegen mit Selbstzweifeln straft. Der Einwand ist indes nicht von der Hand zu weisen, dass der Gott des Abendlandes keinen Fluchtpunkt gegenüber dem Gestell der Technik bietet, das diesen mit der allmählichen Automatisierung der aus der biblischen Welt überlieferten Bilder ohnehin selbst zunehmend überflüssig macht.142 Schließlich hatte er den Menschen doch durch jene metaphysischen Wandlungen geführt, deren dritte, wie in Houellebecqs Romanen illustriert, sogar das Ende des Menschen besiegelt. Und dennoch ist diese Suche nach Transzendenz nachvollziehbar, eingedenk der

135 Vgl. Karimi, „,L'histoire, le chaos humain et le chaos métaphysique'", S. 415-434. 136 Ulrich Prill, „Die Ausweitung der Literatur-Zone - Michel Houellebecqs Particules élémen-taires zwischen Quantenphysik und Romantik", in: Joachim u. Elisabeth Leeker (Hg.), Text -Interpretation - Vergleich. Festschrift für Manfred Lentzen, Berlin 2005, S. 58-78, hier S. 62. 137 Vgl. Spiller, „Kult", S. 204f. 138 Prill, „Literatur-Zone", S. 63. 139 Frings, „Funktion der Kirche", S. 66. 140 Houellebecq, Lévy, Ennemis, S. 148.

Vgl. Gilles Deleuze, Différence et répétition, Paris 91997, S. 81. 142 Vgl. Karimi, Jenseits von altem Gott, S. 96-103.

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Technikapparate, deren Macht kein Entrinnen zuzulassen, keine Alternativen zu kennen scheint. Vor allem begründet sie aber die Unausweichlichkeit des Utopischen.