w3-mediapool.hm.edu · Created Date: 4/19/2007 8:39:15 AM

18
Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim Individualisierung in modernen Gesellschaften - Perspektiven und Konrroversen einer subjektorientierten Soziologie Unserem LehrerKarl Martin Bolte in Dankbarkeit gewidmet r. \Was meint 'Individualisierung der Lebensformen..? "]{ie-r ging erstvorgesrern, vo_r vierJahren erst, einvierzigjähriger Großversuch für die Menschheit zu Ende.., sagte Friedrichschä.- lemmer Ende ry93 in derLutherstadt'Wittenberg. ,,Dahaben auch r7 Millionen Deutsche in der ummauerren Provinz in Kollekdvie- rungszwängen gelebt, dieeine Einheitspartei als höchste Form der Freiheitansah, Individualisierung als Subjektivismus verdammre, Zukunftsrisiken mit nwissenschaftlich. begründetem Zukunftsop- timismus abwies, wo die 'Sieger der Geschichte. die Normen vorgabenund die Einheitsgesellschaft ansrrebten (die sozialisti- s_che Menschengemeinschaft), in der die Menschen alsstets tätige Gemeinschaftswesen verstanden wurden, mit dem sicheren, ge- setzmäßig verbürgten Ziel des Kommunismus gefüttert. Man durfte nicht mehr entscheiden, weil nichts mehr zu entscheiden war, weil die Geschichte alles roben. entschieden hatte.Aber man mußte auchnicht enmcheiden. . . Nun in der Freiheit,selbst ent- scheiden dürfen und selbst entscheiden müssen, zerfall aller vor- handenen Institutionen,Verlusraller Sicherheiten. . . Das Glück der Freiheitist gleichzeitig das Fallen in ein Loch. Nun sehe jeder zu! \üas gilt? \[er gilt? Es gilt, wer hat und wer zu mehren weiß, was er hat, ry Millionen sind dazugekommen, aberdie.üüestkara- wanezieht weiter und ruft uns zu: ,Kommt mir. \üfir wissen den \fleg. rüürir wissen das Ziel. \Vir wissen keinen ]üüeg. \(ir wissen kein Ziel. \(as sicher ist?Daß alles unsicher und risikoreich ist. Genießt die Bindungslosigkeit alsFreiheit .... l Anders - und in vielem dochähnlich - verläuftdie Entwicklung in China. Auch in China zerbrichtdaskollektive System, daseii garantiertes Einkommen gab, die "eiserne Reisschüssel... Früher hattendie Menschen kaum \7ahlmöglichkeiten in Privat- und Be- IO rufsleben,aber das minimale Sicherheitsnerz des Kommunismus bot ihnen staatlich subventionierre Sflohnung, Ausbild.rrrf;;J Gesundheitsversorgung. Genau dieseVersotg-rrtrg von der iVi.g. bis zur Bahre, angebunden an dasArbeitskodäktiv in Fabrik oder Landwirtsch aft,löst sich jetzt auf, und sram dessen kommen Ver- träge, die Einkommen und Arbei rcplatzsicherheit mit Fähigkeir und Leistung verknüpfen. Heute -ird von den Menschen erwar- tet' daß sie ihr Leben selbst in die Hand nehmenund für Dienst- feislulgen einen ma$tgerechten Preis zahlen ,,Der ständige Refrain unter städtischen Chinesenlauret, daß sie mit dem be- schleunigten T.*po des Lebens nicht mehr Schritt halten korrren. Sie sind verwirrt vom Wandel der Verte und Blickwinkel, was Grundfragenin Arbeit, Ehe, Familie angeh t.<<z Man nehme, was man will: Gott, Nrt.rr, \fahrheit, Vissen- schaft, Technologie, Moral, Liebe, Ehe - die Moderne verwandelt alles in ',riskante Freiheiteno. Alle Metaphysik, alle Trans zendenz, alle Notwendigkeit und Sicherheit wiid'durch Ardstik ersetzt. \Vir werden - im Allgemeinsten und Privatesren - zu Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos. ilnd viele stürzen ab. Dies nicht nur im \üesten, so_ndern geradeauch in den Ländern, die sich abrupt für westliche Lebensformen öffnen. Die Menschen in der .h.rrriligen DDR, in Polen, it Rußland, in China befindensich in einem d,ra- matischen "Abs turz in die Moderne<< (H. Viesenthal). Solche Beispiele, für die Bürger der alten nu"desrepublik scheinbar fern, verweisen doch r"f eine Dynamik, die ,.r.h hier wohl vertraut ist. In Schorlemmers Rede fellt das Stichworr: ,rln- dividualisier1lg". Mit diesem Begriff ist ein Ensemble gesell- schaftlicher Entwicklungen und frfahrungen gemeinr, d; vor allem durch zwei Bedeutungen gekennzeiJhn.Jist, wobei diese sich, in der Diskussion wie in dä. Realität, immer wieder über- schneidenund überlagern (was, wenig verwunderlich t gdnze Se- rien von Mißverständnissen und Kontiovers en erzeugr hät): Indi- vidualisierYng meint zum einen die Auflö.sung ,rärg.g.b.rr., sozialerLebensformen - ztrm Beispiel das Brüchi[*.rd".n"rron le- bensweltlichen Kategorienwie Klaise und Stand, b.r.hlechtsrol- len, Familie, NachbJrr.hrft usw.; oder auch,wie im Fall der DDR und anderer Ostblocksta äten, der Zusammenbruch staatlich ver- ordneter Normalbiographien, Orientierungsrahmen und Leirbil- der.\7o immer solcheAuflösungstenderrr.ririch zeigen, srellt sich zugleich die Frage: Welche neuen Lebensformen .rrtst.hen dort, II

Transcript of w3-mediapool.hm.edu · Created Date: 4/19/2007 8:39:15 AM

Ulrich Beck / Elisabeth Beck-GernsheimIndividualisierung in modernen Gesellschaften -

Perspektiven und Konrroverseneiner subjektorientierten Soziologie

Unserem Lehrer Karl Martin Boltein Dankbarkeit gewidmet

r. \Was meint 'Individualisierung der Lebensformen..?

"]{ie-r ging erst vorgesrern, vo_r vierJahren erst, einvierzigjährigerGroßversuch für die Menschheit zu Ende.., sagte Friedrich schä.-lemmer En de ry93 in der Lutherstadt'Wittenberg. ,,Da haben auchr7 Millionen Deutsche in der ummauerren Provinz in Kollekdvie-rungszwängen gelebt, die eine Einheitspartei als höchste Form derFreiheit ansah, Individualisierung als Subjektivismus verdammre,Zukunftsrisiken mit nwissenschaftlich. begründetem Zukunftsop-timismus abwies, wo die 'Sieger der Geschichte. die Normenvorgaben und die Einheitsgesellschaft ansrrebten (die sozialisti-s_che Menschengemeinschaft), in der die Menschen als stets tätigeGemeinschaftswesen verstanden wurden, mit dem sicheren, ge-setzmäßig verbürgten Ziel des Kommunismus gefüttert. Mandurfte nicht mehr entscheiden, weil nichts mehr zu entscheidenwar, weil die Geschichte alles roben. entschieden hatte. Aber manmußte auch nicht enmcheiden. . . Nun in der Freiheit, selbst ent-scheiden dürfen und selbst entscheiden müssen, zerfall aller vor-handenen Institutionen, Verlusr aller Sicherheiten. . . Das Glückder Freiheit ist gleichzeitig das Fallen in ein Loch. Nun sehe jederzu! \üas gilt? \[er gilt? Es gilt, wer hat und wer zu mehren weiß,was er hat, ry Millionen sind dazugekommen, aber die.üüestkara-wane zieht weiter und ruft uns zu: ,Kommt mir. \üfir wissen den\fleg. rüürir wissen das Ziel. \Vir wissen keinen ]üüeg. \(ir wissen keinZiel. \(as sicher ist? Daß alles unsicher und risikoreich ist. Genießtdie Bindungslosigkeit als Freiheit....l

Anders - und in vielem doch ähnlich - verläuft die Entwicklungin China. Auch in China zerbricht das kollektive System, das eiigarantiertes Einkommen gab, die "eiserne Reisschüssel... Früherhatten die Menschen kaum \7ahlmöglichkeiten in Privat- und Be-

I O

rufsleben, aber das minimale Sicherheitsnerz des Kommunismusbot ihnen staatlich subventionierre Sflohnung, Ausbild.rrrf;;JGesundheitsversorgung. Genau diese Versotg-rrtrg von der iVi.g.bis zur Bahre, angebunden an das Arbeitskodäktiv in Fabrik oderLandwirtsch aft,löst sich jetzt auf, und sram dessen kommen Ver-träge, die Einkommen und Arbei rcplatzsicherheit mit Fähigkeirund Leistung verknüpfen. Heute -ird von den Menschen erwar-tet ' daß sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen und für Dienst-feislulgen einen ma$tgerechten Preis zahlen ,,Der ständigeRefrain unter städtischen Chinesen lauret, daß sie mit dem be-schleunigten T.*po des Lebens nicht mehr Schritt halten korrren.Sie sind verwirrt vom Wandel der Verte und Blickwinkel, wasGrundfragen in Arbeit, Ehe, Familie angeh t.<<z

Man nehme, was man will: Gott, Nrt.rr, \fahrheit, Vissen-schaft, Technologie, Moral, Liebe, Ehe - die Moderne verwandeltalles in ',riskante Freiheiteno. Alle Metaphysik, alle Trans zendenz,alle Notwendigkeit und Sicherheit wiid'durch Ardstik ersetzt.\Vir werden - im Allgemeinsten und Privatesren - zu Artisten inder Zirkuskuppel: ratlos. ilnd viele stürzen ab. Dies nicht nur im\üesten, so_ndern gerade auch in den Ländern, die sich abrupt fürwestliche Lebensformen öffnen. Die Menschen in der .h.rrril igenDDR, in Polen, it Rußland, in China befinden sich in einem d,ra-matischen "Abs turz in die Moderne<< (H. Viesenthal).

Solche Beispiele, für die Bürger der alten nu"desrepublikscheinbar fern, verweisen doch r"f eine Dynamik, die ,.r.h hierwohl vertraut ist. In Schorlemmers Rede fellt das Stichworr: ,rln-dividualisier1lg". Mit diesem Begriff ist ein Ensemble gesell-schaftlicher Entwicklungen und frfahrungen gemeinr, d; vorallem durch zwei Bedeutungen gekennzeiJhn.Jist, wobei diesesich, in der Diskussion wie in dä. Realität, immer wieder über-schneiden und überlagern (was, wenig verwunderlich t gdnze Se-rien von Mißverständnissen und Kontiovers en erzeugr hät): Indi-vidualisierYng meint zum einen die Auflö.sung ,rärg.g.b.rr.,sozialer Lebensformen - ztrm Beispiel das Brüchi[*.rd".n"rron le-bensweltlichen Kategorien wie Klaise und Stand, b.r.hlechtsrol-len, Familie, NachbJrr.hrft usw.; oder auch, wie im Fall der DDRund anderer Ostblocksta äten, der Zusammenbruch staatlich ver-ordneter Normalbiographien, Orientierungsrahmen und Leirbil-der. \7o immer solche Auflösungstenderrr.ririch zeigen, srellt sichzugleich die Frage: Welche neuen Lebensformen .rrtst.hen dort,

I I

wo die alten, Quä Religion, Tradition oder vom Staat zugewiese-nen, zerbrechen ? ,

Die Antwort, auf die zweite Seite von Individualisierung ver-weisend, heißt schlicht: In der modernen Gesellschaft kommenauf den einzelnen neue institutionelle Anforderungen, Kontrollenund Zwänge zu. Übet Arbeitsmarkt, Wohlfahrtsstaat und Büro-kratie wird er in Netze von Regelungen, Maßgaben, Anspruchs-voraussetzungen eingebunden. Vom Rentenrecht bis zum Versi-cherungsschvtz) vom Erziehungsgeld bis zu den Steuertarifen: alldies sind institutionelle Vorgaben mit dem besonderen Aufforde-rungscharakter, ein eigenes Leben zu führen.

tndividualisierung ä diesem Sinne meint also ganz sicherlichnicht eine ,'unb ,girn t im quasi freien Raum jänglierende . . .Handlungslogik"3, und auch nicht bloße "Subjektivität", ein Ab-sehen davon, daß "hinter der Oberfläche der Lebenswelten einehoche ffiziente, engmaschige Institutionengesellschaft ist...4 ImGegenteil, es ist ein alles andere als gesellschaftsfreier Raum, indem sich die modernen Subjekte mit ihren Handlungsoptionenbewegell. Die Regelungsdichte der modernen Gesellschaft ist be-kannt bis berüchtigt (vom fÜV bis zur Steuererklärung bis zuMülisortierungsb.tti-tttungen), i- Summeneffekt ein hoihst dif-f erenziertes Kun$twerk mit labyrinthischen Anlagen.

Das enmcheidende Kennzeichen dieser modernen Vorgaben ist,daß das Individuum sie, weit mehr als früher, gewissermaßen selbstherstellen muß, im eigenen Handeln in die Biographie hereinholenmuß. Das hatwesentlich damit zutun, daß die traditionellenVo rga-ben oft rigorose Handlungsbeschränkungen, jaHandlungsverbotebeinhalteten (wie etwa die Heiratsverbote der vorindustriellen Gesell-schaft, die den besitzlosen Bevölkerungsgruppen eine Eheschließungunmöglich machten; oder die Reiseverbote und Heiratsverbote derOstblockstaaten, die Kontakt zu.m "Klassenfeindo untersagten).Dagegen sind die institutionellen Vorgaben der modernen west-liche" Gesellschaft eher Leistungsang.Lo, e bzw. F:landlun gs anrei-ze -man denke etwa an den Vohlfahrtss taat,,von Arbeitslosengeldbis zu BAföG und Bausp arprämien. Vereinfacht gesagt: In die ffa-ditionelle Gesellschaft und ihre \Äcrgaben wurde man hineingebo-ren (wie etwa in Stand und Religion). Für die neuen Vorgabendagegen muß man etwas twn, sich aktiv bemühen. Ffier muß manerobern, in der Konkurrenz um begren zte Ressourcen sich durch-zusetzen verstehen - und dies nicht nur einmal, sondern tagtäglich.

T 2

Die Normalbiographie wird damit zur,,vahlbiographieo , znr"reflexiven Biographieo , zur ,rBastelbiographie...5 Das muß nichtgewollt sein, und es muß nicht gelingen. Bastelbiographie ist im-3.t zugleich "Risikg|iographie.., i; ,, rahtseilbiJgräphieo, einZustand

4.t (teils offenen, teils verdeckten) Da.räg.fahrj,rrrg.Die Fassaden von \flohlstand, Konsum, GlimÄ., täuschen oft dar-über hinweg, wie nah der Absturz schon isr. Der falsch. B.;oder die falsche Branch e, dazu die privaten lJnglücksspiralen vonScheidung, Krankheit, Vohnungs,oerl.rst - PeÄ gehaütl ieißt esdann. Im Falle des Falles wird ofT.n erkennbar, was unrergründigimmer schon

lngelegt ist: Die Bastelbiographi. krrrn schn e1l zurBruchbiographie werden. An die Stelle I.lürtversrändlich vorge-gebener' oft erzwungener Bindungen tritr das Prinzip ,rBis *fweiteres<<, wie Zyg^unt Bauman sagr:

"Heut zutagescheint alles sich gegen . . . lebenslange Entwürfe, dauerh afte!in{un8€n, -ewise Bündnisse, .ttt*rttdelbare lden"titäten zu ver.schwörerl.Ich kann nicht langfristig auf meinen Arbeitsplatz, meinen Beruf, ja nichteinmal auf .meine eigenen Fähigkeiten bauen; ich kann daraui *.rr.rr, daßmein Arbeit splatz wegrationalisiert wird, daß mein Beruf sich bis zur Un-kenntlichkeit verändert, daß meine Fähigkeiten nicht länge, g.frrg, sind.Auch auf Partnerschaft oder Familie ist iiZ"kunft nicht ät iru gr".irrden;im Zeitalter dessen, *T Anthony Giddens ,confluent love< nennt, währtdas Beisammensein nicht länger als die Befriedigung eines der partner, il;Bindung gilt von vornherein nur ,bis auf *eiteier.,-di. intensive Bindungvon heute macht Frustrationen morgen nur um so heftiger..,

Kennzeichen der Gegenwarr ist so eine Art ,rlandstreicher-Moral..:

Der Landstreicher ,rweiß nicht, wie lange er dort, wo er isr, noch bleibenwird, und zumeist ist nicht er es, der r,ib.r die Dauer seines Aufenthaltsbefindet. Ijnterwegs wählt er sich seine Ziele, wie sie komrnen und wie ersie von den Wegweisern abliest; aber selbst dann weiß er nicht sicher, ob eran der nächsten Station Rast machen wird, und für wie lange. Er weiß nur,daß seines Bleibens sehr wahrscheinlich nicht lange sein wird.-$flas ihnforttreibt, ist die Enttäuschung über den Ort seines letzten Verweilenssowie die nie versagende Hoffnung, der nächste Ort, von ihm noch nichtbesucht, oder vielleicht der übernäihste möchte frei sein von Mängeln, dieihm die bisherigen verleidet hab,en...6

-----o---

Sind dies, wie manche vermuten , Zeichen von Egoismus und He-donismus, eines im Westen grassierenden E,go-Fiäers ? Nein, manschau genauer hin: Ein *eit.r., Kennz.iÄen der Vorgaben der

r 3

Moderne ist, daß sie eher gegen als für familiales Zusammenlebenund Zusammenhalt wirken. Die meisten Rechte, Anspruchsvor-aussetzungen für Unterstützungsleistungen des \flohlfahrtsstaatessind, wie gesagt, auf Individuen zugeschnitten, nicht auf Familien.Sie setzen in vielen Fällen Erwerbsbeteiligung (oder, im Falle vonArbeitslosigkeit, Erwerbsbereitschaft) voraus. Erwerbsbeteili-gung wiedcrunr $ctzt Bildungsbeteiligung, beides Mobilität undMobilitätsbereitschaft voraus, alles Anforderungen, die nichts be-fehlen, aber das Individuum dazu auff.ordern, sich gefälligst alsIndividuum zu konstituieren: zu planen, zu verstehen' zu entwer-fen, zlhandeln - oder die Suppe selbst auszulöffeln, die es sich im

- Falle seines ,Versagens.. dann selbst eingebrockt hat. Der Sozial-staat ist derart eine Versuchsanordnung zur Konditionierung ich-bezogener Lebensweisen. Man mag das Gemeinwohl mit einerPflicht-Impfung in die Herzen der Menschen spritzen, die geradeheute wieder öffentlich heruntergebetete Litanei der verlorenge-gangenen Gemeinsamkeit ist doppelzüngig, doppelmoralisch, so-lange die Mechanik der Individualisierung intakt bleibt und nie-mand sie wirklich ernsthaft in Frage stellt - weder will nochkann.

Auch hier wieder dasselbe Bild: Entscheidungen, möglicher-weise unentscheidbare Entscheidungen, unter Vorgaben, die inDilemmata hineinführen - aber eben Entscheidungen, die den ein-zelnen als einzelneninsZentrum rücken und traditionale Lebens-und Umgangsformen mißlohnen.

Individualisierung, so gesehen, ist eine gesellschaftliche Dyna-mik, die nicht auf einer freien Entscheidung der Individuen be-ruht. Um es mitJean-Paul Sartre zu sagen: Die Menschen sind zurIndividualisierung verdammt. Individualisierung ist ein Zwang,ein paradoxer Zwang allerdings, zur Flerstellung, Selbstgestal-tung, Selbstinszenierung nicht nur der eigenen Biographie, son-dern auch ihrer Einbindungen und Netzwerke, und dies im

. Wechsel der Präferenzen und Lebensphasen und unter dauernderAbstimmung mit anderen und den Vorgaben von Arbeitsmarkt,Bildungssystem,'Wohlfahrtsstaat usw.

Zu den enrccheidenden Merkmalen von Individualisierungs-prozessen gehört derart, daß sie eine aktive Eigenleistung derIndividuen nicht nur erlauben, sondern fordern. In erweitertenOptionsspielräumen und Entscheidungszwängen wächst der indi-viduell abzuarbeitende Handlungsbedarf, es werden Abstim-

r4

mungs-' Koordinations- und Integrationsleistungen nötig. DieIndividuen müss€D, um nicht zu scheitern, langfriitig planen undden umständen sich anpassen können, müssen orgÄisieren undimprovisieren , Ziele entwerfen, Hindernisse erketrn.tt, Nied erla-

\r gen einstecken und neue Anfänge versuchen. Sie brauchen Initia-1 tive , Zähigkeit, Flexibilität und Frustrarionstoler anz.

Chancer, Gefahren, Unsicherheiten der Biographie, die frülrerim Familienverbund, in der dörflichen Gemeinsch aft, im Rück-griff auf ständische Regeln oder soziale Klassen definiert waren,

' müssen nun von den einzelnen selbst wahrgenommen, interpre-tiert, entschieden und bearbeitet werden. Die Folgen - Chancenwie Lasten - verlagern sich auf die Individuen, wobei diese frei-lich, angesichts der hohen Komplexität der gesellschaftlichen Zu-sammenhänge, vielfach kaum i" der Lage

-sind, die notwendig

werdenden E,ntscheidungen fundie rt zu treffen, in Abwägung vonInteresse, Moral und Folgen.

Dabei wird vielleicht erst im Generationenvergleich spürbar,wie schnell die Anforderungen steigen, denen die Individuen jetzrausges etzt sind. In einem Roman von Michael Cunningham fragtdie Tochter die Mutter, warum sie den Vater geheiratet liat:

"\flußtest du, daß du von allen Menschen auf dieser \7elt ausgerechnet ihnheiraten wolltest? Hast du nie Angst gehabt, dr könntest einen riesigenFehler machen, irgendwie die richtige Spur deines Lebens verlieren undsonsrwo landen, auf irgendeiner Tangente, von der du nie zurückkommenkannst?o Doch die Mutter ,rwinkte die Frage ab wie eine träge, aber beharr-liche Fliege. ,Damals stellten wir nicht so große Frag€o., sagte sie. ,Ist esnicht schwer für euch, immer all dieses Nachdenken und Überlegen undPlanen ?,,,7

Ahtrlich schildert Scott Turow in einem Roman eine Begegnungzwischen Vater und Tochter:

,Während er Son ny zuhörte, die zwischen impulsiven Gefühlen hin- undhergeschleudert wurde - Flehen, Bedrängnis, Ironie, Arger -, sah Sternmit einem Mal, da{3 Clara [seine Frau] und er von einem gütigen Schicksalprofitiert hatten. Damals, zu seiner Zeit, waren die Vorgaben klarer. AlleMänner und Frauen der westlichen \üZelt, die in der Mittelschicht aufge-wachsen waren, wollten damals heiraten, Kinder bekommen und aufzie-hen. I-Jndsoweiter. Jeder reiste in denselben ausgetretenen Spuren. Aberfür Sonny, die spät heiratete, in der Neuen Epoche, war alles eine Frage derEntscheidung. Sie stand morgens auf und fing alles von vorne an. Sie dachteüber Beziehungen, E,he, Männer nach, über den unberechenbaren Gefähr-ten, den sie sich ausgesucht hatte - nach ihrer Beschreibung schien er noch

I t

ein halberJunge zu sein. Er erinnerte sich an Marta, die oft sagte, sie wtirdeeinen männlichen Begleiter ebenso schnell finden, wie ihr einfiel, wozu sieihn brauchen konnte. <<8

I)em einen klingen solche Beispiele vertraut. Dem anderen schei-nen sie fremd, Geschichten aus einer fernen Welt. D aian wirddeutl ich: Es gibt nicht "die" individualisierte Gesellschaft. LJnbe-streitbar ist die Situation in Großstädten wie München oder Berlinanders als in Vorpommern oder Ostfriesland. Zwischen- städtischen und ländlichen Regionen finden sich deutliche Unter-schiede, empirisch nachweisbar etwa in b ezugauf Lebensstil undFamilienform.e \Was hier längst selbstverständlich, Teil des Nor-malen, ist dort auffallend, irritierend, bedrohlich. S7obei freilichLebensformen und -orientierungen der Stadt - gebrochen und an-d.ers eingefärbt - sich auch auf dem Land ausbreiten. Individuali-sierung meint, beinhaltet Urbanisierung. Urbanisierung aber trägtdie Leitbilder der \flelt draußen bis in die \Tohnstube im Dorf,über Bildungsexpansion, über Fremdenverkehr, nicht zuletztauch über Werbung, Massenmedien und }vlassenkonsum. Auchwo die scheinbar festgefügten Lebensstile und traditionalenSicherheiten gewählt unä ittizettiert werden, sind dies oft genugEntscheidungen gegen neue Sehnsüchte und geweckte

'Bedürf-

nisse,So ist je nach Gruppe, Milieu, Region zv prüfen, wie weit Indi-

vidualisierungsprozesse - offen oder verdeckt - jeweils ausgeprägtund fortgeschritten sind. Keineswegs wird behauptet, die Ent-wicklung habe flächendeckend und unterschiedslos die gesamteBevölkerung erfaßt. Vielmehr ist das Stichwort "Individualisie-rung<< als Trendaussage zu verstehen. Die Systematik der Ent-wicklung ist entscheidend, die mit dem Fortschreiten der Moderneverknüpft ist. Martin Baethge schreibt: ). . . 'was das Morgen an-kündigt, kann ja heute kaum schon repräsentativ sein...10 In die-sem Sinne ist Individualisierung beides exemplarische Gegen-wartsdiagnose und Zukunftsmusik.

$ilas sich im Zuge dieser Entwicklung letztlich ankündigt, istdas Ende der festen, vorgegebenen Menschenbilder. Der Menschwird (i- radikalisierten Sinne Sartres) zur Wahl seiner Möglich-keiten ) zum homo optionis. Leben, Tod, Geschlecht, Körper-lichkeit, Identität, Religion, Ehe, Elternschaft, soziale Bindun-genentscheidbar, muß, einmal zu Optionen zerschellt, entschieden

ß

werden. l l Im besten Fall erinnert diese Konstellation an den Baronvon Münchhausen, d:- gelungen sein soll, was heute zvmallge-meinen Problem wird: sich an seinem eigenen Schopfe aus demSumpf der (Un)lvlöglichkeiten zu ziehen. Am klarsien hat (mitpessimistischem Zungenschltg) diese artistische Zivilisarionsirg.wohl Gottfried Benn gefaßt: 'rDenn meiner Meinung nach fänltdie Geschicltte des Menschen heute ersr an, seine öefährdrrr"g,seine Tragodie. Bisher sianden noch die Altäre der Heilig.n .rnädie Flügel der Erzeneel hinter ihm, aus Kelchen und %uTbeckenrann es über seine Schwächen und \ü7underl. Jetztbeginnt die Serieder großen unlösbaren Verhängnisse seiner selbst. . .rrt2

2. vön der unlebbarkeit der Moderne:E,ntroutinisierung des Alltags

Fragen, in die sie'zerschellen, in den Köpfen herum. Aber es istmehr als das. Soziales Handeln vollzieht sich eingebemer in Rouri-nen' Man kann sogar sagen: \üas wir nicht oder kaum wissen,prägt unser Denken und Handeln am tiefsten. Es gibt einen gro-ßen Literaturkreis, der in diesem Sinne die Fntlasi mg, g€näuer:die tlnverzichtbarkeit von vor- und halbbewußt verinn.rli.hrenRoutinen betont, weil in ihnen erst die Lebensführung und ldenti-tätsfindung der Menschen in ihre r sozialen Koordination möglichwird.

Es geht im Alltag, wie Hartmann Tyrell zeigt, wesentlich

>>um die zeitliche Ordnung des Tuns . . . Aber nicht allein die zeitlicheOrdnung als solche ist wichtig, sondern ebensosehr die damit verbundeneEdebnisschicht des ,Imrner wied€r., des Normalen, des Regulären, desÜbettaschungsfreien. Zugleich ist der Alltag eine Sphäre derleduziertenAufmerksamkeit, des routinisierten Tuns, der entlastet-sicheren Verfüg-barkeit, also des ,Immer-wieder. des Tunkönnens . . . Es geht um das -mitunter in einem dezidiert partikularistischen Sinne - ,bei uns., im fami-lialen Zusammenleben, im Dorfe, in dgr Region usw. alltägli.tt üUlicheund Vertraute. . ., also um das, 'was ,bei uns< jeder tut...13

Genau diese Ebene von vorbewußten "kollektiven Habitualisie-rungell<<, von Selbstverständlichkeiten ist es, die mürbe wird, insDenken und Verhandeltwerdenmüssen zerstaubt. Die Tiefen-schicht von Entscheidungsverschlossenem wird in die Entschei-

r 7

dung gedrängt. Daher das Nervend., \flundscheuernde, endlosLästige - und die entsprechenden Abwehr-Aggressionen dagegen.Man kann den Fragen und Entscheidungen, die aus dem Bodender Lebensführung emporsteigen, weder entkommen, noch kannman sie zurückverwandetrn in schweigenden Grund, auf dem sichleben läßt. Jedenfalls gelingt dies immer nur zeitweise, vorläufig,durchsetzt, mit Fragen, die jederzeit erneut aufbrechen können.Nachdenken, Überlegen, Planen, Abstimmen, Aushandeln, Fesr-

, legen, \fliderrufen (und alles fängt immer wieder von vorne an):i Das sind die Imperative der 'rriskanten Freiheiten.., unrer die das

Leben mit Fortschreiten der Moderne gerät. Auch die Nichtenr-scheidurg, die Gnade des Hinnehmenmüssens verfluchtigt sich.Manchmal tritt an ihre Stelle ein Zwitter, der das Vergangene zu-rückgaukelt: die Entscheidung für den Zufall die Entscheidungfür die Nichtentscheidung, ein Versuch, der die Zweifel verjagensoll und doch bis in die inneren Dialoge hinein von ihnen verfolgtwird.

'

'rlch glaubte, daß ich bald schwanger würde. Ich nahm keine Verhütungs-mittel mehr. Aber irgendwie konnte ich es niemand sagen, weder Bobbynoch Jonathan. Wahrscheinlich schämte ich mich über meine Motive. Ichgefiel mir nicht in der Vorstellung, berechnend oder hinterhältig zu sein.Ich wollte nur eines : zufäIlig schwanger werden. Der unerwarrete Nachteildes modernen Lebens besteht darin, daß wir das Schicksal besiegt haben.Von uns wird erwartet, daß wir vieles, fast alles entscheiden. . ."In eineranderen Epoche hätte ich Kinder bekommen, als ich in den Zwanzigernwar, während meiner Ehe mit Denny. Ich wäre Mutter geworden, ohnegroß darüber nachzudenken. Ohne die Konsequenzen abzuwägen...14

Das Leben verliert seine Selbstverständlichkeit, heißt: selbst dersoziale ,rlnstinkt-Ersatzrr, der es trägt und leitet, gerät in die Mü-hen und Mühlen dessen, v/as bedacht, bestimmt werden muß.'Wenn

es richtig ist, daß Routinisierung und Institutionalisierungeine endastende, Individualität und Entscheidung ermöglichendäFunktion haben, dann wird deutlich, welche Art von Beschwer-nis, Anstrengung, Nervigkeit mit dem Zermürben der Routinenentsteht. Ansgar \üeymann verweist auf die Anstrengungen, diedas Individuum unternimmt, um dieser "Tyrannei der Möglich-keiten" (Hannah Arendt) zu entkommen - z,B. durch Flucht inMagie, Mythos, Metaphysik. Das überforderte Individuum,rsucht, findet und produ ziert zahllose Ins tanzensozialer und psy-chischer Interventionen, die ihm professionell-stellverrretend die

r 8

Frage nach dem ,Was bin ich und was will ich. abnehmen unddamit die Angst vor der Freiheit mindern...15 Hier haben die Ant-wort-Fabrik€n, der Psychoboom, die Ratgeber-Literatur ihrenMarkt, jene Mischung aus Esoterik, LJrschrei, Myrtik, Yoga undFreud, die die Tyrannei der Möglichkeiten übertönen soll und im\Techsel der Moden weiter bestärkt,

Nun sagen manche, wer von Individualisierung spricht, meineAutonomie, Ema nzipation, ebenso Befreiung wie Selbstbefreiungdes Menschen.16 Dies erinnert dann an jenes stolze Subjekt, vonder Philosophie der Aufklärung postuliert, das nichts gelten lassenwill als die Vernunft und ihre Ges etze. Aber manchmal scheintstatt Autonomie eher Anomie vorarherrschen, ein Zustand derRegellosigkeit bis hin zur Gesetzlosigkeit (wobei Emile Durkheimin seiner klassisch gewordenen Studie Anomie geradezu als das,rÜbel der fehlenden Grenzen<< versteht, als Zeit der überborden-den, nicht mehr durch gesellschaftliche Schranken disziplinier-ten Wünsche und BegierdenrT). Jede Verallgemein€rurlg, die dieindividualisierte Gesellschaft nur unter dem einen oder anderenVorzeichen - Autonomie oder Anomie - b.greifen will, verk irztund verstellt die Fragen, die hier aufbrechen. Kennzeichnendsind Miqghf91nq.tt, Vidersprüche, Ambivalenzen (abhängig vonpolitischen, wirtschaftlichen, familialen Bedingungen). Kenn-zeichnend ist die ,,Bastelbiographie.. l8, die je nach Konjunk-turverlauf, Bildungsqualifikation, Lebensphase, FamilienlaB€,Kohorte-- gelingen oder in eine Bruch-Biographie umschlagenkann. Scheitern und unverzichtbare Freiheit wohnen nah beiein-ander, mischen sich viel leicht sogar (r.8. in der "gewählten"Single-Exist enz).

Itt jedem Fall rühren die Them€n, an denen die einzelnen sichabarbeiten, ir die verschiedensten Lebensbereiche hinein. Es kön-nen "kleine.< Fragen sein (etwa um die Verteilung der Flausarbeitkreisend), aber auch ,'große.., die Tod und Leben einschließen(von der Pränataldiagnostik bis zur Intensivmedizin). Die Entrou-tinisierung entläßt also Fragen von ganz unterschiedlichem sozia-len und moralischen Format. Durchgängig aber gehen sie ansZentrum der Existe nz. Man kann geradezu sagen: Die Entschei-dungen der Lebensführung,werden >>vergottet<<. Fragen, die mitGott untergegangen sind, tauchen nun im Zentrum des Lebensneu wieder auf. Der Alltag wird postreligiös >'theologisiert<<.

Es läßt sich eine säkulare Linie zeichnen: Gott, Natur) soziales

r9

System. Jede dieser Kategorien und Sinnhorizonte ersetzt in ge-

wisser Veise die vorangegangenen und steht für eine Art von

Selbstverständlichkeit ""J

eine Legitimitätsquelle sozialen Han-

delns, die als eine Abfolge säkularisierter Notwendigkeiten ge-

dacht werden kann. In dem Maß, wie die Dämme durchlässig

werden und brechen, verwandelt sich, was einmal Gott vorbehal-

ten oder von der Natur vorgegeben wurde, nun in Fragen und

Entscheidungen, die in der privaten Lebensführung ihren Ort ha-

ben. (Mit den Erfolgen der Fortpflanzungsmedizin und Human-

generik gerät die Anthropologie des Menschen sogar wortwörtlich

in die Entscheidung.) Insofern kann man in einer kulturgeschicht-

lichen Perspektive sagen: Die Moderne, die mit dem Anspruch der

Selbstermächtigung des Subjekts angetreten ist, löst ihr Verspre-

chen ein. Mit der Durchsetzung der Moderne tritt in kleinen und

großen Schritten an die Stelle von Gott, Natur, System das auf sich

selbst gestellte Individuum. Mit dem lJntergang der alten Koordi-

naren geht auf, was verteufelt und bejubelt, verlacht, heilig und

schuldig gesproch€r, totges agtwurde: die Frage nach dem Indivi-

duum.

3. Was ist neu an Individualisierungsprozessen?Das Beispiel de r Sozialgeschichte der Ehe

In seinem r 86o erschienenen Buch Die Kwhur der Renaissa.nce in

Italien schreibt Jakob Burkhardt:

Im Mittelalte r Lagdas Bewußtsein der Menschen ,rwie unter einem gemein-

samen Schleier träumend oder halbwach. Der Schleier war gewoben aus

Glauben, Kindesbefangenheit und Vahn; durch ihn hindurchgesehen er-

schienen Welt und Geschichte wundersam gefärbt, der Mensch aber er-

kannte sich nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in

irgend einer Form des Allgemeinen. In Italien zuerst verwehte dieser

Schleier in die Lüfte; es erwachte eine objektive Betrachtung und Behand-

lung des Staates und sämtlicher Dinge dieser \7elt überhaupt; daneben aber

erhebt sich mit voller Macht das Subjektive; der Mensch wird geistiges

Individuum und erkennt sich als solches...

Burkhardts Schilderung der Renaissance trägt - paradox gesagt -

Zige der Postmoderne. Alles wird von Moden erfaßt; der poli-

tisch indifferente Privatmensch enrcteht; Biographien und Selbst-

biographien werden geschrieben und erfunden; die Bildung der

20

Frauen formt sich nach männlichen Idealen. ,'Das Ruhmvollste,was damals von den großen Italienerinnen gesagr wurde, isr, daßsie einen männlichen Geist, ein männliches Gemüt hätten.<< Ausdem Ho rizont des ry. Jahrhunderts merkt Burkhardt an, hier enr-stehe ein "E,twas . . .1 das unserem Jahrfiundert, wie Schamlosig-keit vorkömmt , . . re

Ver cliese und ähnliche Schilderungen liest, fragr: Sflas ist neuund spezifisch an den Individualisierungsprozessenin der zweitenHälfte des zo. Jthrhunderts ?20 Knapp und direkt geanrworrer:Das historisch Neue besteht darin, daß das, was früler wenigenzugemutet wurde - ein eigenes Leb en zu führen -, nun mehr undmehr Menschen, i- Grenzfall allen abverl angtwird. Das Neue isterstens die Demokratisierung von Individualisierungsprozessenund zweitens (.ttg damit zusammenhängend) die Tatsach., daßGrundbedingungen der Gesellschaft Individualisierungen begün-stigen bzw. erzwingen (Arbeitsmarkt, Mobilitäts- und Ausbil-dungsanforderungen, Arbeits- und Sozialrecht, Rentenvorsorgeetc.): die institwtionalisierte Individualisierung.

Diese Geschichte der Ausbreitung und Ourchsetzung von Indi-vidualisierungen kann an verschieäenen sozialen Phänomenenund Gebilden nachgezeichnet werden. Im folgenden soll diesexemplarisch und skizzenhaft anhand der Sozialgeschichte derEhe geschehen. Vorweg als These formuliert: Während die Ehefrüher zuallererst eine individuumüberhobene Institution sui ge-neris war, wird sie heute immer meh r zumProdukt und Konstruktder sie eingehenden Individuen. Betrachten wir nun diesen histo-rischen Bogen genauer:

Noch im 17, und r 8. Jahrhundert ist die Ehe nicht von untennach oben, sondern von oben nach unten zu begreifen, als direk-ter Bestandteil der Gesellschaftsordnung. Sie ist eine dem indi-viduellen Zugriff weitgehend verschlossene, sozial verbindlicheLebens- und Arbeitsform, i. der Männern und Frauen bis in dieEinzelheiten des Alltags, der Arbeit, derWirtschaft, der Sexualitätvorgegeben ist, was sie zu tun und zu lassen haben. (Natürlichhal-ten sich keineswegs alle daran Aber das soziale Netz von Familien-und Dorfverband ist eng, die Kontrollmöglichkeiten sind allgegen-wärtig. So hat, wer gegen die herrschenden Normen verstößt, oftmit empfindlichen Sanktione n zu rechnen. ) Zuge.spitzt formuliert:Die Ehe ist eine Art verinnerlichtes 'rNaturge set"z<<, das - abgeseg-net durch Gott und die Autorität der Kirche, gesichert durch die

2 T

materiellen Interessen der darin Zusammengebundenen - in derEhe sozusagen "exekutiert.< wird. Deutlich tritt dies an einemscheinbaren Gegenbeispiel, nämlich einer erkämpften Scheidung,hervor, von der Gisela Bock und Barbara l)uden berichren:

"Anfang des r 8. Jahrhunderts erschienen im Gebiet Sein e/Marne in Frank-reich vor dem zuständigen Kirchengerich t zweil-eute: Jean Plicque, Vein-bauer in Villenoy, und Catherine Giradin, seine Frau. Sieben Monatevorher hatten sie wegen absoluter LJnverträglichkeit mühsam eine f1-en-nung von Tisch und Bett durchgesetzt. Jetzt kommen sie wieder underklären, daß es für.sie nicht nur besser, sondern vor allem rviel vorteilhaf-ter und nützlicher sei, sich zusammen zu tun, als ggtren nt zubleiben.. DieEinsicht dieses Paares ist t1'pisch für sämtliche landüchen und städtischen\Tirtschaften: Mann und Frau waren aufeinander angewiesen, weil undsolange es jenseits der famili.alen Gesamtarbeit keine Nahr,rngs- und E,r-werbsmöglichkeit gab . rr2r

Die Einsicht dieses Paares bringt auf den Punkt, was ftir die vorin-dustrielle \flelt (bei aller Vielfalt) typisch zu sein scheint. Es gibt(abgesehen von Kirche und Kloster) keine gesicherte mareri.tt.Existenzbasis jenseits der E,he. Diese hat ihien Grund und Kittnicht in der Liebe, sondern in der religiösen Verbindlichkeit undmateriellen Verankerung ehelicher Arbeits- und Lebensformen.Wer den Sinn dieser Institution Ehe begreifen will, muß gerad,ezuvon den Individuen abstrahieren tttd das übergreifend! Ganzeeiner letzdich in Gott, im Jenseits begründeter Ordnung ins Zen-trum stellen, Die Ehe dient hier nicht dem individuellen Glück,sondern der Sicherung der Erbfolg., der familial begründetenHerrschaft im Adel usw. An ihr hängt die Stabilität ä.r. gesell-schaftlichen Ordnung und Hierarchie in einem sehr greifbarenSinne.

Mit der beginnenden Moderne lockert sich der übergeordnereSinnzusammenhang sozialer Existe nzformen. Der Z"{ zur Indi-vidualität - zunächst des bürgerlichen, auf privaten Kapitalbesitzgegründeten "Markt-Individuums<< stellt die Schwerkraft derkollektiven Identitäten und Handlungseinheiten in Frage, zumin-dest latent. In der Trennung von Familien- und \Wirtschäftssphäre

zerbricht die Arbeits- und Virtschaftseinheit von Mann und F rau.Bezeichnenderweise wird diese Auflösung der mareriellen Basisehelicher Gemeinschaft mit einer Überhöhung der moralischenund rechtlichen Grundordnung der Ehe beantworter. Auch hierwird die Ehe "deduktiv", also von oben nach unten, gerechtfer-

2 2

tigt, nun aber mit moralischen Ausrufungszeichen, als Eckpfeiler

4.t bürgerlich-christlichen Weltordn.tngl Noch im Entw"rf fürdas Bürgerliche Gesetzbuch, r 8 8 8 .rtihienen, heißt es: ,'Eindeutsches bürgerl iches Ges,B. wird der christl ichen Gesamran-schauung im Volke gemäß . . . davon auszugehen hab€r, daß imEherecht nicht das Prinzip der individuelletr Freiheit der Ehegat-ten herrscht, sondern die Ehe als eine von dem Villen der Ehegat-ten unabhängige sittl iche und rechtliche Ordnung anzus.f,.r,ist ...22

'rNicht das Prinzip der individuellen Freiheit.., starr dessen eine>vom Willen der Ehegarren unabhängige Ordnung..: In der Nega-tion schwingt die drohende Möglichkeit mit. Die

-G.*.insamkäit

ist allerdings eine einseitige. Der Ehefrau wird der eigene Nameausdrücklich verwehrt. Der Familienname wird damit der desMannes. Exemplarisch wird das Allgemeine mit der Macht - hier:des Mannes - gleichgesetzt. So heißt es noch 19t6 ineinem Urteil:,Vielmehr läßt Arr. 6 GG die Gleichberechtigung im Familien-recht nur so zvm Zuge kommen, daß unse-r herkömmlicher,christlich bestimmter Familienbeg riff dabei erhalten bleibt. Allenübersteigerten individualistischen Bestrebungen ist damit die Aus-wirkung im Eherecht versagt. . . Das muß auch für das ehelicheNamensrecht gelten .rr23 Hier findet sich schon die Bannformelvon den "übersteigerten individualistischen Bestrebungen<<, dienichts von ihrer Aktualität verloren hat. Mit ihr soll der Beelzebubdes Individualismus ausgerrieben werden.

Familienstammbücher sind eine ungeöffnete Fundgrube fürgleichsam ex cathedra verkündete .\fl,i"schfamilienbiläer. Zweisollen hier gegenübergestellt werden: eines aus der Zeitdes Natio-nalsozialismus, 'eines

aus den siebziger Jahren der Bundesrepu-blik. Viel radikaler könnte der Gegän tit, kaum ausfallen. Di.Geleitworte verdeutlichen die individualistische Konversion, diesich in Deutschland innerhalb von nur drei Jahrzehnten - auchamtlich! - vollzogen har.

Anfang der vieizigerJahre hieß es: ,,ZumGeleitl Die Ehe kannnicht Selbstzweck sein, sondern muß dem einen größeren Ziele,der Vermehrung und Erhaltung der Art und Rasse dienen. AdolfHitler.rr24 Das klingt wie ein Befehl und ist wohl auch so gemeint.Die Rassenlehre der Nationalsozialisten ist ein exrremes Beispielder "Gegenmodernisierung<<2s, die die Maskerade der Vergatt[.tr-heit inszeniert, um die "Auflösungstenden zen<< der Moder ne zu-

23

rückzuschrauben. Sie betreibt - mit allen Mitteln - die hergestellteFraglosigkeit blurcgemeinschaftlicher Reintegration. Die Ehewird so zur staatlichen Zweigniederlassung, zum Kleinsrsraarsge-bilde ) znr "Keimzelle des Staates<<. Sie gilt und dienr als Ort d.tReproduktion der rrdeutschen Rasse...

Die kommentierenden Sätze im Familienstammbuch der sieb-zrger Jahre lesen sich wie der Gegenschwur. Hier heißt es: ,rAuf-gtbe einer privatrechtlichen Ordnung der Ehe ist, sie nichr primärim Dienste weiterer, außerhalb ihrer liegender Zwecke zv- seh€n,sondern in der Ehe selbst den Haup tzweck zu finden .1126 Im heu-tigen Ehebuch ist also nicht mehr rttt der ,rchristlichen \flelt- undVerteordnung" 4i. Rede, auch nicht von ,rstaatszielen<<, schon garnicht von "Erhalrung der Rasse... Srart dessen wird der Schritr vonder auf das Ganze zu der auf die Personen gerichreren Sicht aus-drücklich formuliert, Da haut sich der Staat sogar gleichsam selbstauf die Finger, indem er die von ihm angetrauten"Eheleure davorwarnt, das zu tun, was bis dahin Grund satz staatlichen Eherechtsund smatlicher Ehepolitik war: Naturalisierung überkommenerLeitbilder.

,rVorsicht ist insbesondere gegenüber der gefährlichen Versu-chung geboten, die überko--.tr.tt Leitbilder von Ehe und Fami-lie einfach ungeprüft als >natürlich. hinzunehmen und auf dieseVeise rechtlich zv versteinern. Die rasche Entwicklung unserermodernen Industriegesellsch aft, die zunehmende Berufstätigkeitder Frau, die zu erwartenden weiteren Arbeitszeitverkürzungen,der Umbau der Berufsbilder usw . zwingen die Rechtsordnung zuunvoreingenommener Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Le-bensformen in Ehe und Familie.r.27 Da klingt gerade zusoziologiedurch.

Doch den frisch Getrauten wird auch noch dieser ,rsegens-sPruch" Martin \Talsers - in einem eigenen Kapitel ,rDie Eh.*fto-sung< wortwörtlich ins Stammbuch geschrieben: ,rVon einemgewissen Grad der Auseinand ersetzung an erscheinen sie [die E,[e-leute] wie zwei Chirurgen, die einander andauernd ohn. Nrrkoseoperieren, tund lernen immer besser, was weh tut< .rr28 Das ist wit-zig-treffend und zeigr doch in kaum überbietbarer Dramadk zumKontrapunk! der "Rasseneheo oder der noch in den funfziger Jrh-ren rechtlich verbindlichen ,rchristlichen Eheo den radikalen Wech-sel von der individuumsenthobenen zur exklusiv individuellenInterp retation des Dreibuchstablers ,rE,heo an. Hier wird nicht nur

242 '

in der Eheschließung die Eheauflösung angesprochen. Ehe wirdauch als individualisiertes Programm i"rtiätiänalisiert. Ihr S7as,\üie, \flie lange wird nun ganzin die Hände und Herzen der in ihrVerbundenen gelegt. Für das, w?s Ehe ist, meint, gibt es jetzr nurnoch die eine Maxime: Das Skript ist die Indivia""rlisier,rrrg derEhe. Arntlich wird hier sozusrg.r, der Individual-Code der Eheverordnet. \flomit zweierlei deutlich wird: Auch alte Eheformenmüssen nach ihrer bürokratischen Abdankung nun auf persön-liches Risiko gewählt und gelebt werden. Scho! das Stammbuchenthält sozus-agen die Sflarnung: Die Ehe ist - vergleichbar der über-höhten Geschwindigkeit auf ku.venreicher Stre.L. - ein persönlichriskantes LJnternehmen, für das Versicherungen nichr h*ften.

Zum anderen kann ietztniemand sag€r, irr hinter dem ach sogleichgebliebenen Standardetikett "Ehe* geschieht, möglich, er-llubj, gefordert, tabu oder unverzichtbar iir. Diese Welärdrrungder Ehe ist von nun ab eine Individualordnung, die im Gang dur.tden Blick der Individuen erfragt, rekonstr,riert werd.r, 1näß.

Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Auch dieneue Individualordnung der Ehe ist nicht bloßes Produkt der In-dividuen und ihrer \Münsche. Sie ist vielmehr an institutionelleVorgaben gebunden - zentral zum Beispiel des Rechtssystems. Sieverweist auf die Anforderungen yon Bildungssystem, Arbeits-markt, Altersversorgung, die heute bei beiden

'Prrtrrern (nicht

mehr wie früher nur beim Mann allein) auf eine eigenstatrdige(Erwerbs-)Biographie mit eigener Existenzsicherung rng.l.itsind. Auch in bezug auf die Zweierbeziehung - dieserr-sche-inblrglnz privat€D, ja intimen Bereich bedeutet Individualisierungalso keineswegs, daß die Erhöhung von \flahlmöglichkeitengleichbedeutend mit Regellosigkeit sei.2e Vielmehr zeiitsich hierwie anderswo auch, 'was bei Talcott Parsons schon "institutionali-sierter Individualismus<< genannt wird.3o \7as in freier überset-nrng heißt, das Individuum der Moderne wird auf vielen E,benenmit der Aufforderung konfrontiert: Du darfst und du kannsr, ja dusollst und du mußt eine eigenständige Exis tenzführen, jenseits deralten Bindungen von f'amilie und S"ippe, Religion, Herkunft undStand; und du sollst dies gleich zeiüf t,rtr diesieits der neuen Vor-gaben und Regeln, die Staat, Arbeitsmar,kt, Bürokrarie usw. enr-werfen. In diesem Sinne ist auch die Ehe in ihrer modernen Versionnicht bloß Individualordnung, sondern eine rrinstitutionenabhän-gige Individuallage...3l !

4. Perspektiven und Kontroversen

individuums orientierter S oziolo gie

Alle Soziologie spaltet sich auf in zwei gegens ätzlichePerspektivendesselben: Man kann das Soziale einmal vom Standpwkt der Indi-vidwen, zum anderen vom Standpunkt des Ganzen (der Gesell-schaft, des Staates, des Gemeinwohls, der Klasse, der Gruppe,Familie, Organisation etc.) aus betrachten.32 Beide Standpunkteliegen in deiS.truktur sozialen Handelns begründet, das eben ein-mal von den Handelnden, das andere Mal von der sozialen Struk-tur her analysiert werden kann. Gleich möglich, nötig oderursprünglich heißt aber noch lange nicht: gleichwertig oder gleich-berechtigt und schon gar nicht deckungsgleich.

Viehnehr relativiert, kritisiert jede dieser Betrachrungsweisendie jeweils andere (subtil, aber folgenreich): \Ver Gesellschaft vomStandpunkt des Individuums analysiert, nimmt ihre jeweilige

Form nicht als vorgegebenes, unverrückbares Datum, sondernstellt sie in Frage. Hier ist, wie Peter L. Berger in Anlehnung anNietzsche formuliert, soziologisches Denken nicht weit von der,oKunst des Mißtrauens<< entfernt33, ja es tendiert zvr "Destabili-'sierung.. der vorgefundenen Machtverhältnisse, wie etwa Zyg-munt Bauman sagt.34 Dagegen werden da, wo die sogenannten

"Funktionserfordernisse.. der Gesellschaft (oder ihrer Teilberei-che) den Bezugsrahmen bilden, dieselben oft schlicht als Binnen-glück des Ichs propagiert.ZurDurchsetzung dieses Glücks gibt esdann Trichter - "Pflichten.. genannt - und Eintrichterungs-, Ein-schüchterungsveranstaltungen - Schulen, Gerichte, Ehen, Orga-nlsatronen usw.

Die vorherrschende Soziologie hat es sich insofern leicht ge-

macht, als sie die Fragen, die hier aufbrechen, meist rigoros durch

den bücherdicken Hinweis abschnim: daß Individuen nur in Ge-

sellschaft Individuen sein oder werden können. So wurde immer

wieder der Gedanke verdrängt: Was wird, wenn eben diese Indivi-

duen eine andere Gesellschaft, vielleicht sogar eine andere Art von

Gesellschaftlichkeit wollen ?Dagegen war uhd irr di. alte, immer noch sehr lehrbestuhlte

Soziolo[i. auch gewappnet: D as zur Struktur geronnene Gesamt-

interesse wurde zum rrfunctional prerequisite.. (Talcott Parsons)

zugleich verdichtet und hochgejubelt. Daraus ließen sich - wie aus

einem Füllhorn der säkularisierten Pflichtethik - "Rollenmuster<<,

z6

"Funktionen.., 'rErfordernisse<, "Teilsysteme<< schütten und

schütteln, gleich weit von Gott und der Erde enrfernr, de- Han-deln entzogen und do'ch vorgegeben, die man als Maßstab andieVerwirrungen und Aufmüpfigkeiten der Individuen anlegen undso zu Urteilen wie >>norm alrr, "abweichend<<, >>abwegigo, ,irbr.rrd...kommen konnte . ,

DementsPrechend wird die ,,individualistische.. Sicht auf Ge-sellschaft bis heute zumeist als anmaßend und selbstwidersprüch-lich abgetan. Es ist - aktuell gewender - von ,rAnspruchsinfiation..und ,'Ego-Gesellsch afr., die Rede. Man beklagf,'d.tr Verfall der\Merte und vergißt, daß dies schon Sokrates geran hat. Die Gegen-ftage hat - bisher - exemplarisch schon die DDR erlebr und ist anihr gescheitert:

.silas wirdaus Institutionen ohne Individuen? \flas

bedeutet es' wenn die Individuen den Institutionseliten die Zu-stimmung entziehen ? Auch im Italien des Jahre s 1991_ (ebenso inFrankreich, Schweden, Finnland, f)eutschland, den USA usw.)wird diese Frage lebendig, und die Antwort fellt ähnlich aus: Diepolitischen Systeme beben. In der Dominanz funktionalistischer,systemtheoretischer Sichrweise erscheint dementsprechend eine

"subjektorientierte<< Soziologie oft nicht nur abweichend, son-dern subversiv. Denn sie deckt unter Umständen auf, daß diePartei- und Institutionseliten Reiter ohne Pferde sind.

Nun ist es zwar richtig, daß beide Betrachtungsweisen des So-zialen für sich genommen unvollständig und somit wechselseitigergänzungsbedürftig sind. Doch bevor so im allgemeinen Harmo-niebedürfnis ein Streit geschlichtet wird, der noch gar nicht offenausgetragen wird, sei hier darauf verwiesen, daß einige Jahrhun-derte lang die Sicht auf das Ganze die der Individuen unterdrückthat. Insofern ist es an der Zeft, den Spieß umzudrehen und zufragen, welche Art von Gemeinsamkeit enrsreht nach dem Endeder großen politischen Lager und parteipolitischen Konsensfor-men ?

Mit'anderen Worten: Beide Sichtweisen bleiben bis auf weiteresünvereinbar, werden sogar mit einer Modernisierungr die die Indi-viduen und ihre Dilem mata und Ansprüche freisetit, immer un-versöhnlicher, bringen gegensätzliche Erklärungen, Merhoden,Theorien und Theorietraditionen hervor.

Dagggen kann und wird man einwenden: Das ist doch gar keinsinnvoller Gegen satz. \flas sich analytisch voraussetzr, Indlviduenund Gesellschaft, kann nicht als sozialer Konflikt beschrieben

27

werden. Im übrigen beanspruchen beide Standpunkte beide

Standpunkte. \fler das ,rGanze" (der Gesellschaft), die Funktiona-

lität sozialer Gebilde in den Blick nimmt, beansprucht selbstver-

ständlich auch, den Standpunkt der Individuen mit einzub ezie-

hen; notfalls den moralisch richtigen, der gegen die falschen

Selbstbewußtseine der Individuen in ihren wohlverstandenen

Eigeninteressen behauptet werden muß. \flährend umgekehrt jede

Variante subjekt- und individuumsorientierter SoTiologie selbst-

versrändlich auch Aussagen und E,rklärungeq. ufibietet über die

Eigenrealität sozialer Gebilde und Systeme, d&.n Konstruktion,Inszenierung us'w. ,r f i

\flas im vorangegangenen Abschnitt t-h.ispiel der Ehe gezergt

wurde, gilt generell: Der Gegensatz zwrischen individual- und sy-

sremrlreär.Ärher Sicht ist ali historlsche Entwicklung zu begrei-

fen. Kann man . vielleicht - noch in traditionalen, vorindustriellen

Gesellschaften von einem gewissen Entsprechungsverhältnis bei-

der Bezugsrahmen ausgehen, so zerbrtcht diese prästabil isierte

Harmonie mit der Entfaltung der Moderne. I)as ist bereits das

zenrrale Thema der Soziologie bei Emile Durkheim und Georg

Simmel. Doch beide unterstellen noch die Möglichkeit einer

gleichs am tr anszend entalen \We rtinte gration d er individu alis i e rten-

Gesellschaft.I)iese Idee freil ich wird um so irrealer, je mehr die

Individuen freige setzt werden aus den klassischen Gruppen- und

Integrationsformen (auch aus denen der Familie und Klasse). \Was

heute zvm Vorschein kommt, kann man mit Hans Magnus En-

zensb erger die "durchschnittliche Exotik des Alltags<< nennen.

,rSie äußert sich am deutlichsten in der Provinz. Niederbayerische Markt-

flecken, Dörfer in der Eifel, Kleinstädte in Holstein bevölkern sich mit

Figuren, von denen noch vor dreißig Jahren niemand sich etwas träumen

üeß. Also golfspielende Metzger, aus Thailand importierte Ehefrauen, V-

Männer mit Schrebergärten, türkische Mullahs, Apothekerinnen in Nica-

ragua-Komitees, mercedesfahrende Landstreicher, Autonome mit Bio-

Gärten, waffens ammelnde Finanzbeamte, pfauenzüchtende Kleinbauern'

militante Lesbierinnen; tamilische Eisverkäufer, Altphilologen im \ilaren-

termingeschäft, Söldner auf Heimaturlaub, extremistische Tierschützer,

Kokaindealer mit Bräunungsstudios, Dominas mit Kunden aus dem höhe-

ren Managernent, Computer-Freaks, die zwischen kalifornischen Daten-

banken und hessischen Naturschutzparks pendeln, Schreiner, die goldene

Türen nach Saudi-Arabien liefern, Kunstfälscher, Karl-May-Forscher,

B odyguards, lazz-Experten, Sterbehelfer und Porno-Produzenten. An die

Stelle d.r Eigenbrötler und der Dorfidioten, der Käuze und der Sonder-

z 8

linge ist der durchschnittliche Abweichler gerreren, der unrer Millionenseinesgleichen gar nicht mehr auffallr...35

Unter diesen Bedingungen sind die Institutionen aufanriquiertenBildern der Individ.tett, ihrer gesellschafrlich." Situationen und!ts:" gegründet. Um nicht die eigene Mach t zugefährden, haltenInstitutionenverwalter auf Biegen- und Brech.n ärran fest'(unrer-stützt von einer in den alten Begriffsstereoqrpen fors.hendenS-oziologie). Eine amüsante Eolsf iruo,, ist,

'aiß die f"iiiircheKlasse die Individuen ,,draußen.iiü, ebenso dumm und ire.h hält,

wie die Gesellschaft der Individuen sie. Die Frage, wer recht hat,ist - im Prinzip - leich t zu entscheiden. Daß ,rri äi. prä phzeund der bürokratische Apparat weiß, s/o es langgeht, und alleanderen blöde sind, ist ei"ä Auffassung, die fr, i. dIä So*jet.rnio'charakterist isch war - bis sie zerbrach.

"

"Diese Gesellschafto, schreibt Hans Magnus Enzensberger (gemeint ist dieder Bundesrepublik), ' , ist nicht mehr .rittä,rschbar. Sie f,r, sehr früh, sehrrasch registriert, was in Bonn los ist. Zu dieser zymschen Auffassung trägrauch die Selbstdarstellung der Parteien bei. Di; pofitiker versuchen, denSchwund ihrer Autori täi, die E,rosion ihrer Macht und des Vertrauensdurch einen riesigen Verbeaufwand zu kompensieren. Aber diese Materi-alschlachten sind kontraproduktiv. Ihre Botschaften sind tautologisch undk:t._s_te..sagen immer nu. eines, nämlich ,Ich bin ich. oder ,wir sind wir..Die Null-M:]{""g ist die bevorzugle Art ihrer Selbstdarstellung. Das be-stärkt natürlich den Eindruck, drß von dieser Kaste kein Gedanke zuerwarten ist . . . Wenn auf plakaten steht: ,Es geht um Deutschland., dannweiß jeder, daß das leeres Stroh ist. Es geht inrio.hsten Fall ,rm ü;i.irpfen-nig, um den Krankenkassenbeitrrg oi.r um die Stü tze .. . Die Bundesre-publik ist relativ stabil und relativ ärfolgreich, nicht weil, sondern obwohlsie von den Leuten regiert wird, die

"J" den wahlplakaten herunt., grirr-

Sen. . .36 r

In dieser Auseinandersetzung bezieht die Individualisierungs-theorie in einem doppelten Sirrrr. Partei : Zum einen wird einBe-zugsrahmen erarbeitet, der das Themenfeld - die forrftiil; vonIndividuen und antiquierten institutionalisierten Gesellschaftsbil-dern - aus der Sicht der Individuen zu analysieren erlaubt. Znmander en zeigt die Theorie gerade auf, wie iÄ zuge der weiterenr-wicklung. der modernen Gesellschafr die Lfntersäilurrg rrrJi.;;;,Sinn- und Haldlungseinheiten fragwürdig wird. Damit aber ver-li.i:l Systemtheori€n, die eine vom Handeln und Denken derIndividuen unabhängige Existe nz und Reprodukrion des Sozialen

29

annehmen , dn Realitätsgehalt . Zugespitzt formuliert: System-

theorie wir d zur System -Metapbysik, die den Blick verstellt auf die

soziale und politische Virule rrz, mit der in allen Handlungsfeldern

Inhalte, Ziele, Grundlageo, Strukturen des "Sozialen.. neu ver-

handelt, erfunden und ausgestaltet werden. Sie verdeckt die Repo-

litisierung von Politik und Gesellschaf r,.37

Eine Söziologie, die in diesem Sinne der Perspektive der Institu-

tionenerhaltunt die Perspektive der Individuen entgegenhält, ist

ein weitgehend unterentwickeltes Themengebiet in der Gesell-

schaftswissenschaft. Fast alle Soziologie beruht aufgrund eines,rGeburts-Bias<< auf der Negation des Individuellen und des Indi-

viduums. Fast immer wurde das Soziale in Stämm€D, Religionen'

Klassen, Verbänden, neuerdings vor allem in sozialen Systemen

gedacht. Die Individuen waren das Austauschbare, das Produkt

der Verhältnisse, Charaktermasken, der subjektive Faktor, die

tJmwelt der Systeme , kurz: das Undefinierb are. Das Credo der

Soziologie, dem sie ilrre professionelle Identität verdankt, lautet

immer wieder: Das Individuelle ist die ll lusion der Individuen,

denen die Einsicht in die sozialen Bedingungen und Bedingtheiten

ihrer Existe nz verstellt ist.Die \flerke der Veltliteratur, die groß en E rzählungen und Dra-

men, die die Epochen in ihren Bann geschlagen haber, vari ieren in

diesem Sinne die Lehre von der höheren Re alität und Dignität des

Allgemeinsozialen, dessen - das sagt ja schon der Begriff - unteil-

bare Einheit das "Individere.. ist. Ist aber eine \t{issenschaft vom,'Individere.. überhaupt möglich ? Ist eine "Soziologie des Indivi-

duums.. (wenn sie nicht, diskurstheoretisch gewandt, mit der

Sozialgeschichte des Begriffs sich begnügt) nicht ein schwa rzer

Schimmel, ein verkappter App ell zur Selbstabschaffung der Sozio-

logie?Man muß nicht dem Gegenextrem nachjagen, uffi doch zu er-

kennen, daß viele der soziologischen Großbegriffe auf Kriegsfuß

stehen mit dem Grundgedanken der Individualisierungstheorie,

die da besagt: traditional eZusammenhänge werden aufgelöst, neu

verne tzt, umgeschmolzen, ir jedem Fall entscheidbar, entschei-

dungsabhängig, rechtfertigungspflichtig. \Wo diese historische

Entwicklung sich durch setzt, fallen die Perspektiven von "oben..und >>unter<(r vom Gesellschaf ßganzen und vom Individuum aus-

einander. Dabei bleibt das, was die systemtheoretische Sicht

anfiragestellungen aufrührt, durchaus erhalt€n, ja gewinnt sogar :

3o

angesichts zunehmender unsteuerbarkeit in immer stärkeremMäß an Bedeutung: Man nehme als Beispiel den Geburrenrück-gangr der nur aufzu.schlüsseln ist, wenn man ihn vor dem Hinter-grund der veränderten Wünsche, Hoffnungetr, Lebensplanungenvon Frauen und Männern sieht - und der gleich zeirigzuf gesamr-gesellschaftlicher Ebene in einen ganzen Rattenrlh*rä, vonNebenfolgen und Folgefragen hi"einführt (Bildungspolitik,Arb eitt rn ttkts t eu € rurl g,

- Ren-ten s ich erun g, Kommun rt"pirnurl g r

Einwanderungspolitik usw.). Die Individüen, ihre Vorlieb.r .rrräNachlieb€D, werden zum Störfaktor, zvm Unkalkulierbarenschlechthin , zu einer Dauerquelle von Irritationen, weil sie alleBerechnungen Ausbildungsquoten, Studiengangplanungen,Rentenkalküle usw. - über den Haufen werfen. Di.r ärhöht ä.r,Irrationalitätsverdacht bei den Akteuren in Politik und Verwal-tung und ihren wissenschaftlich en Zuarbeitern, weil so die gängi-qett Rechts-, Verwaltungs- und Berechnungsformeln immei *ir-der zuMakulatur werden. Vo bislang funktionierende Annahmenversag€r; beginnt das Gezeter: "Stimmungsdemokratie.., rrEllen-bogen-Gesellschafto. Es wird normiert .mä moralisiert. Aber dieFlutwelle der neuen Lebensentwürfe, der Bastel- und Drahtseil-biographien kann so weder zurückgedämmt noch durcfischautwerden. Das Gewiesele individualisierter Lebensführungen, ir-szeniert im persönlichen Versuch- und lrrtum-VerfahrÄ @wi-schen Ausbildung, Umschulung, Arbeitslosigkeit und Kari iere,zwischen Liebeshoffnung, Scheidung, neuen täumen vonGlück), verschließt sich den Standardisierungsnorwendigkeitenbürokratisierrer Politik- und Sozialwissenschait.

Niemand leugnet, daß auch dort Wichtiges erqrogen und be-wegt wird. Doch was zuvor als zu vernachlässigendä Störquellegak, wird nun immer unabweisbarer zur Grundrit.rrtion: Die Be-zugsrahmen staatlich institutionalisierter Politik und Verwaltungeinerseits und die Bezugsrahmen der Individuen, die ihre Biogra-phie-Bruchstücke zusammenzuhalten versuchen, brechen nunauseinander und prallen konfliktvoll aufeinander in gegen sätz-lichen Entwürfen von ,'Gemeinwohl.., ,rlebensquafiä; , ,rZu-kunftsfähigkeit..,, ,Gerechtigkeit", rrFortschritt.. . tr Riß rur sichauf zwischen den Gesellschaftsbildern, die in Politik und Institu-tionen vorherrschen, und den Entwürfen, die aus den Lebenslagender um lebb are Formen ringenden Individuen enrstehen.

In diesem Spannungsfeld muß die Soziologie ihre Begriffsbil-

3 r

dung und ihre Forschungsro_utinen überdenken. Algesichts des-

sen,-*r, F-,nzensberger di; r'durchschninliche E xotik des Alltags <<

nennr, was vorsichtig wissenschaftlich formuliert nun "Pluralisie-rung i.r- LebensforÄ.tt" heißt, werden alte Klassifikationen und

Schem ataebenso ideologieverdächtig - wie für institutionelle Ak-

reure wichtig. Man ,r.h-. beispielsweise l-Jntersuchuttg-.t, die

,rbeweisen.., äaß die sich ausbreiteqden nichtehelichen Lebensge-

meinschaften im Grunde voreheliche sind und die nachehelichen,

sprich Scheidungen, tatsächlich auch nur eine Vorfo rm ztx näch-

,i.r, Ehe darstellen, weshalb durch alle Turbulenzenhindurch die

Ehe als vanszendentaler Sieger ausgerufen werden kann. Derar-

tige ,rEntwarnungen.. haben ihren Markt und dankb are Abneh-

mer: Der Individ"ualisierungsaufruhr, heißt die Botschaft, ist ein

Sturm im Wasserglas der foitbestehenden E,he.

Hier bestätigt iich die alte \fleisheit, daß es aus dem Wald her-

ausschallt, wie man in ihn hineinruft. \fler auch noch die alternati-

ven Lebensformen ,rverehelicht", darf sich nicht wundern' wenn

er überall Ehen sieht, wohin er auch blickt. Doch dabei handelt es

sich um-ein Paradebeispiel blinder Empirie. Auch methodische

BrillarLz, die ihren kategorialen Rahmen nicht in Frage zu stellen

weiß, wird zirkulär, *itd zurn Antiquariat einer Standardgrup-

pen-Gesellsch aft, die nur noch als \Wunschbild existiert, als sol-

ches allerdings sehr lebendig ist.38

t. Ausblick: Vie sind hochindividualisierteGesellschaften integrierb arl

Individualisierung hat - wie der Buchtitel sagt ein DoPpelge-

sicht: 'rriskante Freiheiten... In alten, falschen Begriffen ausge-

drückt: Em anzipation und Anomie gehen chemisch-politisch eine

explosive Mischung ein. Entsprechend tiefgreifend und nervtö-

t.ttd sind die Folgen und Fragen, die in allen Bereichen der Gesell-

schaft aufbrechen, mehr ,trd mehr auch die Öffetttlichkeit alar-

mieren und die Vissenschaft beschäftigen. Um nur einige zu

nennen:Iflie wachsen Kinder auf,wenn es in den Familien immer weni-

ger klare Vorgaben und Zuständigkeiten gibt? Lassen sich Zusam-

menhänge zvrwachsenden Gewaltbereitschaft unter Jugendlichenaufzeigen? Läuft mit der Pluralisierung der Lebensformen das

3 2

Zertalter der Massenproduktion und des Massenkonsums aus, und\üirtschaft und Industrie müssen sich auf individuell kombinier-bare Produkte, Produktmoden und entsprechende Produktions-weisen umstellen ?

Wie kann eine Gesellschaft im Flugsand der Individualisierungüberhaupt statistisch erfaßt und sozialwissenschaftlich analysiertwerden? Gibt es denn noch eine Grundeinheit des SozialenHaushalt, Familie, Wohngemeinschaft? \fie wäre dies e zu defi-nieren und zu operationalisieren ? In welcher Veise müssen dieverschiedenen Politikbereiche z.B. Kommunalpolitik, Ver-kehrspolitik, Umweltpolitik, Familienpolitik, Sozialpolitik - aufdie Vervielfältigung und Verunstetigung von Bedürfnissen undLagen reagieren ? Vie muß sich die Sozialarbeit (und ihre Ausbil-dungsinhalte) ändern, wenn Armut zerstückelt, sozusagen bio-graphisch queiverteilt wird ? rWelche Architektur, welche Raum-planung, welche Bildungsplanung erfordert eine Gesellschaftunter Individualisierungszwängen ? Ist das Ende der Großparteienund Großverbände gekommen oder beginnt nur ein neuer Ab-schnitt ihrer Geschichte ?

Hinter all diesen irritierenden Fragen meldet sich immer deut-licher eine Grundfrage zu Wort: Sind hochindividualisierte Ge-sellschaften überhaupt noch integribrbar?

\fie die Renaissance des Nationalen, der 'ethnischen lJnter-schiede und Konflikte in Europa zergr, ist die Versuchung groß,auf diese Herausforderungen mit den klassischen Instrumentender Ab grenzung gegen ,'Fremde" zu reagieren. \fas heißt, die Rä-der gesellschaftlicher Modernisierung zurückzudrehen. Tatsäch-lich hat wohl die Hinnahme fremdenfeindlicher Gewalt auf denStraßen (neben vielen anderen) auch diesen Grund: In Deutsch-land wie in anderen Staaten \flesteuropas tobt ein Aufstand gegendie siebziger und achviger Jahre, ein Kulturkampf der zwei Mo-dernen. Alte Gewißheiten, gerade mürbe geworden, werden wie-der beschworenschaft. Die hochindividuali i ierte Suchgesellschaft soll ersetztwerden durch eine irn Innern ungleiche und nach außen zur Fe-stung ausgebaute Gesellschaft und die Ab grenzung gegenuFremde" dient diesem KalküI.

Ironisch ges agt: Da Mann den Frauen das \flahlrecht nicht mehrentziehen kann, dr ihre Ausbildungswilligkeit nur noch mit Mü-hen zurückzuschrauben wäre , d^ überhaupt alles, was in dieser

3 3

Hinsicht nützlich wäre, sich nicht gutmacht, ergibt sich - nichtganz bewußt, aber auch nicht ganz unbewußt - ein vielleicht ganztauglicher UmweB, dasselbe in der Dramaturgie der Gewalt unddes Nationalen doch noch zu erreichen. F{ier hat der Tabubruchgegen rechtsradikale Gewalt einen bislang wenig beachtetenGrund: die auch im Westen aufgestaute Gegenrevolte gegen dieIndividualisierung, Feminisierung, Ökologisierung des Alltags,Die Gewalt restauriert ganz nebenbei die Prioritäten der orthodo-xen Industriegesellschaft \Wirtschaftswachstum, Technikglau-ben, Kleinfamilie, Geschlechterordnung und verj agt so dielästigen Geister der dauernden Infragestellung: scheinbar.

Denn das Festhalten am Status quo oder gar ein Salto mortalerückwärts können an der Vende ins 2r. Jahrhundert keine Legiti-mität mehr stiften. Dasselbe gilt wohl für die drei Arten derIntegration hochindividualisierter Gesellschaften, die in der Dis-kussion immer wieder genannt werden. Auch sie werden unsicher,brüchig, können auf Dauer kaum funktionieren:

Daist erstens die Möglichkeit eines gleichsam transzendentalenKonsens, einer Wert-Integration, wie sie von Durkheim bis Par-sons die klassische Soziolögie bewegt hat. Dagegen steht heute dieErfahrung, daß die Verviilfältig.rttg von k"lt"rellen \Wahrneh-

mungen und selbst herzustellenden Bindungen genau die Grund-lagen auf.zehrt, aus denen sich \Werte-Gemeinsamkeiten speisenund immer wieder erneuern können.

Andere stellen dieser \tflerti ntegration zweitens eine in der Ge-meinsamkeit materieller Interessen begründete Integration gegen-über. Sie sagen, wenn eine EinschwöÄng auf g.m.insame Vätt.(die ja immer auch eine beengende, repressive Seite hat) nicht odernicht mehr gelingt, tritt an ihre Stelle in der hochentwickeltenGesellschaft die Teilhabe am \flohlstand, die für breite Bevölke-rungsgruppen spürbar wird und sie damii in diese Gesellschafteinbindet. Demnach beruhte der Zusammenhalt der alten Bundes-republik wesentlich auf dem wachsenden "\Tirtschaftskuchen<<, dieneue Großrepublik freilich - wo Rezession, Mangel und Armutneu ihr Regiment entfalten - wird vor schwere Belastungsprobenhestellt. Aber auch wenn man von dieser aktuellen E,ntwicklungeinmal absieht, bleibt schon die Grundannahme selbst fraglich-:Die Hoffnung, daß allein materielle Interessen und institutionelleAbhängigkeiten (Konsum, Arbeitsmarkt, Sozialstaat, Renten)Zusammenhalt stiften, verwechselt wohl das Problem mit der

3 4

Lösung, macht aus der Tugend der zerfallenden Gruppen undGruppenbindungen eine (theorieerwünschte) Tugend.

Schließlich vermag drittens auch das Nationalbewußtsein keinestabile Integration meh r zustiften, Dies zeigtsich nichr nur an denPolarisierungen, die das 'rnationale Projekt.. erzeugt. Es ist,schreibt Rend König schon r97g, auch ,rden realen und sehr hand-greiflichen Spaltungen gegenüber viel zu abstrakto3t; es ist ein fachnicht mehr in der Lage, diese zu erreichen und zu binden.

uMan kann das als einen ,Rückfall ins Mittelalter. und die Auflösung derbestehenden Großgesellschaften in lokale Sonder- und Gegenmächte alsZerfall der alten 'Nationen< ansehen, ein Prozeß, der an vielen Stellen deralten und der neuen Welt schon seit geraum er Zeit Wirklichkeit ist. Hierwird dann der alte W"g von Bünde n zu Imperien umgekehrt; die Großrei-che zerfallen teils in föderative Gebild., ode, es spalten sich einzelne Teileentlang politisch, ethnisch oder sonstwie determinierter Linien ab.o.40

Anders ges agr: Mit der Mobilisierung ethnischer Identitäten zer-fällt gerade die nationale Integration. Was also bleibt? \7ir wollenzum Abschluß die Möglichkeit einer anderen Integrationsformwenigstens andeuten und zur Diskussion stellen. Auf den Grund-gedanken zusammengefaßt: Ein Zusammenbinden hochindivi-dualisierter Gesellschaften ist - wenn überhaupt - zum einen nurdurch die Einsicht in genau diese Lage möglich; zvm ander€n,wenn es gelingt, die Menschen für die Herausforderunge n zu mo-bilisieren und zu motivieren, die imZentrum ihrer Lebensführungpräsent sind (Arbeitslosigkeit, Naturzerstörung usw.). \7o die alteGesellschaftlichkeit'verdampft.., muß Gesellschaft neu erfundenwerden. Integration wird hier also dann möglich, wenn man nichtversucht, den Aufbruch der Individuen zurückzudrängen - son-dern wenn man, i- Gegenteil, bewußt daran anknüpft und ausden drängend en Zukunftsfragen neue, politisch offene Bindungs-und Bündnisformen zv schmieden versucht: projektiae Integra-tion.

In einem seiner letzten großen Aufsätze entwirft Ren6 König indiesem Zusammenhang eine durchaus utopische Rolle der Sozio-logie. Er sieht sie in einem Integrationsbeitrag durch methodischeSelbstreflexion, Selbstbeobachtung der hochkomplexen Gesell-schaft. In drastischen Vendungen krit isiert er die ,rheute regie-rende Klasse<<, weil sie ,'eben einzig aus einer von alten E,litenerborgten Legitimität gelebt und ihr aus eigenem nichts hinzu-zufügen vermocht" hat. In dieser Situation, fährt König fort,

3 t

,rkönnte nun die Soziologie diesen hochkomplexen thematischenZusamrmenh ang durchsichtig machen . . . Integration wäre dannzugestandenermaßen nicht mehr erreichbar auf institutionellerEbene" - weder ethnisch noch sozial, wirtschaftlich oder staat-lich-nationalistisch. "Sie kann gewissermaßen nur noch ,in Ge-danken. vollzogenwerden. << Also ,reinzig im Rahmen einer neuenPhilosophie, die aber nun nicht mehr um ,Sein. und '\Terden< ro-tiert, sondern um die Chancen des Menschen unter den gezeichne-ten Existe nzb edin gun gen.. . 4 I

\[as König lror-r.hlagt, ist tatsächlich hochaktuell die ,inGedanken.., im Ringen um neue Existe nzgrvndlagen der Indu-striezivilisation zu gewinnende Integratiorl. Nachtraditionale Ge-sellsch aften können nur im Experiment ihrer Selbstdeutung,Selbstbeobachtung, Selbstöffnung, Selbstf indung, j^ Selbsterfin-dung integrierbar werden. Ihre Zukunk, Zukunftsfähigkeit, Zu-kunftsgestalrung , ist der Maßstab ihrer Integration. Ob diesgelingt, bleibt allerdings fraglich. Vielleicht erweist sich am E,ndedoch, daß Individualisierung und Integration einander tatsächlichausschließen? Und die Soziologie, ist sie überhaupt in der Lage,einen Beitra g zur gedanklichen Integration pluraler Gesellschaf-ten zu leisten ? Oder wird sie in ihren Routinen verharren und imKleinrechnen der Entwicklungstrends die,Linien der Veränderungund der Herausforderung unsich tbar machen ?

Robert Musil untetscheidet in seinem Roma n Der Mann obneEigenschaften zwischen Virklichkeitssinn und Möglichkeitssinn.Letzteren definiert er als die Fähigkeit, "alles, was ebensogut seinkönnt e, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen alsdas, was nicht ists.. Jemand, der auf ,rmögliche Vährheiten sieht,hato., fährt Musil fort, ,rin den Augen andärer oft ein Feuer, einenFlug, einen Bauwillen . . ., der die Wirklichkeit nicht scheut, wohlaber als Aufgabe und Erfindung behandelt. . . Da seine Ideen . . .nichts als noch nicht geborene Wirklichkeiten sind, hat natürlichauch er Wirklichkeitssinn; aber es ist ein Sinn für die möglicheWirklichkeit . . .rr42 Kein Zweifel, einen solchen Sinn für die mög-liche Virklichkeit müßte auch die Soziologie entwickeln - aberdas ist eine andere Frage.

3 6 3 7

Anmerk,ungen

r Friedrich Schorlemmer , Der Befund ist nicht alles,Diskussionsbeitragbei der Disputation über "Bindungsverlust und Zukunftsangst ir i derRisikogesellschaft <., Jo. Oktober ry93 in Halle; Manuskripr, S. r f.

2 Lena H. Sun, Freedorn has a Price. Chinese Discover,in: InternationalHerald T' ibune, r4. Juni ,99j (eigene übersetzung).

3 So verstehen Ostner /Boy Individualisierung. Siehe Ilona Ostner /PeterBoy, Spate Heirat - Ergebnis biographiscb unterschiedlicher Erfabrungenrnit ,casho and >)ctt 'e<(tProjektant i^g^ndie DFG, Bremen ,ggr, S. r8.

4 So versteht Karl Ulrich Mayer die Individualisierungsrhese. Sieheders. , Soziale (Jngleichheit und Lebensaerlciufe, ir: Bernd Giesen/Claus Leggeu'ie (Hg .), E*periment Wreinigung, Berlin rggr, S . 87-99;dor t S . 88 f .

t Von ,,Bastelbiographie* spricht Ronald Hitzler in seinem Buch KleineLebenswelten - Ein Beitrag zum Versteben aon Kultur, Opladen r988(siehe auch in diesem Band S. 3o7 ff,); von ,,reflexiver Biographie"spricht Anthony Giddens, Seffidentity and Modernity, London_r99r;von ',Wahlbiographie" Katrin Ley, Von der Normal- zur Wahlbiogra-pbie, in: KohlilRobert (Hg.), Biograpbie und soziale Wirklichk,eit,Stuttgart r 984, S. z 1,9- z6o. \

6 Zygmunt Bauman , Wir sind wie Landstreicher - Die Moral im Zeitalterder Beliebigkeit, in: Süddeutsche Zeitu.ng, 16./17. r r. 19%, S . 17.

7 Michael Cunningham , A Home at the End of the World, Harmands-worth rygr , S. r89f .

8 Scott Turow, Tbe Burden of Proof, Harmondsworth r ggr, S. 34g.9 Hans Bertram/Clemens Dannenbeck, Pluralisierwng von Lebenslagen

und Individualisierunguon Lebensfabrungen. Zur Theorie und Empi-rie regionaler Disparitriten in dei Bunditrtprblik Deutscbland, irtPeter A. Berger/Stefan Hradil (Hg.), Lebenslagen, Lebensläufe, Le-benssti le, Göttingen r9go, S, 2o7-zz9; Hans Bertram/Hiltrud Bayer/Renate Bauereiß, Familien-Atlas. Lebenslagen und Regionen inDeutschland, Opladen 1993; Günter Burkait/Martin Kohli, Liebe,Ehe, Elternscbaft, München rg92

Io }vlartin Baeth ge, Arbeit, Vergesellscbaftur?g, Identität - Zur zunehmen-den normativen Subjektivierung der Arbeit, ir:

'W. Zapf (Hg.), Die

Modernisierung rnoderner Gesellschaften, Frankfurt/M . r99r, S . 27r.I I Von Mult i -Options-Gesel lschaft spricht Peter Groß. Sein entsprechen-

des Buch wird im Herbst rg94 in der edit ion suhrkamp erscheinen.rz Got t f r ied Benn, Essays und Reden, Frank fur t /M . 1979,S. ryo f .rJ Hartmut Tyrell , Soziologische Annterkungen zur Historischen Fami-

lienforschu.ng, in: Gescbicbte und Gesellscbaft rz Q986), S. z t4-273;d o r t S . t t t .

14 Cunningham r99r, S . zo3.

rt Ansgar Weymann, Handlwngsspielräume im Lebenslauf, in: Ders.(Hg. ), H andlungs spielrcinme . U nt e rs uclt ungen z ur I n dia id ualisie run gund Institutionalisierung aon Lebensläufen in der Moderne, Stuttgart,

ry89, S. j.t6 So z.B. Günter Burkart. Siehe ders., Individualisierung und Ehern-

scbaft - das Beispiel USA, ir: Zeitschrtft fA, Soziologie, Heft 3/Junir99 j , S . I t 9 -177 .

17 Emile Durkheim, Der Selbstmord, FrankfurVM. 1973, S. 289 undS . 3 r r .

r 8 Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim, Nicht Autonomie, sondernBastelbiograpbie, in: Zeitschrift fA, Soziologie, Heft 3/Juni 1991,,S. r78- t87.

ry Jakob Burkhardt, Die Kubur der Renaissance in ltalien, Stuttgart r987,S. 16r und S. 428.

zo Vgl. u.a. Louis Dumont, Indiaidu.alisrnus - Zur Ideologie der Mo-derne, Frankfurt/M . r99r; Alan Macfarlane, Tbe Origins of EnglishIndiaidualism, Tlte Family, Property and Social Transition, New York1979; Colin Morris, The Ditrirury of the Indiaidual rato-r2oo, To-ronto t97z; Michel Foucault , Die Sctrge um sich, Frankfurt /M.1989.

zr Gisela Bock/Barbara Duden, Arbeit aus Liebe - Lielte als Arbeit, in:Frauen und Wissenscbaft Beiträge zLrr Berliner Sommeruniversität fürFrauen, Berlin 1977, S. r r 8 - r99; dort S. I 26 .

zz Motive zlr dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuclres für dasDeutsche Räich. Leipzig r888 ; zrt nach Dirk Blasius , Ehescheidt4ngi,n Dewtschland im rg, wnd zo. Jahrhirndert, Frankfurt/M. 1992,S . r 3 o f .

23 OVG Hamburg 19 j6, zit, nach: Gerh ard Struck, Die miihseligeGleicbberechtigungvon Mann und Frau im Ebenamensrecbt, in I{eue

Just iz g/ t9gr , S.390-392; dor t S. j9o. 224 Familienstammbuch mit Ahnenpaf , Paul Albrechts Verlag: Stolp und

Berl in, o.J. (circa r94o); dort S. 3.z, Siehe Ulrich Beck, Die Erfindung des Politischen, Kapitel IV, Frank-

furt/M . 1993.z6 Stammbucb, herausgegeben vom Bundesverband der deutschen Stan-

desbeamten e. V., Verlag für Standesamtswesen: Berlin und Frankfurto.J. (circa rg1o), ohne Seitenangaben.EbdE b d .Gegen dieses verbreitete Mißverständnis wendet sich explizit \YolfgangZapf. Siehe ders., Entwicklung und Sozialstruktur moderner Gesell-schaften, in: Hermann Korte/Bernhard Schäfers (Hg .), Einfübrung in

27

z 8

29

Hauptbegriffe der Soziolo7ie, Opladen r 992, S. ryof .

3o Talcoff Parsons, Religion in Postindustrial Society, ir: Ders., Action,Theory and tbe Human Condition, New York 1978, S. 3zr.

3 8

iI Ulrich Beck, Risikogesellscbaft. Arf demWgin eine andere Moderne,Frankfurt /M, 1986, S. 2ro.

3z Ygl. Karl Martin Bolte , Su.bjektorientierte Soziolagie - Plädoyer für eineForschu?tgsperspektiae, in: BoltelTreutner (Hg.), SubjektorientierteArbeits- und Berufssoziologie, Frankfurt/M. r98j, S. 12-36.

3j Peter L. Berger, Einladung zut' Soziologie, München r 977, S. 4o.34 Zygmunt Bauman, Thinking Sociologically, Oxford rg9r, S. 17.jt Hans Magnus Enzensberger, Mittelmaß und Wabn, Frankfurt/M.

r 9 9 r , S . 2 6 4

36 E,bd . , S . 4 j und S. 228.

37 Siehe dazu die Theorie reflexiver Modernisierung, in: Beck r99j, ins-besondere Kapitel III, sowie Beck/Giddens/Lash, Reflexiae Moderni-sierung, Frankfurt/M . rg94 (i- E,rscheinen) .

38 Bemerkenswert ist das methodenpragmatische Apriori der Massenda-ten-Soziologie: Quantitative Methoden setzen Kategorisierungen,Gruppenbegriffsbildungen voraus (selbst wenn sie nominal entsch ärftwerden). E,ine sich individualisierende Gesellschaft entzieht sich aberdiesen untersuchungstechnischen Standardisierungszwängen (washeute schon beispielsweise in den Flexibil isierungen von Arbeitszeitund Arbeitsvertrag zu undurchschaubaren Verwicklungen führt) . Des-halb ist es für eine auf ihre technische Bril lan z stolze Soziologie schwer,sich über ihren eigenen Scharren hinweg für die Fragen der sich indivi-dualisierenden Gesellschaf t zu öffnen. Gleichzeirigwird aber auch hierwieder deutlich, wie sehr die Frage bislang rträfl i.h vernachlässigtwurde, welche Art soziologischer Empirie, wissenschaftl ich-gesell-schaftl icher Selbstbeobachtung für eine Gesellschaft im Flugsand derIndividualisierung angemessen ist; siehe dazu u. Beck{. Allmendin-

B€r, Individttalisierung und die Erhebung sozialer tJngleichhert, DFG-Forschungsantrag, München r99 j

39 Ren6 König, Gesellscbaftliches Bewt{ltsein und Soziologie, in: Gün-ther Lüschen (Hg .), Deutsche Soziologie seit r94t, Sonderheft zr/t979der KZfSS, S. j64.

40 Ebd . , S . 364 f .4r Ren6 König, Gesellscbaftliches BeretuJltsein und Soziologi.e, a.a,ö.,

1979, S. J 67ff .; vgl. auch Bernhard Peters, Die Integration modernerGesellscbaften, Frankfurt/M . r993.

42 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek bei Hamburg

r y 6 7 , 5 . t 6 f .

Mit dem Begriff "Individualisierung.. werden drei zusammenhängende

Proze.sse innerhalb der Gegenwartsgesellschaft bezeichnet . Zum einen die

Auflösung industriegesellschaftl icher Lebensformen wie soziale Klassen,

Kleinfamilien, Geschlechterrollen, ihre Bedingungen, Reichweiten usw.

Zum zweiten die biographischen Modi und Verläufe, die dadurch entste-

hen, und die Art, wie diese in institutionelle Muster eingebunden bleiben

bzw. werden. Drittens schließlich erfaßt dieser Begriff die individuellen

und gesamtgesellschaftl ichen (polit ischen, sozialpolit ischen) Bedeutungen

und Folgen dieses Strukturwandels. Im vorliegenden Band werden die

konkreten, das Leben jedes einzelnen betreffenden Formen dieser Indivi-

dualisierung beschrieben. Es geht um das Widerspiel von neuer Freiheit

und neuen Risiken in allen T ,ebensbereichen: um Kindheit und Jugend, üffi

Frauen, uffi Liebe und Scheidurg, Sozialpolitik und Armut.

Ulrich Beck lehrt Soziologie an der Universität München, Elisabeth

Beck-Gernsheim Soziologie an der Universität E,rlangen. Von beiden zu-

sammen erschien im Suhrkamp Verlag Das ga,nz normale Cbaos der Liebe

(rt rTzj), von Ulrich Beck zulerzr. Die Erfindung des Politischen (.t

r 78o ) .

skante FreiheitenIndividualisierung

in mo dernen Ge sellscb often

Herausgegeben vonUlrich Beck und

Elisabeth Beck-Gernsheim

8 j 2Suhrkamp

a * ' F 4 " '

l r- { t sri ./r'r--! {*.-

'! ,.1.,f t) r.ß--1,t)*,

t .lI\../

l ,

/ (..

.Bibli,

P a s s a lII,f

f ' {1 1 \

I

\

L t

r l J i

r . ' l -! l

edit ion suhrkamp r816Neue Folge Brrrd 8 r 6

Erste Auflag e ry94O Suhrkamp Vellag Frankfurt anr Main t994

Alte Rechte vorbeh"rr.,',1::Täj:3:.. das der üb.rserzu,rs,des öffentlichen Vortrags

sowie der Überrragung durch Rundfunk und Fernsehen,auch einzelner Teile.

Satz: Hümmer, \Waldbüttelbrunn

Druck: Nomos Verlagsgesells chaft, Baden-BadenUmschlagentwurf : \7illy Fleckh aus

Printed in Germany

t, . lt l

r 2 3 4 5 6 9 9 9 8 9 7 9 6 9 t 9 4

Inhalt

V ' v o r r 9

L ch Beck/Elisaberh Beck-GernsheimIr;c ̂ vidualisierung in modernen Gesellschaften -Per Spektiven und Kontroversen einer subjektorientierrenSoziologie r o

Ulrich Beck

Jelseits von Stand und Klasse? #Drtmar BrockF ckkehr der Klassengesellschaft ? Die neuen sozialenG, ,.ben in einer mareriellen Kultur 6t

Barbara RiedmüllerSozialpolitik und Armut. Ein Them a zwischen Ost und

\üZest 7 4

Thomas RauschenbachInszenierte Solidarität: So zialeArbeit in derRisikogesellschaft 89

I IElisabeth Beck-GernsheimAuf dem w.g in die postfamiliale Familie -!' rn der Notgemeinschaf t zvr \flahlverwandmch aft r r t' l irgit Geiss ler/Mechtild Oechsle

.b".rrrplanung als Konstruktion : Biographische Dilem mat6-nd Lebenslauf-E,ntwü rf e junger Frauen r 39

; udith \Mallerstein/Sand ra BlakesleeScheidung - Gewinner und V_erlie rer ßB

I I I|{iklas LuhmannCopierye Exis tenzund Karriere . ZurHerstellung vonIndividualität r9r

Maria S. RerrichZusammenfügen, was aus einanderstrebt :

Zur familialen Lebensführung von Berufstätigen zor

Martin KohliInstitutionalis i e run g und Individualisi erun g

der Erwerbsbiographie zr9

Martin BaethgeArbeit und Identität z4t

IV

Karl Ulrich Ma yer/Walter MüllerIndividualisierung und Standardisierung im Strukturwandel

der Moderne. Lebensverläufe im $flohlfahnsstaat 265

VolfgangZapfStaat, Siäherheit und Individualisierun g 296

VRonald Hi vler/Arrrr. HonerBastelexist enz. Über subjektive Konsequenzen der

Individualisierung 3o7

Elisabeth B eck- G ernsheimGesundheit und Verantwortung im Zeitalter

der Gentechnologie 316

Heiner KeuppAmbivalen zen postmoderner Identität 336

VIHelga ZeiherKindheitsräume . ZwischenAbhängigkeit 3t 3

\flilhelm Heitmeyer

Eigenständigkeit und

Entsicherungen. Desinte grationsProzess e und Gewalt 376

Volfgang KühnelEntslehungszusammenhänge von Gewalt bei Jugendlichenim Osten Deutschlands 4oz

VIIRalf DahrendorfDas Zerbrechen der Ligaturen und die Utopieder \Weltbürgergesellschaft

4zr

Jürgen HabermasIndividuierung durch Vergesellschaftung $7

Ronald FIi vler/E,lmar KoenenKehren die Individu en zvrück ? Zwei divergenre Antworrenauf eine institutionentheoretische Frage 447

Ulrich BeckNeonationalismus oder das E,uropa der Individuen 466

Drucknachweise +81