Wie mutig ist Rapunzels Prinz? - Sprachheilzentrum Calw · 2010. 3. 9. · Märchen als Begleiter...

5
17 Praxis der Psychomotorik Jg. 33 (3) August 2008 Praxis Wie mutig ist Rapunzels Prinz? Märchen als Begleiter für bewegungspädagogische Förderung: ein Spiel- und Sporttag an einer Schule für sprach- und lernbehinderte Kinder Beate Hielscher und Ute Volbracht Märchen haben eine lange Tradi- tion und entstammen verschiedenen Kulturen, sie werden erzählt oder vorgelesen. Haben Sie vielleicht selbst noch Kindheitserinnerungen an eine heimelige Atmosphäre an Groß- mutters Ofen bei Kerzenschein..., vielleicht an ein Lieblingsmärchen, welches Sie immer wieder berührt und fasziniert hat? Dieser Artikel soll aufzeigen, warum wir Märchen auch heute noch – oder gerade heute – als wertvolle Bereicherung für die kindliche Entwicklung betrach- ten, wie Märchen therapeutisch wirken können, wie wir versucht haben, uns den Inhalten durch charakteristische Bewegungsangebote zu nähern und wie dabei spielerisch elementare motorische bzw. psychomotori- sche Fähigkeiten trainiert werden können. Die Vorbereitung Ein gemütlicher Winterabend am Kamin – unser erstes Vorbereitungs- treffen, an dem wir unsere alten Märchenbücher wälzen und neben dem Eintauchen in Erinnerungen der Frage nachgehen, in welchen Märchen Bewegung steckt – genug Bewegung, um Kollegen und Schüler zu bewegen? Aschenputtel, der gestiefelte Kater, Hänsel und Gretel..., bei Rapunzel halten wir inne, lesen das Märchen vor und haben bei dem Satz: „Rapunzel, lass‘ dein Haar herunter“ gleich den Prinz vor Augen, der den hohen Turm am herunter- gelassenen Zopf erklimmt. Ein geeignetes Bewegungs- angebot für Schüler? Mut, Vertrauen, Kraft und Ko- ordination sind gefordert. Und während der Prinz mit dem Anblick der schönen Rapunzel belohnt wird, können unsere Schüler hier ein großes Erfolgserlebnis erfahren, das sie ihrem außergewöhnlichen körper- lichen Einsatz zu verdanken haben. Natürlich muss Rapunzels Zopf auch geflochten wer- den, was bei dieser Länge viel Geschick verlangt. Und, wenn das Flechtwerk gar von drei Kindern zusam- men gemeistert werden soll, sind Kommunikation und Kooperation unerlässlich. Welche Schätze sind in diesem Märchen noch verborgen? Wir machen uns auf die Suche und dabei beginnt unsere Idee, unseren Bewegungstag mit verschiedenen Märchen zu verbinden, langsam Form und Lebendigkeit zu bekom- men. Ja, richtig, Rapunzel ist doch damals zu ihrem Namen gekommen, weil ihr Vater jenseits der hohen Mauer im Nachbargarten die so genannten Rapunzeln (Feldsalat) für die Mutter pflücken musste. Es kam natürlich darauf an, sich eine mög- lichst gute Strategie zu überlegen, um dieses Werk zu vollbringen, ohne von der Zauberin erwischt zu wer- den. Nur mit Schnelligkeit, Ausdauer und feinmotorischer Geschicklichkeit konnte ihm die gefährliche Aufgabe gelingen... Das Kaminfeuer knisterte und – wie sollte es anders sein – gesellte sich Rumpelstilzchen zu uns und forderte neue kreative Ideen, die unsere Liste der Bewegungsangebote langsam Abb. 1: Auch das Märchen „Sterntaler“ eignet sich gut für koordinationsfördernde Bewegungs- spiele

Transcript of Wie mutig ist Rapunzels Prinz? - Sprachheilzentrum Calw · 2010. 3. 9. · Märchen als Begleiter...

  • 17

    Praxis der Psychomotorik • Jg. 33 (3) • August 2008

    Praxis

    Wie mutig ist Rapunzels Prinz? Märchen als Begleiter für bewegungspädagogische Förderung: ein Spiel- und Sporttag an einer Schule für sprach- und lernbehinderte Kinder

    Beate Hielscher und Ute Volbracht

    Märchen haben eine lange Tradi-tion und entstammen verschiedenen Kulturen, sie werden erzählt oder vorgelesen. Haben Sie vielleicht selbst noch Kindheitserinnerungen an eine heimelige Atmosphäre an Groß-mutters Ofen bei Kerzenschein..., vielleicht an ein Lieblingsmärchen, welches Sie immer wieder berührt und fasziniert hat?Dieser Artikel soll aufzeigen,

    warum wir Märchen auch heute ●noch – oder gerade heute – als wertvolle Bereicherung für die kindliche Entwicklung betrach-ten,

    wie Märchen therapeutisch wirken ●können,

    wie wir versucht haben, uns den ●Inhalten durch charakteristische Bewegungsangebote zu nähern und

    wie dabei spielerisch elementare ●motorische bzw. psychomotori-sche Fähigkeiten trainiert werden können.

    Die VorbereitungEin gemütlicher Winterabend am Kamin – unser erstes Vorbereitungs-treffen, an dem wir unsere alten Märchenbücher wälzen und neben dem Eintauchen in Erinnerungen der Frage nachgehen, in welchen Märchen Bewegung steckt – genug Bewegung, um Kollegen und Schüler zu bewegen?Aschenputtel, der gestiefelte Kater, Hänsel und Gretel..., bei Rapunzel halten wir inne, lesen das Märchen

    vor und haben bei dem Satz: „Rapunzel, lass‘ dein Haar herunter“ gleich den Prinz vor Augen, der den hohen Turm am herunter-gelassenen Zopf erklimmt. Ein geeignetes Bewegungs-angebot für Schüler? Mut, Vertrauen, Kraft und Ko-ordination sind gefordert. Und während der Prinz mit dem Anblick der schönen Rapunzel belohnt wird, können unsere Schüler hier ein großes Erfolgserlebnis erfahren, das sie ihrem außergewöhnlichen körper-lichen Einsatz zu verdanken haben.Natürlich muss Rapunzels Zopf auch geflochten wer-den, was bei dieser Länge viel Geschick verlangt. Und, wenn das Flechtwerk gar von drei Kindern zusam-men gemeistert werden soll, sind Kommunikation und Kooperation unerlässlich.Welche Schätze sind in diesem Märchen noch verborgen? Wir machen uns auf die Suche und dabei beginnt unsere Idee, unseren Bewegungstag mit verschiedenen Märchen zu verbinden, langsam Form und Lebendigkeit zu bekom-men. Ja, richtig, Rapunzel ist doch damals zu ihrem Namen gekommen, weil ihr Vater jenseits der hohen Mauer im Nachbargarten die so genannten Rapunzeln (Feldsalat) für die Mutter pflücken musste. Es kam natürlich darauf an, sich eine mög-

    lichst gute Strategie zu überlegen, um dieses Werk zu vollbringen, ohne von der Zauberin erwischt zu wer-den. Nur mit Schnelligkeit, Ausdauer und feinmotorischer Geschicklichkeit konnte ihm die gefährliche Aufgabe gelingen...Das Kaminfeuer knisterte und – wie sollte es anders sein – gesellte sich Rumpelstilzchen zu uns und forderte neue kreative Ideen, die unsere Liste der Bewegungsangebote langsam

    Abb. 1: Auch das Märchen „Sterntaler“ eignet sich gut für koordinationsfördernde Bewegungs-spiele

  • 18

    Praxis

    Märchen Bewegungsangebot Förderaspekte Material/AufbauRapunzel Rapunzeln pflücken: über eine

    Mauer klettern, in vorgegebener Zeit möglichst viele „Rapunzeln“ pflücken und wieder zum Ausgangspunkt zurück kehren

    Schnelligkeit, Strategie, Koordination

    Papierrapunzeln, Sand zum Einpflanzen, Körbchen, „Mauer“ Stoppuhr

    Rapunzel Blinder Königssohn findet Rapunzel: Mit verbundenen Augen durch den Wald laufen und den Gesang finden

    Auditive Wahrnehmung, Selbstvertrauen,

    Gebüsch oder von der Decke hängende Stoffstreifen, Gesang, Augenbinde

    Rapunzel Zopf flechten: 3 Kinder flechten aus 3 hängenden Seilen einen Zopf (Wege könnten auf dem Boden auf-gezeichnet werden)

    Kooperation, Koordination

    3 dicke Seile, ca. 3m lang, Befestigungsmöglichkeit in entsprechender Höhe

    Rapunzel Den Turm ersteigen: „Rapunzel, lass dein Haar herunter“ rufen und am Kletterseil hochklettern

    Sprache, Koordination, Kraft, Mut

    Kletterseil, Klettergurte, Karabiener, Person, die sichert, steht oben (Balkon)

    Rumpelstilz-chen

    Feuer machen: Kinder machen ein Feuer, tanzen herum und sprechen: “Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß“ (Abb. 2)

    Sprache, Feinmotorik, Lebenspraxis

    Holz, Feuer

    Prinzessin auf der Erbse

    Erbse fühlen: Unter welchem Kissen ist die Erbse?

    Kinästhetische Wahrnehmung Stühle, Kissen, Murmel

    Prinzessin auf der Erbse

    Matratzenturm erklettern: Matratzen aufeinander stapeln und hoch klet-tern

    Mut, Selbsteinschätzung, Koordination, Kraft

    Matratzen

    Sterntaler Goldstücke auffangen: Großes T-Shirt anziehen und damit von einem anderen Kind geworfene Goldstücke fangen

    Koordination, Kooperation, T-Shirt, Goldschokoladentaler, Stuhl für den Werfer

    Froschkönig mit goldenen Kugeln jonglieren Koordination Bälle mit goldener Folie überziehenFroschkönig Goldkugel mit verbundenen Augen

    aus dem tiefen Wasser fischenWasserkontakt, Sinneserfahrung, Mut

    Behältnis mit Wasser, Kugel, die untergeht, Tuch zum Augen verbin-den

    Frau Holle Äpfel pflücken und Brot herausholen: Pappäpfel (mit Schlaufe an Nagel aufgehängt) mit einer Stange herun-ter holen; Brot mit einem Schieber aus dem Ofen holen und ablegen (Abb. 4).

    Auge-Hand-Koordination Ausdauer

    Baum aus Pappe, Pappäpfel mit Schlaufen, Nägel, Stange, Ofen aus Karton, Ofenschieber, Brot, Korb

    Die sieben Raben

    Wo ist der Ring? Ring unter einem Becher verstecken. Die 7 Becher werden verschoben (Abb. 5).

    Visuelle Wahrnehmung, Gedächtnis

    7 Becher, 1 Ring

    Die sieben Raben

    Weg durch den Berg finden: Kinder gehen an einer Night-Line entlang

    Mut, Selbsteinschätzung, kinästhetische Wahrnehmung

    30-50m Seil, Seil muss straff ge-spannt werden, Befestigungsmög-lichkeiten, Route kann kreuz und quer und mit Hindernissen sein.

    Dornröschen Der Hofstaat schläft ein: Rollenspiel der Szene vor dem Spinnrad (Abb. 6). Mit dem Spulenstich frieren alle Personen ein.

    Kooperation, Körperbeherrschung, Sprache, Rollenidentifikation

    Spinnrad, Stuhl, Verkleidung, Dekoration

    Tab. 1: Die unterschiedlichen Bewegungsangebote und Fördermöglichkeiten, die verschiedene Märchen bieten

    Praxis der Psychomotorik • Jg. 33 (3) • August 2008

  • 19

    Praxis

    Abb. 2: Bei „Rumpelstilzchen“ machen die Kin-der ein Feuer und tanzen im Kreis herum

    Abb. 3: Zu „Rumpelstilzchen“ gehört auch die Aufgabe, Gold im Stroh zu suchen

    Abb. 4: Bei „Frau Holle“ holen die Kinder u.a. Brot mit einem Schieber aus dem Ofen

    läuft. Die Figuren und Ereignisse beziehen sich nicht auf die kon-krete Umwelt, sondern sprechen elementare psychische Vorgänge, tief liegende Emotionen, Ängste und Sehnsüchte im Menschen an, die nach Ordnung und Ori-entierung verlangen. Die offene Symbolik des Märchens erlaubt eine individuelle Aus-einandersetzung und a l t e rsunabhäng ige Bezugnahme auf die persönlichen Lebens-umstände. Dasselbe Märchen kann für einen Fünfjährigen eine wichtige Bedeutung haben, wie es aus anderen Gründen einem pubertierenden Jugendlichen zur Selbstfindung dienen kann. Indem sie Lösungsmuster für Lebens-situationen und innere Konflikte an-

    bieten, können Märchen Wegweiser für die verschiedenen Entwicklungs-stufen des Lebens sein, was ihre therapeutische Wirkung ausmacht. Abhängig vom Alter und Entwick-lungsstand wirken sie auf der un-bewussten, vorbewussten oder der

    bewussten Ebene.Über den heilenden oder therapeutischen Wert hinaus, können Märchen auch einen Beitrag zur mora-l ischen Erziehung leisten. Wirksam in diesem Sinne ist nicht der erhobene Zeige-finger, sondern die Deutlichkeit, mit der das Märchen Konse-quenzen vor Augen führt und gut von böse unterscheidet. Im Märchen werden existentielle Fragen anhand von einfa-chen Situationen he-rausgearbeitet. Die Charaktere sind nicht kompliziert und viel-schichtig, sondern klar und eindeutig, entweder gut oder böse, faul oder flei-ßig, aber nicht beides zugleich.

    anwachsen ließen. Viel später, als das Feuer ausging und Sterntaler die letzten Sterne eingefangen hatte (Abb. 1), hatten wir das Gefühl, dass wir ein stimmiges und interessantes Projekt ansteuern, das den Schülern die Botschaften verschiedener Mär-chen nahe bringt und darüber hinaus, auf spielerische Weise, vielfältige Übungsmöglichkeiten in motorischen sowie feinmotorischen Bereichen bietet (Tab. 1).Das Projekt begann mit so genann-ten „Märchenstunden“: Kollegen, die sich als Märchenerzähler für ein bestimmtes Märchen zur Verfügung stellten, konnten von den Klassen eingeladen werden. Die Schüler wurden auf diese Weise mit den Märchen vertraut, die als Erzählung, als Puppenspiel oder Theater aus der Kiste präsentiert wurden. An unserem Spiel- und Sporttag sollte es dann zu diesen Märchen Bewegungsstationen geben.

    Der therapeutische Wert von MärchenMärchen bedienen sich der symbo-lischen Sprache und handeln von inneren Prozessen, die der Mensch im Laufe seines Lebens durch-

    Praxis der Psychomotorik • Jg. 33 (3) • August 2008

  • 20

    Praxis

    Abb. 5: Das Märchen „Die sieben Raben“ verlangt, einen Ring unter 7 goldenen Bechern zu finden

    Abb. 6: Das kleine „Dornröschen“ lernt für seine Rolle, mit dem Spinnrad umzugehen

    Abb. 7: Um „Rapunzel“ zu befreien, muss eine schwierige Kletteraufgabe bewältigt werden

    Bietet das Märchen deshalb nicht gerade heute – in einer immer komplexer und unüberschaubarer werdenden Welt – die Chance, Werte und Tugenden klarer zu sehen sowie Zukunftsvisionen und Selbstvertrau-en zu stärken?

    Märchen, wie z.B. „Rapunzel“, kön-nen die Zuversicht wecken, dass man sich mit Mut und Einfallsreich-tum auch aus eigener Kraft helfen und befreien kann, um sein Glück zu finden.

    Die „Pechmarie“ in „Frau Holle“ warnt uns davor, die anstehenden Aufga-ben des Lebens auszublenden und uns auf Eigensinn und Bequemlich-keit zurückzuziehen, während das Leben der fleißigen Stiefschwes-

    ter mit Reichtum, belohnt wird, der an ihr „hängen“ bleibt und somit zu einem Teil ihrer Person wird. Die Botschaft, dass sich negative Tu-genden nicht aus-zahlen, erreicht das Kind über die Identifikation mit dem guten Helden, der ja bekanntlich am Ende siegt.

    In letzter Zeit hat das Märchen viel Ablehnung erfahren, was vor al lem auf die G r a u s a m k e i t und Brutalität zurück zu führen ist. Bedenkt man aber die symbo-lische Sprache des Märchens, wird klar, dass es sich hier um die Verarbeitung des Bösen im Menschen sowie um die Ausei-nandersetzung mit den Schat-tenseiten des Lebens handelt, und nicht um ein wortwörtliches Verständnis.

    Der Inhalt des M ä r c h e n s h a t nichts mit der äu-ßeren Lebenssitu-ation des Kindes zu tun, zumal es vergangenen Zei-ten entstammt. Es spricht die in-neren Prozesse und Konflikte an, welche in der heu-tigen Zeit sicher nicht weniger von Belang sind.

    Als Erwachsener ist es mitunter schwierig zu ent-

    scheiden, welches Märchen dem Kind in seiner jeweiligen Entwick-lungsstufe hilfreich sein kann. Fein-gefühl und ein ausgewähltes Angebot sind hier ratsam.

    Seine therapeutische Wirkung kann das Märchen dann entfalten, wenn die Möglichkeit besteht, in sein Lieblings-märchen einzutauchen, vielleicht mit verschiedenen Sinnen, vielleicht viele Male, so lange jedenfalls, bis man das, was einen so sehr an diesem Märchen fasziniert hat, finden und lösen konnte, denn:

    „Wir wachsen, wir finden Sinn im Le-ben und Sicherheit in uns selbst, wenn

    wir persönliche Probleme selbststän-dig erfasst und gelöst haben und nicht, wenn andere sie uns erläutert haben.“ (Bettelheim 1977, S. 26)

    Märchen mit verschiedenen Sinnen erleben

    An unserem Spiel- und Sporttag hatten die Kinder Gelegenheit, mit allen Sinnen und auch wiederholt in Märchen einzutauchen. Zu dem Märchen „Rapunzel“ gab es vier Bewegungsstationen.

    Beim Klettern an Rapunzels Zopf fünf Meter hinauf konnten die Kinder sich selbst erfahren, ihre Grenzen und auch deren Überschreitung (Abb. 7). Vielleicht diente der Prinz als positi-ves Vorbild, als Identifikationsmodell, das die Kinder auch ihre

  • 21

    Praxis

    Bedenken bezüglich der Höhe des Turms beiseite schieben ließ. Die Zuversicht wurde bei den Schülern geweckt, dass die Bewältigung der Kletteraufgabe gelingen kann.

    Beim Durchqueren des Waldes mit verbundenen Augen und dem Finden von Rapunzel durch ihren Gesang wurde der Sehsinn ausgeschaltet. Das Gefühl für so einen anstren-genden, gefahrvollen Weg ohne Augenlicht konnte für die Schüler vertieft werden. Hier können innere Prozesse und Konflikte vom Kind durchlebt werden. Vertraue ich mei-nem Partner, dass er mich mit dem Gesang so führt, dass ich unbescha-det den Weg machen kann?

    Die dritte Station ließ die Kinder erfahren, welches Risiko der Mann für seine schwangere Frau einging, um ihr Rapunzeln zu besorgen. Unter Zeitdruck über eine Mauer zu klettern und Rapunzeln zu pflücken, konnten die Kinder hier nachempfinden.

    Schwierig wurde die Aufgabe da-durch, dass es genug Rapunzeln für die Frau sein sollten bzw. dass der Mann sehr schnell sein musste, damit die Zauberin ihn nicht erwischt. Ein Scheitern zu erleben, das sich

    am Ende doch noch auflösen lässt, ist hier die innere Dimension der Station.Bei der letzten „Rapunzelstation“ war es möglich, Rapunzels Haar-pracht kennen zu lernen. Die Kinder kamen der Person Rapunzel wohl etwas näher, denn sie erlebten, wie zeitintensiv und schwierig es ist, ei-nen solchen Zopf zu pflegen und zu flechten: Drei fünf Meter lange Seile konnten ihnen das verdeutlichen, die Seile sollten von drei Kindern gemeinsam geflochten werden.Nachdem die Kinder diese vier „Rapunzelstationen“ durchlaufen hatten, waren sie mit allen Sinnen in das Märchen eingetaucht. Wir glauben, dass sie auf diese Weise eine Beziehung zu dem Märchen herstellen konnten, die es ihnen ermöglichte, die therapeutischen Wirkungen dieses Märchens für sich selbst zu entfalten.Die Verknüpfung von Märchen und Bewegung beinhaltet die Chance, dass sich beide Bereiche befruchten können:1) Das bessere Kennen lernen des

    Märchens durch das Einbeziehen aller Sinne.

    2) Manche Grenzen von Bewegungs-möglichkeiten können vielleicht von den Kindern durch Identifikati-on und Vorbild einer Märchenfigur überschritten werden.

    Unsere Erfahrung mit dieser Ver-knüpfung war sehr positiv, die Kinder kennen die Märchen auch heute noch ganz gut und erinnern sich gerne an den Spiel- und Sporttag und die Fra-ge, wie mutig Rapunzels Prinz war, können wir jetzt beantworten.

    LiteraturBettelheim, B.: Kinder brauchen Märchen, Stuttgart 1977Kast, V.: Märchen als Therapie, Olten 1986

    Anschrift der Autorin:Ute VolbrachtSprachheilzentrum CalwKinderdorfstraße 2775365 [email protected]

    Stichworte: ● Märchen ● Bewegung ● Sprach- und lernbehinderte Kinder

    Dieser Artikel wurde veröffentlicht in der Zeitschrift "Praxis der Psychomotorik" Jg.33 (3), August 2008