Wissenschaftsgeschichte »Ehrlich färbt am besten!« · Mit dem Konzept des spe-zifischen...

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A m 14. und 15. März 2004 feiert die naturwissenschaftlich-me- dizinische Welt den 150. Geburtstag von zwei der herausragendsten Pio- niere der experimentellen For- schung in der Medizin, Paul Ehrlich und Emil von Behring. Obwohl be- reits von ihren Zeitgenossen hoch geehrt, hat erst die Nachwelt die ganze Bedeutung dieser medizini- schen Universalgelehrten erfasst. Paul Ehrlich wurde 1854 in Strehlen, einem kleinen Städtchen in Oberschlesien, als jüngstes von fünf Kindern und einziger Sohn ei- ner bürgerlichen Familie jüdischen Glaubens geboren. Der Vater Ismar Ehrlich war Inhaber eines Gasthau- ses und Lotterie-Einnehmer. Dane- ben stand er der jüdischen Gemein- 1 de vor. Die Mutter Rosa (geb. Wei- gert) entstammte einer oberschlesi- schen Unternehmerfamilie; ihr Va- ter hatte großes Interesse an den Forschungen von Alexander von Humboldt. Paul, von zarter körper- licher Konstitution, zeigte früh seine große geistige Begabung und wurde daher mit zehn Jahren auf das Gym- nasium nach Breslau geschickt. Er war ein ausgezeichneter Schüler in Latein, und den Naturwissenschaf- ten; die nicht so exakten Schul- fächer, zum Beispiel der Deutschun- terricht, interessierten ihn allerdings weniger. Wegen eines unverständli- chen Aufsatzes wäre Paul Ehrlich sogar fast durch das Abitur gefallen. Das Thema hieß: »Das Leben – ein Traum«. In der mündlichen Nach- prüfung erläuterte der Kandidat stotternd: »Das Leben ist ein chemi- scher Vorgang – eine normale Oxy- dation … und der Traum … ist eine Art Fluoreszenz des Gehirnes.« Die Entscheidung der Schulbehörde, Ehrlich im Hinblick auf seine ausge- zeichneten Kenntnisse in den exak- ten Wissenschaften bestehen zu las- sen, wurde später mit dem Nobel- preis eindrucksvoll bestätigt. Während der Schulzeit schloss sich Paul Ehrlich eng seinem älteren Vetter mütterlicherseits an: Carl Weigert, der als Assistenzarzt im Pa- thologischen Institut der Universität Breslau arbeitete. Weigert, der spä- ter Direktor des Senckenbergischen Zentrums der Pathologie in Frank- furt am Main wurde, begeisterte sei- nen Cousin schon früh für die theo- retische Medizin. Ganz auf die Sache konzentriert Ehrlich hat lebenslang inhaltlich durch großartige Forschungsleis- tungen und Entdeckungen über- zeugt. Er war kein brillanter Vor- tragsredner oder Autor, kein Wis- senschaftsmanager, »Drittmittel- jäger« oder Selbstdarsteller. Somit entsprach er dem heute aus dem Wissenschaftsbetrieb weitgehend verschwundenem Typ des stillen, bescheidenen, ganz auf die Sache konzentrierten Forschers. Das Studium der Medizin und Naturwissenschaften begann Paul Ehrlich in Breslau, wechselte dann nach Freiburg und Straßburg und ging schließlich nach Leipzig, wo er 1878 – im Alter von 24 Jahren – das Studium mit Staatsexamen und der Promotion zum Dr. med. abschloss. Seine ersten wissenschaftlichen Studien lieferten wichtige »Beiträge zur Theorie der histologischen Fär- bung«, so der Titel seiner Inaugural- dissertation. Dabei entdeckte er eine neue Art von Leukozyten, die er »Mastzellen« nannte. Diese frühen Arbeiten auf dem Gebiet der Histo- logie legten den Grundstein für alle seine weiteren Forschungen: »Ehr- lich färbt am besten!« /1/ Noch im gleichen Jahr wurde Paul Ehrlich Assistent in der II. Medizinischen Klinik der Berliner Humboldt-Uni- versität unter Prof. Dr. Friedrich Theodor Frerich. Die Berliner Uni- versität und ihr Klinikum, die Cha- rité, waren damals in Deutschland und international führend. In die- sem Umfeld veröffentlichte Paul Ehrlich bis 1887 nicht weniger als 37 von insgesamt mindestens 227 wissenschaftliche Arbeiten, meist als Alleinautor wie damals üblich . Gegenstand der Untersuchungen war die Morphologie der Blutzellen und ihre Bildungsstätten im gesun- den und kranken Organismus. Paul Ehrlich wurde dadurch zu einem der wissenschaftlich führenden Hä- matologen in Deutschland. Dane- ben publizierte er eine viel beachte- te Monographie über »Das Sauer- stoffbedürfnis des Organismus«. 1884 verlieh ihm die medizinische Fakultät für diese herausragende Leistung den Titel außerplanmäßi- ger Professor. Daneben verfolgte Ehrlich weiterhin seine färberischen Studien. Er beobachtete, dass die einzelnen Gewebe oder Zellarten durch verschiedene Farbstoffe ganz unterschiedlich darstellbar waren. Einige Substanzen zeigten nur zu lebenden, andere nur zu toten Zel- len »Affinität«. Ursache dafür, so vermutete Ehrlich, waren spezifi- sche durch einen Zellrezeptor ver- mittelte chemische Reaktionen zwi- schen den Zellen und den einzelnen Farbstoffen. Bis dahin herrschte die Ansicht vor, dass Nähr- und Giftstoffe durch eine unspezifische Adsorption 2 Forschung Frankfurt 1/2004 54 Wissenschaftsgeschichte »Ehrlich färbt am besten!« Zum 150. Geburtstag des Begründers der Immunologie und Chemotherapie Paul Ehrlich Paul Ehrlich, 1 Gemälde von Johann Marx.

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Am 14. und 15. März 2004 feiertdie naturwissenschaftlich-me-

dizinische Welt den 150. Geburtstagvon zwei der herausragendsten Pio-niere der experimentellen For-schung in der Medizin, Paul Ehrlichund Emil von Behring. Obwohl be-reits von ihren Zeitgenossen hochgeehrt, hat erst die Nachwelt dieganze Bedeutung dieser medizini-schen Universalgelehrten erfasst.

Paul Ehrlich wurde 1854 inStrehlen, einem kleinen Städtchenin Oberschlesien, als jüngstes vonfünf Kindern und einziger Sohn ei-ner bürgerlichen Familie jüdischenGlaubens geboren. Der Vater IsmarEhrlich war Inhaber eines Gasthau-ses und Lotterie-Einnehmer. Dane-ben stand er der jüdischen Gemein-

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de vor. Die Mutter Rosa (geb. Wei-gert) entstammte einer oberschlesi-schen Unternehmerfamilie; ihr Va-ter hatte großes Interesse an denForschungen von Alexander vonHumboldt. Paul, von zarter körper-licher Konstitution, zeigte früh seinegroße geistige Begabung und wurdedaher mit zehn Jahren auf das Gym-nasium nach Breslau geschickt. Erwar ein ausgezeichneter Schüler inLatein, und den Naturwissenschaf-ten; die nicht so exakten Schul-fächer, zum Beispiel der Deutschun-terricht, interessierten ihn allerdingsweniger. Wegen eines unverständli-chen Aufsatzes wäre Paul Ehrlichsogar fast durch das Abitur gefallen.Das Thema hieß: »Das Leben – einTraum«. In der mündlichen Nach-prüfung erläuterte der Kandidatstotternd: »Das Leben ist ein chemi-scher Vorgang – eine normale Oxy-dation … und der Traum … ist eineArt Fluoreszenz des Gehirnes.« DieEntscheidung der Schulbehörde,Ehrlich im Hinblick auf seine ausge-zeichneten Kenntnisse in den exak-ten Wissenschaften bestehen zu las-sen, wurde später mit dem Nobel-preis eindrucksvoll bestätigt.

Während der Schulzeit schlosssich Paul Ehrlich eng seinem älterenVetter mütterlicherseits an: CarlWeigert, der als Assistenzarzt im Pa-thologischen Institut der UniversitätBreslau arbeitete. Weigert, der spä-ter Direktor des SenckenbergischenZentrums der Pathologie in Frank-furt am Main wurde, begeisterte sei-nen Cousin schon früh für die theo-retische Medizin.

Ganz auf die Sachekonzentriert

Ehrlich hat lebenslang inhaltlichdurch großartige Forschungsleis-tungen und Entdeckungen über-zeugt. Er war kein brillanter Vor-tragsredner oder Autor, kein Wis-senschaftsmanager, »Drittmittel-jäger« oder Selbstdarsteller. Somitentsprach er dem heute aus demWissenschaftsbetrieb weitgehendverschwundenem Typ des stillen,bescheidenen, ganz auf die Sachekonzentrierten Forschers.

Das Studium der Medizin undNaturwissenschaften begann Paul

Ehrlich in Breslau, wechselte dannnach Freiburg und Straßburg undging schließlich nach Leipzig, wo er1878 – im Alter von 24 Jahren – dasStudium mit Staatsexamen und derPromotion zum Dr. med. abschloss.Seine ersten wissenschaftlichenStudien lieferten wichtige »Beiträgezur Theorie der histologischen Fär-bung«, so der Titel seiner Inaugural-dissertation. Dabei entdeckte er eineneue Art von Leukozyten, die er»Mastzellen« nannte. Diese frühenArbeiten auf dem Gebiet der Histo-logie legten den Grundstein für alleseine weiteren Forschungen: »Ehr-lich färbt am besten!«/1/ Noch imgleichen Jahr wurde Paul EhrlichAssistent in der II. MedizinischenKlinik der Berliner Humboldt-Uni-versität unter Prof. Dr. FriedrichTheodor Frerich. Die Berliner Uni-versität und ihr Klinikum, die Cha-rité, waren damals in Deutschlandund international führend. In die-sem Umfeld veröffentlichte PaulEhrlich bis 1887 nicht weniger als37 von insgesamt mindestens 227wissenschaftliche Arbeiten, meist alsAlleinautor wie damals üblich .Gegenstand der Untersuchungenwar die Morphologie der Blutzellenund ihre Bildungsstätten im gesun-den und kranken Organismus. PaulEhrlich wurde dadurch zu einemder wissenschaftlich führenden Hä-matologen in Deutschland. Dane-ben publizierte er eine viel beachte-te Monographie über »Das Sauer-stoffbedürfnis des Organismus«.1884 verlieh ihm die medizinischeFakultät für diese herausragendeLeistung den Titel außerplanmäßi-ger Professor. Daneben verfolgteEhrlich weiterhin seine färberischenStudien. Er beobachtete, dass dieeinzelnen Gewebe oder Zellartendurch verschiedene Farbstoffe ganzunterschiedlich darstellbar waren.Einige Substanzen zeigten nur zulebenden, andere nur zu toten Zel-len »Affinität«. Ursache dafür, sovermutete Ehrlich, waren spezifi-sche durch einen Zellrezeptor ver-mittelte chemische Reaktionen zwi-schen den Zellen und den einzelnenFarbstoffen. Bis dahin herrschte dieAnsicht vor, dass Nähr- und Giftstoffedurch eine unspezifische Adsorption

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»Ehrlich färbt am besten!« Zum 150. Geburtstag des Begründers der Immunologie und Chemotherapie Paul Ehrlich

Paul Ehrlich,■1Gemälde von Johann Marx.

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Paul Ehrlich heiratete Hedwig Pinkusam 14. August 1883. Das linke Bildzeigt das junge Paar bei einem Ausflugin den Bergen.

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und Diffusion an und in die Zellegelangen. Mit dem Konzept des spe-zifischen Zellrezeptors, der seinSubstrat, hier den Farbstoff, nachdem Schlüssel-Schloss-Prinzip bin-det, wurde Ehrlich auch zum Weg-bereiter der modernen Pharmakolo-gie.

Ehrlich wird Mitarbeitervon Robert Koch

Der Tod von Friedrich Theodor Fre-rich beschnitt die guten Arbeits-möglichkeiten, die Ehrlich bisher inder Klinik hatte. Der neue Chef hat-te nicht so viel Verständnis für expe-rimentelle Arbeiten und setzte sei-nen Oberarzt verstärkt in der Kran-kenversorgung ein. Ehrlich er-krankte an einer Lungentuberkulo-se. Die mykobakterielle Infektionhatte er sich entweder von einemPatienten oder durch seine experi-mentellen Studien zugezogen.Höhensonne und starkes UV-Lichtgalten damals als wirksamste Thera-pie. Paul Ehrlich fuhr daher mit sei-ner Frau Hedwig zu einem Kurauf-enthalt nach Ägypten, wo die Er-krankung ausheilte . Nach Berlinzurückgekehrt, richtete sich Ehrlichein kleines Privatlaboratorium ein.Ein Jahr später (1890) folgte er ei-ner Einladung von Robert Koch, indessen neu gegründetem Institutfür Infektionskrankheiten mitzuar-beiten. So betrat Ehrlich ein neuesForschungsgebiet, die Bakteriologie.Robert Koch beschäftigte sich da-mals mit der Tuberkulose, als deren

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Erreger er ein Mykobakterium ent-deckt hatte. Mit einem aus einerMykobakterien-Suspension filtrier-ten Protein, dem »Tuberkulin«,wollte Koch eine therapeutischeImmunisierung durchführen. Dieserwies sich jedoch als Fehlschlag.Dagegen hatten Kochs MitarbeiterErfolg: In dieser Zeit beschäftigtensich Emil Behring und ShibasaburoKitasato in Kochs Institut mit demDiphtherietoxin. Es gelang ihnen,durch Immunisierung von Pferden»Antitoxine« und damit das ersteHeilserum überhaupt herzustellen.

Der Gedanke der Serumtherapiewar geboren. Emil von Behring er-hielt dafür 1901 den ersten Nobel-preis für Medizin und Physiologie.Paul Ehrlich war es, der die theore-tischen Grundlagen erarbeitete.

Im Serum von Patienten ent-deckte Ehrlich mit biochemischenMethoden weitere immunitätsrele-vante Substanzen, Präzipitine, Ag-glutinine und Lysine. Heute wissenwir, dass es sich um verschiedeneAntikörper in verschiedenen Im-munglobulinklassen handelt, die injeweiligen (chemischen oder biolo-

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Das FrankfurterArbeitszimmer vonPaul Ehrlich warmit Zeitschriften,Aufsätzen undBüchern überfüllt.

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Diese binden an das »Antigen«, er-halten dadurch ihre definitive Kon-figuration (»Seitenketten«), werdenals »Antikörper« in die Blutbahnfreigesetzt, überschießend nachpro-duziert und garantieren die humo-rale Immunität . Später stelltenEhrlich und andere Forscher fest,dass für die Neutralisation von Toxi-nen oder Infektionserregern oftmehrere Antikörper benötigt wer-den und dass erst ihr Zusammen-spiel für den Effekt verantwortlichist. Dementsprechend beschäftigtesich Ehrlich intensiv mit Rezeptorenerster, zweiter und dritter Ordnung.Ursprünglich glaubte Ehrlich, dassalle Körperzellen Antikörper bildenkönnten. Später fand man heraus,dass allein die B-Lymphozyten dazufähig sind. Ehrlich erkannte, dassauf dem jeweiligen Antigen ver-schiedene immunologisch und pa-thologisch wirksame Strukturenvorhanden sind. Er unterschiedzwischen »haptophoren« und »to-xophoren« Gruppen, wobei die ei-nen die Bindung vermitteln, die an-deren für die Pathogenität verant-wortlich sind. Diese Hypothese er-gab sich aus der experimentellenBeobachtung, dass Toxine zu Toxo-iden abgeschwächt werden können,ohne ihre Immunogenität zu verlie-ren. Als man entdeckte, dass Se-rum-Komplementfaktoren die pha-gozytierenden Zellen des Immunsys-tems, die Fresszellen, anlocken, wardie Brücke zur zellulären Immun-abwehr geschlagen. Die wissen-schaftliche Welt war von dieser er-sten konsistenten Theorie der Im-munabwehr ungeheuer beein-druckt. Ihre Überprüfung, Korrek-tur und Weiterentwicklung begrün-dete die immunologische Wissen-schaft. Für diese Arbeiten erhieltEhrlich 1908 den Nobelpreis, ge-meinsam mit Elias Metschnikow,dem Entdecker der Phagozytose.Auch auf anderen Immunzellen,zum Beispiel den zytotoxischen T-Lymphozyten und den T-Helferzel-len, hat man später Antikörper-ähnliche Rezeptoren identifiziert, sodass trotz erheblicher Modifikatio-nen Paul Ehrlichs Grundannahmeder Rezeptor-gesteuerten Immunre-aktionen weiterhin gültig ist.

Von den Farbstoffenzur Chemotherapie

Ehrlichs Vorliebe galt der Histologie.Seine Studien zur Anfärbbarkeitvon Zellen bildeten den Ausgangs-

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gischen) Testsystemen unterschied-lich gut erfasst werden. Um dieWirksamkeit der Antikörper quanti-tativ zu messen und ihre Menge zustandardisieren, entwickelte Ehrlichdie Methode der Titerbestimmung.Der Titerwert ist definiert als diehöchste Verdünnung eines che-misch oder biologisch aktiven Stof-fes, bei der noch eine definierteWirksamkeit im Reagenzglas mess-bar ist. Die klassische Titerbestim-mung (Ausverdünnung der Anti-körper) stellt auch heute noch dasbeste und exakteste Verfahren dar,

um die Antikörperaktivität quanti-tativ zu bestimmen. Ehrlich fandheraus, dass zur Zerstörung (Lysis)einer Zelle oder Mikrobe neben denAntikörpern eine ganze Reihe wei-terer Bluteiweiße nötig ist, dasKomplement. Bei der Erforschungdieses Komplexes arbeitete er mitAugust von Wassermann zusam-men, der das serodiagnostische Uni-versalverfahren der »Komplement-bindungsreaktion« entwickelte.

Ehrlich formuliert dieerste umfassende Theoriedes Immunsystems

Das preußische Kultusministeriumhatte unter der Ressortleitung vonMinisterialdirektor Geheimrat Dr.Friedrich Althoff in dieser Zeit eineausgezeichnete Wissenschaftspolitikverfolgt und viele berühmte Män-ner gefördert, auf Lehrstühle beru-fen oder als Leiter neuer außeruni-versitärer Institute eingesetzt. FürPaul Ehrlich gründete Althoff 1896in Berlin ein kleines Institut für Se-rumforschung und Serumprüfungsowie die staatliche Kontrolle derProduktion von Heilsera. Bald dar-auf gelang es dem Wissenschaftsma-nager den Oberbürgermeister derStadt Frankfurt am Main zu veran-lassen, für Ehrlich ein wesentlichgrößeres Institut für experimentelleTherapie mit einem großen Mitar-beiterstab zur Verfügung zu stellen.1898 konnte Ehrlich dieses »König-liche Institut für Standardisierungder Serumtherapie« in der Sandhof-straße 44 übernehmen, die heute indiesem Abschnitt Paul-Ehrlich-Straße heißt. Dort arbeitete PaulEhrlich bis zu seinem Tod. Als ersterköniglicher »Staatsimmunologe«entwickelte er die erste umfassendeTheorie des Immunsystems /2/. Nachseinem ursprünglichen Entwurfentsteht die spezifische Immunab-wehr dadurch, dass Fremdstoffeoder Infektionserreger beziehungs-weise deren Giftstoffe (Toxine) anbestimmte Körperzellen andocken,wo sie kettenförmige Molekülstruk-turen als Rezeptoren vorfinden.

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/1/ Doerr, W.: Ehr-lichs Bedeutung fürHistophysiologieund Geschwulst-lehre. DeutschesmedizinischesJournal 5 (1954),146–151.

/2/ Doerr, H. W.:Das Konzept derImmunabwehr vonPaul Ehrlich.Deutsche medizini-sche Wochenschrift121 (1996), 958–961.

/3/ Bäumler, E.:Paul Ehrlich – Forscher für dasLeben, EditionWötzel, Frankfurtam Main 1997,3.Auflage.

Literatur

Paul Ehrlichs Seitenkettentheorie – grafisch erläutert.■4

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punkt für das neue Fach der Che-motherapie. Die Grundidee war»ganz einfach«. Es müssen sich»Farbstoffe« finden lassen, derenHaftgruppen nur mit Bakterien,aber nicht mit den Seitenketten derZellen des menschlichen Organis-mus reagieren und somit als »Zau-berkugeln« nur die Erreger (Toxine)treffen, ohne die Körperzellen zuschädigen. Auf der Basis diesesKonzepts engagierte sich Ehrlich aufWunsch Althoffs ab 1902 auch inder Krebsforschung und richtetedafür auf eigene Kosten ein For-schungslaboratorium ein. Auch aufdiesem Gebiet leistete Ehrlich Bahn-brechendes, zum Beispiel bei derAnalyse der Tumorzellproliferationmit zellbiologischen Methoden. EinDurchbruch blieb ihm hier jedochversagt – der entscheidende Fort-schritt kam erst mit der Entwick-lung der Molekularbiologie in derzweiten Hälfte des 20. Jahrhun-derts.

Syphilis:Geißel der Menschheit

1906 begründete die BankierswitweFranziska Speyer zum Gedenken anihren an Krebs verstorbenen Mann

Georg Speyer und auf Anre-gung ihres Schwagers Prof. Dr. Lud-wig Darmstaedter eine Stiftung, dieden Namen Georg-Speyer-Stiftungerhielt. Der Chemiker LudwigDarmstaedter war um die Jahrhun-dertwende eine der interessantestenUnternehmerpersönlichkeiten inFrankfurt. An ihn hatte sich Paul

■6■5 Ehrlich gewandt mit der Idee, eine»Chemotherapie« zu entwickelnund zu erforschen. Aus den Mittelndieser Stiftung wurde neben demStammhaus ein großes Institutsge-bäude für die chemotherapeutischeForschung erstellt, das Georg-Spey-er-Haus. Hier widmete sich PaulEhrlich vorrangig dem Kampf gegendie Syphilis (Lues). Diese Ge-schlechtskrankheit war 1492 vonKolumbus’ Matrosen nach Europaeingeschleppt worden und zu einerGeißel der Menschheit geworden,vergleichbar mit der heutigen AIDS-Pandemie. Ausgehend von PaulUhlenhuths Arbeiten über die Be-handlung von Spirochätosen mitAtoxyl, einem Arsenpräparat, ent-wickelte Ehrlich das »Salvarsan«zur ersten wirksamen Behandlungder Lues . Auf dem Internisten-kongress am 19. April 1910 in Wies-baden berichteten Ehrlich und seineKollegen, darunter vor allem Saha-shiro Hata, den Wissenschaftlernaus aller Welt erstmals von denlangwierigen Untersuchungsserien,bis endlich im Versuch 606 die rich-tige Verbindung gefunden war .

Neben vielen anderen Ehrungenerhielt Ehrlich 1911 die höchste zi-vile Auszeichnung des DeutschenReichs, den Titel »wirklicher gehei-mer Rat und Exzellenz«. Das Frank-furter Institut wurde zu einemMekka der experimentellen medizi-nischen Forschung. Hier absolvier-

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Zum Ge-denken an ihrenverstorbenenMann, demBankier GeorgSpeyer, schufFranziska Speyer,Schwägerin vonProf. Dr. LudwigDarmstaedter, dieStiftung desSpeyer-Hauses inFrankfurt amMain.

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Drei Eintragungen in Paul Ehrlichs Laborbuch »Präparate«von »1906 – 11. Jan. 1912«. Die drei Formelgruppen bezeich-nen die Entwicklung von Salvarsan 606.

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ten eine Reihe von internationalangesehenen WissenschaftlernLehrjahre und trugen EhrlichsRuhm in die ganze Welt. Als seinErfolgsrezept benannte er die vierG’s: Geduld, Geschick, Geld undGlück und verschwieg das wichtig-ste G: Genie. Erinnert sei an Goe-thes Definition: Genie ist Fleiß! Am20. August 1915, mit erst 59 Jahren,starb Paul Ehrlich . Niemand hat■9

Ehrlichs Leistung prägnanter for-muliert als sein congenialer Wegge-fährte Emil von Behring, der ihn anseinem Grab im Neuen IsraelitischenFriedhof in Frankfurt »magistermundi« nannte . Die Stadt Frank-furt machte Paul Ehrlich 1912 zuihrem Ehrenbürger.

Forschung in Frankfurtin der Erbfolgevon Paul Ehrlich

Frankfurt darf sich seine Förderungund wissenschaftliche Beheimatungals großes Verdienst und zur Ehreanrechnen. Doch wird dies getrübtdurch die Jahre des Nationalsozia-lismus. Bereits zu Ehrlichs Lebzei-ten hatte der Antisemitismus inDeutschland bedrohlich zugenom-men. Sein früher Tod hat ihm dasSchicksal der Bürger jüdischenGlaubens oder Abstammung – Ver-treibung oder Ermordung – erspart.Hedwig Ehrlich überlebte ihn um33 Jahre und starb 1948 in NewYork. Ähnlich wie bei Einstein undvielen anderen hervorragenden jü-dischen Wissenschaftlern wolltendie Nationalsozialisten auch seinenNamen aus dem Gedächtnis derDeutschen streichen. Während derNS-Zeit durfte in dem von ihm auf-gebauten Institut offiziell nichts anPaul Ehrlich erinnern. Dank seinesWeltruhms ist jedoch Leben undWerk Paul Ehrlichs unvergesslich

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geblieben. Heute ist das Bundesamtfür Sera und Impfstoffe in Langenunter dem Namen und im Sinneseines Gründers Paul Ehrlich wiederinternational präsent – als For-schungsstätte und Prüfinstitut. Esnimmt auch Aufgaben eines Refe-renzlaboratoriums für die Europä-ische Union wahr. Das renovierteGeorg-Speyer-Haus in Frankfurt ander Paul-Ehrlich-Straße beschreitetneue Wege in der Tumor- und In-fektionsforschung mit modernenmolekularbiologischen und gen-technologischen Methoden. DieTeilnahme an der internationalenErforschung und Bekämpfung vonAIDS ist für beide Institute eineneue große immunologische undchemotherapeutische Herausforde-rung. ◆

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Paul Ehrlich ■8und Sahachiro Hata entwickeltengemeinsam dasSalvarsan.

Der Autor

Prof. Dr. Hans W. Doerr ist seit 1985 Di-rektor des Instituts für Medizinische Vi-rologie der Universität Frankfurt und be-schäftigt sich in seiner Forschungstätig-keit vorrangig mit der Zytomegalie, einerspeziellen Herpeserkrankung, die als ge-fürchtete Komplikation »opportunis-tisch« bei Patienten mit einer Schwä-chung des Immunsystems auftritt. Aberauch historischen Themen gilt sein In-teresse. Das Institut für Medizinische Vi-rologie war im Jahr 2003 maßgeblich ander Entdeckung des SARS-Corona-Virusbeteiligt.

Die Totenmaske von Paul Ehrlich, dermit 59 Jahren am 20. August 1915 inFrankfurt starb.

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Reagenzgläser und das Mikroskop waren wichtige Werkzeuge in Ehrlichs Laboralltag. ■■10