Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd...

27
Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010

Transcript of Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd...

Page 1: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte:

VII: Theoriendynamik

Gerd GrasshoffUniversität Bern

SS 2010

Page 2: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Kopernikus Vorwort

TitelGalileisDialog

Kopernikus Vorwort:

Page 3: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Theorienvergleich• Beim Theorienvergleich werden die Leistungen von

konkurrierenden, alternativen Theorien verglichen.

• Der Vergleich wird durch die wissenschaftlichen Akteure und zeitgenössischen Rezipienten vorgenommen.

• Der Vergleich führt zu einer Bewertung der alternativen Theorien nach gewissen Kriterien, die wiederum zur Bevorzugung einer Theorie vor ihren Alternativen führt.

• Wissenschaftliche Entwicklung wird verstanden als Ersatz einer (überkommenen) Theorie durch eine neue Theorie.

Page 4: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Vergleichskriterien, Variante 1

Die neue Theorie kann im Gegensatz zur alten Theorie mehr Phänomene erklären. Sachverhalte, welche die alte Theorie erklären konnte, werden durch die neue ebenfalls erklärt, aber zusätzlich kann sie noch bisher unerklärte Phänomene erklären. Oder, die neue Theorie kann nicht alle Phänomene der alten Theorie erklären, aber insgesamt eben doch mehr als die alte.

Die neue Theorie kann Phänomene erklären, die für sehr wichtig gehalten werden, was die alte Theorie nicht leistet. Die neue Theorie kann Sachverhalte erklären, die für sehr wichtig gehalten werden, aber durch die alte Theorie nicht erklärt werden konnten. Zum Beispiel führt die neue Theorie zu einer Anwendung, die von grossem Nutzen ist.

Page 5: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Vergleichskriterien, Variante 2

Die neue Theorie kann Phänomene erklären, die für sehr wichtig gehalten werden, was die alte Theorie nicht leistet. Zum Beispiel führt die neue Theorie zu einer Anwendung, die von grossem Nutzen ist.

Page 6: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Vergleichskriterien, Variante 3Die neue Theorie erlaubt Vorhersagen über Phänome, die noch

nicht beobachtet wurden, aber nach der Vorhersage gefunden wurden.

Page 7: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Vergleichskriterien, Variante 4

Die neue Theorie setzt sich auf Grund von ausserwissenschaftlichen Faktoren durch. Zum Beispiel ist der Vertreter dieser Theorie ein bereits anerkannter Wissenschaftler. Seine Autorität und sein Ruf verhelfen der Theorie zum Durchbruch. Für die Forschung und Ausarbeitung der neuen Theorie steht mehr Geld zur Verfügung.

Page 8: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Vergleichskriterien, Variante 1

Die neue Theorie kann im Gegensatz zur alten Theorie mehr Phänomene erklären. Sachverhalte, welche die alte Theorie erklären konnte, werden durch die neue ebenfalls erklärt, aber zusätzlich kann sie noch bisher unerklärte Phänomene erklären. Oder, die neue Theorie kann nicht alle Phänomene der alten Theorie erklären, aber insgesamt eben doch mehr als die alte.

Die neue Theorie kann Phänomene erklären, die für sehr wichtig gehalten werden, was die alte Theorie nicht leistet. Die neue Theorie kann Sachverhalte erklären, die für sehr wichtig gehalten werden, aber durch die alte Theorie nicht erklärt werden konnten. Zum Beispiel führt die neue Theorie zu einer Anwendung, die von grossem Nutzen ist.

Page 9: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Lösungsvorschläge IIaWeshalb setzen sich neue Theorien gegenüber alten durch?

Kopernikanismus, mögliche Gründe:

• Neue empirische Befunde widerlegen die alte Theorie

• Die neue Theorie vermag die Realität besser zu erklären

• Die neue Theorie vermag komplexe Sachverhalte einfacher darzustellen

• Die neue Theorie erklärt bisher unerklärte Phänomene

• Die neue Theorie ist präziser

• Die neue Theorie berücksichtigt die seit der alten Theorie errungenen Fortschritte der Wissenschaft

• Die neue Theorie passt besser zu den jeweiligen Normen und Werten einer historischen Epoche

Page 10: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Theorienvergleich

Zu einem Theorienvergleich kommt es, wenn in bestimmten historischen Phasen zwei oder mehrere alternative Theorien existieren und die Frage besteht, für welche man sich entscheiden soll.

Klassisch genannte Fälle:

Ptolemäus versus Kopernikus

Darwin versus kreationistische Varianten

Einstein versus Newton

Page 11: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Theorienvergleich

Problematisch:

Es werden nicht synchrone Theorien genannt, sondern sich ablösende Theorien. Ptolemäus 140 n.Ch., Kopernikus um 1500

Konsequenz:

Es ist eine Vergleichssituation in einem Ablösungsprozess, bei der in der Regel die genannten älteren Theorien verbessert und modifiziert sind. Z.B. die Theorien Regiomontanus und anderer als Verbesserungen der Ptolemäischen Theorie. Anstelle Newton → Heinrich Hertz, Lorentz und andere versus Einstein 1905.

Frage: gibt es Beurteilungskriterien, nach denen wir zwischen solchen Alternativen entscheiden können?

Page 12: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Geozentrisches Modell

Page 13: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Darstellung des kopernikanischen

Weltbildes

Page 14: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Riccioli

Page 15: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Theorienentwicklung als historische Erklärung

Page 16: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Argument gegen exzentrische Erde

Page 17: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Einwände gegen Kopernikus

Page 18: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Weiterer Vorzug von Ptolemaios

Freier Fall schwerer Körper war mit einem Prinzip des gradlinigen Falls schwerer Körper zur ruhenden Erdmitte naheliegend. Eine Alternative konnte Kopernikus nicht bieten.

Page 19: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Mittelalterliche Texttradition: Abschrift und

Kommentierung

Page 20: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Martianus Capella, spätrömischer Autor

„When both planets have a position above the sun, Mercury is closer to the earth; when they are below the sun, Venus is closer, inasmuch as it has a path that is both castior and diffusior.“

Gebundene Elongation: Merkur und Venus befinden sich immer in der Nähe der Sonne – WARUM?

Page 21: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Manuskript, 8-9.Jahrhundert AD

Page 22: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Manuskript 11. Jahrhundert AD

Page 23: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Merkur und Venus, etwas vereinfacht nach der

Theorie von Ptolemaios

Page 24: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Äquivalenz

Man kann beweisen:

durch eine Verschiebung der Kreise, die nach (modifiziert) Ptolemaios die Positionen der Gestirne beschreiben, ein Theorie zu konstruieren ist, bei der die Kreise die Bewegung der Erde um die Sonne ausführt. Die berechneten Positionen beider Theorien sind gleich.

Page 25: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Ergebnis der Verschiebung: Merkur, Venus heliozentrisch

Page 26: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

BefundFür ptolemäische Theorie P und kopernikanische

Theorie K gilt:

• Beide Theorien leiten die gleichen Positionen der Gestirne ab, sind also empirisch äquivalent. (dieses gilt für die Messungen der Zeit des Kopernikus). Sehr viel später erst entdeckt man andere Phänomene wie Parallaxen, die auch eine empirische Bestätigung von K erlauben.

• K erklärt weniger als P, z.B. nicht den freien Fall schwerer Körper

• K ist genau so kompliziert oder einfach wie P.

• ABER: K erklärt etwas (gebundene Elongation innerer Planeten), was P nicht erklären kann.

Page 27: Einführungskurs Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: VII: Theoriendynamik Gerd Grasshoff Universität Bern SS 2010.

Kriterien des Theorienvergleichs

Historische Untersuchungen zeigen den gerade aufgezeigten Befund für viele Bespiele grosser wissenschaftlichen Neuerungen.

Kopernikus

Kepler

Newton

Darwin

Einstein

Wegener

Es werden neue Theorien eingeführt, wenn sie eine kausale Erklärung zuvor nicht erklärter Befunde oder Vorgänge bieten. Typischerweise sind die neuen Theorien nicht in der Lage, alles zu erklären oder alles das, was die alte erklären konnte.