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Wolfgang Hagen St(ab)il - Instabil Über den Zirkel des Programmierens "Ich nenne Stil den Akzent, mit dem ein gegebener Mensch die Flut versieht, die der symbolische Ozean in ihm auslöste, der die ganze Erde metaphorisch unterminiert." Louis Aragon 1 "A rose is a rose is a rose..." - PROGRAM Getrude_Stein; BEGIN REPEAT SPEAK('a rose is') UNTIL 0 = 1; END. 1.1 "Allein die gut geschriebenen Werke werden die Nachwelt erreichen" heißt es seit 2 dem 18. Jahrhundert auf unseren Schulen, Akademien und Universitäten. So schreibt sich seit der Aufklärung ein Werk-Paradigma fort, das mit dem Autor, dem Subjekt, dem Urheber des Schreibens zu tun hat. Meine Frage ist: Soll dies auch für Computer-Programme gelten? - Der Naturforscher Buffon fährt - 1753 vor der Academie Francais - fort: "Die Vielfalt der Erkenntnisse, die Einzigartigkeit der dargestellten Ereignisse, ja selbst der Innovationscharakter von Entdeckungen - all das sind keine Garantien für die Unsterblichkeit; wenn die Werke ... ohne den rechten Geschmack, ohne Eleganz und ohne Genie geschrieben sind, dann werden sie untergehen, weil man Kenntnisse, Tatsachen und Entdeckungen einem einzelnen Menschen leicht nehmen kann." Im folgenden soll diese Frage auf Werke gerichtet sein, von denen ich mir nicht einmal sicher bin, ob sie welche sind: Programme für den Computer, Quell-Code- Texte. Am Anfang stand, zugegeben, ein gewisse, möglicherweise naive Verlegenheit im Angesicht eines "eigenen" Computer-Programms. Schreiber dieser Zeilen hat einmal drei Jahre Entwicklung und Programmierung hineingesteckt (es funktioniert zit. nach Hans Ulrich Gumbrecht/ K. Ludwig Pfeiffer: (Hg) Stil - Geschichten und Funktionen eines 1 kulturwissenschaftlichen Diskurselements - Frankfurt 1986, S. 266 sagt der Naturforscher George Louis Buffon, Verfasser von 44 Bänden "histoire naturelle generale et 2 particulaire"", am 25. August 1753 vor der Academie Francais, zitiert nach: Hans Ulrich Gubrecht: Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte des Stilbegrifffs, in: Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer: (hg) Stil - Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements - Frankfurt 1986 S. 755

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Wolfgang Hagen

St(ab)il - Instabil

Über den Zirkel des Programmierens

"Ich nenne Stil den Akzent, mit dem ein gegebener Mensch die Flut versieht, die der symbolische Ozean in ihm auslöste, der die ganze Erde metaphorisch unterminiert." Louis Aragon 1

"A rose is a rose is a rose..." -

PROGRAM Getrude_Stein;

BEGIN

REPEAT SPEAK('a rose is')

UNTIL 0 = 1;

END.

1.1

"Allein die gut geschriebenen Werke werden die Nachwelt erreichen" heißt es seit 2

dem 18. Jahrhundert auf unseren Schulen, Akademien und Universitäten. So schreibt sich seit der Aufklärung ein Werk-Paradigma fort, das mit dem Autor, dem Subjekt, dem Urheber des Schreibens zu tun hat. Meine Frage ist: Soll dies auch für Computer-Programme gelten? -

Der Naturforscher Buffon fährt - 1753 vor der Academie Francais - fort: "Die Vielfalt der Erkenntnisse, die Einzigartigkeit der dargestellten Ereignisse, ja selbst der Innovationscharakter von Entdeckungen - all das sind keine Garantien für die Unsterblichkeit; wenn die Werke ... ohne den rechten Geschmack, ohne Eleganz und ohne Genie geschrieben sind, dann werden sie untergehen, weil man Kenntnisse, Tatsachen und Entdeckungen einem einzelnen Menschen leicht nehmen kann."

Im folgenden soll diese Frage auf Werke gerichtet sein, von denen ich mir nicht einmal sicher bin, ob sie welche sind: Programme für den Computer, Quell-Code-Texte. Am Anfang stand, zugegeben, ein gewisse, möglicherweise naive Verlegenheit im Angesicht eines "eigenen" Computer-Programms. Schreiber dieser Zeilen hat einmal drei Jahre Entwicklung und Programmierung hineingesteckt (es funktioniert

zit. nach Hans Ulrich Gumbrecht/ K. Ludwig Pfeiffer: (Hg) Stil - Geschichten und Funktionen eines 1

kulturwissenschaftlichen Diskurselements - Frankfurt 1986, S. 266

sagt der Naturforscher George Louis Buffon, Verfasser von 44 Bänden "histoire naturelle generale et 2

particulaire"", am 25. August 1753 vor der Academie Francais, zitiert nach: Hans Ulrich Gubrecht: Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte des Stilbegrifffs, in: Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer: (hg) Stil - Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements - Frankfurt 1986 S. 755

Hagen, Wolfgang. “St(ab)il - Instabil Uber den Zirkel des Programmierens.” In: Forschungsinstitut für Anwendungsorientierte Wissensverarbeitung (ed.), Technik, Öffentlichkeit und Verantwortung. Ulm 1992: 127-173.
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als System zur Musikplanung im Radio). Für das, was er tat, erwartete er keine Unsterblichkeit: 25 tausend Zeilen Quell-Code in PASCAL plus ein paar Assembler-Module, die man insgesamt als einen sprachlichen Text bezeichnen, als ein Buch drucken und binden könnte, 250 Seiten dick. Herauskäme, wie jeder Programmierer weiß, ein nutzloses, ja provozierendes Unbuch.

1.2. Sprache

Sie Programmier-Sprachen "Sprachen"? Und also: Sind Texte, die in dieser Sprache verfaßt sind, "sprachliche" Texte?

Niklaus Wirth hat mit seinem dritten Werk, der "Programming Language Oberon", darauf eine implizit klare Antwort gegeben: "A language is an infinite set of Sentences, namely the sentences well formed according to its Syntax" . Dies folgt 3

einer sehr formalen Sprachdefinition, nach der Sprache durch die Menge aller in ihr jeweils möglichen Sätze definiert ist. Wir werden sehen, daß in dieser Definition eine Überschneidung zu einer lingistisch virulenten Theorie der Sprechakte gegeben ist; auch bei ihr wäre Sprache als unendliche Menge aller in einer Sprache gegebenen Sprechakte definiert.

Sätze aus einer Programmiersprache (um bei OBERON zu bleiben: dort sind es compilierbare "Units") bilden jeweils eine "finite sequence of Symbols from a finite vocabulary". Die Elemente jener endlichen Folge von Symbolen werden von Wirth "lexikalisch" genannt, sie bilden das "Vokabular", das definierten "lexikalischen Regeln" folgt, welche die Symbole in die Funktion von Bezeichnern, Zahlen, Strings, Operatoren etc. setzen. Die "characters", aus denen wiederum Symbole des Vokabulars zusammengesetzt sind, müssen in der Menge der ASCII-Zeichen enthalten sein. Die Vokabular-Symbole, auch "terminale" genannt, werden als Strings notiert, eingeschlossen die großbuchstabigen "reservierten Wörter"(BEGIN, END, WHILE etc.).

Soweit erscheint Wirths Oberon-Definition (die hier nur als Beispiel dient) formal 4

geschlossen und ließe wenig Spielraum für sprachtheoretische Dekonstruktionen; aber es findet sich in ihr zumindest eine Spur, die den formalsprachlichen Kontext durchbricht: "Syntactic entities (non-terminal symbols) are denoted by English words expressing their intuitive meaning". Und so werden also unsere Oberon-Programmtexte (wie schon in PASCAL und MODULA 2) wieder durchkreuzt von jener Unzahl an Bedeutungs-Elementen, Bezeichner-Namen mit jenem schalen Witz wie "PointerAufMeinAltRecord" oder nüchterner: "MaxNrOfWorkStations", von

N.Wirth: The Programming Language Oberon - Revision 1.10.90, S.113

"Die Sprache Oberon wurde 1988 geboren, als die Voyager-Sonde am Uranus-Mond mit demselben Namen 4

vorbeiflog. Die erstaunliche Navigationspräszision der Voyager inspirierte Wirth dazu, ihr diesen linguistischen Tribut zu zollen"(Dick Pountain: Schweizer Mittsommernachtstraum - Niklaus Wirths Porgrammiersprache Oberon in: C'T 11/1991 S. 164). Mit dem shakespeare'schen Elfenkönig (oder dem trickreichen Alberich, dessen Namens-Synonym er ist) hat unser Oberon also nichts zu tun. Aber hatte nicht der Anfang der theoretischen Beschäftigung mit Programmier-Systemen auch schon einmal mit einer "vorbeifliegenden" Weltraum-Sonder zu tun? (vgl. C.A.R. Hoare, Der Neue Turmbau zu Babel, Kursbuch 75, Berlin 1984).

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Prozedur-, Funktions-, Unit- und Modul-Namen zu schweigen, mit denen Programmierer jene Systematik (sich und uns) einzuschreiben versuchen, die mit der "Bedeutung" des Programms zu tun hat.

1.3. Das unlesbare Quell-Code-Buch

Computer-Programme sind Texte, so dick wie ein Buch (und dicker), aber als Buch eine logische Unmöglichkeit. Diese Unmöglichkeit ist weniger durch die rekursive Parser-Logik des Compilers gesetzt, als vielmehr weit grundsätzlicher durch den Status von Texten im Medium Computer selbst. Oder wie Jay David Bolter sagt: "Computer-Programme sind per definitionem elektronische Texte, und ein Computer-System ist nicht anderes als eine raffinierte Ansammlung programmierter Texte, die aufeinander wirken und miteinander interagieren, - Applikationen, System-Utilities, Compiler, Assembler und so weiter. Alle Programme sind Texte, die Texte lesen und andere Texte schreiben." 5

Seit Jahren nur noch mit dem Computer schreibend, habe ich (und nicht nur ich) die Erfahrung gemacht, daß viele am Bildschirm entstandene Texte einige unangenehme Eigenschaften entwickeln. Die augenfälligste ist: ihre notorische Unfertigkeit. Es ist, als seien an dem Geschriebenen, das wir gewohnt sind in einer Achse zu sehen, nämlich einer linearen, durch die elektronische Darstellung, in der es produziert wird, plötzlich weitere, nicht so leicht handhabbare Achsen wirksam. Ich will nicht allein von den Briefe reden, die in meinem PC geschrieben, aber "nicht abgeschickt" wurden; nicht von Skizzen und Entwürfen, die ich nicht mehr datieren kann. Ganz generell: Texte, Briefe, Papers, Aufsätze und auch Quell-Codes sind endlich, aber daß sie - wie wir es von Texten gewohnt sind - ein Ende, einen Schluß haben, daß eine eindeutige Signatur oder endliche Materialität sie abschließt, und sei es nur die Unterschrift unter einen handgeschrieben Brief, - darauf müssen wir im Computer verzichten.

Das Gleiche gilt für ihre Anfänge. Der Computer liefert eine neue, gänzlich veränderte mediale Schreib-Umgebung, die offenbar ganz wesentliche Bedingungen dessen, was wir Schreiben nennen, unterläuft. Endliche Texte entstehen im Computer in einem endlosen Schreib-Raum, in dem Begriffe wie "Anfang" und "Ende" keine Bedeutung haben. Um diesen Begriffen Geltung zu verschaffen, müssen wie sie wahlfrei deklarieren, technisch addressieren und können sie ebenso jederzeit wieder aufheben. Wir müssen, mit dem Computer schreibend, Schrift-Formen und Schreibnormen importieren, die durch das Medium selbst nicht gesetzt werden.

1.4. Schrift, neu zu lesen

Bolter, Jay David: Writing Space / The Computer, Hypertext, and the History of Writing - Hillsdale, New 5

Jersey 1991, S. 9.

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Das Schreiben im Medium Computer stellt die Geschichte der Schrift-Formen vor einen völlig neuen Horizont. Wie weit der Computer in diesen Geschichte eingreift, kann hier nur angedeutet werden . Das "Scrolling", zu deutsch "Bildschirm-Rollen" 6

genannt, zitiert, ganz oberflächlich, aber in seinen Funktionen ziemlich genau, eine frühgeschichtliche Schreibform, nämlich die der Schriftrolle der vorchristlichen Jahrhunderte; trotz dieser Simulation wissen wir doch damit noch nicht, was die Politik, Ökonomie oder Sozialität des Rollen-Schreibens bedeutet. Die Ökonomie des Scrolling im Medium Computer aber ist in erster Instanz von Geschwindigkeit geprägt. Während es in der klassischen Rhetorik es Quintillian heißt, daß, "wenn wir schreiben ... unsere Hand den Gedanken nicht folgen kann und wir deshalb Zeit haben, unsere Worte sorgfältig abzuwägen"(10.3.18-19), so geschieht dem, der schnell auf dem Keyboard zu Finger ist, genau das Gegenteil. Die bis zu 100 Wörtern pro Minute schießen auf den Schirm, noch bevor sie oft genug auch einem Gedanken nahe gekommen sind. Das Medium Computer ist das schnellste Schreibmedium diesseits der Gabelsberger/Faulmann'schen Stenographie . 7

Die unpagierten Codizes der vormittelalterlichen Bücher kommen dem, was wir mit dem Computer schreiben recht nahe. Das Page-Up und Page-Down landet im Prozess des Schreibens bekanntlich ganz zufällig mal auf diesen, dann auf jenem Text-Ausschnitt und wird nicht von dessen innerer Ordnung gesteuert. So sammelten auch die ersten Codizes nur Text, und oft verschiedene, ganz unzusammenhängende. Nur daß wir, im Unterschied zu den ersten Codex-Handschriften, alle Interpunkts-Regeln, Satzzeichen, Absatz-Formen und Schrift-Typologien mit benutzen, die aus viel späteren Epochen der Schriftkultur stammen, nämlich der Buchdruck-Ära. Erst im Übergang der mittelalterichen Handschrift-Kultur zum Buchdruck wird jene lexikalische Ordnungs-Struktur (Kapitel, Paginierung, Absätze etc.) möglich, die fortan die Ordnung des Wissens wesentlich prägen sollte.

Beim Computer-Schreiben aber sind wir mit Funktionen dieser lexikalisch-formalen Ordnungs-Logik schon im Prozess der Wort- und Satzbildung selbst armiert. Wir können im Schreiben zu jedem Augenblick Wörter zählen, auf einen Sprecher bezogen die Länge des Textes als gesprochenen abrufen, Kapitel, Seiten und Absätze nummerieren und jederzeit renummerieren, beliebige Passagen, Sätze, Wörter umstellen, kopieren, einfügen oder überschreiben, Textbausteine generieren und automatisch einfügen, beliebige Textstellen anderer Texte importieren, Buchstaben, Worte und Wendungen suchen und ersetzen, automatische Rechtschreibkorrekturen aktivieren etc. Elektronisches Schreiben ist Produkt einer optimierten Ordnungslogik, die, aus der Buchkultur entstanden, diese weit übersteigt und findet dennoch in einem Schreibraum statt, der keine sichere, medial traditierte äußere und innere Form hat. Das Computer-Schreiben findet auf einem Schauplatz statt, der keine keine Spuren hinterläßt und auf dem auch nichts zu sammeln ist.

Und müßte systematisch geschehen. Ansätze dazu in Bolter, a.a.O. Wenig hilfreich (leider): Dieter E. Zimmer: 6

Die Elektrifizierung der Sprache, Zürich 1990.

Carl Faulmann: Das Buch der Schrift, Nachdruck Nördlingen 1985, S. 237ff.7

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Lesen werden wir den orginalen Text, den ich jetzt schreibe, nicht, sondern einen anderen, nämlich das Ausgedruckte. Orginale Texte existieren im Schreibraum des Computers nicht, deshalb können sie auch nicht gelesen werden . 8

1.5. Der Bruch des hermeneutischen Zirkels

Die Philologie, so sie Wissenschaft war, die sich wesentlich um den Textstand eines Werkes zu kümmern hatte, wird es schwer haben im Schreib-Raum des Computers. "Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben wissenschaftlicher Textbetrachtung" sagte Peter Szondi , "die Entstehung eines Textes mit Hilfe früherer 9

Fassungen zu rekonstruieren, eine Aufgabe, die zugleich im Dienst der Interpretation steht." Textstellen, die in früheren Fassungen differieren, können in Bezug auf diese 10

Änderungen interpretiert werden und Anhaltspunkte in Bezug auf metaphorische Sinngehalte, Verdichtungen und Verschiebungen von Inhalten geben. Aber sie können dies nur, so der Kritiker Szondi, in einer "Interdependenz von Beweis und Erkenntnis", die eine der unvermeidlichen Erscheinungsformen des "hermeneutischen Zirkels" sind, aus dem herauszutreten der philologischen Erkenntnis so gut wie unmöglich ist. Mit einem mathematischen Beweis hat philologische Erkenntnis nichts zu tun. Der literaturwissenschaftliche Erkenntnis-Zirkel aber ist, sofern die Interpretation sich nicht neben oder gleich auf mit dem Kunstgegenstand des interpretierten Textes stellen will, durch eben dies, nämlich das interpretierte Orginal gerettet. Texte sind und bleiben "Individuen" der interprertierenden Erkenntnis nicht deren "Exemplar" . 11

Aus demselben Grund wird der hermeneutischen Zirkel einer gelungenen Interpretation an Texten, die dem Schreibraum des Computers entstammen, zerbrechen. Denn die philologische Erkenntnis, die nur Erkenntnis erhoffen kann, wenn sie die Werke in der "Logik Ihres Produziertseins" begreift, wird scheitern, 12

wenn die stillen Voraussetzungen dieses Produktionsbegriffs selbst infragegestellt sind. Anders denn als durch Hinterlassung einer Kette materialer Spuren eines sequentiellen raumzeitlichen Prozesses konnte der Schreibvorgang auf analogen Medien wie Papyrus, Wachs, Schiefer oder Papier nicht vonstatten gehen. Am Material des Schreibprozesses selbst hatte also die Philologie den Maßstab, in ihrer Arbeit "nicht der Willkür und dem Unkontrollierbaren anheimzufallen". Die Materialität des Schreibprozesses und seine 'gravierende' Signifikanz ist unbefragte (und bis vor

Lesen - bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts las man laut - ist ein Geschäft, das auf's ganze Werk geht. Wir lesen 8

Abhandlungen, Bücher, Briefe, gründlich, fleißig, flüchtig oder obenhin. Lessing's "Wir wollen weniger erhoben und fleißiger gelesen sein" läßt anklingen, was hier gemeint ist. Ist das lauffähige Programm ein Werk? Dann wäre sein Quellcode sein "Hilfswerk".

Vergleichender Literaturwissenschaftler in Berlin, der 1970 aus dem Leben ging und also das hier in Rede 9

stehende Schreibgerät nicht kannte.

Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis, in Ders.: Hölderlin-Studien, Frankfurt 1970, S. 25.10

a.a.O. S. 21.11

Ein Adorno-Zitat, a.a.O. S. 34.12

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kurzem auch unbefragbare) Voraussetzung der klassischen Philologie. Fällt diese weg, wie es im digitalen Schreibraum der Fall ist, so wird ihr die raumzeitliche Zuordnung, und damit die primäre Seite von Texten genommen. So wird jeder im Computer geschriebene Text Sekundär-Effekt einer nur schwer rekonstruierbaren Intuition; er ist, um in der Sprache der RAM-Belegung zu reden, eine "verlorene Kette" auch dann, wenn wir die Random-Adressen seines Anfangs und seines Endes kennen, durch die er räumlich repräsentiert wird.

1.6. Quell-Codes, romanesk Quell-Codes stellen die radikalste Textsorte dar, die im elektronischen

Schreibmedium produziert werden. Sie sind für's Lesen nicht gedacht, aber es bleiben Texte und schriftliche Werke. Ihr Anfang ist oft irgendwo gegen Ende, wie im Lexikon-Roman Okopenkos geht es zu, die "Handlung" des Programms springt im 13

Text herum und mündet in tausend Enden, wie im Tristam Shandy, Lawrence Sterne's nie wieder erreichtes Urmodell eines Romans . Aber während man 14

Okopenko und Sterne, ja auch Finnigan's Wake und Pinchon noch lesen kann, gilt für die Schriftstellerei von Programmen: Lesen heißt lesen lassen. Lesen lassen von einem Compiler, dessen Blick kein Mensch hat, weshalb die berühmten "Verifikationen" in der Praxis großer Programme von begrenzter Wirkung bleiben.

Die Trauer also darüber, etwas über so lange Jahre geschrieben und wieder geschrieben und umgeschrieben und korrigiert zu haben, und es doch nicht einmal lesen zu können, mag man für die etwas verbildete Gemütsanwandlung eines Literaturwissenschaft~lers halten. Aber ebenso ist das Nicht-Lesen-Können eines Textwerkes, das man doch in allen seinen Buchstaben und kontextfreien Syntagmen verstehen kann, ein bedeutsames und auch folgenreiches Paradoxon des Programmierens.

1.7. Der Programmierer als Schriftsteller

In Hochsprachen wie C und PASCAL zu schreiben, ist eben auch "zu einem Publikum in seinem eigenen Namen sprechen" und das, sagt Kant, "heißt der Schriftsteller". Ganz folgerecht wird Software daher auch nicht unter die 15

ingenieursmäßigen Erfindungen gerechnet und kann nicht zum Patent angemeldet werden. Sie ist, wie ein Roman, urheberrechtlich geschützt. Und weil es nichts als ein Schriftstück ist, ein mit Namen versehenes Dokument aus Sätzen, Buchstaben und Zeichen, in Zeilen und Blöcken notiert, ist es dementsprechend fehlerhaft und subjektiv. "Jeder Mensch, und somit auch jeder Programmierer" lese ich bei den

Andreas Okopenko: Lexikon-Roman einer sentimentalne Reise zum Exporteurtreffen in Druden, Salzburg 13

1970. Eine schwächere Form dieses Genres ist vor einigen Jahren hinzugekommen: Milorad Pavic: Das Chasarische Wörterbuch - Lexikonroman in 100 000 Wörtern, München 1988.

Laurence Sterne: Das Leben und die Ansichten Tristam Shandys, 1760.14

zit. nach: Deutsches Wörtbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Leipzig 1899, Bd 15, 1748.15

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Informatikern Stetter und Balzert, "neigt dazu, immer wieder dieselben Fehler zu begehen" . Und sie empfehlen Programmierern, was Philologen sonst nur aus den 16

geheimen Bekenntnissen von Schriftstellern kennen: sich nämlich "im Lauf der Zeit seine eigene subjektive Fehlerliste zusammen(zu)stellen und als erstes dann immer diese Fehlerliste ab(zu)arbeiten".

Aber wer kennt die Namen dieser fehlerhaften, weil menschlichen Schreiber? Unter der Hand werden Sie gehandelt: Brian W. Kerningham und Dennis M. Ritchie haben, Mitte der 70er Jahre so heißt es, die Sprache C und den zugehörigen DEC-UNIX-Compiler geschrieben. Niklaus Wirth hat die Sprache PASCAL und Amman, Marmier und Schild den ersten ETH-Compiler für PASCAL geschrieben, - aber waren sie es allein? Anders Hejlsberg, Borland-Chef-Entwickler Jahrgang 1960, habe, so munkelt man, alle Turbo-Pascal-Compiler (von Version 1.0/1983 an) nebst aller zugehöriger Laufzeitbibliotheken geschrieben, - wen aber beschäftigt Borland darüberhinaus? Die großen Programme der DOS-Welt ("Word", "Word-Perfect", "Windows" etc.) haben keine Autoren, so scheint es, - denn die Firmen, die die Entwickler beschäftigen, haben die Urheber-Rechte. So, als ob Grass oder Lenz nicht mehr unter ihrem Namen, sondern der Verlag "Kiepenheuer" die Romane unter seinem Namen veröffentlichte.

Geht man von der markt-üblichen Praxis aus, so ist Programmieren ist reines Ingeneurs-Geschäft. Es scheint keine keine Autoren zu kennen, keine "Handschriften", keine Stile, ja nicht einmal Personen mehr. Die Urheberschaft ist für Quell-Codes der rechtlich bindende Bezug. Aber es ist nur noch Rechts-Titel, kein Tatbestand mehr.

1.8. Der Stil

Tatsächlich, - Programmieren, das Verfassen von Quell-Codes soll nicht kennen: "die durch eine Einzelpersönlichkeit geprägte, ihr charakteristisch zugehörige Ausdrucksform...Kunstweise...Formgebung" oder kurz gesagt: der "Stil"? 17

Niemand anderes als Niklaus Wirth selbst ist es, der diesen Begriff explizit an der Stelle verwendet, wo es um die vielfache und vertrackte Quelle von Subjektivität beim Programmieren geht, nämlich um die Prozedur. "In der Tat ist die Prozedur eines der wenigen und wichtigen fundamentalen Konzepte der Programmiertechnik, deren Beherrschung einen entscheidenden Einfluß auf den Stil und die Qualität der Arbeit eines Programmierers ausübt." Das trifft ins Mark des 18

Literturwissenschaftlers, weil die Frage des Stils, um mit Wolfgang Kayser zu reden,

Franz Stetter/ Helmut Balzert: Programmierung - Zürich 1986, 204.16

Deutsches WÖrterbuch..., Bd. 18, 2926ff.17

Niklaus Wirth: Systematisches Programmieren - Stuttgart 1983, 88.18

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seit jeher "nicht nur" in den "zentralen Sektor der Wissenschaft von der Dichtung" zielt, sondern in den "innersten Kreis" der Literaturwissenschaft selbst . 19

Man könnte Niklaus Wirth eine ingeneursmäßige Unwissenheit in Bezug auf begriffsgeschichtliche Fragen zugutehalten und was er "Stil" nennt, pragmatisch verstehen. Stil, das soll heißen: "elegant" und "knapp", oder nicht doch auch "effektiv"? Vielleicht noch, um das geheime Utopiens der Informatik zu nennen: mathematisch exakt. 20

Aber nein, denn, wie Wirth weiß, "der Teufel steckt beim Programmieren im Detail. Obwohl eine Beschränkung der Ausführung auf das Prinzip eines Algorithmus und seine mathematische Analyse unter Ausschluss technisch bedingter Details für einen akademischen Geist anregend und herausfordernd wirken kann, vermag dieses Vorgehen den Praktiker nicht zu befriedigen" . Und ebensowenig ist für Wirth "Stil" 21

eine undiskutierbare Selbstverständlichkeit. Allerdings "Stil und Qualität" bei der Betrachtung sprachlicher Werke aneinander

zu binden, das führt weit zurück. Nämlich zu Herders und Hamans Poetiken, also ins Herz der Deutschen Aufklärung. Deren poetologische Stil-Definition lautet - wir kennen den Autor Graf George Louis von Buffon schon -: "Der Stil ist der Mensch selbst" - Le style est L'homme meme. Das ist bereits die späte, schon von der Krise der "klassischen" abendländischen Erkenntnistheorie geprägte Stil-Konzeption . Im 22

Namen des "Stils", im Namen des 'Genies' oder des 'Ich', werden am Fuße der Deutschen Romantik "Ansprüche der Subjektivität gegen die überlieferten monolithischen Wirklichkeitskonzepte vorgetragen", gleichzeitig "solche Wirklichkeitskonzepte gegen die Ansprüche der Subjektivität" schützen sollen . 23

Kittlers Vermutung, für die viel spricht, nämlich daß technische Medien der Information, also Telegrafie, Grammophon oder Typewriter nicht nur im 19. Jahrhundert bereits "einen Effekt auf Stile" haben, wartet auf ihre historische 24

Analysen. Der aufklärerische Stil-Begriff paßt jedenfalls zur massenhaften Ausbreitung des Buch-Konsums um die Wende des 18 und 19. Jahrhunderts. Und

Wolfgang Kayser: Das Sprachliche Kunstwerk,Bern 1948, 271ff.19

Aber: "Die Informatik ist keine Formalwissenschaft" (Wolfgang Coy: Brauchen wir eine Theorie der 20

Informatik, in Informatik-Spektrum (1989) 12, S. 259).

Niklaus Wirth: Algorithmen und Datenstrukturen - Stuttgart 1975, S. 10.21

"Michel Foucault folgend lassen sich Goethe(s) wie Hegel(s) ... Begriffe von 'einfacher Naturnachahmung', 22

'Manier', 'Stil' und 'Orginalität' jener epistemologiegeschichtlichen Schwelle zuordnen, an der sich zwei Prämissen des 'klassischen' europäischen Denkens auflösten. Zum einen die Überzeugung, daß die Strukturen menschlicher Wahrnehmung und menschllicher Darstellung den Strukturen der wahrgenommenen und dargestellten Gegenstände entsprächen oder entsprechen könnten ('representabilite des etres'); zum zweiten die (erst nach ihrem Schwinden überhaupt zu fassende) Präsmisse, daß sich die Gegenstände menscherlicher Wahrnehmung und Darstellung in der Zeit nicht veränderten ('continuite des etres')." Hans Ulrich Gumbrecht: Schwindende Stabilität der Wirklichkeit - Eine Geschichte des Stilbegriffs - in: Gumbrecht/Pfeiffer, Stil.., S. 760ff.

a.a.O., S. 762.23

Friedrich Kittler: Im Telegrammstil. In: Gumbrecht/Pfeiffer, Stil..., S. 361.24

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schon bei einem Zeitgenossen der Telegrafie, Gustave Flaubert, wird bereits jedes Band zwischen Stil und Subjektivität durchschnitten . Darin äußert sich dezidiert die 25

Ahnung, die für die Literatur des 20. Jahrhunderts, von Kafka bis Pynchon, prägend werden wird: nämlich die Ernüchterung vor dem illusionären Glauben, "Subjekte könnten Stilarten erfinden oder gar Welten schaffen" . Mit dem Anfang dieses 26

Jahrhunderts ("Jugend-Stil") verfließt der Stil-Begriff entgültig aus der Literatur in die industriell vermarkteten Konzepte der Moden und des "Stylings". "Buffons Mensch jedenfalls ist tot ... Letzte Spuren von individuellem Stil erscheinen heutzutage in der Möglichkeit, einen Telegrafisten (zumal unter Bedingungen von offenem oder geheimnen Krieg) an seinem Morserhythmus zu erkennen (Thomas Pynchon: Gravity's Rainbow. 1981). Aber das ist nackte Physiologie und bei frotschreitender Automatisierung der Datenströme auch bald vorbei" . 27

"Stilus" ist ein Name, der eng mit der Materialität eines inzwischen verschollenen, aber jahrhundertelang gültigen Schreibraums verbunden war. Es ist das lateinische Wort, das das Arbeitsgerät der Papyrus-Schreiber bezeichnet: ein Griffelstab, an der unteren Seite spitz zulaufend, am oberen Ende abgeflacht. Der Begriff "Stil" entsteht im ersten vorchristlichen Jahrhundert abgeleitet aus den Eigenheiten dieses Schreibgeräts, das sowohl zum Schreiben wie zum Tilgen und Abschaben der Buchstaben von den Unterlagen benutzt werden konnte. "Ohne Zweifel assoziierte man die Buchstaben-löschende Wirkung der abgeplatteten Seite des 'stilus' mit dem Tilgen 'überflüssiger' Sprach-Elemente, und so wurde der 'Stil'-Arbeit zu einem Synonym für die Suche nach einer Eleganz und Prägnanz der Schichtheit, welche ihrerseits wohl im ersten vorchristlichen Jahrhundert mit dem Übergang von mündlicher zu schriftlicher Performanz assoziiert wurde",- "denn im ersten Jahrhundert wurde Schrift-, Buch- und Bibliothekskultur in Rom zu einer Institution" . 28

So kämen wir am Ende dort wieder an, wo der pragmatische Ingeneur es, was seine Programmier-Arbeit in den Quell-Texten betrifft, mit Cicero hielte: "Ubertas orationis stilo depascenda est" - Der Fülle (der Rede) muß durch den Stil beschnitten werden.

Soviel also ist vom "Stil" zu wissen: Subjekte, Autoren, Individuen machten ihn nie. Er ist, wenn überhaupt, ein Konzept, das, in bestimmten Phasen der Buch-Kultur, die Kunstproduktion selber immanent reguliert. Für den digitalen Schreibraum aber gilt, wie schon in der Frage der "Urheber"-Schaft angemerkt: Der Programmier-Stil ist, wenn er existiert, ein Stil ohne Subjekt.

1.9. Stilistik

"Was 'schön' für mich bedeutet, was ich schaffen möchte, das ist ein Buch über nichts, ein Buch ohne Halt 25

außerhalb seiner selbst, das allein durch die innere Kraft seines Stils Bestand hätte (so wie die erde ohne Stützen in der Luft ist)"G. Flaubert: Brief an Louise Colet vom 16.01.1852.

Gumbrecht, a.a.O., S. 768.26

Kittler, a.a.O., S. 367.27

a.a.O., S. 731, 730.28

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Wie um diese Leerstelle des ausgebliebenen Subjektiven, des abwesenden "Stil"-Subjekts auszufüllen, erscheinen im Semi-Popularbereich der Programmier-Handbücher über C, PASCAL und DOS zunehmend Bücher, die uns das Konterfei der Autoren Jörg Schieb und Michael Tischer auf dem Buchdeckel präsentieren. Wie als wenn das Photo die Signatur für die Individualität des Inhalts geben würde. Und doch sind ihre didaktischen "Stilistiken" oft nichts als die in den Grundkonzepten abgeschreibenen Entwicklungen der Turbo-Power-Company. Aber wenigstens eins löst das Versprechen des Cover-Photos ein: Die Quell-Code all der Routinen und Bibliotheken für SAA-Oberflächer und Maus-Steuerungen, für Event-Handler und Fenster-Techniker sind in der Tat abgedruckt oder auf beigelegter Diskette vorhanden.

Selbst wenn wir freie Verfügung über die Quell-Codes all der uns interessierenden Programme hätten (wir haben sie nicht!), - wer beurteilt jene Programmstilistik, die Wirth für so entscheidend hält? Wer soll, bei einem gegebenen 25-tausend-Zeilen-Programm, entscheiden, warum Prozeduren zu Prozeduren wurden? Und wäre es stilistisch besser, weil klassisch, sie stackfressend zu verschachteln, oder sie C-ähnlich aufzureihen, was nebenbei das Daten-Segment aufbläht? Oder ist es guter Stil, um bei PASCAL zu bleiben, grundsätzlich das algorithmisch anspruchsvollere, aber in der Performanz trägere Funktionen-Konzept zu realisieren? Und was ist mit den Prozeduren der Prozeduren, den unvermeidlichen Units, 45 an der Zahl, wenn die Programme, wie das meine, an die 200K-Größe herankommen. Auch ohne daß auf Seiten der Datenstrukturen kunstvolle Pointer-Architekturen hinzutreten, werden Quell-Codes größerer Programme zu Schriftstellereien und damit Stilistiken der unlesbaren Art; 150 Seiten dichtgepackter Quell-Code ist so komplex, daß, welche Einsamkeit und Schande, nur der Autor selbst noch durchsteigt und niemand als er selbst sich in den Hilfsdarstellungen, den automatisch generierten Hiercharchie-Reports oder Pseudo-Flußdiagrammen zurechtfindet.

Aber ja: OOP's - Objekt-Orientierte-Programmierung. Auch eine "Stilistik", inzwischen unterstützt durch fast alle gängigen Programmiersprachen der PC-Welt. Für sie gilt jedenfalls nicht, was ciceronischer Stil wäre: Beschneidung der Fülle. Im Gegenteil: Komplexere und gigantischere Code-Fülle als die, die durch die zahllose Vererbung verkapselter Objekte und die Polymorphie überschreibbaren Methoden erzeugt wird, ist in der PC-Welt nicht zu erhalten. Das Prinzip dieser OOP's-Welt ist, so scheint mir, keines der Programmier-Stilistik, sondern eines, das in die Computer-Welt kommt, um die Quell-Codes selbst zu verbergen. Das hat bekanntlich Vorteile, insofern der OOP-Standard dann auch nicht mehr auf die besonderen Standards der Programmier-Sprachen-Compiler Rücksicht nehmen muß, sondern diese müssen fähig sein, standardisierten Code zu "lesen", heißt zu linken. Wer sich je in die Windows-API's und ihre inzwischen angeschlossenen OOP's - Bibliotheken (PASCAL, BASIC oder C) eingearbeitet hat, wird feststellen haben, daß wesentliche Elemente "seines" Codes, durch das OOP-Konzept selbst, in diese bereits compilierten Standard-Libraries (DLL's) des Herstellers eingearbeitet sind und dem

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analysierenden Blick so auf immer entzogen bleiben wird. Damit ist Kirsten Nygaards oft zitiertes Diktum "To program is to understand" vollends auf den Kopf gestellt.

"Le Style c'est l'home meme". Eben nicht. Und doch: Jenseits des Ausbleibens von Error-Messages und Compiler-Warnings, subjektiv und von ganz eigenem Schreibstil geprägt, jenseits der Kriterien der Verifikation, ist ein Quell-Code fehlergefährdet und, wie alle Produktion aus Schrift, mit der Spur des Signifikanten durchsetzt, oder, wie die Theorie der Programmierung es nennt: mit Intuition und Anteilen des Unbewußten.

1.10.Negative Stilistik

Niklaus Wirth beschreibt im Vorwort zu "Algorithmen und Datenstrukturen" seine Informatik als den Versuch, "den Programmierern die Methoden und Techniken, die sie bisher intuitiv und oft unbewußt verwendeten, zur Kenntnis" zu bringen . So 29

könnte man die Theorie der Programmierung auch eine negative Stilistik nennen. Denn es geht ihr ja vor allem darum, all die unwägbaren Elemente von Intuition und Unbewußtheit möglichst gering zu halten; und doch ist man in Fragen der Qualität auf sie angewiesen. Programmieren ist offenbar nicht eine Sache der exakt formalisierbaren ratio, was Wirth an anderer Stelle in seiner ihm eigenen lakonischen Art in dem Satz zusammenfaßt: "Wäre das Programmieren ein strikt deterministischer Prozeß, der nach festen Regeln abläuft, so wäre es bereits seit langem automatisiert worden" . Es gibt also eine Art programmatische 30

Irrtumsbedingung in jedem Computer-Programm. Weil ein jedes am Anfang eben mit Stil und Schriftstellerei zu hat, ist sein Text und sein stilistischer Irrtum nur umso tückischer, denn er bleibt unlesbar und ein Stil, seine Qualität oder sein Fehler, wird, auf immer, verborgen bleiben. Ich erinnere an die in der Terminations-Problematik immer wieder gern und heillos diskutierten "Algorithmischen Fehler", die vor allem bei Sortier-Routinen geschehen. "Ein Programm kann korrekt arbeiten und niemals auf einen sichtbaren Fehler auflaufen und dennoch falsch sein, weil das Programm statt der gewünschten Funktion f eine ähnliche Funktion g realisiert." 31

1.11. Das Jahrhundertproblem Das ist ein Fluch des Schreibens, der fast schon sokratische Züge hat. Sokrates,

der nicht schrieb. Ich erinnere Sie an diese alte philosophische Furcht vor dem Schreiben nicht ohne Hintersinn; denn an diesem Punkt, wo Stil und Handschrift eines Quell-Codes eben so unabdingbar wie unwiderbringlich verloren sind (in der OOP-Stilistik ist das Krypto-Compilat Teil des Marketing-Konzepts), hat bereits ein normales Computerprogramm von mittlerer Größe Anteil an dem, was in der neueren

Wirth, Algorithmen..., S. 7.29

Wirth, Systematisches..., S. 120.30

Stetter, a.a.O., S. 204.31

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Diskusion um die Strategien der Anwender-Software-Entwicklung Informatiker sich angewöhnt haben, "das Jahrhundertproblem der Informatik" zu nennen. Damit soll, 32

nach Weizenbaums "Kurs auf den Eisberg", die Situation beschrieben werden, "daß wir" - in der faktischen Entwicklung der Computer-Systeme - "die Zusammenhänge nicht mehr verstehen, weil wir sie nicht überblicken" . In der Tat türmen sich seit 33

dem "First Draft of a Report on The EDVAC" von John von Neumann aus dem Jahr 1945 babylonische Türme von Programm-Listings übereinander, laufen Myriaden von Computerprogrammen mit AberMyraiden von Daten schlecht betreut und chaotisch um die Welt, in immer gigantischeren, immer unübersichtlicheren Computersystemen mit immer kolossaleren Redundanzen. Daß Informatiker in Ihrem Beruf heute noch gerade zu 23 % mit Neuentwicklung, zu 77 % aber mit Wartung alter Anwendungen und mühseligen Konversionen beschäftigt sind, gehört zu diesem Bild . Die 34

Komplexität der Performanz computergestützter Systeme 20ist überwiegend die Exekution eines "Datenchaos" und überschreitet heute bereits alles erdenkliche 35

Maß.

1.12.Kompetenz und Performanz

Was in der Natur der Systeme liegt, um die es hier geht. Die Performanz eines Computers hat nichts zu tun mit der Performanz jener Sprache, die ihn programmiert. Niklaus Wirth hat auch das ebenso lakonischen wie schlüssig definiert: "Eine Programmiersprache stellt einen abstrakten Computer dar, der Ausdrücke dieser Sprache verstehen kann." Wie bekannt, wurde diese verblüffende definitorische 36

Rekursion zur Grundlage der immer noch klarsten, strengsten und - wie ich finde - auch schönsten Programmiersprache der Welt, - PASCAL. Wenn Programmieren im wesentlichen das Konstruieren von Algorithmen und Datenstrukturen ist und dies immer gern mit dem ingenieursmäßigen Konstruieren eines Produkts verglichen wird, so sieht ja auch Wirth den Unterschied darin, daß die Gedankengänge und Konstruktionsentscheidungen eines Ingeneurs letzten Endes an den physikalischen Bedingungen und Nebeneffekten einer realen Maschine gebunden bleiben, während das "besonders Faszinierend"e des Programmierens darin liegt, "daß die behandelten Objekte abstrakter Natur und ohne materiellen Aufwand verfügbar sind" . Und damit ein Traum der Hegelsschen Wesenlogik erfüllt, solange das 37

Reale, nämlich die Hardware selbst, außen vor bleibt. Aber da liegt ja bekanntlich auch schon bei Hegel der Pferdefuß, der am Bein des Teufels hängt. Die Schere

zuletzt: Vetter, Max: Strategie der Anwendungssoftware-Entwicklung - Stuttgart 1990, S. 17ff.32

Weizenbaum, Joseph: Kurs auf den Eisberg - Pendo 1984.33

Martin, J: Application: Development Without Programmer - New Street, Carnforth, Lancashire 1981.34

Vetter, Strategie..., S. 15.35

Wirth, Algorithmen..., S. 19.36

Wirth, Systematisches..., S. 120.37

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zwischen abstrakter Maschine, genannt "Programmiersprache", und realer Maschine, genannt ausführbarer Maschinencode, - sie bleibt eine Schere auch dann, wenn die Arbeit der Konstruktion eines Computerprogramms korrekt und sicher beendet wurde.

Weil Wirth ja vorschlägt zu sagen, 'wir programmieren in einer Sprache', sei vielleicht zur Verdeutlichung ein sprachwissenschaftlicher Vergleich erlaubt: Wenn Programmierung tatsächlich in einer Sprache stattfindet, so fällt in dieser von vorneherein das prinzipiell auseinander, was zu jeder Sprache gehört: nämlich die Kompetenz, eine Sprache zu beherrschen und die Performanz, tatsächlich zu sprechen. Es spricht die Maschine B die Sprache der Maschine A, sofern eine Maschine C, die die Sprachen der Maschine A und B versteht, gesprochen hat. Man kann Programmzeilen in PASCAL, C oder Assembler nicht sinnvoll sprechen, man muß sie compilieren, "lesen lassen" und "laufen lassen", um ihre Performanz zu aktivieren. Die Linguistik hat wenigstens noch den Vorteil, daß sie begründeten Anlaß hat zu vermuten: die Sprachkompetenz und die Sprachperformanz gehören in der menschlichen Kommunikation transzendentalerweise irgendwie untrennbar zusammen. Performanz, also in verschiedenen Situationen sich ausdrücken, reden, schreiben, sprechend handeln, und Kompetenz, also Beherrschung der Syntax, Grammatik, Idiomatik und des Vokabulars bedingen einander, generieren und begrenzen und bedingen sich gegenseitig, selbst wenn dieser Zusammenhang zerreißt, bespielsweise in einem Sprechakt, der mißlingt und nur Unverständnis produziert. Keine Frage, daß uns die Sprechakttheorie in der Folge belehrt hat, wie sehr im Zeitalter der Öffentlichkeit elektronischer Medien Kommunikation mißlingt, Kompetenz und Perfermanz auseinanderfallen, das Mißverstehen, das Nicht-Hinhören, das Aneinander-Vorbei-Reden sozusagen zum Konstituens unserer Gesellschaften gehört.

1.13. Performanz vor Kompetenz

Die Informatik aber hatte in ihren Anfängen einige Mühe, den Bereich ihres eigenen Diskurses, der Kompetenz im Umgang mit Computern, post festum zu entwickeln. Nach jahrzehntelanger "Codierung" isolierter Rechner (was als "das gezielte Ausrichten von Algorithmen auf die merkwürdigsten Eigenheiten eines bestimmten Computers eine schlechte Verwendung des menschliches Intellektes war" ), nach der gloriose Epoche der "Trickologie" und der "Programmierartistik" 38

also, wurde über ALGOL in den 60er Jahren, über Rutishauser, Hoare und Wirth jene Sprach-Kompetenz im nachherein ausgeformt, die darin besteht, einen "Befehlsträger für einen idealisierten, hypothetischen Computer" zu schaffen, "der nicht nach den Möglichkeiten der Technik, sondern nach den Gewohnheiten und Fähigkeiten des Menschen im Ausdruck seiner Gedanken ausgerichtet ist.", wie Wirth sagt. Zweifellos gehören seither auch hier "Kompetenz", also Fähigkeiten und

a.a.O., S. 22.38

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mächtige Konstrukte abstrakter Programmiersprachen, und "Performanz", also die Herstellung von Rechnern, die Entsprechendes und mehr leisten können, zusammen. Auch in der Informatik gehen seit mehr als 25 Jahren Kompetenz und Performanz von Programmiersprachen und Rechnerentwicklung wechselseitige Wege und immer wieder Hand in Hand, aber doch nur bis zu einem gewissen Punkt und immer mit einer starken Drift in jeweils ganz getrennte Regionen von Komplexität, die durch nichts zusammengehalten werden. Aufgrund dieser nach wie vor nicht geschlossenen und wohl auch nicht schliessbaren Risse zwischen informatischer Kompetenz und ingenieursmäßiger Performanz verdoppelt sich das benannte "Jahrhundertproblem" der Computerentwicklung: Wir haben jetzt nicht nur auf der einen Seite ein unüberschaubarer Myriaden-Wust von existierenden Systemen, Rechnern, Netzen, Datenmassen, babylonischen Programmperformanzen mit all den Risiken der Fehlerhaftigkeit und des Kontrollverlustes. Auf der anderen Seite kommt die Theorie der Programmierung einer Informatik hinzu, die aufgrund ihrer "Flexibilität und nichtmateriellen Form ... vielfach dazu verleitet, die Komplexität zu übertreiben und damit den Bogen zu überspannen" , - so jedenfalls warnt der Informatiker C.A. Zehnder. 39

2.1. Durch die Risse geschlüpft Ohne den beschriebenen Zwiespalt der Programmierung, ohne die systemische

Inkohärenz zwischen dem theoretischem Diskurs der Informatik und dem ganz praktischem Maschinenwissen, mit einem Computer und einigen Applikationen zu hantieren, was zwei paar Schuhe sind, hätte auch ich wohl niemals in ihre fachlichen Gefilde schlüpfen können. Vier Jahre nach Freigabe des 808x Standards durch IBM im Jahre '81, also mit dem Beginn des eigentlichen "Medienzeitalters" des Computers, wie Wolfgang Coy jüngst sagte, habe ich mit einem PC zu arbeiten 40

begonnen, weil mich immer schon, ob als als Literaturwissenschaftler oder Medien-Praktiker im Radio die Frage interessierte, auf welchen Oberflächen Menschen sich ausdrücken: Was die Bedingungen sind, unter den sie sprechen und Ihre Ideen artikulieren; und wie Ideen und Sprachen sich verändern, wenn die Glieder ihrer Ausdrucksweisen sich verändern. So hatte es mich auch ins Radio verschlagen, denn auch dieses Medium ist eines, in welchem sich Menschen offensichtlich ganz anders ausdrücken, als es normalerweise der Fall ist. Das Radio ist ein anomaler Raum, ihm fehlt der Körper und der Körperton; alle Gesten, alle Ausdrücke müssen über abgeschnittene, aber wie McLuhan sagt, nicht weniger "heiße" Körperorgane realisiert werden: die Stimme und unser Gehörorgan, das in Bezug auf seine

Zehnder, C.A.: Informationsgesellschaft und Bürger Badener Tagblatt: Forum für Politik, Kultur und 39

Wirtschaft - 6.12.1986.

mdl. Mitteilung Workshop "Metadisziplinäre Literaturanalyse",23-24.22.1990.40

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räumlichen und zeitlichen Dimensionen, wir werden noch darauf kommen, ein ganz seltsames Körperteil darstellt.

2.2. Zirkuläre Programmdefinition

Für das Radio und ganz speziell: für die Zwecke der Planung von Musik im Radio, hatte ich ein Computerprogramm entwickelt und geschrieben, das ich hier 41

besprechen möchte. Es heißt REPERTOIRE und verschönt damit zunächst, wie die Namen vieler Computer-Programme, die simplen Zwecke und Probleme, die es zu lösen gedacht ist. Denn ein Computerprogramm, das Musikplanung macht, heißt: einen Tag oder beliebige Zeiträume mit einer vorherbestimmbaren Musikfarbe gestaltet, indem es die Musiktitel einsetzt, die über diese Zeiträume gespielt werden sollen, - ein solches Programm vollzieht zunächst einmal eine tautologische Behauptung, einen hermeneutischen Zirkel, oder eben schlicht gesagt, eine Rekursion, wie mein Lieblingssatz von Wirth: "Eine Programmiersprache stellt einen Computer dar, der diese Sprache versteht." Möglicherweise folgt daraus, daß allen Computeranwendungen streng genommen eine zirkuläre Definition zugrundeliegt. Für das in Rede stehende Programm gilt das sicherlich: Musikplanungs-Progamme repräsentieren ein System der Planung von Musik, die insofern planbar wird.

Und in der Tat, das Feld der Musikplanung existierte vor der entsprechenden Software so gut wie nicht . Musik im Radio wurde jenseits und vor solchen 42

Instrumenten der Planung eigentlich nicht oder nur sehr vage geplant.

2.3. Musik-"Formate"

'Musik ist die Idee der Welt' hat Friedrich Nietzsche aus ganzem Musikerherz einmal formuliert, und wer sollte da zu planen wagen. So denken heute noch vielfach die, die als Musiker ins Radio kamen: Flötisten, Klarinettisten, Arrangeure, Bearbeiter, Tonmeister, Dirigenten, - um dort als Redakteure zu arbeiten. Redakteure mit Musikerherz stellen seit Jahrzehnten Radioprogramme zusammen, wie sie es gelernt haben, als sie noch in den Kur- oder Symfonieorchestern, in den Big Bands oder Combos spielten und muckten, draußen, außerhalb der Anstalten, bevor sie beworben und streng geprüft Musikredakteure wurden. Entsprechend hießen denn die Programme in den ersten Jahrzehnten des Deutschen Radios: "Mittagskonzert", "Junge Interpreten", "Notenkarussel", "Tanztee", "Aus Luv' und Lee" usw., alles Namen, die, was den Planungsbegriff betrifft, am Vorbild des Konzerts, also an

Genau gesprochen: eine erste Version entwickelt. Das Programm wurde inzwischen von anderen "serien"-reif 41

gemacht.

Software-seitig gibt es auf der Welt nicht eben sehr viele Musik-Planungs-Programme für das Radio. 42

SELECTOR, MUSIC-LINE, THT, RADIO-COMMANDER, CSI - fast alles Entwicklungen der frühen 80er Jahre aus Amerika. Nahezu alle Radio-Stationen der alten Länder (es sind an die 100) verwenden inzwischen die genannten oder selbstgestrickte Abarten solcher Programme für ihre Massenwellen. Nur der SWF3 hat seine Musikplanung in einem komplizierten System von Playlists und "Hand-Auswahl" über 15 Jahre jenseits der Rekursions-Maschinen entwickelt und hält daran fest.

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traditionellen Aufführungsformen außerhalb des Radios orientiert waren. So sind auch heute noch nahezu alle Klassik-Programme im deutschen Radio formatiert bis hin zur Ansage, die im erhabenen Ton den Programmzettel verliest.

Weil das Radio über Jahrzehnte, außer diesen importierten, keine eigenen Gestaltungsformen von Musik kannte, blieb das Planungswissen über solche Strukturen sozusagen ein weitgehend implizites Wissen. Es lag und liegt in den Köpfen der Berufsmusiker und mußte nicht verobjektiviert werden, denn die Köpfe und zugehörigen Menschen selbst waren die Garanten für dieses Wissen in Ganzheit.

Kein Wunder, daß sich eines der ersten eigenständigen Musikformate im Radio eher mit gewissen Widerständen und eher heimlich durch die Hintertür einschmuggelte, nämlich über die neutralen Magazin-Sendungen der 60er und 70er Jahre. Da war Musik auf einmal "Magazinmusik", der berühmte "Teppich", die "Farbe", die "Kulisse", ein möglichst gleichförmiger Rahmen, in den sich die Inhalte der politischen oder sozialen Wortunterhaltung "genehm" einbetten sollten. Diese "Magazine", oft von den Progressivsten erstritten, waren Ausdruck und Folge gewachsener Kommunikations- und Mobilitätsbedürfnisse; ihre Entstehung liegt im politisch-sozialen Schatten der 68er Bewegung. Magazin-Musik sollte diesem Kommunikations-Ideal entsprechend sein.

Eine Anforderung, die damals manche Musikredaktion aus den Angeln gehoben hat, denn die alten Kollegen wollten bei dieser Bodenbelag-Metapher-Musik nicht mitspielen. Die Zuständigkeit für Magazin-Musiken liegt heute vielfach nicht mehr bei den Musikredaktionen, sondern wird oftmals von einer anderer Schar meist junger Menschen realisiert, die nicht aus Musikerberufen kommen. Und dann kam noch, mit den Revolten der 60er Jahre, aus Amerika die zweite Attacke: der DJ und das DJ-Radio, das sich mit Platten, mit Industriemusik, mit Rock 'n' Roll und mit den "tribes" der Rock-Kultur beschäftigte.

Das sind die inhaltlich wichtigen "Rand"bedingungen für die Absicht, ein computergestütztes Musikplanungs-System zu entwickeln. Wenn dabei vom Berufsbild des Musikredakteurs die Rede ist, das ins Wanken gekommen ist, angeknackst durch neue Aufgabenstellungen wie das Magazin und das Rock-Radio, so müßte man eigentlich noch um einiges weiter ausholen, um die Frage zu beantworten, was "Planung" heißt im deutschen Radio des Öffentlichen Rechts. Vorab müßte geklärt werden, was das "Unternehmensziel" dieser Institutionen sei, welche Führungsleitlinien und welche abgeleiteten Arbeitsorganisationen bestehen und schließlich: wie Berufsbilder und Ausbildungswege den Mitarbeitern die Qualifikationen beschreiben, die für ihre Arbeit gefordert wäre. Das alles gibt es in den meisten Öffentlich-Rechtlichen Anstalten der Bundesrepublik nicht, übrigens auch kaum in Privatstationen. Die Kriterien, nach denen sich die halboffenen, aber sehr undynamischen Medieninstitutionen intern regulieren, sind kaum rational normiert, mal durchlässig für unmittelbare Änderungen, mal stocksteif geschlossen wie Beton.

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2.4. Produktmaß und Geschäftsabläufe Planungsprogramme müssen sich bei Ihrer Entwicklung zu den Fragen der

Unternehmensziele und der Arbeitsorganisation verhalten. Denn sie exekutieren, ja mehr noch sie schaffen ja erst bestimmte Abläufe und Zielvorgaben, über die man sich besser vorher im klaren sein sollte. Aber wie soll das geschehen, wenn schon eine simple Produktbeschreibung schwerfällt: Was produziert eine Radio-Anstalt? Sendungen natürlich, bewegte Bilder, Klänge, Nachrichten, Information, Musik. Aber was ist das Produktmaß? Was sind seine kalkulierbaren Einheiten? Sie es die Sendeminuten? Einschaltquoten? Journalistenpreise? Hörerbriefe? Wenn es in der Entwicklung von Anwendungs-Software für Radioanstalten um den Begriff von Strategie geht, also - wie es betriebswirtschaftlich heißt - um den "organisierten Einsatz der Ressourcen" , dann erscheint jede "wirkungsbezogene 43

Systembetrachtung" dieser Strategie in Medienbetrieben schon deshalb eingeschränkt, weil eine Beschreibung der Geschäftsabläufe, gleich ob nach der Lebenszyklus- oder der Durchlaufmethode, schlechthin kaum möglich ist. Ich will das erläutern:

Man weiß, daß als Maß für das Produkt von Medienbetrieben derzeit vor allem die Einschaltquote gilt. Nach dieser Akzeptanzquote, auch "Reichweite" genannt, werden Werbebuchungen geschaltet, also Einnahmen realisiert. Das ist für alle inzwischen lebenswichtig, für kleinere Sender zumal. Die Einschaltquote aber bestimmt in Öffentlich-Rechtlichen Anstalten keineswegs auch das Kostenmaß. Nicht diejenigen Programme sind z.B. besonders kostenintensiv, die hohe Einschaltquoten erwirtschaften und umgekehrt. Kosten werden in Hörfunkanstalten Öffentlichen Rechts nicht nach Gestehungskosten in Richtung auf ein vordefiniertes unternehmerisches Ziel ermittelt, sondern sie werden aufgeteilt in "Etats" und nach einem kameralistischen Zuweisungsprinzip vergeben, das die Programm- und Produktleistungen in die weitgehende Autonomie der einzelnen Redaktionsverantwortlichen legt . 44

Die Öffentlich-Rechtlichen Anstalten haben den gesetzlichen Auftrag zur "kulturellen Daseinsvorsorge", nämlich Bildung, Information und Unterhaltung auf der Basis einer "unerläßlichen Grundversorgung für alle" zu leisten. In der Ausgestaltung dieser Aufgabe sind die Körperschaften weitgehend autonom. Diese dezentrale Autonomie bedeutet im besten Fall, daß es selbstgesetzte, stark personengebundene, durch importierte Berufsbilder ausgelegte Programmziele sind, die jeder Redaktionsbereich weitgehend nach eigener Facon zum Ganzen beiträgt. Sowenig diese Autonomien, deren Vorbild aus den Wirtschaftformen des 18 Jahrhunderts kommt, extern steuerbar oder exakt planbar sind, sosehr gilt doch

Vetter, Strategien..., S. 159.43

Die Diskussion um die Frage der Unternehmens-Verfassung hat eben erst begonnen, - siehe: Norbert Seidel: 44

Die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt als Rundfunkunternehmen, in Media Perspektiven 8/91 S. 504ff.

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auch, daß in der Autonomie selbstverwaltender Teilbereiche ein weiteres sozusagen 'internes' Unternehmensziel des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks liegt. Das ist ein guter Rest des ideellen Absolutismus oder sagen wir einfach: des Intendanten-Prinzips. Es ist leider genau die Stelle, an der diese Apparate stark anfällig sind für Beeinflussungen aus der Parteienlandschaft. Unter dem systemtheoretischen Aspekt betrieblicher Strategiefindung aber sollte man sehen, daß das deutsche Radio heute unter zwei Zielstellungen steht, die miteinander nicht im Ausgleich sind und nur schwer kommunizieren können: - auf der einen Seite der Maßstab der Einschaltquote und des wirtschaftlichen Wettbewerbs um Zuschauer/Zuhörerzahlen im Medienmarkt - auf der anderen Seite das kameralistische Autonomieprinzip ("der Sache der Allgemeinheit" zu dienen), das weitgehend durch die gesetzlich definierte Institutionen-Verfassung gewollt und geschützt ist und doch längst durchlöchert wurde von den Politikern in den Aufsichtsgremien. Wenn ich in einem solchen Betrieb planen will, das Programm, das Personal, die Strukturen, die Musik, was immer, - so muß ich den beiden konträren Anforderungen des Systems gerecht werden. Der Freiraum, in Erfüllung selbstgesetzter Ziele dem gesetzlichen Auftrag zu genügen, und der wirtschaftliche Zwang, im Medienmarkt unternehmerisch zu bestehen, müssen in einer Anwendungssoftware strategisch kombiniert werden.

2.5. Funktion der Musik im Radio Man sieht, wie komplex Umgebungsbedingungen einer Anwender-Software-

Entwicklung in Radioanstalten sich darstellen. Eine weitere Schwierigkeit kommt hinzu, wenn wir die wirtschaftliche Zielstellung, das Produktmaß "Einschaltquote" näher betrachten. Aus der Akzeptanzforschung wissen wir, daß Radiostationen vor allem Ihrer Musik wegen gehört werden. Wir wissen, daß Menschen im Durchschnitt 2 bis 3 Stunden am Tag das Radio anhaben und damit diesem Medium die erste Stelle in der Nutzung aller Medien geben. Wenn Radionutzung auf der Zeitachse abgefragt wurde, dann waren immer diejenigen Perioden stark, in denen vor allem musikorientierte Programmteile geboten wurden. Das war übrigens schon Goebbels bekannt und hat im Jahr 1934 zu einer tiefgreifenden Strukturreform des Großdeutschen Rundfunks geführt. Aber auch Goebbels, die Propaganda gewordene deutsche Hörigkeit, hatte nur auf eine harte statistische Umfrage der kriegswichtigen Firma Telefunken reagiert. Welche inhaltlichen Bedürfnisse in der so weitgehenden Musikerwartung an das Hör-Medium liegen, hat in Goebbels Gefolge eine Generation von Radiomachern garnicht erst verstehen wollen.

Um eine Massenkommunikationsforschung in Deutschland nach dem Krieg in Gang zu setzen, muß erst der "Communication Breakdown", um mit Jimmy Page's Led Zeppelin zu sprechen, geschehen. Das war 1968. 16 Jahre später hat Josef Eckhardt im Medienreferat des WDR in einer Untersuchung der Wirkungsfunktionen von Musik im Radio fünf Faktoren herausgearbeitet, die die Wirkung von Radio-Musik zu beschreiben versuchen. Die fünf sind:

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(1) "parasozialer Kontakt", d.h. Musik vermittle dem Hörer das Gefühl, "nicht allein zu sein"

(2) "Distanz", d.h. Musik werde nur wahrgenommen, oder besser toleriert, "wenn sie nicht stört"

(3) "Kontakt-Förderung", d.h. Musik vermittetle einen positiv empfundenen Hintergrundsrahmen für Gespräche und menschliche Kontakte ganz allgemein

(4) "Stimmungskontrolle", d.h. Musik belebt, befreit, klärt Situationen, schafft oder stellt wieder her: Ausgeglichenheit

(5) "Funktionalität", d.h. Musik hilft bei Routinearbeiten, mit Langeweile oder unangenehmen Verrichtungen fertig zu werden. 45

Dies sind harte Performanz-Beschreibungen von Musik, die den affirmativen Charakter der Radio-Rezeption im Allgemeinen noch unterstreichen. Denn daß das Radio weniger der kritischen Information, sondern vielmehr seiner offenbar mächtigen affirmativen Funktionen wegen gehört wird, ist bereits in den ersten Studien zum Radio in den 30er Jahren von Lazarsfeld und anderen gesehen worden. 46

2.6. Der Affirmationscharakter des Radios

Das Ohr ist ein seltsames Organ. Worin der affirmative Charakter des Radios besteht und damit der harmoniebestrebte Konformitätsdruck der auditiven Massenrezeption, dafür fehlt uns bislang die Theorie. Weit entfernt, anthropologische Konstanten zu vermuten, würde ich eher der Meinung zuneigen, daß in der Entwicklung unserer Industrie-Zivilisationen über Jahrhunderte das Ohr mit seiner Funktion der Ortung und oralen Kommunikation keine wesentliche Rolle gespielt hat. Seit der Erfindung der Radio-Telegrafie aber kommt das Ohr in die Struktur gesellschaftlicher Organisation zurück. Über das Radio massiv "angesprochen", reagiert es in dem Zustand, den der Philosoph und Musiker Adorno, in Verteidigung eines kompositorischen Ideals, als "Regression des Hörens" bezeichnet hat . 47

Solche Mutmaßungen über den Bruch musikalischer Ideale kommen dem Selbstverständnis von Musik-Machern in den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten durchaus nahe. Näher jedenfalls, als die Beschreibung ihrer Arbeit durch den Musikfunktionalismus auf seiten der Wirkung bei den Rezipienten. Die Performanz

Josef Eckhardt: Musik im Hörfunk für Wen? Rundfunk und Fernsehen 1986 / 1, hier zitiert nach den 45

Paginierung des internen WDR-Papiers, 9.

Harold D. Laswell: The Structure and Function of Communication in Society in: Bryson, Lyman(hg) The 46

Communication of Ideas - New York 1964, 114ff.

"Wenn keiner mehr wirklich reden kann, dann kann gewiss keiner mehr zuhören"(322). "Die Liquidierung des 47

Individuums ist die eigentliche Signatur des neuen musikalischen Zustands"(327)"."Am Gegenpunkt zum Fetischismus der Musik vollzieht sich eine Regression des Hörens. Die hörende Subjekte büssen mit der Freiheit der Wahl und der Verantwortung nicht bl0ß die Fähigkeit zur bewußten erkenntnis von Musik ein,...sondern trotzig negieren sie die Möglichkeit solcher erkenntnis überhaupt."(339) "Regression des Hörens heißt nichts anderes als: das Hören Regredierter"(340). Alle Zitate aus: Theodor W. Adorno: Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens, in: Zeitschrift für Sozialforschung 7/1938, S. 321ff.

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der Radio-Musik lief der Kompetenz ihrer Macher über Jahrzehnte hinweg auf tückische Weise davon, insofern diese den medientechnischen Wirkungsraum ihrer Arbeit nicht zur Kenntnis nahmen und durch den Import von traditionellen Musik-Aufführungsformen ins Radio vor allem bei sich selbst die Illision nährten, der medientechnische Funktionswandel in der Rezeption von Musik durchs Radio habe garnicht stattgefunden.

Auch hier wirkt also eine technologische Performanz, deren Kompetenz wir bei Strafe des Verlusts von Marktpositionen im nachhinein zu erarbeiten haben.

Lange wurde natürlich versucht, den Affirmationscharakter des Radiohörerns sozusagen pädagogisch umzudeuten; das Radio als Erziehungsanstalt mißzuverstehen. Aber das ist gescheitert; denn die assertorischen Grundlagen, die diesen Funktionalismus des bloßen Unterhalten-Werden-Wollens bedingen, sind garnicht durch die Inhalte des Radios, sondern sind durch den sozial-medialen Kontext des Mediums selber gesetzt. Wir Radiomacher haben also, wenn wir ehrlich sind, gleichermaßen Anteil an jenem Jahrhundertproblem, das die Informatiker freimütig einräumen. Denn es gilt auch hier, daß wir uns mit dem allgegenwärtigen elektronischen Hörmedium eine chaotische Klangkulisse geschaffen haben, vor deren Wirkungen wir jetzt stehen und deren Funktionen und Regeln wir im Nachhinein zu entdecken haben. Eine Software die hier planend einsteigt, tut nun ein weiteres: Sie implementiert Erkenntniselemente, und zwar mit Niklaus Wirth gesprochen "bewußt oder unbewußt", ausgesprochen oder unausgesprochen, in dem sie gegebene Wahrnehmungs-Verhältnisse befestigt oder in Bewegung bringt. Da sich dies alles in Ökonomisch umkämpften Märkten abspielt und neue Aufgaben betrifft, für die herkömmliche Berufsbilder fehlen, sind musikplanende Computerprogramme in ihrem kostenmäßigen Effekt schnell plausibel.

2.7. Design der ersten Musikplanungsprogramme Musikplanungsprogramme enstanden denn auch zuerst in Amerika zu Beginn der

80er Jahre. Lassen Sie mich, im Sinne einer schnellen Design-Übersicht, eines dieser Systeme kurz demonstrieren. Es sind Systeme, die die Gleichförmigkeit eines Musikangebots mit enger Schwankungsbreite optimieren sollen, indem das allzu enge Abspiel identischer Titel vermieden wurde, um einen in seiner Selbstähnlichkeit verläßlicheren Sound zu gewinnen. Das Prinzip aller Musikplanungsprogramme ist: Musik-Titel werden mit Merkmalen oder Kategorien versehen, welche dann als Filter für die Ausgabe eine Menge von Titeln funktioniert, die sich ähnlich sind.

(Abb: SEL01.PCX

Unt: SELECTOR Titel-Karte)

Selector ist der Markführer unter den Musikplanungsprogrammen in Amerika. Ursprünglich in Fortran, später in C nach- programmiert, konnten die Versionen 1 bis 11 nur bis zu knapp 5000 Titel verwalten. Das für die Planung entscheidende Feld in dieser Maske finden Sie unter "Kat", das für "Kategorie" steht. Die Zahl 1 verweist

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relational auf eine Tabelle, in der frei definiert werden kann, was "1" repräsentiert, nämlich in diesem Fall "B1 63-73", was wohl soviel heißt wie 'alle Mainstream Titel aus dem Jahren '63 - '73 '. Jede Kategorie kann in 3 Unterstufen gegliedert werden, womit das "Pott"-Prinzip überdeutlich wird, das hier die Design-Philosophie ist. Musik-Titel werden bestimmten gleichartigen oder gleichfarbigen Pötten zugeordnet, wie in Amerika ja überhaupt die strenge Ausrichtung nach Musikfarben schon die Gliederung der Musik-Stations und der Billboard-Charts dominiert. Neben der Kategorien-Definition sind weitere tabellarische Angaben möglich. Festgelegt werden kann ein "Stimmungs-Parameter", ein "Energie-Parameter", das "Tempo", ein "Klang-Merkmal", ein "Musik-Genre-Code" usw. Diese Angaben sind, mit Ausnahme der Kategorie, optional. Bei der Eingabe kann darüberhinaus ein sogenannter "Tagesteil-Ausschluß" definiert werden. Titel können für die bestimmte Zeiträume an allen oder an ausgewählten Wochentagen "gesperrt" werden oder können in Bezug auf das nachfolgende Abspieldatum n+1 mit wechselnden Tagesteilsperren versehen werden, nach dem Modell : "wenn das erste Mal Vormittags, dann das nächste Mal nachmittags".

(Abb: SEL08.PCX

Unt: SELECTOR Musik Uhr)

Der Sinn der Definition von Kategorien und ihren Abstufungen, von Typen, ÄraCodes, Mustern, Gechlechtsangaben und Interpretengruppen ist es, aus diesen Chiffren nun umgekehrt Formatuhren zu erstellen, in denen eine bestimmte Abfolge von Chiffren als Filter dient, um dann diese Platzhalter, sagen wir 12 pro Stunde oder 140 pro Tag mit passenden Titeln zu füllen. Sie sehen in der Definitionsmaske einer Power-Uhr, wie sie so sinnreich heißt, daß alle Merkmal-Felder der Eingabe hier als Filter-Regel für die Ausgabe wiederkehren. Kompliziert wird das Regelwerk durch eine Reihe von definierbaren Nachfolge-Ausschlüssen. Wenn z.B. ein Titel mit MusikCode y und Stimmung "2" = "sehr ruhig" gekommen ist, darf ein gleichartiger Titel nicht unmittelbar und auch nicht als zweitnächster kommen etc. Diese Uhr-Definition bildet insgesamt eine Regulierungstabelle, die wiederum optional für bestimmte Stunden oder Zeitsegmente des Tages eingesetzt werden kann.

Die Musikauswahl wird dann in der Regel für einen ganzen Tag getätigt. Dahinter steckt wiederum eine Hypothese, nämlich daß

der Tag (von morgens 6 Uhr bis abends ? Uhr) eine Rezeptionseinheit bildet und hinter dieser Hypothese wiederum steckt eine weitere, die etwas über das Hörerverhalten in der Wochenstrecke besagt.

Der Sinn der amerikanischen Musiklanungsprogramme ist es, einen in der Regel kleinen, vielleicht 1000 Sätze umfassenden Titelbestand von Musikstücken einer sehr homogenen Klangfarbe optimal auf die zur Verfügung stehende Zeitspanne zu verteilen. Daß heißt: Aufgabenstellung des Programmes ist es, bestimmte Titel, z.B. die "Top Ten" der Woche oder die "Hot Five" des Tages stärker rotieren zulassen als etwa Titel aus einer Ära der späten siebziger Jahre. Andererseits soll genau dieser

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Eindruck eines schmalen Titelbestandes wieder verwischt werden, in dem eine ganze Kaskade von Ausschlußregeln z.B. für Interpreten und Musik-Codes existieren. So können Sie bestimmte Interpreten wiederum tabellarisch Interpretengruppen zuordnen, um, wenn ein Interpret aus dieser Gruppe gespielt wurde, die ganze Gruppe für eine definierbare Zahl von Stunden für die Auswahl zu sperren. Wenn andererseits ein Titel z.B. des 70er Jahre "Funk" gewählt wurde, so kann eine Ausschluß-Regel besagen, daß 70er Jahre "Funk" in den nächsten 6 Stunden im Programm nicht mehr erlaubt ist. Diese dynamischen Filter sind sehr intelligent und es wäre für die theoretische Informatik sicher ein lohnendes Ziel, sie zu formalisieren. Mir geht es aber eher darum, Sie auf die Anwendungs-Seite der Sache hinzuführen.

2.8. Kritik der Playlist-Programme Die amerikanischen Musikplanungsprogramme, von denen ich Ihnen hier eines

vorgeführt habe, sind ihrer Funktion nach Playlist-Programme. Sie füllen die Musikuhren von Stationen, die eine oder mehrere bereits klar vordefinierte Playlists haben. Eine Playlist ist, um Ihnen eine annähernde Definition zu geben, eine Liste von Musiktiteln, die eine Gruppe von Redakteuren oder ein einzelner Redakteur oder eine Institution (in Amerika ist es BILLBOARD) für allesamt spielbar im Sinne eines gegebenen Programmkonzepts hält.

Eine solche Playlist hat, wie die Definition schon zeigt, wenigstens zwei systematische Schwächen. 1. ist sie extrem aleatorisch in Bezug auf die in ihr zusammengefaßten Musikgattungen, und 2. unausgesprochen subjektiv und geschmacksorientiert. Playlist-Konferenzen sind denn auch das Heikelste und Unangenehmste in modernen U-Musik-Redaktionen. Ganz abhängig von jeweiligen Grundstimmungen der Tagesform werden dort eine Unzahl neuer Titel abgehört und wird entschieden, welcher Titel von den Gehörten in die Playlist kommt. Oft ist dies das einzige Mal, wo ein Titel im Kontext von Musikplanung überhaupt gehört wird. Hat er nämlich in die Playlist Eingang gefunden, so gilt er allgemein als anerkannt und fraglos spielbar. Die Hereinnahme von Titeln in eine Playlist wird also nicht gesondert protokolliert, die Gründe und Gesichtspunkte sind gleichsam mit dem Moment der Hereinnahme erloschen, so daß umgekehrt einen Titel aus der Playlist herauszuwerfen - und auch das ist Aufgabe der Konferenz - zum voluntaristischen Akt der gegebenen Gruppendynamik werden kann. Insgesamt funktionieren solche Playlist-Konferenzen nur, wenn insgesamt Musikplanung einer Radioanstalt eher einem absolutistischen Regime ähnelt, als einem nachvollziehbaren oder strukturierten Regelprozeß. So funktioniert das für seinen Erfolg berühmte Musik-Format-Radio des SWF3 nur, weil es durch den - zugeben genialen - Musikgeschmack eines einzelnen 14 Stunden Workoholics zusammengehalten wird, der in Bezug auf Planung und Controlling sich mit nahezu diktatorischen Kompetenzen ausgestattet hat.

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Playlist-Programme wie Selector oder Musicline oder CSI-Columbine - sie funktionieren nach dem oben gezeigten Modell - sind im Grunde, wenn Sie so wollen, ein Versuch, den beschriebenen Absolutismus der Musikplanung in dem Gestrüpp eines komplexen Regelwerks näherungsweise zu automatisieren.

Diese Tendenz wird in Amerika, wie angedeutet, noch dadurch unterstützt, daß ja auch die Playlisten, also schon die Grundgesamtheit einer Musikplanung, nicht durch autonome Redaktionen, sondern eben durch die gestaffelten und musikfarbenmäßig vorsortierten BILLBOARD-Charts strukturiert sind, die ihrerseits nach ausgesuchten Marktforschungsstrategien gesteuert werden. Dieser Faktor fällt in Europa und Deutschland völlig aus. Die deutschen Charts, welche auch immer sie nehmen, sind für die Musikplanung in deutschen Rundfunkanstalten aus vielerlei Gründen bislang eher wertlos.

Amerikanische Musikplanungsprogramme sind, auch von der Anwender-Oberfläche her, dazu gedacht, daß einer Alles macht. Keines dieser Programme, obwohl gut 30 Versionen von Selector auch in Deutschland in Betrieb sind, ist bislang netzwerkfähig, was Kooperation in Echtzeit schon einmal technisch verbietet. Auch ist das Regelwerk der Interpretenausschlüsse, der MusikCode-Nachfolge-Ausschlüsse, der Stimmungs-Codes etc. so komplex, und jeweils gegeneinanderwirkend, daß letztlich nur ein einzelner, der den ganzen Tag am Gerät sitzt, die komplexen Beziehungen, die die Menge der geplanten Titel untereinander einnehmen, sinnvoll überschauen kann.

2.9. Musik-Präferenz-Analysen

Eine schnelle Übersicht über das Grund-Design der amerikanischen Musikplanungsprogramme zeigt, daß die Festlegung einer stabilen Strategie für Musikplanungs-Software die Diskussion einer Reihe von weiteren Rahmenbedingungen erforderlich macht. Es muß geklärt werden, für welche Bevölkerungsgruppen und für welche Zeiträume Musikplanung überhaupt vorgesehen werden soll. Die Verlaufskurven der Radionutzung zeigen, daß nur zwischen morgens 6 Uhr und Abends 6 Uhr relevante Zuhörerzahlen zu erwarten sind. Die erreichbaren Quoten sind im Vergleich zu den USA relativ hoch, - sie liegen bei den großen Anstalten WDR, NDR, SWF etwa um die 30 %, bei guten Privatstationen etwa um 20 %. Die Erhebungen zeigen weiter, daß durchschnittlich etwa 2 - 3 Stunden lang am Tag Radio gehört wird, aber nicht, zu welchen Zeiten dies durchgängig geschieht, oder wie Bevölkerungssegmente, etwa Jugendliche oder junge Erwachsene im Unterschied zu Älteren, oder Männer im Unterschied zu Frauen, im Tagesablauf das Medium Radio nutzen.

Insgesamt gilt, daß die Normalität des amerikanischen Radios, nämlich ein Zielgrupppenradio für ganz spezielle Bevölkerungsteile zu sein, in Deutschland derzeit noch eher die Ausnahme darstellt. Zumal die Zusammensetzung der Hörerschaft der erfolgreichen Programme zeigt, daß die Alterszusammensetzung der

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Hörerschaft hoch gemischt ist. Radio wird hierzulande auch von der werbetreibenden Wirtschaft als ein Medium mit großem Streueffekt begriffen, als ein Werbeträger, der große, aber sehr weit gestreute Kontakte ermöglicht. Musikalische Zielgruppenprogramme, wie Sie den Markt in Amerika kennzeichnen, werden von der Deutschen Werkewirtschaft bislang nicht unterstützt.

Musikplanungsprogramme können hier also einschränkend oder stark steuernd wirken, indem Sie die Musikpräferenzen ganz bestimmter Bevölkerungsgruppen bevorzugen und gar ausschließlich bedienen. Musikpräferenzen demoskopisch abzufragen, ist kein einfaches oder unumstrittenes Verfahren, aber es geschieht. Die Ergebnisse zeigen, daß bspw. bei Menschen zwischen 14 und 29 Jahren die aktuelle angelsächsische Pop-Musik hohe Präferenz genießt, während bei den Älteren Deutsche Volkslieder und der trad. Deutsche Schlager Vorrang hat.

2.10. "Musikwissen" speichern

Musikplanungsprogramme sind Speichermedien für ein spezifisches Wissen über populäre Musik. Daran ändert die Tatsache wenig, daß Musiktitel zu kategorisieren, um sie nach diesen Kategorien zu planen, die Antwort auf ein Problem darstellt, dessen Frage noch zu rekonstruieren ist. Man muß eingestehen, daß seit Jahrhunderten das Wissen über populäre Musik zunächst und vor allem ein musikalisches ist. Oder anders gesagt: wir haben für populäre Musik wenig Begriffe. Musiker tradieren Wissen über Musik fort, durch das Nachspielen vorhandener Werke und Stilarten, durch Instrument-Traditionen und auditive, averbale Vermittlungsformen. Gerade die Verschmelzung und Digression musikalischer Stile, die im abendländischen Raum der sog. "Ernsten Musik" seit mehr als hundert Jahren vor sich geht, zeigt, daß selbst im Bereich der durch Harmonielehre und Kompositionstheorie reflektierten Musik die wesentliche "Meta"-Ebene der Musik, siehe Cage, die "Meta-Musik" selbst ist. Versprachlichung, Verbali~sie~rung, Theoretisierung von Musik ist an sich schon ein Problem, das im Sektor der populären Musik noch mehr im Argen liegt. Die Amerikaner beispielsweise nennen alles, was nicht gerade "Rhythm & Blues", "Soul" oder "Dance-Funk" ist: "Rock 'n' Roll". Das geht von der Little River Band bis Bruce Springsteen. Auf europäischer Seite ist Rock 'n' Roll dagegen eher enger gefaßt: Little Richard und Chuck Berry auf der einen, Carl Perkins, Elvis Presley und Shakin' Stevens auf der anderen Seite, also "Uptempo Soul", "Rockabilly" und nicht viel mehr umfassend. Das Wissen, das erfahrene Musikgestalter von Rockmusik anwenden, sollte eine kurze Beobachtung wert sein: In der Regel sind Rock-Stücke nicht notiert, Rockmusik ist nicht verschriftet, was die musikphilogische Wissensbasis stark einschränkt. Unterstellt aber dennoch, daß sie - archivalisch - die veröffentlichten Titel eines Komponisten und der Hauptinterpreten eines Genres kennen; hier wiederum die thematischen Grund- und Seitenlinien kennen; Instrumentierungs- bzw. Interpretationseigenheiten erinnern bis hin zu der Erinnerung an musikalische Phrasen, Hooklines und Riffs, die, wenn sie zusammengestellt werden, unerwartet neue, interessante Stukturen

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ergeben können. Dieses Wissen hat kein Aufschreibemedium. Oft findet man bei erfahrenen Kollegen eine jeweils individuelle symbolische Mnemotechnik in der Anordnung der zugehörigen materiellen Wissensträger: eine riesige Plattensammlung, aufgeteilt nach diversen Alphabeten, untersortiert nach Erscheinungsdaten, Zeitungsausschnitte in Ordnern oder Schubladen, eine eigenwillige Kartei hier, Ringbücher dort usw. Diese raumfüllenden mnemotechnischen Gebäude sind oft von kunstvoller Schönheit. Die Arbeit an dem eigenen Wissen findet nur in diesen Räumen und in dem stundenlangen, täglichen Bemühen statt, diese symbolischen Fäden der Anordnung der materiellen Zeiger dieses Musikwissens wiederaufzufrischen.

Hinzukommt noch, daß Musik oft selber der Träger eines weiteren Wissens über Musik ist. Das Ohr, ich erinnere, ist von seltsam intelligibler Sinnlichkeit. Ein Musikstück legt, wie Alphons Silbermann uns überflüssigerweise belehrt, oft erst dann, wenn es gehört wird, Erinnerungsspuren frei, setzt Zeiger auf weitere signifikante Spuren des Wissens, denen dann gefolgt wird. In der theoretischen Informatik würde man wohl nicht einmal von "Relationen" sprechen, die in der Anordnung des musikalischen, auditiven Erfahrungswissens die Regel sind. Darin liegt auch oft die reale Schwäche dieses Erfahrungswissens von Musik. Es ist durchaus flüchtig, falls ein Glied einer Kette aus dem Auge oder Ohr gerät, sind oft auch alle folgenden Glieder verloren usw. Streß oder starke externe Aufgabenstellungen können dieses Wissen zuweilen vollständig blockieren; jede Art von Routine-Tätigkeit zerstören diese künstlichen Schlösser der eigenen Erinnerungsbahnen nachhaltig. Da aber die Arbeit jedes Musikredakteurs nun mal aus beidem besteht, nämlich Musikzusammenstellungen, die aus dem Kopf plus den Bahnungen individueller Erinnerungsstrukturen erfolgen, und denen, die vorgegebene Aufgaben erfüllen, sollte eine Musikplanungssoftware hier die gegebene Brücke ermöglichen.

Die Plan einer Musikzusammenstellung, die nur aus diesem Wissen folgt, ist demgemäß ein Abbild, ein Ausschnitt aus diesen ganz individuellen multidimensionalen Wissens-Vektoren, wie ich sie eben beschrieben habe. Der Plan, der aus enem solchen Wissen folgt, ist, um ein Bild von Kafka zu nehmen, wie ein Grashalm, der irgendwo in der Mitte des Halmes zu wachsen beginnt. Eine solche 48

Sendung setzt ebenso einen besonderen Hörer voraus: nämlich den, der bereit ist, den neuronalen Verästelungen und Logiken eines ganz individuellen Diskurses zu folgen. Wenn man dagegen aber die relativ einfachen fünf Faktoren des Funktionalismus hält, der nach der Eckhardt-Analyse das Radiohören von Musik ausmacht, dann ist der Rezeption-Konflikt vorprogrammiert. Individuelle Faktoren, Zeit zum Zuhören, kennzeichnet die Rezeptions-Situation des Radios in der Regel nicht. An Musik in diesem ausgezeichneten Sinne, das zeigt die Hörerforschung, sind die musiküberfluteten Radiohörer nur in einer verschwindenden Minderheit

Franz Kafka, Tagebücher.48

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interessiert. Spezialthemen werden vom Publikum im Tagesprogramm mehrheitlich nicht angenommen.

2.11. REPERTOIRE

REPERTOIRE, eines der ersten deutschen Musikplanungsprogramme, ist aus dem Komplex dieser Vorüberlegungen schrittweise und interaktiv gewachsen. Es folgt sieben Regeln:

Regel 1:

Das Wissen, das Musikplanungsprogramme über Musik ansammeln, muß durch ein kommunzierbares, schnell erlernbares Aufschreibemedium gestützt sein. Dieses Aufschreibemedium soll durch das ganze Programm mit all seinen Features repräsentiert werden, aber auch außerhalb des Programms in sinnvollen Metaphern zitierbar und damit kommunzierbar sein.

Ein Aufschreibemedium ist ein Verständigungsmodell aber nur dann, wenn es weitgehend akzeptiert wird. Akzeptanz ist ein wesentliches Kriterium von Software.

Das Musikplanungsprogramm zielt auf zwei Anwender-Gruppen: (a) die reinen Programmgestalter, die sich die Musik für ihre jeweilige Sendung

nach kurzer Anlernzeit ohne Aufsicht selbst aussuchen;

(b) die Betreuer des Systems, die alle Eingaben, alle Kategorisierungen und Formatierungen sowie alle Änderungen und statistischen Funktionen wahrnehmen.

Beide Anwendergruppen waren, zu Beginn, vollkommen computer-unerfahren. Grundschulungen oder Anwendungsschulen konnten im nötigen Rahmen nicht gewährt werden.

Regel 2: Die Programmoberfläche konsistent und konzeptuell klar zu strukturieren, soll mit

der Realisierung der wesentlichen Prinzipien der CUA erreicht werden, der "Principles of Common User Access" des IBM SAA (Systems Application Architecture) - Standards. Es hält sich noch genauer an die "Action-Objekt-Orientation", als es das IBM-Developpers-Manual von 1989 vorsieht . IBM sieht z.B. 49

nicht vor, daß ein Programm eine konstante "action bar" hat, eine konstante, metaphorisch benamte Ereigniszeile (Bildschirmzeile 1), aus der heraus alle Objekte und Objekt-Handlungen gestartet werden können. IBM erlaubt, daß die "action bar" und "function key aera" wechselnde Inhalte zeigen je nach Programmbereich. Ich halte das für den Funktionstasten-Bereich (Zeile 24) für richtig, für die "action bar" allerdings für inkonsistent.

Das Programm ist in sechs Programmbereiche geteilt, wobei ein "highlighted name" jeweils den aktiven Bereich anzeigt. Jede Aktion, von der höchsten bis zur tiefsten Programmstufe wird mit F10, also durch den Aufruf eines Pull-Down-Menüs

Alles Folgende daraus: IBM - Systems Application Architecture. Common User Acces - Basic Interface 49

Design Guide, 1989.

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vorbereitet. Die Anwahl der Aktion selbst erfolgt durch Cursorbalken, Aktionen werden mit der Eingabe-Taste gestartet. ESC deaktiviert alle Aktionen, Handlungen und Objekte, hinauf von der tiefsten zur höchsten Ebene, und führt schließlich auch zum Programmende.

Die SAA-Oberfläche, auf einen Programmzweck gut appliziert, macht die Handlungen eines Programms schnell selbsterklärend. Ich habe aus der Erfahrung gelernt, daß kontextsensitive Hilfen, die es natürlich auch gibt, den selbsterklärenden Charakter einer sinnvollen CUA-Applikation nicht ersetzen können.

Mit sehr wenigen Hinweisen auf die Bedeutungen von F10, ESC und der Multiple-Choice-Rolle der Cursortasten kann ein User bereits auf das Programm losgelassen werden.

( Abb: RP10.PCX

Unt: REPERTOIRE Eingabe-Maske) Zugang zur Eingabe hat nur die Anwendergruppe "Betreuer", die jeweils ein

individuelles Passwort benutzen, und insofern alle ihre Angaben mit ihrem Namen zeichnen.

Bei der Eingabe eines Titeldatensatzes beschränken wir uns auf die wesentlichen, auch für den Musikjournalisten relevanten Felder, die nebenbei alles Wichtige für die Gema-Abrechnung behalten. Der Eingabe-Tag wird festgehalten, um den Durchsatz der Abspiele dieses Titels im Repertoire relativieren zu können.

Regel 3:

Es müssen bei der Eingabe von Musiktiteln starke Merkmale, Kategorien oder Bezeichnungen klarschriftlich und vollständig vergeben werden, die eine möglichst hohe Unterscheidung des Einzeltitels ermöglichen.

(Abb: RP15.PCX

Unt: REPERTOIRE Merkmale-Vergabe-Fenster)

Die Oberfläche ist wiederum selbsterklärend. Mit den Cursortasten links und rechts werden die Kategorien-Kolumnen, auf und ab die Merkmale ausgewählt. Merkmale und Kategorien können zuvor weitgehend wahlfrei gestaltet werden.

Eine insofern kontextfreie Multiple-Choice-Maske, die dazu zwingt, auch dies ein wesentlicher interaktiver Seiteneffekt, den Titel zu hören, während man ihn kategorisiert. Der wichtigste Punkt im ganzen Programm. Musik erklärt sich nur durch das Hören und hier wird das Vertrauen, daß der Titel namens eines Betreuers in den Bestand kommt, durch den Zwang untermauert, daß er ihn gehört haben muß. Ausgesprochene Umgebungs-Regel ist: Wer ertappt wird zu kategorisieren ohne zu hören, verliert sofort seine Betreuer-Berechtigung.

Regel 4:

Die Definition von Merkmalen oder Kategorien muß zwei Perspektiven genügen. Sie müssen hinreichend pragmatisch verständlich sein für die Klassifikation von Einzeltiteln, aber idealtypisch genug für die Filterfunktion der Ausgabe von ähnlichen

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Titeln. Daraus folgt, daß bei der Abfrage von titeln nach Merkmal-Kombination eine Logik der "Wild-Card"-Abfrage gegeben sein muß, deren Definitionsrahmen offen genug gehalten werden muß, um sinnvolle "Gruppen" von Titeln zusammenzustellen und eng genug begrenzt sein muß, um diese "Gruppen" nicht zu einer wahllosen Mischmenge werden zu lassen.

(Abb: RP24.PCX Unt: REPERTOIRE Format-Definitions-Fenster ("Uhr"))

Merkmale oder Kategorien können definitorisch nur auf Gruppenkonsens beruhen, der sowohl nach seiner pragmatischen wie idealtypischen Seite hin begrenzt werden muß.

Alle Merkmale, auch die Kategorien-Namen sind frei definierbar. Allerdings nicht im Programmbereich "Titel-Eingabe" und auch nicht im relationalen Tabellen-Modus, sondern nur und allein im Programm-Bereich "Optionen". Die Vergabe von Merkmalen soll ganz abgehängt werden von der Prozedur, die Merkmale zu definieren. Denn die Definition von Merkmalen muß ein gemeinsamer Prozeß sein, dem alle zustimmen, ist also Sache einer speziellen Konferenz.

Regel 5:

Deshalb müssen Merkmale, Regeln, Formate und Kategorien klarschriftlich, jederzeit sichtbar und kontextsicher veränderbar sein. Merkmale oder Kategorien sind Erinnerungs-Sätze für ein umschriebenes Gruppenwissen. Das hat funktioniert; die Kollegen Betreuer, sechs an der Zahl, können sich inzwischen außerhalb des Programms über die "Formatplätze" in ihren Sendungen verständigen.

2.12. Stabil - Instabil Regel 6:

Aus dem Funktionswechsel der Merkmale, die zugleich als Filter funktionieren, wird das Musikwissen über den Titelbestand zum einen pragmatisch unterfordert, zum anderen aber idealtypisch überfordert. Daraus folgt eine prinzipielle Instabilität des Systems. Das erzwingt eine hohe Anforderung an die Oberfläche des Systems, um diese Instabilitäten sichtbar zu machen. Jeder Systemzustand, an dem sich diese prinzipielle Instabilität zeigt und zeigen muß, kann in REPERTOIRE festgehalten und als solcher zum Gegenstand von Arbeitsaufträgen werden.

Regel 7:

Nicht das System macht die letztgültige Auswahl, sondern der sendungsmachende User. Dies ist eine klare Konsequenz der beschriebenen Instabilität, die sich dadurch abschwächen läßt, daß der Anwender - und hier sprechen von jedem musikkundigen Anwender, er muß kein Betreuer sein -, die Endauswahl seiner Sendungstitel selbst tätigt. Er wählt pro Formatplatz aus jeweils drei Titelvorschlägen einen aus.

(Abb: RP31.PCX

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Unt: REPEROIRE Musikauswahl aus Optionaler Titel-Liste)

Das System hat pro Formatplatz alle spielbaren Titel gelistet und die drei am längsten nicht gespielten an die Spitze gesetzt. Durch Eingabe und Formatplatzdefinition ist zu gewährleisten, daß die vorgeschlagenen drei Titel denselben "Wert" haben. Insofern kann es egal sein, ob bei einem Pop-Hit-Platz die Pet shop Boys, Jason Donavan oder Kylie Minoque ausgewählt werden.

Diese sogenannte "Optionale Titel-Auswahl" ist das Kernstück der interaktiven Konzeption von REPERTOIRE, weil es gleich mehrere kritische Seiteneffekte aufnimmt und verarbeitet:

a) die Akzeptanz: Die letzte, und nicht unwesentliche Arbeit des Sendungsmachers, sich einen aus drei Titelvorschlägen auszuwählen, macht Spaß und mildert die verhaßte Computer-Automatik.

b) die Wissensbasis: Der User trifft auf Titel, die vorgeschlagen sind, er aber nicht kennt. Das ist für ihn, nicht unbedingt für das System, ärgerlich. Die Wissensbasis in computergestützten Musik-Programmen wird dadurch nicht verschmälert, sondern zu selbsttätiger Erweiterung angeregt.

c) die Instabilitäts-Kontrolle: Anhand der vorgeschlagenen Titel und des ausgewählten Stücks können die Betreuer den Output-Stand ihrer Arbeit effektiv einschätzen. Werden Formatplätze unklar oder schwach, kann gezielt nach Abhilfe gesucht werden. Die täglich entstehenden Auswahl-Listen, also der Ort, wo Computer und Mensch 6 mal (oder öfter) aufeinandertreffen, bleibt in allen Phasen dokumentiert und bildet in der Tat die Grundlage für die wöchentliche Formatkonferenz, aus der eine Fülle konkreter Arbeitsaufgaben formuliert werden können.

Alle Musikplanungsprogramme sind instabile Steuerungs-Systeme. Sie dürfen es nicht kaschieren, sondern müssen es offenlegen für den interaktiven Prozeß. Denn entweder der Differenzierungsgrad der Eingaben ist so hoch, daß sinnvolle Differnzierungen von abgefragten Titeln zu keinem Ergebnis führen und das Musikprogramm, durch seine Wechselhaftigkeit, an verläßlichem Charakter verliert. Oder der Differenzierungsgrad der Eingaben ist so niedrig, daß jeder Differenzierung auf Seiten der Ausgabe vor der Gleichförmigkeit des Bestandes beliebig wird.

Instabile Systeme sind nicht eindeutig steuerbar, - aber sie sind hochkommunikativ, wie die menschliche Sprache.