Post on 14-Oct-2020
POLITISCHE PARTIZIPATION:DAS ZAUBERWORT DER SCHWEIZER
DEMOKRATIENHG, WINTERTHUR, 3.3.2020
Claude LongchampPolitikwissenschaftler/Historiker
longCHamps kompetenzenpolitik analysieren,geschichte(n) erzählen
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WAS IST DEMOKRATIE …?
▪ Geschichte:
Wenn man in der Schweiz ist …
▪ Politische Rechte:
Wenn das Volk ein Parlament wählt …
▪ Grundrechte:
Wenn eine Verfassung die Bürger- resp. Menschenrechte schützt …
▪ Ohne Zweifel: Ohne Wahlen keine Demokratie, ohne Rechtsstaat aber auch nicht.
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ZWEI GEGENSÄTZLICHE DEMOKRATIEMUSTER (1)
Wettbewerbs- oder Mehrheitsdemokratie
▪ Prinzip von Regierung und Opposition
▪ Mindestens zwei Parteien / KandidatInnen
▪ Majorzwahlrecht
▪ Mehrheit der Wählenden entscheidet
▪ funktioniert (nur) in kulturell homogenen Gesellschaften, da Mehrheitsprinzip zu Exklusionen führen kann
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ZWEI GEGENSÄTZLICHE DEMOKRATIEMUSTER (2)
Wettbewerbs- oder Mehrheitsdemokratie▪ Regierungsbildung berücksichtigt (kulturelle
Minderheiten)
▪ Regierung aus allen relevanten Parteien
▪ Proporzwahlrecht für Volksvertretung
▪ Minderheitenschutz
▪ Integration wichtiger Bevölkerungsgruppen
▪ Berücksichtigung wichtiger Wirtschaftsinteressen
▪ Funktioniert in kulturell und sozial gespaltenen Gesellschaften, hoher Grad an Inklusion als System
Kollegialregierung: Unser «Ensemble»
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MACHTKONZENTRATION VS. MACHTTEILUNG (1)
Machtkonzentration (undemokratische und demokratische Regimes)
▪ Sinnbildlich:
präsidentielle Demokratie mit hoher Machtkonzentration und Verantwortungszuschreibung
Abwahl, Amtszeitbeschränkung
meist Männerherrschaft
)
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MACHTKONZENTRATION VS. MACHTTEILUNG (2)
Machtteilung (4 Dimensionen der Politikwissenschaft)
▪ Regierungssystem: parlamentarische Demokratie (vs. Präsidentielle Demokratie)
▪ Proporz: Verhältnismässige Repräsentation statt Mehrheitsprinzip) (Gerichte, Regierung und Parlament)
▪ Partizipation: Volksrechte (erweitern parlamentarische Repräsentation)
▪ Staatsform: Dezentralisierung resp. Föderalismus (bricht Einheitsstaat)
Merkmale der CH-Demokratie
Politische Partizipation: Volksrechts, Einfluss Zivilgesellschaft, lokale/regionale Demokratie
Föderalistische Staatsform: Bundesstaat, Ständemehr, Zwei-Kammer-Parlament
Proporz-Kultur: Proporzwahlrecht, breit abgestützte Regierungsbeteiligung
Regierungssystem: Direktorialsystem
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SCHWEIZER DEMOKRATIE: FÖDERALISTISCH, PARTIZIPATIV UND PROPORTIONAL
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DIE ELEMENTARE DEMOKRATIEDEFINITION VON ROBERT DAHL: WETTBEWERB UND PARTIZIPATION (1971)
Demokratisierung oder die grosse Transformation
▪ Von einer geschlossenen Autokratie zur Demokratie
Politischer Wettbewerb: zwei Parteien, Regierungswechsel möglich
Bürgerpartizipation: Wahlrecht über besitzender Klassen hinaus als ausgebreitetes Bürgerrecht
Schweiz: gering entwickelter Wettbewerb, hoch entwickelte Beteiligung
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DIE ZEIT DES ÜBERGANGS ZUR DEMOKRATIE
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Zeit/Gruppe SG BE Baden GB Frankreich Italien/
Sardinien
Preussen
1831
% Bev. 22 16 16 2 1 0 0
%>20 36 27 27 4 1 0 0
%M>20 77 56 56 6 2 0 0
1848
% Bev. 28 (+6%p) 22 (+6%) 16 2 1 2 (+2) 0
%>20 47(+11) 36 (+9) 27 4 1 1 (+1) 0
%M>20 97 /+20) 78 (+22) 56 8 (+2) 2 8 (+8) 0
EIN WENIG DEMOKRATIE-ENTWICKLUNG
Weltweit
▪ USA 1828: präsidentielle Demokratie in Form einer unabhängigen Republik, erste «Volkswahl»
▪ Grossbritannien 1848: parlamentarische Demokratie mit Mehrheitswahlrecht
▪ Neuseeland: 1894 erstmals Wahldemokratie, Volksrechte und Erwachsenwahlrecht miteinander
Schweiz
▪ 1830: liberale Revolution im Kanton Tessin, später in allen Kantonen, ausser Landsgemeinde-Kantone
▪ 1848: Gründung des Bundesstaates mit Verfassungsreferendum, Volkswahl des Nationalrats, nicht aber des Stände- und Bundesrats, reines Männerwahlrecht
▪ 1874: Verfassungsrevision mit Gesetzesreferendum, 1891 auch Verfassungsinitiative
▪ 1921 Staatsvertragsreferendum
▪ 1949 Referendum für Notrecht
▪ Aber erst 1971 Frauenstimm- und Wahlrecht (und 1977Verdoppelung der Unterschriftenzahlen)
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DEMOKRATIEQUALITÄT: ZUM BEISPIEL «VARIETIES OF DEMOCRACY»
Weltweite Verteilung liberaler Demokratien
Top-Demokratien (2019)
1. Norwegen
2. Schweden
3. Dänemark
4. Estland
5. Schweiz
6. Costa Rica
▪ Ferner:
13. Grossbritannien
27. USA
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NEUE DEMOKRATIEDEFINITION: PRINZIPIEN STATT INSTITUTION
Demokratie vs. Autokratie
▪ Generelle Unterscheidung zwischen Demokratie und Autokratie
Demokratie: auf dem spezifischen Volkswillen basierend, der sich bei Wahlen äussert
Autokratie: auf einer allgemeinen, unspezifischen öffentlichen Meinung basierend, die von Herrschenden interpretiert wird
Wahldemokratie vs. Liberale Demokratie
▪ Wahldemokratie
Faire und freie Wahlen; Demokratisierung des Staates bleibt aber zurück
▪ Liberale Demokratie
Wahldemokratie, die in eine Reihe grundlegender Prinzipien der Demokratie eingebettet ist
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SCHWEIZER DEMOKRATIE GEMÄSS V-DEM
5 Dimensionen
▪ Schweiz weltweit: 5. Platz (84/100)
▪ Partizipation: 1. Platz (87/100)
▪ Deliberation: 2. Platz (98/100)
▪ Freiheit: 3. Platz (97/100)
▪ Gleichheit: 4. Platz (94/100)
▪ Wahlen: 7. Platz (88/100)
Partizipation ist deutlich mehr als wählen
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LEISTUNGEN & DEFIZITE (BUNDESPOLITIK)
Inklusion
▪ Ursprünglich:
liberales, vorwiegend reformiertes Bürgertum
(«Freisinn») bildete den Bundesstaat
▪ Entwicklungen:
Burgfrieden mit Katholisch-Konservativen (1891)
Bauernpartei (BB, später BGB) im Bundesrat (1929,
Wähleranteil 15.8%)
Arbeiterpartei (SP) im Bundesrat (1943/25.8%), ab
1959/27.0% konstant)
Frauen (1971)
Defizite
▪ AuslandschweizerInnen(seit 1993 Stimm- und Wahlrecht, aber mit vielen Hürden in der Praxis)
▪ AusländerInnen(kein Stimmrecht, in vielen Städten aber Partizipationsmöglichkeiten)
▪ Jugendliche(1991: 18-Jährige, bisher nicht 16-Jährige)
▪ Grüne?13.6% bei den Nationalratswahlen 2019, Fraktion mit 35 Mitgliedern
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AUF DEM WEG ZUR GERONTOKRATIE
Trend zu Gerontokratie Generationenkonflikt
▪ Vorteile für die «Alten»
Rentensicherheit/Gesundheitsversorgung
Wohnungsmarkt
Verschuldung
▪ Vorteile für die «Jungen»
Schulbildung
Digitalisierung
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THESEN▪ Demokratie basiert elementar auf dem Parteienwettbewerb und der Bürgerpartizipation: «competition by the elites,
decisions by the people».
▪ Die Schweizer Demokratie wird durch die verbreitete Konsenssuche geprägt, was den Wettbewerb einschränkt.
▪ Die Konsensbildung war nie vollständig, vor allem nicht wegen den Volksabstimmungen, heute auch kaum mehr im Parlament.
▪ Die Schweizer Demokratie lebt dennoch mehr von der Bürgerpartizipation als dem Wettbewerb
▪ Zu den grossen Leistungen des Bundesstaates gehört die Inklusion ganzer Bevölkerungsgruppen in die staatliche Willensbildung. Das gelang bis in die 1980er Jahre, ist seither erschwert
▪ Die Perfektionierung der politischen Inklusion harzt aber. Vorerst was das bei den Frauen der Fall, jetzt bei Ausländern und Jugendlichen. Offen ist die Regierungsbeteiligung der Grünen.
▪ Weltweit geachtete Stärken der Schweizer Demokratie sind die ausgebauten Volksrechte, die lokale resp. regionale Demokratie und der grosse Einfluss der Zivilgesellschaft.
▪ Die beiden letzteren Merkmale sind typisch für westliche Gesellschaften, beim ersten ist die Schweiz führend, wenn auch nicht mehr ganz alleine (Uruguay, Taiwan)
▪ Die Neugestaltung der politischen Partizipationsmöglichkeiten ist vor allem mit Blick auf die Gerontokratisierungresp. die Öffnung zu kommenden Generationen wichtig. 16
DIGITAL PARTIZIPATION GEMÄSS EASYVOTE
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▪Die (digitalen) AktivistInnen machen die zweitgrösste Gruppe aus (22%). Dazu gehören Jugendliche, die zwar ab und zu wählen und abstimmen, aber mehrheitlich über das Internet partizipieren: Sie unterzeichnen Petitionen lieber online als auf der Strasse, nehmen im Vergleich zu anderen Gruppen eher an Aktionen auf Social Media teil, treten dort politischen Gruppen bei und diskutieren mit ihrem Umfeld vielfach über WhatsApp, Facebook, Twitter und Co.
▪Über alle Partizipationstypen hinweg gesehen, lässt sich also eine potentielle Verschiebung der politischen Partizipation in die digitale Welt beobachten.
EIN AKTUELLES DEMOKRATIE-BUCH
Yascha Mounk, Harvard University Demokratie und Liberalismus
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PARTIZIPATIONSINDEX DETAILLIERT
Bewertung nach Bestandteilen Wo wir führend sind
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Merkmal Ranking
▪ Volksrechte: 1. Platz (68/100)
▪ Lokale Behörden: 5. Platz (99/100)
▪ Regionale Behörden: 6. Platz (99/100)
▪ Zivilgesellschaftliche Beteiligung: 6. Platz (96/100)
WELTKARTEN: DEMOKRATIE-KULTUREN (1)
Lokale Demokratie
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WELTKARTEN: DEMOKRATIE-KULTUREN (2)
Zivilgesellschaftlicher Einfluss Offen für viele
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WELTKARTEN: DEMOKRATIE-KULTUREN (3)
Demokratieindex Economist: CH Nr. 10 Wahlbeteiligung weltweit
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