6. November 2018 Semperoper 2.KAMMERABEND · 2018. 11. 2. · Afanassjews Soldatengeschichten...

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6. November 2018 Semperoper 2.KAMMERABEND

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6. November 2018Semperoper

2 . K A M M E R A B E N D

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PROGRAMM

Igor Strawinsky (1882-1971)

»Die Geschichte vom Soldaten«für Sprecher und Ensemble

Anlässlich des 100. Jahrestages der Uraufführung 1918

K E I N E PA U S E

Gäste

Christina Bock SprecherinManfred Weiß Szenische Einrichtung

Ausführende

Federico Kasik ViolineHelmut Fuchs KornettRobert Oberaigner KlarinetteNicolas Naudot PosaunePhilipp Zeller FagottMartin Knauer KontrabassManuel Westermann Schlagwerk

DIENSTAG 6.11.18 20 UHR | SEMPEROPER DRESDEN

2. KAMMERABEND

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 Die Uraufführung von Igor Strawinskys »Geschichte vom Soldaten« erfolgt am 28. September 1918, einen Tag bevor Erich Ludendorff im Namen der Obersten Heeresleitung die deutsche Reichsregierung auffordert, Ver-handlungen über einen Waffenstillstand zu führen. Noch herrscht mas-

senhaftes Sterben, kaum einer, der im Ersten Weltkrieg keine Verluste beklagen muss. Strawinsky, in Russland geboren, hat seinen Lieblingsbruder im Krieg verlo-ren. Vom Militärdienst wegen körperlicher Untauglichkeit befreit, lebt er zwar in der neutralen Schweiz, ist aber seit der Oktoberrevolution 1917 von allen finanziellen Mitteln aus seiner Heimat abgeschnitten. Gemeinsam mit dem Schweizer Diri-genten Ernest Ansermet, der das Werk im Théâtre Municipal de Lausanne urauffüh-ren wird, und dem Schweizer Übersetzer und Dichter Charles Ramuz entwickelt er die Idee eines reduzierten Theaters, dessen Spiel zwischen Chur und Wallenstadt in Nähe des Rheintals einsetzt. Das Stück taucht ein in die Welt der Schaubudenbüh-nen. Wirtschaftliche Not zwingt die Schöpfer zu neuen Lösungen: »Warum nicht gemeinsam ein Stück schreiben, das keinen großen Saal braucht, ein Stück, dessen Musik nur wenige Instrumente erfordern würde und das nur zwei oder drei Per-sonen hätte? Wir würden die alte Tradition der Gauklerbühnen, der Wander- und Jahrmarktstheater wieder aufnehmen«, schildert Ramuz in seinen »Souvenirs sur Igor Strawinsky«. Fernab von Richard Wagners Einfühlungsästhetik entsteht ein »Gesamtkunstwerk en miniature« mit knapper Schilderung der Ereignisse. Für Strawinsky ist das Werk »zu lesen, zu spielen, zu tanzen«. Den Stoff bezieht er aus Alexander N. Afanassjews altrussischen Märchen- und Moritatensammlungen, vor allem dürfte »Der fahnenflüchtige Soldat und der Teufel« als Vorlage gedient haben. Afanassjews Soldatengeschichten spielen auf die rigiden Rekrutierungspraktiken in Russland unter Zar Nikolaus I. an, wo junge Männer, schon nach Geburt chancenlos in einer undurchlässigen Gesellschaft, zu verlorenen Seelen innerhalb der zaristi-schen Armee werden. Das Anfangsstück beschreibt die Ausgangssituation: Auf dem Weg zu Braut und Mutter befindet sich ein Soldat auf Heimaturlaub. Kunstvoll ver-fremdet Strawinsky den »Marsch des Soldaten«, zu dem man nicht mehr marschie-ren kann. Bereits hier erscheint die Welt aus dem Takt. Der Soldat begegnet dem Teufel in verkleideter Gestalt. Not macht verführbar. Zermürbt vom Kriegsdienst, ohne Geld und Perspektive, liefert er sich ihm aus und tauscht seine geliebte Geige gegen ein magisches Buch ein, das in die Zukunft sehen kann und seinem Besitzer zu unermesslichem Reichtum verhilft. Symbolhaft steht die Geige für den Soldaten, für das, was als einziges er noch besitzt: seine Seele. Doch auch diese ist ihm nun genommen für ein Versprechen, dessen Konsequenzen er früh genug zu spüren bekommt. Der Philosoph Ernst Bloch nennt den Soldaten einen »verlumpten Faust«, doch begibt sich Faust im Gegensatz zu Strawinskys Soldaten mit vollem Wissen in die Fänge des Teufels. Einmal über seine Grenzen hinausgeführt, kennt man den Soldaten in seinem Zuhause nicht mehr. Durch den Tausch ist die Zeit aufgehoben, die Jahre sind zerronnen, ohne dass er ihren Ablauf bemerkt hat. Er ist fahnenflüch-

ZUM PROGRAMM

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tig geworden und damit gegenüber dem Teufel erpressbar. Trotz seines neu erwor-benen Vermögens fühlt er sich leer, nichts berührt ihn. Der Soldat denkt zurück, er zerreißt das Buch, doch bleibt ihm seine Heimat verwehrt. Ziellos streift er umher und gerät in die nächste Intrige des Teufels. Die zweite Szene zeigt den Soldaten am Hof des Königs. Die Prinzessin, seine Tochter, ist hoffnungslos erkrankt, traurig hütet sie das Bett. Im »Königsmarsch« tritt der Teufel im Palast als Geigenvirtuose auf. In einem frischen, bühnenreifen Stil komponiert Strawinsky eine Parodie mit häufigen Taktwechseln. Er intoniert einen spanischen Paso doble, der sich als Paartanz zu Marschmusik bewegt. Der Tanz interpretiert einen Stierkampf, bei dem der Herr in die Rolle eines Toreros schlüpft und die Dame entweder das rote Tuch oder den Schatten des Toreros darstellt. Mit beißender Ironie setzt Strawinsky an dieser Stelle ein Zeichen, wer hier um wen tanzt und als Schatten des anderen fun-giert. Formal gesehen ist der »Königsmarsch« ein Rondo mit zentralem Collagemo-tiv. Strawinskys Neigung zur Polyphonie rückt die Harmonik in den Hintergrund, jedes Instrument hat seine Stimme. Der Soldat weiß, dass er die kranke Prinzessin nur durch Musik heilen kann, will er sie zur Frau gewinnen. Er macht den Teufel betrunken, um an dessen Geige zu kommen. Mit dem »Kleinen Konzert« erinnert sich die Musik ihrer Setzungen aus der Zeit des barocken Konzerts. Kurz vor Mitte des Stücks exponiert Strawinsky im Kornett ein kleines Motiv. Es gilt als eines der wenigen, die Strawinsky angeblich im Traum erschienen sind (Ziffer 13). Die Musik schlägt dem Teufel ein Schnippchen, sie kündigt das Kommende an. Ohnehin ist ihr Anteil im zweiten Teil der »Geschichte vom Soldaten« höher als im ersten. Die Macht der Musik als Mittel zur Genesung der Prinzessin öffnet dem Komponisten Raum für eine entsprechende Umsetzung. Die folgenden Miniaturen bringen die Prinzes-sin in Bewegung, der Tango geht über in eine English-Waltz, die von einem Ragtime abgelöst wird. Die Abfolge der Modetänze komponiert Strawinsky als einen Steige-rungsprozess. Zunächst agiert die Violine im Tango allein, sie verkörpert den Solda-ten. Ihr Spiel wird vom Schlagwerk begleitet, im Stück dem Teufel zugeschrieben. Später tritt die Klarinette hinzu. Während des Walzers beginnt die Prinzessin zu tanzen, bevor Strawinsky im Ragtime die Perspektive ändert und sich die Lebens-kräfte der Prinzessin mit der Gegenwart des Soldaten in der Violine mischen. Hier im Ragtime musizieren schließlich alle sieben Instrumente. Der Vorläufer des Jazz stammt aus den USA und leitet sich aus ragged time ab, »zerrissene Zeit«. Im Stück finden zwei Menschen zueinander, die unterschiedliche Prägungen erfahren haben. Beide sind Zerrissene ihrer Zeit. Ihre Wahrnehmungen werden vom Hunger nach Leben bestimmt, erneut durchkreuzt vom Teufel, nunmehr in seiner leibhaftigen Gestalt mit Hörnern und Schweif. Das Violinspiel des Soldaten zwingt den Teufel zum Tanz, nachdem dieser vergeblich versucht hat, dem Soldaten die Geige zu ent-reißen. Im »Tanz des Teufels« kehrt Strawinsky wieder in die russische Hemisphäre zurück und entwickelt eine gestische Nähe zu seiner 1913 uraufgeführten Ballett-musik »Le sacre du printemps«. Der Komponist entfaltet eine märchenhafte Grotes-ke vor dem Hintergrund einer tiefwurzelnden russischen Volksfrömmigkeit. Schließlich ist der Teufel zu Boden getanzt, Soldat und Prinzessin liegen sich in den Armen. Im »Kleinen Choral« klingt Luthers Kirchenlied »Ein feste Burg ist unser

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Gott« an, dessen Zeilen »und wenn die Welt voll Teufel wär / und wollt uns gar ver-schlingen, / so fürchten wir uns nicht so sehr, / es soll uns doch gelingen« den Glau-ben an ihre Liebe eindringlich grundieren. Doch holt die Pranke des Teufels zum letzten Schlag aus. Das Stück steuert im »Großen Choral« auf seine Conclusio zu: »Man soll zu dem, was man besitzt, begehren nicht, was früher war. Man kann zugleich nicht der sein, der man ist und der man war. Man kann nicht alles haben. Was war, kehrt nicht zurück«, belehrt der Erzählende – eine Moral des Ausblen-dens und dezidierten Stillhaltens. Doch verharrt Liebe nicht im Regungslosen, sie wächst über sich hinaus: Die Prinzessin drängt den Soldaten, von seinem früheren Leben zu erzählen und seine Heimat aufzusuchen. Die Erfüllung ihres Wunsches treibt ihn in sein endgültiges Verderben. Im »Triumphmarsch des Teufels« spielt der Teufel letztmalig auf der Violine, Strawinsky spricht sinnbildhaft von einem »Kratzen der Geige«. Einzelne Triumphklänge im Kornett begleiten den Abmarsch in die Hölle. Die Lehre der Geschichte trägt Züge einer Untertanenmoral, die je-dem Einzelnen seinen Platz zuweist, ohne die Möglichkeiten auf Chancen oder grundlegende Entwicklungen auch nur in Betracht zu ziehen. Die Musik weiß es besser. Strawinskys elaborierte Rhythmik illustriert einen permanenten Sturz nach vorn. Sie ist der Fall eines Ausgestoßenen. Moralische Beschleunigungen statt kleinbürgerlicher Friedhofsruhe. Gegen Ende wechselt das Werk von einer Moritat zu einem Totentanz. Die Geige wird zur Fiedel. Nicht zufällig gilt der Teu-fel mit Fiedel als beliebte Totentanzdarstellung, bei der die Beobachter sich darin gefallen, den Vorgang »Geschichte« zu nennen. Es liegt nahe, die Abenteuer des Soldaten als Gleichnis auf die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts zu sehen. In Zeiten des großen Schlachtens mündet Strawinskys Werk in eine neu aufflammende, raffiniert neoklassisch komponierte Ars moriendi, wenn es eine Kunst des Sterbens in der Moderne überhaupt noch geben kann.

Christina BockDie deutsche Mezzosopranistin Christina Bock ist seit der Spielzeit 2014 / 2015 Ensemblemitglied der Semperoper Dresden und war hier in zahlreichen Rollen zu hören. Neben dem Musiktheater steht ihre Liebe für das kammermusikalische Schaffen im Fokus der jungen Künstlerin. Seit 2013 arbeitet sie regelmäßig mit dem Raschèr Saxophon Quartet zusammen und gründete im vergangenen Jahr das ensemble épique für Harfe, Stimme und Violoncello. Im August 2018 feierte sie als Page der Herodias in Strauss’ »Salome« ihr Debüt bei den Salzburger Festspielen.

Manfred WeißNach seinem Studium der Theater- und Kommunikationswissenschaften in Mün-chen arbeitete Manfred Weiß freischaffend als Regisseur, Autor und Schauspieler und legte Inszenierungen in Schauspiel und Oper vor. 2002-2006 war er Künstle-rischer Leiter und Geschäftsführer der Jungen Oper der Staatsoper Stuttgart und übernahm Lehraufträge u. a. am Mozarteum Salzburg, der Schola Cantorum Basilensis und der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. Seit 2010 ist er Künstlerischer Leiter der Jungen Szene Semperoper Dresden.

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VORSCHAU

Kammermusik der Sächsischen Staatskapelle Dresden Gegründet 1854 als Tonkünstler- Verein zu Dresden

Verantwortlich: Friedwart Christian Dittmann, Ulrike Scobel und Christoph Bechstein

IMPRESSUM

Sächsische Staatskapelle DresdenChefdirigent Christian Thielemann

Spielzeit 2018 | 2019

HER AUSGEBER

Die Sächsische Staatskapelle Dresden ist ein Ensemble imStaatsbetrieb Sächsische Staatstheater – Staatsoper DresdenTheaterplatz 2, 01067 Dresden

© November 2018

GESCHÄF TSFÜHRUNG

Peter Theiler Intendant der StaatsoperWolfgang Rothe Kaufmännischer Geschäftsführer

REDAK TION

André Podschun

TE X T

Der Einführungstext von André Podschun ist ein Originalbeitrag für dieses Heft

GESTALTUNG UND SATZ

schech.net Strategie. Kommunikation. Design.

DRUCK

Union Druckerei Dresden GmbH

Private Bild- und Tonaufnahmen sind aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet.

W W W.STA ATSK APELLE-DRESDEN.DE

3. SymphoniekonzertSA MSTAG 10.11.18 11 UHR

SONNTAG 11.11.18 20 UHR

MONTAG 12.11.18 20 UHR

SEMPEROPER DRESDEN

Herbert Blomstedt DirigentLeif Ove Andsnes Klavier

Johannes BrahmsKlavierkonzert Nr. 1 d-Moll op. 15Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 68

Sonderkonzert mit dem Capell-Compositeur Peter EötvösDIENSTAG 27.11.18 20 UHR

KULTURPAL AST DRESDEN

Peter Eötvös DirigentAkiko Suwanai Violine

Peter Eötvös»The Gliding of the Eagle in the Skies« für Orchester»Seven« (Memorial for the Columbia Astronauts)für Violine und Orchester

Béla BartókMusik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta Sz. 106