Alternative Juni

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Herausgegeben von Juni 2012 Einzelheft: 1,50 Euro, Abonnement: 15 Euro P.b.b., Verlagspostamt 1040 02Z031242 M, Kd.-Nr: 0021012558 Unabhängige GewerkschafterInnen im ÖGB 6 UNGARN: GULASCHFASCHISMUS? • „EURE SCHULDEN – UNSERE DEMOKRATIE“ • NULL- LOHNRUNDE IM ÖFFENTLICHEN DIENST OCCUPY PATRIARCHY

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Monatszeitschrift der Unabghängigen GewerkschafterInnen

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Page 1: Alternative Juni

Herausgegeben von

Juni 2012

Einzelheft: 1,50 Euro, Abonnement: 15 Euro

P.b.b., Verlagspostamt 1040

02Z031242 M, Kd.-Nr: 0021012558

UnabhängigeGewerkschafterInnenim ÖGB

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UNGARN: GULASCHFASCHISMUS? • „EURESCHULDEN – UNSERE DEMOKRATIE“ • NULL-LOHNRUNDE IM ÖFFENTLICHEN DIENST

OCCUPYPATRIARCHY

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Vorankündigung:15 Jahre! UG-Fest

-Bundeskonferenz29. September 2012, 10.30-17 Uhr, Wien.

Vorläufige Tagesordnung:

1. EU-Fiskalpakt, Sparpakete, Nulllohnrunden und(gewerkschafts)politische Perspektiven

2. Statutarische Generalversammlung mit:• Berichten aus den Gremien und Entlastung

des Bundesvorstandes• Diskussion+Beschluss: Statutenänderungen,

Geschäftsordnung, Leitbild• Wahl des AUGE/UG-Bundesvorstandes,

Bundeskontrolle, Delegierte für UG-Gremien• Anträge (Einreichung bis spätestens

14. September bei [email protected])• Arbeiterkammer-Wahlen 2014

Eine detaillierte Tagesordnung ergeht zeitgerecht andie Delegierten. Die Bundeskonferenz setzt sich ausDelegierten der Landes- und Teilorganisationen zusam-men. Interessierte und KandidatInnen für zu wählendeGremien melden sich bitte bis spätestens 1. Juli 2012bei ihrer AUGE/UG-Landesorganisation oder unter derE-Mail-Adresse [email protected]

Weiterführende Informationen: www.auge.or.at

Unabhängige GewerkschafterInnen in Tirol gegründet

NUN, eigentlich waren die Voraussetzungen für dieAnerkennung der Unabhängigen GewerkschafterIn-nen im Tiroler ÖGB schon länger gegeben: Eine ausrei-chende Anzahl an Betriebsrats- und/oder Personalver-tretungsmandaten in mindestens zwei Gewerkschaf-ten. Allerdings, wie es so schön heißt, „gut Dingbraucht Weile“.

Dafür war es dann am 10. Mai auch so weit: Die Unabhängigen Gewerkschaf-terInnen in Tirol – in gewohnter bunter, alternativer, fortschrittlicher Vielfalt –haben sich konstituiert. Inzwischen gibt es in vier Gewerkschaften (GPA-djp,PRO-GE, GÖD, GdG-KMSfB) BetriebsrätInnen und PersonalvertreterInnen derAUGE/UG, der UGöD und seit kurzem auch der KIV/UG.

Hinsichtlich der betrieblichen Verankerung sind die Anerken-nungskriterien ebenfalls zur Genüge erfüllt. Eine funktionieren-de Bundesorganisation gibt es längst. Damit wird nun der An-trag auf Anerkennung der „Unabhängigen GewerkschafterIn-nen“ als dritte Kraft neben FSG und FCG im ÖGB-Tirol gestelltwerden, eine reine Formsache.

Mit der Anerkennung steht den Unabhängigen ein Sitz im ÖGB-Lan-desvorstand zu. Diesen wird Barbara Gessmann-Wetzinger, TLI-UG(Personalvertreterin bei den Tiroler PflichtschullehrerInnen) einneh-men, als Ersatzmandatar stellt sich Heinz Atzl, Personalvertreterder KIV/UG im Amt für Jugendwohlfahrt und Soziales, zur Verfü-gung. Den Sitz in der ÖGB-Kontrolle wird bis auf weiteres HelmutDeutinger, AUGE/UG-Betriebsrat in der Lebenshilfe Tirol und AK-Fraktionschef, wahrnehmen.

Mit der Fraktionsanerkennung in Tirol sind die Unabhängi-gen GewerkschafterInnen damit in ganz Österreich (Ausnah-me Burgenland) auf ÖGB-Landesebene anerkannt, ein weite-rer Schritt zur Festigung der Position der UG in der österrei-chischen Gewerkschaftslandschaft. Gedankt sei jedenfallsnochmals Helmut und Barbara für ihre Initiative zur TirolerUG-Konstituierung. Und allen KollegInnen in Tirol weiter vielKraft, Erfolg und ein solidarisches „Glück auf“!

Das Versandteamder Alternative.Herzlichen Dank!

Schließlich wäre es sinnlos, eine

Zeitung zu machen, wenn sie

nicht unter die Leut kommt …

Freitag, 28. September 2012In Wien 15, Schutzhaus Zukunft, Verl. Gunt-herstraße, (Linien 9, 48A), Einlass: 18 Uhr

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Gewerkschaft & Betrieb

Nulllohnrunde im Öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . Seite 4Bank Austria: Tolles Wahlergebnis . . . . . . . . . . . . Seite 7

Magazin

Konferenz „Eure Schulden – unsere Demokratie“ . . . . Seite 8Volksbegehren „Steuergerechtigkeit Jetzt!“ . . . . . . . Seite 9Stolperstein Mindestsicherung . . . . . . . . . . . . . . Seite 10

Panorama

Frauen: Occupy Patriarchy . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 14Büchereien-Wien: Externe Heimsuchung . . . . . . . . . Seite 16AUGE/UG zum Europatag . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 18

International

Ungarn: Gulaschfaschismus? . . . . . . . . . . . . . . . Seite 20

. . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 12

IM JUNI

IN GEWAHRSAM

Heimische Medien berichten üblicherweisespärlich über internationale Proteste gegenKapitalismus, Finanzmarkt-Haie oder dieMacht der Banken. Für drei Tage waren kürz-lich in Frankfurt große Aktionen geplant. Siewurden zunächst alle polizeilich untersagt,dann genehmigte man eine Großdemo amletzten Tag. Unter der Bedingung, dass vor-her nichts stattfindet. Die Folge: 1400 Men-schen wurden von der Polizei „in Gewahr-sam“ genommen. Das ist in unseren Breitenrekordverdächtig und wirft einmal mehr dieFrage nach der Demokratie in Zeiten der in-ternationalen Finanzkrise auf.

Zum Beispiel Griechenland. Das Volk hatganz einfach falsch gewählt. Was ist, wennes das bei der Wahlwiederholung wieder tut?Die EU droht: Keine Hilfe mehr, wenn dasSpardiktat nicht eingehalten wird. Den ar-beitslosen griechischen Jugendlichen kann’swurscht sein. Sie haben von den Hilfsmilliar-den ohnedies nie einen Euro gesehen.

Zum Thema passen Beiträge in diesemHeft. Etwa ein Bericht über eine ÖGB-Konfe-renz mit dem Titel „Eure Schulden – unsereDemokratie“. Oder: Occupy Patriarchy – dieZeltstadt der Frauen auf der Wiener Ring-straße. Trotz Wind und Wetter.

Irgendwie passt auch die Frage: Mindest-sicherung – ein „Meilenstein in der Armuts-bekämpfung“ oder doch nur ein Stolpersteinin den sozialen Abstieg?

Bei uns ist die Welt ja noch irgendwie inOrdnung. Der Widerstand gegen den Fiskal-pakt, die Schuldenbremse und die Leistungs-einschränkungen in den Kommunen haltensich in Grenzen. Wenn aber der ÖGB einmalnicht mehr mitspielt? Keine Angst, das pas-siert sicher nicht.

EDITORIAL von Alfred Bastecky

IMPRESSUM Medieninhaber, Verleger: Alternative und Grüne GewerkschafterInnen(AUGE/UG) Herausgeber: Unabhängige GewerkschafterInnen im ÖGB (UG/ÖGB)Redaktion, Satz & Layout: Alfred Bastecky (Koordination), Lisa Langbein, Franz Wohl-könig (Layout) Alle: 1040 Wien, Belvederegasse 10/1, Telefon: (01) 505 19 52-0, Fax: -22,E-Mail: [email protected] (Abonnement), [email protected] (Redaktion), internet:www.ug-oegb.at, Bankverbindung: BAWAG Kto. Nr. 00110228775 Dass namentlich gezeichnete Beiträge nicht unbedingt der Meinung der Redaktion oderdes Herausgebers entsprechen müssen, versteht sich von selbst. Titel und Zwischentitelfallen in die Verantwortung der Redaktion, Cartoons in die Freiheit der Kunst. Textnach-druck mit Quellenangabe gestattet, das Copyright der Much-Cartoons liegt beim Künstler.DVR 05 57 021. ISSN 1023-2702.

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Warnung: Nulllohnrunden im öffentlichen Dienst können auch ihr Einkommen gefährden.

Von Markus Koza.

ÄRMELSCHONER?as „Stabilitätspaket“ 2012 bis 2016(wie das Sparpaket im Zeichen von Fis-kalpakt und Schuldenbremse so euphe-mistisch benamst wird) ist von der Re-gierung verabschiedet und vom Parla-ment beschlossen worden. Zugestimmthaben unter anderem auch die großko-alitionären Gewerkschaftsabgeordne-ten in rot und schwarz. Das war zu er-warten, hat sich doch der Österreichi-sche Gewerkschaftsbund das Konsoli-dierungspaket (das natürlich schlimmerhätte ausfallen können, weil schlimmergehts immer) schöner geredet, als esist. Schließlich seien •ArbeitnehmerInnen von den Konso-

lidierungsmaßnahmen nur wenigbetroffen und

•höhere Massensteuern, Privatisie-rungen und massiver Sozialabbauverhindert worden. Nun, ob dem tatsächlich so ist, wer-

den erst die•Reform der Fördersysteme, •veranschlagten, aber nicht näher

konkretisierten Einsparungen aufLänder- und Gemeindeebene (beiden Ermessensausgaben sowie imGesundheitssystem) zeigen. Andererseits, was soll der ÖGB als

Gesamtorganisation auch viel anderessagen, wenn die Gewerkschaft jenerArbeitnehmerInnengruppe, die sehr

wohl massive Einschnitte hinnehmenmuss, diese so einmal akzeptiert, unab-hängig davon, was diese auch für an-dere Beschäftigtengruppen bedeutenwürden – wir sprechen von der Null-lohnrunde im öffentlichen Dienst.

ÖFFENTLICHE DIENSTE –ALLES BEAMTE, ODER WAS?Einsparungen von 1,1 Milliarden Euro

soll die Nulllohnrunde 2013 sowie die„moderaten“ Lohnrunden 2014 fürBundesbedienstete und Landeslehrer-Innen (in Summe rund 210.000 Betrof-fene) dem Bundesbudget bringen. Die„Gewerkschaft Öffentlicher Dienst“(GÖD) mit ihrem Vorsitzenden, demstellvertretenden Nationalratspräsiden-ten und ÖVP-Abgeordneten Neugebau-er, hat diese Lohnkürzungsmaßnahmen(schließlich handelt es sich um deutli-che Reallohnverluste) geschluckt undargumentierte dieses Faktum mit derAbwehr noch schlimmerer Maßnah-men. Da sei das gerade noch akzepta-bel gewesen. Die Bundesregierungspricht dabei gerne von einem „Solidar-beitrag“ der Beamten mit ihren siche-ren Arbeitsplätzen und Einkommen.Medial wird diese Nulllohnrunde über-haupt gerne als Beitrag „der Beamten“zur Budgetkonsolidierung bezeichnet.Dass diese Maßnahme in breiten Be-völkerungsschichten nicht unpopulärist, liegt wohl am nicht gerade beson-ders guten Image der Beamten, wofürnicht zuletzt die GÖD mit ihrem Auftre-ten als „Standesvertretung“ verant-wortlich ist. Gar nicht klammheimlichist die Freude der Durchschnittsöster-reicherIn, dass es den „privilegierten“Beamten nun endlich auch einmal „anden Kragen“ geht, den „Betonierern“und sturen Verteidigern längst über-

holter, „wohlerworbener Rechte“und Zulagen, von denen diedurchschnittliche Privatange-stellte nur träumen kann.

Nun, tatsächlich hat das inder veröffentlichten Meinungtransportierte Bild des Ärmel-schoner tragenden, kleinkarier-ten und pitzligen Beamten, dersich „bürgerfern“ hinter Vorschriftenund Gesetzen verschanzt, nur wenigmit der Realität der öffentlichen Diens-te zu tun. Die öffentlichen Dienste desBundes, der Länder, der Gemeindensind nicht weniger vielfältig als „diePrivatwirtschaft“.

Der öffentliche Dienst reicht vonBund, Ländern und Gemeinden bis hinzu ausgegliederten Betrieben, Kranken-anstalten etc. Er umfasst Beamte eben-so wie Vertragsbedienstete, normalePrivatangestellte, ArbeiterInnen, freieDienstnehmerInnen und Werkvertrags-nehmerInnen. Öffentlich Bedienstetesind genauso voll- wie teilzeitbeschäf-tigt, haben befristete Arbeitsverträge,arbeiten „atypisch“. Will mensch sichden öffentlichen Diensten, den Berufs-gruppen in den öffentlichen Dienstensowie den Einkommensstrukturen bzw.-verhältnissen nähern, empfiehlt sichein Blick in den Einkommensberichtdes Rechnungshofs aus dem Jahr 2010(Daten 2009). Nicht zuletzt, um dasbestehende, bzw. verbreitete Bild überdie öffentlichen Dienste einem Reali-tätscheck zu unterziehen.

RIESIGES „BEAMTENHEER“?Wie schaut es nun mit den „Berufs-

gruppen“ im öffentlichen Dienst aus?Wie groß ist das „Beamtenheer“ tat-sächlich? Was umfassen die öffentli-chen Dienste nun alles?

Markus Kozaist UG-Vorsitzender,im ÖGB-Vorstandund Mitarbeiter derAUGE/UG in Wien.

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•Von den 3,990 Millionen unselb-ständig Beschäftigten im Jahr 2009waren 225.650 Beamte, 318.668Vertragsbedienstete. Der „Beamten-anteil“ an allen unselbständig Be-schäftigten betrug 2009 also5,7 Prozent, Tendenz fallend.

•Während die Zahl der Beamten seit2004 von 249.000 auf 225.650Personen zurückging, stieg jene derVertragsbediensteten von knapp239.500 auf 318.668 Personen. Seit1998 ist die Zahl der Beamten vonfast 353.000 um 36 Prozent zurück-gegangen. Ursachen für diesen mas-siven Rückgang sind unter anderemAusgliederungen, Aufnahme- undPragmatisierungsstopps, Umstruktu-rierungen (etwa bei den Bundesbah-nen). Die Vertragsbediensteten imöffentlichen Dienst sind erst seit

2004 gesondert als eigene Gruppeausgewiesen, nicht zuletzt aufgrundihrer zunehmenden Bedeutung imöffentlichen Dienst.

•Mit Vertragsbediensteten und Be-amten sind allerdings noch langenicht alle Beschäftigten der öffentli-chen Dienste erfasst: Im Rechnungs-hofbericht finden sich unter ande-rem die Branchen „Erziehung undUnterricht (P)“ sowie „Gesundheits-und Sozialwesen (Q)“ mit 94.411bzw. 247.938 Beschäftigten, die so-wohl private wie auch öffentlicheDienstleister umfassen. Mit jederMenge Beschäftigungsverhältnissenmit privatrechtlichen Arbeitsverträ-gen, auch bei öffentlichen Dienst-leistern. Diese beiden Branchen wer-den getrennt vom Bereich „Öffentli-che Verwaltung, Verteidigung, Sozi-alversicherung (O)“ mit in Summe570.564 Beschäftigten geführt.

Hinzu kommen noch die Branchen„Energieversorgung“, „Verkehr undLagerei“ die ebenfalls öffentlicherbrachte Dienstleistungen undentsprechend öffentliche Bedien-stete beinhalten.

ALLES EINKOMMENSSPITZE?Hinsichtlich der Einkommenssituati-

on stellt sich die Lage wie folgt dar:•Das Medianeinkommen (mittleres

Einkommen, 50 Prozent verdienenmehr, 50 Prozent verdienen weni-ger) aller unselbständig Beschäftig-ten lag 2009 bei 24.449 Euro jähr-lich (das sind 1746 Euro brutto proMonat, 14 x im Jahr). Während dieMedianeinkommen der ArbeiterIn-nen mit 17.874 Euro deutlich darun-ter lagen, lagen die mittleren Ein-

kommen der Ange-stellten (27.723Euro) und Vertrags-bediensteten(28.103) über demallgemeinenSchnitt, waren je-doch annäherndgleich. ZwischenAngestellten undVertragsbedienste-ten lässt sich alsonur ein geringerEinkommensunter-schied von geradeeinmal 1,3 Prozent

ausmachen (noch 2008 lag dasmittlere Einkommen der Vertragsbe-diensteten sogar leicht unter jenemder Angestellten). Zieht mensch al-lerdings Beamte und Vertragsbe-dienstete zusammen, liegt der „öf-fentliche Dienst“ (allerdings ohnePrivatangestellte im öffentlichenDienst) mit mittleren 35.702 Europro Jahr doch relative deutlich überdem Median aller ArbeitnehmerIn-neneinkommen in Österreich.

•Das liegt tatsächlich am Median-einkommen der Beamten: Mit47.818 Euro im Jahr fast doppelt sohoch wie das mittlere Arbeitnehmer-Innen-Einkommen in Österreich. Wa-rum das so ist, hat allerdings aucheinfache Gründe: Einerseits liegt dieHöhe im Altersschnitt begründet.Während das Durchschnittsalter derAngestellten zum Beispiel bei 38Jahren liegt, liegt das der Beamten

gleich um zehn Jahre darüber. Diehohen Einkommen und im Vergleichzu den anderen Berufsgruppen ho-hen Einkommenszuwächse lassensich also vor allem auf den Alte-rungseffekt zurückführen: „Insge-samt geht die Anzahl der Personenin dieser Gruppe zurück, weil dieZahl der Pragmatisierungen sinktund damit immer weniger neue Be-amtInnen hinzukommen. Die nochverbleibenden BeamtInnen habendurch die gesetzlichen Gehaltsvor-rückungen einen Einkommenszu-wachs, der nicht im selben Ausmaßdurch neu hinzukommende geringeEinkommen ausgeglichen wird. DasResultat ist ein im Vergleich zu denanderen Gruppen starker Anstiegdes Gruppenmittelwerts.“

•Die absolute Höhe des beamtetenMedianeinkommens relativiert sichentsprechend, werden vergleichbareAngestellteneinkommen den Beam-teneinkommen gegenübergestellt.Etwa wenn Einkommen Vollzeit be-schäftigter männlicher Angestelltermit langer Betriebszugehörigkeit(zwanzig Jahre) mit jenen männli-cher, öffentlich Bediensteter (in die-sem Falle wohl mit im Vergleich zuVertragsbediensteten höherem Be-amtenanteil) verglichen werden: An-gestellte verdienen in diesem Fallmit einem Medianeinkommen von59.756 Euro deutlich mehr als ver-gleichbare öffentlich Bedienstetemit 49.260 Euro. Einkommen vonFrauen liegen bei dieser Zugehörig-keitsdauer bei Angestellten bei43.940 Euro, bei Beamtinnen bei49.869 Euro. Der Einkommensunter-schied zwischen männlichen undweiblichen Angestellten ist alsodeutlich größer als zwischen weibli-chen Angestellten und Beamtinnen.

•Unter dem allgemeinen Medianein-kommen (im „unteren“ Einkommens-segment) befinden sich zwar weni-ger als zehn Prozent der BeamtIn-nen aber immerhin rund vierzig Pro-zent der Vertragsbediensteten. Ins-gesamt liegen rund 25 Prozent allerBeamten und Vertragsbedienstetenunter dem Medianeinkommen allerunselbständige Beschäftigten, somitrund 30 Prozent aller weiblichenVertragsbediensteten und Beamtin-

Bitte umblättern

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nen. Wird der Privatangestelltenbe-reich im öffentlichen Dienst hinzu-gerechnet, vor allem in den Niedrig-lohnbranchen Soziales, Gesundheit(mittleres Bruttojahreseinkommen:19.672 Euro), Unterrichtswesen undErziehung (mittleres Bruttojahres-einkommen: 17.463), mit einem ho-hen Frauen- (79 Prozent im BereichSoziales und Gesundheit, 55 Prozentim Bereich Unterricht) und Teilzeit-beschäftigungsanteil (53 Prozent imSozial- und Gesundheitsbereich,46 Prozent im Unterrichtsbereich),steigt der Anteil derjenigen, die Un-ter-Median liegen, wohl mit Sicher-heit auf bzw. über dreißig Prozent.Dieses runde Drittel im Unter-Medi-an-Einkommensbereich macht dabeirund ein Fünftel der Lohnsumme imöffentlichen Dienst aus.Nun, warum das alles? Sicher nicht,

weil wir es als unseren Auftrag sehen,die Spitzeneinkommen von Spitzenbe-amten zu verteidigen. Sondern um dieöffentlichen Dienste in ihrer Vielfaltdarzustellen und falsche Bilder geradezu rücken. Die öffentlichen Dienste rei-chen von Krankenhäusern, Pflegeein-richtungen, Kinderkrippen und -gärten,über Schulen, Magistrate, Stadtgärtne-reien, Gemeinde- und Sozialämter, derBestattung, Verkehrsbetrieben, kommu-nalen Energieversorgern bis hin zu Uni-versitäten, dem Arbeitsmarktservice,Ministerien, Museen, dem Bundesre-chenzentrum und der Statistik Austria.Die öffentlichen Dienste umfassenLeistungen der Länder, Gemeinden, desBundes und der ausgegliederten Berei-che. In öffentlichen Diensten arbeitenBeamte, Vertragsbedienstete, Privatan-gestellte, ArbeiterInnen, LeiharbeiterIn-nen, befristet Beschäftigte und andere„Atypische“. Einkommen reichen von„nahe der Armutsgefährdung“ bis zuSpitzengagen Top-Beamter. Entspre-chend treffen „Nulllohnrunden“ bzw.moderate Lohnsteigerungen auch un-terschiedlich: Was ein Sektionschefoder anderer Spitzenverdiener im öf-fentlichen Dienst unabhängig von sei-nem beruflichen Status an Kaufkraft-verlust ökonomisch vermutlich lockerverkraften kann, kann für eine Teilzeitbeschäftigte, alleinerziehende Kinder-gärtnerin oder Altenpflegerin – egal obBeamtin, Vertragsbedienstete oderPrivatangestellte – schon existenz-bedrohend werden.

Bei der angekündigten „Nulllohnrun-de“ handelt es sich also nicht um ein„Beamtenpaket“, wie so gerne darge-stellt, sondern um eine Lohnkürzungs-maßnahme, die zunehmend alle Be-schäftigten der öffentlichen Dienste zutreffen droht, haben doch auch schonLänder und Gemeinden angekündigt,dem Nulllohnrunden-Beispiel desBundes folgen zu wollen. Sie habenschließlich einen Konsolidierungsbei-trag von ausgabenseitigen rund 2,6Milliarden Euro zu erbringen. Ausge-dehnt auf Gemeinde- und Landesbe-dienstete ist der Kreis unmittelbar Be-troffener schon deutlich größer als diegeschätzten 210.000 Personen. Undauch bei diesem erweiterten Kreisdroht es allerdings nicht zu bleiben.

BIS ZU 900.000 BETROFFENEDenn auch der „privat“ organisierte,

in Wirklichkeit von der öffentlichenHand beauftragte und finanzierte Ge-sundheits- und Sozialbereich ist viel-fach mittel- bis unmittelbar an dieLohnentwicklungen der öffentlichenDienste gekoppelt. Einrichtungen derSozialwirtschaft beziehungsweise des(Elementar-)Bildungsbereiches, soweitsie nicht im Kollektivvertrag der „Be-rufsvereinigung von Arbeitgebern fürGesundheits- und Sozialberufe“ (BAGS-KV) organisiert sind, orientieren sich inihren betrieblichen Lohnschemata viel-fach an Gemeinde- oder Landesbe-diensteten. Nulllohnrunden würden siedirekt treffen. Mittelbar aber wohlauch den BAGS-KV Bereich. Arbeitge-berseitig werden die Verhandlungser-gebnisse des öffentlichen Dienstes ger-ne als „Leitlinie“ für die BAGS-KV-Ver-handlungen herangezogen – vor allemhinsichtlich der Höhe der Lohnzuwäch-se. ArbeitnehmerInnenseitig ist in denletzten Jahren das Bestreben zu beob-achten, sich deutlicher von den Ergeb-nissen im öffentlichen Dienst abzuset-zen und höhere Abschlüsse zu erzielen.Was auch verständlich ist, liegen dieEinkommen im frauendominiertenSozial- und Gesundheitsbereich dochdeutlich unter dem allgemeinen Me-dianeinkommen – nämlich um rund19 Prozent was natürlich auch der ho-hen Teilzeitquote geschuldet ist – undnoch deutlicher unter dem Medianein-kommen der Vertragsbediensteten undBeamten im öffentlichen Dienst.

Gleichzeitig ist allerdings zu beob-achten, dass sich die öffentliche Handdurch entsprechende Lohnabschlüsseim privaten Gesundheits- und Sozial-bereich nicht besonders beeindruckenlässt. Förderungen und Subventionenwerden unabhängig von den Kollektiv-vertrags-Verhandlungsergebnissengleich belassen bzw. in Zeiten desSpardrucks sogar noch reduziert. Diegeplante Reform der Fördersysteme,die Kürzung der Ermessensausgabenund die Sparvorgaben auf Landes-,Gemeindeebene sowie im Gesundheits-bereich, lassen jedenfalls harte Vertei-lungskämpfe im privat organisierten,aber öffentlich finanzierten Sozial- undGesundheitsbereich erwarten. Lohnrun-den, ohnehin nie besonders üppig imBereich der BAGS-KV-Betriebe, drohen– wenn schon nicht mit „Nullzuwachs“– bescheiden auszufallen. Summiertmensch nun die Zahl potentiell Betrof-fener von Nulllohnrunden im öffentli-chen Dienst, so kommt mensch –basierend auf den Daten des Einkom-mensberichts – auf die stolze Zahl vonrund 900.000 Beschäftigten. Beinaheein Viertel der unselbständig Beschäf-tigten in Österreich. Damit kann eineNulllohnrunde mit der entsprechendenKaufkraftschwächung gerade in Kri-senzeiten tatsächlich ein ernsthafteswirtschaftspolitisches Problem werden,droht sich doch der private Konsumentsprechend deutlich abzuschwächen,was einen weiteren Anstieg von Ar-beitslosigkeit und damit Einkommens-verlust befürchten lässt.

Nulllohnrunden im öffentlichenDienst erzeugen damit Wirkungen weitüber die öffentlichen Dienste hinaus.Und es darf bezweifelt werden, dassvorgegebene Sparziele bei steigenderArbeitslosigkeit, damit sinkenden Steu-ereinnahmen, bei steigenden Sozial-ausgaben und schrumpfender bis sta-gnierender Wirtschaftsleistung erreichtwerden können.

KLARES „NEIN“ ZUNULLLOHNRUNDENDabei war es gerade der private Kon-

sum, dank vorjährlicher guter Lohnab-schlüsse, sowie der Sozialstaat mit sei-nen (öffentlichen) Einrichtungen undSicherungssystemen, der den Konjunk-tureinbruch 2008/2009 einigermaßenabfederte und die wirtschaftliche Lage

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stabilisierte. Anhaltend relativ hohe Ar-beitslosigkeit sowie stagnierendes bisrückläufiges Realeinkommen in öffent-lichen Diensten und öffentlich finan-zierten sozialen Diensten drohen dage-gen, die ohnehin schon negativen Wirt-schaftsprognosen noch zusätzlich zuverschlechtern.

Nulllohnrunden sind daher nicht nuraus grundsätzlichen Erwägungen abzu-lehnen, sondern auch aus gesamtwirt-schaftlichen. Verschärfend tritt hierzunoch das Faktum, dass mit drohendenNulllohnrunden bzw. „moderaten“Lohnrunden im öffentlichen bezie-hungsweise öffentlich finanzierten Be-reich vielfach ausgerechnet jene Be-rufsgruppen Realeinkommensverlustehinnehmen müssen, deren Arbeit im di-rekten Vergleich zu ihrer Entlohnungeneinen hohen „sozialen Mehrwert“ er-zeugt, wie die britische „new economicsfoundation“ in einer Studie errechnethat – nämlich Gesundheits-, Sozial-und Bildungsberufe.

Die Unabhängigen Gewerkschafter-Innen in der Wiener Arbeiterkammerbrachten daher zur letzten Vollver-sammlung einen Antrag ein, indemsich die AK klar gegen Nulllohnrundenauch im rot-grün regierten Wien undfür eine Stärkung unterer und mittlererEinkommen aussprechen sollte. Mit ge-nau oben angeführten Argumenten.Weil Nulllohnrunden eben weit überdie unmittelbar betroffenen öffentli-chen Bediensteten Wirkung entfalten.Während ausgerechnet der ÖAAB zu-stimmte, konnte sich die FSG zu keinerUnterstützung durchringen und wiesden Antrag vorerst einmal dem ent-sprechenden Unterausschuss zu. Wirwerden jedenfalls berichten, wie dieMehrheitsfraktion mit dem Antrag um-gehen wird …

PS: Will mensch „Spitzenverdiener“treffen (egal ob diese nun beamtetsind, privat angestellt oder selbständig)bietet sich vor allem eine höhere Steu-erprogression im Rahmen der Einkom-menssteuer an. Eine Nulllohnrunde istjedenfalls kein taugliches Mittel fürmehr Einkommensgerechtigkeit. Es wirdgenau das Gegenteil erreicht.

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Bank Austria: TOLLBei den Betriebsratswahlen gab es einen tollen Erfolg

für die Unabhängigen GewerkschafterInnen. Von Fritz Schiller.

Am 10. Mai fanden in der Bank Austria in Wien Betriebsratswahlen statt. Die

FSG-nahe Liste 1 Adi Lehner erreichte wieder, wie vor vier Jahren, 21 Mandate, die

FCG-nahe Liste 2 mit ihrem Spitzenkandidaten Robert Traunwieser verloren zwei

ihrer acht Mandate, während die Liste 3: Buger-Haitzer-Hahn ein Mandat dazu-

gewann und nun bei drei Mandaten hält.

Im Vergleich zur Betriebsratswahl 2008 waren dieses Jahr knapp 380 Personen

weniger wahlberechtigt. Die Wahlbeteiligung sank um mehr als drei Prozent-

punkte auf 65,5Prozent. Die Liste 1 Adi Lehner erhöhte zwar ihren Anteil auf von

66,8Prozent (2008) auf 68,4Prozent, verlor aber 250 Stimmen. Adi Lehner löste

Wolfgang Heinzl als Spitzenkandidat ab, Heinzl kandidierte auf Platz 5, bleibt aber

weiter Zentralbetriebsratsobmann der Bank Austria. Mit grosser Wahrscheinlich-

keit wird Adi Lehner Vorsitzender des Betriebsrates der Bank Austria in Wien

werden. Der eindeutige Verlierer dieser Wahl war die Liste 2 Traunwieser-Serdin-

sky, deren Stimmenanteil um knapp sechs Prozentpunkte auf 20,3Prozent fiel. Zu-

dem musste sie einen absoluten Stimmenverlust von 411 (knapp 30Prozent) hin-

nehmen und hält nun bei 968 Stimmen.

Der relative wie absolute Gewinner dieser Wahl war die Liste Buger-Haitzer-

Hahn, die Liste, die von der AUGE/UG unterstützt wird. Sie erhöhte ihre Stimmen-

anteil auf 11,3Prozent nach 7,1Prozent von vor vier Jahren, gewann 166 Stimmen

dazu und hält nun bei 540 Stimmen (+45 Prozent).

Stefan Buger, Betriebsrat und Zentralbetriebsrat führte die Liste an, gefolgt von

Gerhard Haitzer, Betriebsrat. Neu gewählt wurde Margit Hahn, stellvertretende Be-

triebsratsvorsitzende der UBIS, einer Tochterfirma der Bank Austria. In ihrem Be-

reich gelang es ihrer Liste die FCG-nahe Liste stimmenmäßig zu überholen.

Der einzige Wermutstropfen besteht darin, dass für das vierte Mandat gerade

19 Stimmen fehlten. Stefan Buger ist aber zuversichtlich durch eine kontinuierli-

che und konsequente Arbeit für die Bank Austria-KollegInnen bei der nächsten Be-

triebsratswahl in vier Jahren nicht nur ein viertes Mandat zu holen.

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Aktionskonferenz

EURE SCHULDENUNSERE DEMOKRATIE

IN

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Magazin

der Europäischen Union wird ein Belas-tungspaket nach dem anderen ge-schnürt – schließlich müssten dieSchulden zurückgezahlt werden. Wirhätten über unsere Verhältnisse gelebt,ein Sozialstaat sei nicht mehr finanzier-bar. Doch wer hat die Schulden wirk-lich verursacht, wer hat über wessenVerhältnisse gelebt und in wessen Inte-resse ist eine Kürzung des Sozialstaats?Diese und andere Fragen standen imMittelpunkt der Aktionskonferenz „EureSchulden – unsere Demokratie“ desBündnisses „Wege aus der Krise“ am11. Mai 2012. Dabei wurden viele inte-ressante Perspektiven auf die scheinba-re Schuldenkrise geöffnet und über al-ternative und soziale Krisenlösungs-strategien diskutiert.

Christa Schlager von der Wiener Ar-beiterkammer eröffnete die Konferenzmit der Frage nach den VerursacherIn-nen der Schulden. Anhand der Abbil-dung „Staatsverschuldung“ ist erkenn-bar, dass die Staatsverschuldung infast allen Ländern seit der Krise starkangestiegen ist. Damit zeige sich, dassdie Staatsschulden kein Ergebnis einesplötzlich unfinanzierbaren Sozialstaa-tes, sondern direkte Folge der (vonBanken und Finanzmärkten) ausgelös-ten Wirtschafts- und Finanzkrise sind.

Für Schlager seien Vermögenssteuern(siehe Abbildung „Vermögenssteuern2010“) zur Stabilisierung unumgäng-lich. Bekanntlich ist hier Österreich ei-nes der Schlusslichter. Gleich-zeitig stiegen die Gewinne inden letzten Jahrzehnten um einVielfaches mehr als Löhne (sie-he Abbildung „Lohnquote undGewinnquote“). Eine Besteue-rung der Vermögen hätte nichtnur eine Umverteilungsfunkti-on, sondern wäre zentraler An-knüpfungspunkt für nachhalti-ges Wachstum, Bekämpfungder Arbeitslosigkeit sowie Fi-nanzierung des Sozialstaates.

Lukas Oberndorfer, ebenfallsvon der Wiener Arbeiterkam-mer, setzte mit der Frage fort,ob die EU-Krisenpolitik eineAushöhlung der Demokratiestatt einem sozial-ökologischen Europader Vielen produziert. Mit dem Fiskal-pakt verpflichten sich die Länder, einegesetzlich verankerte Schuldenbremseeinzuführen und die Überwachung dernationalen Budgets in die Hände derEU-Kommission und des europäischenGerichtshofes zu legen. Eine reine Spar-politik, wie sie von neoliberalen Krei-sen in Europa vorangetrieben wird,müsse immer zu Lasten von Arbeitneh-merInnen gehen. Die Formulierung desKorrekturmechanismus im Fiskalpaktspräche für eingriffsintensive Instru-mente. Diese könnten „bis hin zur au-tomatischen Reduzierung von öffentli-chen Ausgaben, der entsprechendenErhöhung von indirekten Steuern oderzur Einrichtung eines bevorzugten Son-derkontos für Zinsen und Kredit-Tilgun-gen nach griechischem Muster rei-chen“. Der Text des Fiskalpakts bedeu-

te nichts anderes, als „More of the sa-me! Lohnzurückhaltung, Deregulie-rung, Privatisierung und Austeritätspo-litik“, meinte Oberndorfer1. Gleichzeitig

würde die vermeintliche Schuldenkriseimmer mehr zum Abbau von demokra-tischen Rechten genutzt. Dieses Themawar auch ein Schwerpunkt der Debatteim vertiefenden Arbeitskreis. In Krisen-zeiten bestünde die Gefahr, dass demo-kratische Rechte außer Kraft gesetztwerden. Wie die Beziehung zwischenMarkt und Demokratie von manchengesehen wird, zeigt folgendes Zitat vonAngela Merkel: „Insofern werden wirWege finden, die parlamentarischeMitbestimmung so zu gestalten, dasssie trotzdem auch marktkonform ist.“2

Ein Teilnehmer wandte ein, das Gegen-teil sollte der Fall sein: „wir brauchendemokratiekonforme Märkte“.3 Denk-ansätze, dass sich Märkte selbst regelnund Mitbestimmung hier keinen Platzhätte, sind auch eine Gefahr für dieGewerkschaftsbewegung. Der französi-sche Gewerkschafter Patrick Saurin ist

Renate Vodnekist psychologin und gewerkschafts-aktivistin.

Quellen: EU-Kommission, 11/2011; eigene Berechnungen

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davon überzeugt, dass eine Antwortder sozialen Bewegungen wie NGOs,Gewerkschaften und Arbeitslosen not-wendig ist.

Markus Marterbauer (AK-Wien) undKarin Küblböck (Attac) stellten Überle-gungen zu Alternativen zur Krisenver-schärfungspolitik an. Für Marterbauersteht fest: „In eine Krise spart man sichleicht hinein, aus einer Krise kann mannur herauswachsen“.3 Herauswachsendurch Beschäftigungsimpulse, Regulie-rung von Banken und Versicherungen

oder eine Umverteilung beispielsweisedurch Erhöhung von Vermögenssteuernund Ausbau des Sozialstaats. KarinKüblböck ergänzte mit Strategien, umdie Macht der Rating Agenturen zubrechen. Die Europäische Zentralbank(EZB) hätte mehr Aufgaben als einereine Inflationsbekämpfung und Stabi-lisierung des privaten Finanzsektors.Spekulationen gegen Staaten dürftennicht mehr möglich sein – dafür wäreneine Schrumpfung der Finanzmärkteund eine stärkere Rolle der EZB nötig.Auch Küblböck ist überzeugt: „Kollekti-ves Sparen führt nicht aus der Krise“.3

Der Vertreter der IG Metall, Hans-Jürgen Urban, und Patrick Saurin (CAC,Vorstandsmitglied des Komitees fürden Schuldenaudit in Frankreich) prä-sentierten Widerstandsstrategien inanderen Ländern. Bei der Kampagne„Europa neu begründen“ in Deutsch-

land wird derzeit gegen Merkels Auste-ritätspolitik mobilisiert. Mit mehr wirt-schaftlicher Vernunft und sozialer Ge-rechtigkeit soll der Weg Europas in denRuin gestoppt werden.

In Frankreich wurden im Rahmen derKampagne „Der Schuldenfalle entkom-men!“ lokale Schuldenauditkomiteesgegründet. Einer der Gründe für dieKampagne ist die Verschuldung Tau-sender französischer Gemeinden durchFinanzspekulationen. Patrick Saurinüber die Funktion der Audits: „Die Ent-

tarnung der Lüge, der Schuldnersei allein schuld an den Schul-den und Banken und Vermögen-den hätten keine Verantwortungdafür“. Das Werkzeug Bürgerau-dit ermöglicht es, den Teil derVerschuldung zu ermitteln, derungerechtfertigt ist und dahernicht bezahlt werden soll. „Erstdas Verstehen der Ursachen derSchuldenkrise ermöglicht es, Al-ternativen zu deren Abbau zumachen. Wenn zum Beispiel einTeil der Schulden illegitim ist,dann ist es auch legitim, den Er-lass dieser Schulden einzufor-dern“. Die BürgerInnen sollenbestimmen, wofür gezahlt wirdund wofür nicht.3

Bei den Aktionsworkshops amNachmittag wurden gemeinsamWiderstandsformen und Aktions-ansätze entwickelt. Einige Teil-nehmerInnen ließen die Konfe-renz bei der Protestaktion des

Personenkomitees „Für eine Volksab-stimmung über den EU-Fiskalpakt“ausklingen.4

Literatur:1 arbeiterkammer.at/bilder/d172/EU_Infobrief_Maerz_2012.pdf2 http://www.bundesregierung.de/Con-tent/DE/Mitschrift/Pressekonferen-zen/2011/09/2011-09-01-merkel-coel-ho.html, 17. Mai 20123 Aktionskonferenz 11. Mai 2012. Dokumentation unter wege-aus-der-krise.at/aktionen/aktionskonferenz/doku-mentation.html, Bericht unter proge.at/servlet/ContentSer-ver?pagename=P01/Page/Index&n=P01_0.a&cid=13347406290864 werkstatt.or.at/index.php?option=com_content&task=view&id=629&Itemid=1,16. Mai 2012

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Nur mehr bis 15. Juni:

Für ein Volksbegehren

„SteuergerechtigkeitJetzt!“

a. Menschen entlasten b. Große Vermögen besteuern c. Armut bekämpfen d. Kaufkraft stärken

Bis 15. Juni können auf allenösterreichischen Gemeinde- undBezirksämtern Unterstützungs-erklärungen für das Volksbegeh-ren abgegeben werden.

Jetzt hingehen und unterschreiben!

Info: steuergerechtigkeit-jetzt.at

Quellen: EU-Kommission; AMECO-DB; eigene Berechnungen

Quelle: OECD; 1) Daten für 2009

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Magazin

ür Sozialminister RudolfHundstorfer wurde mit der Ein-

führung der Bedarfsorien-tierten Mindestsicherung „ein

sozialpolitischer Meilenstein ge-setzt, der Armut gezielt bekämpft

und soziale Ausgrenzung verhindert“1.Die von der Armutskonferenz durchge-führte Evaluierungsstudie zu denRechtsgrundlagen der Bundesländerzur Mindestsicherung kommt zu eineranderen Einschätzung.

Ursprünglich mit dem Ziel der Ver-einheitlichung der je nach Bundeslandunterschiedlichen Sozialhilfe einge-führt, ist von einer österreichweit ein-heitlichen Regelung nichts zu erken-nen. Die neuen Gesetze stünden in ih-rer Unübersichtlichkeit den alten Sozi-alhilfe-Gesetzen in nichts nach: „Nachwie vor gilt: Was jemand in welcher Le-benssituation zusteht, wird nach wievor wesentlich vom Wohnort bestimmt.Das entbehrt sachlich jeder Rechtferti-gung. Gehäuft treten Probleme in denBundesländern Niederösterreich, Kärn-ten, Burgenland und Steiermark auf.“2

MINDESTSICHERUNG HÄLTNICHT WAS SIE VERSPRICHTGleichzeitig stellt die Höhe der Min-

destsicherung vielfach ein Problem dar,sie reicht oft nicht einmal zur Existenz-sicherung. „Die Bedarfsorientierte Min-destsicherung ist weder ,bedarfsorien-tiert’, noch ist sie eine „Mindestsiche-rung“, so der Sprecher der SalzburgerArmutskonferenz, Robert Buggler, beider Präsentation der Studie3. Eine derUrsachen ist, dass die Anrechnung derWohnkosten mit 193,32 Euro äußerstniedrig bemessen ist. Wenn nicht ein-mal die tatsächlichen Wohnkosten ab-gedeckt werden, gibt es auch keineMöglichkeit, Notsituationen abzude-cken. Zusätzlich fallen, obwohl Mindest-sicherungs-BezieherInnen in die gesetz-liche Krankenversicherung einbezogensind, im Krankheitsfall oft Kosten durchbestehende Selbstbehalte an.

Weiterer Stolperstein auf dem Wegzur Mindestsicherung: Eigenes „Vermö-gen“ über 3866,30 Euro muss vorherausgegeben werden. Egal ob Bauspar-vertrag, Lebensversicherung oder Spar-buch. Interessanterweise hat sich die-ser Punkt anscheinend noch nicht bis

StOLpIst die Mindestsicherung

ein „Meilenstein derArmutsbekämpfung“ oderdoch nur ein Stolpersteinin den sozialen Abstieg?

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zum Sozialministerium herumgespro-chen: Bei einer Diskussionsveranstal-tung im ÖGB-Verlag zum Buch „ErsteHilfe – Handbuch für Arbeitslose“spricht der Vertreter des Bundesminis-terium für Arbeit, Soziales und Konsu-mentenschutz, SC Roland Sauer davon,dass es bei der Mindestsicherung keineHöchstgrenzen gäbe4.

SPRUNGBRETT INBESCHÄFTIGUNG?Ein Ziel der Mindestsicherung ist die

dauerhafte (Wieder)Eingliederung inden Arbeitsmarkt. Für Marion Kapferervon der Sozialberatungsstelle „Dowas-Innsbruck“ ist das eine unzulässige Ver-knüpfung. Damit würde impliziert, dassarme Menschen faul seien und zur Ver-haltensänderung eine besondere staat-liche Behandlung benötigen. Armutwürde damit als Problem des einzelnenMenschen gesehen und die Politikkönnte sich aus der Verantwortungstehlen. Durch die Koppelung an dasZiel „Beschäftigung“ besteht die Ge-fahr, bei Verweigerung einer „zumutba-ren“ Arbeit im Zuge von Sanktionenfast die gesamte Leistung für den Le-bensunterhalt zu verlieren. MarionKapferer kritisiert diese Praxis: „Kürzun-gen haben im letzten sozialen Netzüberhaupt nichts verloren“.3

Unklar ist, wie viele Menschen vonMindestsicherung betroffen sind – ak-tuelle Zahlen gibt es laut Armutskonfe-renz keine, da die Bundesländer keineliefern. Klar ist nur, dass sich die Zahlder Betroffenen seit den 1990er-Jahrenverdoppelt hat. Mitverursacht durch•prekäre Jobs, •gesundheitliche Probleme, •steigende Wohnkosten oder •fehlenden Arbeitslosengeldbezug.

Es handelt sich nicht mehr um einreines Randgruppenphänomen. Von

den (laut den letzten verfügbaren Zah-len) 173.000 Betroffenen beziehen diemeisten nur vorübergehend die Min-destsicherung. In Wien beträgt diedurchschnittliche Verweildauer siebenMonate, ein Viertel der Betroffenen be-zieht für ein bis drei Monate Mindest-sicherung. Nur 13 Prozent leben aus-schließlich von der Mindestsicherung –der Rest erhält entweder Erwerbsein-kommen, Arbeitslosengeld oder Kinder-betreuungsgeld. Fast die Hälfte derMindestsicherungs-BezieherInnen pen-delt zwischen schlechten Jobs und Min-destsicherung hin und her. Der Sloganvon der „Integration in den Arbeits-markt“ ist also fehl am Platze: „Er-werbsarbeit wirkt mittlerweile teilweiseschon desintegrierend“, so MartinSchenk, Sozialexperte der Diakonie3.

RISSE IM SOZIALSTAATEin weiterer Faktor, wieso das letzte

Netz der Armutsbekämpfung nichtfunktioniert: „Die vorgelagerten Netzeaber, allen voran die Sozialversiche-rung, haben Risse bekommen. Risse,die immer breiter werden. Erwerbslose,working poor, AlleinerzieherInnen: Woder Sozialstaat mit den Veränderungenin Ökonomie und Gesellschaft nichtSchritt hält und keine oder nur mickri-ge Sozialleistungen bereit hält, soll dieBedarfsorientierte Mindestsicherunggerade stehen.“3

Das zeigt sich auch an den aktuellenZahlen aus Österreich. Auf der einenSeite steigt die Anzahl der Erwerbsar-beitssuchenden, auf der anderen Seitekommt jede Zehnte mit dem Einkom-men nicht aus. Bereits die Hälfte derMenschen kann mit ihrem Einkommennur knapp den Lebensunterhalt abde-cken. Eine Million ÖsterreicherInnensind laut Definition armutsgefährdet,

für sie ist geringes Einkommen mit Ein-schränkungen in zentralen Lebensbe-reichen verbunden. Die durchschnittli-chen Beträge bei Arbeitslosengeld undNotstandshilfe liegen unterhalb der Ar-mutsgefährdungsschwelle von derzeit1031 Euro pro Monat5. Ebenfalls nicht„armutsfest“ ist der Bundesbeitrag fürdie Mindestsicherung in der Höhe von773 Euro. Das Fazit von Robert Bugg-ler: „Es gibt kein Recht auf ein Lebenüber der Armutsgrenze.“3

Damit sind unsere Kritikpunkte beider Einführung der BedarfsorientiertenMindestsicherung leider bestätigt wor-den. „Sie stellt – und das ist ausgespro-chen zu bedauern – auch für Arbeit-nehmerInnen nur bedingt eine Mög-lichkeit dar, sich aus miesen, schlechtentlohnten, prekären Arbeitsverhältnis-sen zu verabschieden, um so etwa denNiedriglohnsektor bzw. entsprechendschlecht entlohnte Arbeitsverhältnisseunter „Verbesserungsdruck“ zu brin-gen.“, schätzte Markus Koza bereits imSeptember 2010 die Lage ein6.

Literatur: 1 esf.at/esf/2011/09/01/7489/;16. Mai 20122 armutskonferenz.at, 16. Mai 20123 Pressekonferenz Armutskonferenz,10. Mai 20124 Erste Hilfe für Arbeitslose, Buchpräsenta-tion in der ÖGB Fachbuchhandlung,26. April 20125 EU-SILC 20106 http://diealternative.org/belvederegas-se/2010/09/mindestsicherung-und-pflichtarbeit-halt-wieder-einmal-typisch-ovp-i/. Siehe auch Alternativen 1/2 2012,7/8 2010)Studie: armutskonferenz.at/images/pk/matrix_bms-monitoring.pdfZusammenfassung: armutskonferenz.at/images/pk/zusammenfassung_bms-moni-toring.pdf

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ErsTEIn?Von Renate Vodnek.

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Panorama

Unter dem Motto „Occupy Patriarchy“ orientierte sich dieZeltstadt an der internationalen Occupy-Bewegung, die vonNew York aus mit spontanen Besetzungen auf sich aufmerk-sam gemacht hat. Für Petra Unger, Sprecherin der Plattform„20000frauen“, war das Ziel, „Raum im Zentrum für die be-stehenden frauenpolitischen Forderungen zu nehmen“.1

Zahlreiche frauenpolitische Initiativen folgten dem Aufrufder Veranstalterin Plattform 20000frauen und trugen ihrenProtest lautstark auf die Straße. „Es herrschte den ganzenTag ein reges Kommen und Gehen, aufgrund der Wetter-situation konnten leider einige Programmpunkte nichtstattfinden, aber wir sind es gewohnt, dass uns die Ver-hältnisse wie kalter Wind entgegenwehen“, so Petra

Unger1. Statt Autoverkehr gab es zwischen Oper undUniversität spannende Diskussionen zu Themen wie

Bildung, Migration, soziale Umverteilung oder Se-xualität. Das Programm war bunt und reichte

von Transparentsiebdrucken bei Wege ausder Krise, einem Frauenquiz des Österrei-

chischen Frauenrings, der chill-out-Zo-ne beim Mädchencafé Flash über

Guerilla Knitting mit den Stri-ckistinnen, Bücher schmö-

kern beim Bücher-stand des

Unbeirrt von Wind und Wetter wurde am Samstag,12. Mai, mit über sechzig Zelten bei der

„Zeltstadt der Frauen“, die Wiener Ringstraße besetzt.

OCCUPYPATRIARCHY

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ÖGB-Verlagsbis hin zu diversenStraßenaktionen wie der Anti-Korruptions-Aktion.

Nicht fehlen durfte im Vorfeld Kri-tik aus Männersicht: Der Landespartei-obmann der Wiener ÖVP, Manfred Juraczka,sah die „drollige und sinnentleerte Veranstal-tung” als einen gezielten „Anschlag auf die Bür-ger und Bürgerinnen dieser Stadt.”2 Kein Verständ-nis für solche Aussagen zeigten die Wiener Frauen-sprecherinnen der SPÖ und Grünen Nicole Berger-Krotsch und Martina Wurzer: „Uns geht es darum, alleFrauen dabei zu unterstützen ein selbstbestimmtes undunabhängiges Leben führen zu können.“3 Da bleibt nur zuhoffen, dass den Worten auch Taten folgen werden unddamit ein weiterer Schritt in Richtung Gleichberechtigunggelingt. Ulli Weish von der Plattform20000frauen betont:„Wir wollen eine feministische nachhaltige Wirtschafts- undBildungswende, die in eine demokratische, menschenrechts-würdige Gesellschaftskultur eingebunden ist, in der auch Mi-grantInnen Arbeits- und Aufenthaltsrechte erhalten, undnicht an den Rand gedrängt, abgewertet und ausgebeutetwerden.“4 Vermutlich wird dafür ein langer Atem nötig sein.

Literatur:1 Stellungnahme der Plattform 20000frauen, http://zwan-

zigtausendfrauen.at/2012/05/stellungnahme-der-plattform-20000frauen/, 16. Mai2012

2 Presseaussendung ÖVP-Klub, 10. Mai 2012

3 Presseaussendung SPÖ-, Grüner-Klub4 Presseaussendung 20000frauen,

7. Mai 2012

Fotos: Bettina frenzel, lu_wu via zwanzigtausendfrauen.at

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M

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Panorama

anche BeraterInnen … wurden von denMitgliedern einer Organisation in derVergangenheit als Abzocker erlebt. Siesaugten Wissen von Internen ab, wie-sen dieses dann in unverschämter Wei-se als ihr eigenes aus und spielten esgemeinsam mit trivialen eigenen Lö-sungen in einer komplexitätsreduziertenForm zurück, die der Realität nicht ge-recht wurde.“ Dieses Zitat aus „Trans-formationsmanagement“ von KarlPrammer beschreibt sehr gut einige derErfahrungen, welche die Büchereienbislang mit externen Beratern gemachthaben. Am Ende mehr oder wenigeraufwändiger Beratungsprozesse galtzumeist: „viel Wind um nichts, heißeLuft, völlig unergiebig“.

„TRANSFORMATIONS-MANAGEMENT“Der Autor stellt dem oben genann-

ten Consulter-Verhalten den eigenenAnsatz gegenüber, den er und seineMitarbeiterInnen der Firma Consulta injahrelanger Beratungstätigkeit entwi-ckelt hätten. Was als Transformations-management bezeichnet wird, soll einMittelding zwischen „Organisationsent-wicklung“ (OE) und dem „Change Ma-nagement“ sein: Schneller als die OE,aber weniger Mitwirkung der Mitarbei-terInnen, langsamer als das ChangeManagement, aber nicht so brutal.Diese Firma Consulta wurde nun fürdie Büchereien engagiert, denn, wiedie Leitung der Büchereien mitteilt,„… planen wir mit Unterstützung einerexternen Beratungsfirma einen Prozesszur zukunftsträchtigen Strategiepräzi-sierung und Weiterentwicklung der Or-ganisation der Büchereien.“ Allerdingsgab es bislang kein erkennbares mittel-und schon gar nicht langfristiges Bü-chereikonzept der Leitung. Wenn nun

eine nicht vorhandene „Strategie“ imVerlauf eines Beratungsprozesses „prä-zisiert“ werden soll, dann klingt diesnach einer Präzisierung des Nichts.Über die Zukunftsträchtigkeit eines sol-chen Vorgangs kann gerätselt werden.

EIN HAUCH VON BULLSHITInzwischen wurde von MA 13 und

Büchereienleitung ein vorbereitendesProjektteam gegründet, welches zumZiel hat, „einen breit abgesichertenRahmen für ein zweckmäßiges Entwick-lungsprojekt inhaltlich und organisato-risch abzuleiten“. Dieser inhaltlich sinn-lose Satz steht neben etlichen anderen,welche in einer Sprache abgefasst sind,die den meisten Bediensteten fremdist. Beispielsweise sollen Interviews ge-macht werden, in welchen unter ande-rem gefragt wird: „Welche vorhandenenbzw. heute (noch) nicht existierendenStrukturen, Instrumente, Leistungensollten im Rahmen eines extern beglei-teten und hoch beteiligungsorientiertangelegten Weiterentwicklungsprozes-ses unbedingt beleuchtet und hinter-fragt werden?“ Es ist erstaunlich, dasssich das Vorbereitungsteam von MA 13und Büchereien gleich zu Beginn desOrganisationsentwicklungs-Prozessesdiesem Sprachgebrauch der Consulterunterwirft. Damit ist der Begriffsrah-men auch für die Bediensteten vorge-geben, in dem sie ihre Reflexionenüber den Arbeitsprozess formulierenkönnen bzw. an den ihre Aussagen an-gepasst werden.

Eine solche Vorgehensweise ist beiden Consultingfirmen bekanntlich dieRegel, kann aber als Merkmal dienen,wie weit die Consulter bereit sind, aufdie Bedürfnisse der Bediensteten ein-zugehen – und es ist ein Grundbedürf-nis des Menschen, über seine eigenen

Angelegenheiten in der selbst gewähl-ten Sprache zu reden und sich in denihm adäquat erscheinenden Sprachfor-men auszudrücken. Nicht zuletzt des-halb, weil nur so die Authentizität ge-wahrt bleibt und damit die Chance be-steht, dass gemeinsam erarbeitete Pro-blemlösungen in einer Sprach- undDenkumwelt formuliert werden, dienicht als Fremdes daher kommen.

Allerdings wird das scheinbar Selbst-verständliche – Verständlichkeit undFreundlichkeit gegenüber den Klienten– von kaum einer Consultingfirma er-bracht. Was seinen Grund hat: „Diesesjargonhafte leere Gerede ist ,Schutznach außen’, da es sich den gewöhnli-chen Sterblichen entzieht … Damit ver-anlasst es die große Mehrheit … zu glau-ben, dass die Probleme ihre Verstehens-und erst recht ihre Interventionsfähig-keit bei weitem übersteigen und daherder kleinen Zahl der Wissenden, den Ex-perten, überlassen werden müssen, de-ren Diskurs und Praxis auf diese Weiselegitimiert werden.“ (Sébastian Guex imVorwort zu Alessandro Pelizzaris „DieÖkonomisierung des Politischen“). Wirsehen, in der sprachlichen Abgehoben-heit unterscheidet sich die Firma Co-necta in keiner Weise von den bisherdie Büchereien heimgesucht habendenUnternehmensberatungen.

GROSSE PHILOSOPHIEConecta verweist mit einigem Stolz

auf den philosophischen Hintergrundihres Beratungsmodells, „das die heim-liche Vernunft und Ökonomie des Ver-haltens von Individuen, Gruppen undOrganisationen verdeutlicht“: „Dietheoretische Begründung … ergibt sichaus neueren Entwicklungen der System-und Evolutionstheorie, den erkenntnis-theoretischen Konzepten des sogenann-

„Zukunftsträchtige Strategiepräzisierung“ bei den Wiener Büchereien. Von Wolfgang Kauders.

EE XX TT EE RR NN EEHEIMSUCHUNG

Page 17: Alternative Juni

ten ,Radikalen Konstruktivismus’ undder ,Kybernetik zweiter Ordnung’.“

Als weitere Elemente ihrer theoreti-schen Basis werden Gruppendynamikund Psychoanalyse, sowie familienthe-rapeutische Methoden genannt. Da-raus leitet Conecta ein Beratungskon-zept ab, welches sie „Radikale Markt-wirtschaft“ nennt. Das „Radikale“ wirdals Verweis auf die Verwandtschaftzum „Radikalen Konstruktivismus“benannt. Dass es aber in der Begriffs-zusammensetzung ein Attribut der„Marktwirtschaft“ ist, scheint demsprachlichen Feingefühl der Autorenentgangen zu sein. Und tatsächlich for-muliert „Radikale Marktwirtschaft“kaum ein radikales neoliberalistischesMenschenbild, das mit solchen sprach-lichen und inhaltlichen Blüten wie fol-gende aufwartet:•„Menschliche Verhaltensweisen las-sen sich als Waren betrachten, die be-wertet und getauscht werden.“ („Werhandelt, der handelt“).•„Der Markt für Verhalten ist einTauschmarkt.“ (Anm.: Was ist ein Marktdenn sonst?).•„Jeder Mensch verhält sich immer undüberall ökonomisch rational.“ (Anm.: Zudieser längst ad absurdum geführten

Kernthese der Marktfetischisten gibt esjede Menge kritischer Literatur, auch inden Wiener Büchereien).•Dieser solcherart reduzierte Mensch„führt Konten über Geben und Nehmenaller Interaktionspartner in seiner priva-ten, nicht konvertiblen Währung“. „Men-schen können auch mit sich selbst Han-del treiben“. Soweit der philosophischeBackground der Firma Conecta.

VERSCHWIEGENE ABSICHTEN Der Beratungsprozess für die Büche-

reien steht noch am Anfang. Derzeitsind Interviews mit den Büchereibe-diensteten geplant, hernach soll daseigentliche Projekt beginnen. Bislangist nicht bekannt gegeben worden, wel-ches Ziel sich die Leitung oder der ei-gentliche Auftraggeber gestellt hat.Und wer ist der Auftraggeber? DieMA 13 oder das Stadtratsbüro? Wassind die Kosten und wie lange soll dasProjekt laufen?

Informationen, die für die Beleg-schaft wichtiger sind als wenn der Pro-jektleiter seine „Allparteilichkeit“ be-teuert, die er, da vom Magistrat undnicht von den BibliothekarInnen beauf-tragt, nie seriös einnehmen kann. Des-

halb ist es für alle Beteiligten wichtig,stets im Auge zu behalten, dass die Be-ratungsfirma einen Auftrag zur Umge-staltung der Büchereien hat und ihreAufgabe darin besteht, eine möglichstgroße Anzahl von Bediensteten davonzu überzeugen, dass diese Umgestal-tung in ihrem Interesse sei. Oder sie zu-mindest soweit zu neutralisieren, dasskein nennenswerter Widerstand gegendie Maßnahmen entsteht.

Wolfgang Kauders ist Bibliothekar undPersonalvertreter in Ruhe. Weitere Artikelunter haftgrund.net.

Literatur:– Fritz B. Simon und Conecta: RadikaleMarktwirtschaft. Verhalten als Ware oderWer handelt, der handelt. 1992– Karl Prammer: TransformationsManage-ment. Theorie und Werkzeugset für betrieb-liche Veränderungsprozesse. 2009– Conecta (Hrsg.): Führung leben. Prakti-sche Beispiele – praktische Tipps – prakti-sche Theorie. 2010– Elisabeth Wallner: „Der Konstruktivismusim Selbstverständnis der Wiener Schule derSystemischen Organisationsberatung. EineFallstudie über die Conecta“ – Harry G. Frankfurt: Bullshit. 2006, s.a.:http://de.wikipedia.org/wiki/On_Bullshit

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1. Kein Wurmfortsatz des Magistrats

Im Unterschied zur Wienbibliothek und

zum Stadt- und Landesarchiv sind die

Wiener Büchereien keine eigene Dienststelle

(Magistratsabteilung), sondern eine um zwei

hierarchische Etagen tiefer angesetzte, nach-

geordnete Dienststelle im Bereich Bildung

der MA 13.

Von der Koordinierungsfunktion, welche

sich die MA 13 selbst zuschreibt, gibt es

nichts, was die Büchereien und sogar die ein-

zelnen Zweigstellen nicht rascher und effekti-

ver umsetzen könnten.

Demnach scheint es ein erster wesentlicher

Schritt zu sein, dass der hierarchische Status

der Büchereien auch ihrem realen Wert für

die Bildungspolitik der Stadt Wien entspricht:

Büchereien raus aus der MA 13 und Installie-

rung einer eigenen Magistratsabteilung.

2. Gute Luft und erträgliches Klima

Ein Thema bei der Organisationsent-

wicklung wird vermutlich eine Auswei-

tung der Öffnungszeiten sein. Ehe über-

haupt darüber und über die dazu not-

wendigen personellen und sachlichen

Ressourcen verhandelt wird, haben zu

allererst die Räumlichkeiten der Büche-

reien auf ein erträgliches Raumklima

umgerüstet zu werden. 30°C im Sommer

und stehende, übel riechende Luft müs-

sen im Interesse der Gesundheit der

Bediensteten und für einen angenehmen

Aufenthalt der BenutzerInnen der Ver-

gangenheit angehören.

Ganz ohne:

Beratungsaufwand: Erfolgversprechende Maßnahmen

Page 18: Alternative Juni

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Panorama

Eine Stimme gegen den Fiskalpakt ist eine Stimme für Europas Zukunft

„Wer für Europa ist, muss dem Fiskalpakt und der damit verbundenen ruinösen Austeritätspolitikeine klare Absage erteilen. Wenn in Ländern Südeuropas die Jugendarbeitslosigkeit

an der 50 Prozent Marke kratzt und angesichts rigider Sparvorgaben die systemati-sche Verelendung weiter Teile der Bevölkerung – und das nicht nur im Süden – droht,

dann verkommt die europäische Einigung zur gefährlicher Drohung. Dann verliert die inSonntagsreden immer wieder beschworene Vision eines geeinten, solidarischen und friedli-chen Kontinents angesichts der brutalen ökonomischen und sozialen Situation jegliche Un-terstützung bei den europäischen BürgerInnen. Es braucht in Europa einen grundlegen-den ökonomischen, demokratischen und sozialen Kurswechsel,“ fordert Markus Koza,Bundessekretär der AUGE/UG anlässlich des Europatags am 9. Mai.

Für eine neue Finanzmarktarchitektur in Europa – Steueroasen austrocknen, riskanteFinanzmarktprodukte verbieten, Finanztransaktionssteuer endlich umsetzen

Mit der Wahl Hollandes zum neuen französischen Präsidenten bestünde nun zumindesteine berechtigte Hoffnung, dass der von der konservativen Achse Merkel-Sarkozy den eu-

ropäischen Staaten aufgezwungene Sparkurs aufgeweicht würde: „Mit aufweichen alleinewird es allerdings nicht getan sein. Es braucht eine grundlegend neue Finanzarchitektur mit ent-sprechend strikten Finanzmarktregulierungen in Europa – von einem Austrocknen der Steuer-oasen, einer Beendigung des Steuerwettlaufs nach unten, einem europaweiten Verbot riskan-ter Spekulationsgeschäfte und Finanzmarktprodukte bis zu einer ohnehin längst überfälligenFinanztransaktionssteuer. Der Europäische Rettungsschirm muss endlich die Bankenlizenzerhalten, die Europäische Zentralbank die Rolle als letzter Kreditgeber, um Staatspleiten zu

verhindern, bzw. um Staaten zu finanzieren, übernehmen dürfen. Und es braucht, um dem –von allen Regierungen ja stets beklagten – Druck der Finanzmärkte auszukommen, endlich Euro-Bonds,europäische Anleihen, um insbesondere auch den Druck von hochverschuldeten Ländern zu nehmen. DieFinanzierung öffentlicher Leistungen und Investitionen, von Bildung und Gesundheit bis hin zu sozialenSicherungssystemen, darf nicht weiter den Launen der Finanzmärkte und Finanzmarktinstitutionen über-lassen bleiben,“ so Koza weiter.

„Der derzeitige Kurs in Europa – vom Sixpack über den Euro-Plus-Pakt bis hin zum Fiskalpakt – führtEuropa schnurstracks in ein autoritäres Wirtschaftsregime, das keine Alternativen zum Abbau von Sozial-staatlichkeit, Lohndruck und Entrechtung von ArbeitnehmerInnen zulassen will und über ein komplizier-tes Regelwerk inklusive automatisierter Sanktionsmechanismen nationalstaatliche, parlamentarischeEntscheidungsprozesse bzw. demokratisch gefällte Beschlüsse aushebeln kann. Mit dieser autoritären,gegen die sozialen und ökonomischen Interessen breiter Bevölkerungsschichten gerichteten Politik, drohtsich die starke soziale und ökonomische Kluft innerhalb Europas noch zu vertiefen, mit unabsehbarenFolgen auf die demokratische Verfasstheit unseres Kontinents,“ warnt Alternativgewerkschafter Koza.

PRESSEAUSSENDUNG:

zumEUROPATAG

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Das Europa der Eliten hat keine Zukunft – Europa braucht Solidarität,sozialen Fortschritt und eine ökologisch verträgliche Wachstums-

und Beschäftigungsstrategie

Was Europa brauche, sei ein Investieren aus der, statt ein Hinein-Sparen in die Krise:„Mehrere namhafte ÖkonomInnen, aber selbst Institutionen wie der Währungsfonds und dievielfach geschmähten Ratingagenturen – die allerdings immer für die Legitimation von Spar-

paketen herhalten müssen – warnen inzwischen vor einem Sparkurs. Nicht, weil sie alle-samt Freunde des Schuldenmachens wären, sondern schlichtweg, weil es ein intelligente,ökologisch und sozial verträgliche Wachstumsstrategie mit entsprechender Steigerung derBeschäftigung braucht, soll die Krise überwunden, Budgets konsolidiert und Staats-schulden abgebaut werden.“

Der Sparkurs sei hinsichtlich seiner Zielvorgaben – Budgetkonsolidierung, Erhöhung der Wettbe-werbsfähigkeit und Staatsschuldenabbau – bereits spektakulär und dramatisch gescheitert, wie dieökonomischen Kenndaten Griechenlands, Portugals und Spaniens belegen, so Koza: die Ökonomiensind in eine tiefe Rezession geschlittert, die Staatsschuldenquote habe sich seit den drastischenSparpaketen weiter erhöht, Arbeitslosigkeit und Armut haben Rekordwerte erreicht.

„Dass einige konservative ÖkonomInnen nach wie vor am Sparkurs der ,europäischen Folter-kammer’ festhalten wollen, spricht weniger für die Richtigkeit dieses Kurses als für die Krise der tra-ditionellen, neoliberal ausgerichteten mainstream-Ökonomie, die uns nicht zuletzt das ideologischeUnterfutter für eine Politik geliefert hat, die uns in diese Krise geführt hat. Wir brauchen nachhaltigwirkende, beschäftigungsintensive Investitionen und einen Aufbruch in ein Europa des sozialen undökologischen Fortschritts, um die wirtschaftliche, wie auch gesellschaftliche Krise zu überwinden.Wir brauchen einen europäischen Einigungsprozess im Zeichen von Demokratie und sozialen Grund-rechten, nicht unter dem Diktat der Finanzmärkte, des Sparens und des Sozialstaatsabbaus. Nur einEuropa der Solidarität, des sozialen Fortschritt und des Zusammenhalts hat Zukunft – denn dasEuropa der Eliten ist gescheitert und hat uns einen Scherbenhaufen hinterlassen. Höchste Zeit dassdieser weggeräumt wird, um ein Europa auf stabilerem Fundament aufzubauen,“ schließt Koza.

Im Fokus:Sonntagsarbeit in WienBei einem internationalen Foto-workshop im Mai 2012 habenTeilnehmerInnen Orte aufgesucht,an denen auch sonntags gearbei-tet werden muss. Mit der Fotoaus-stellung rückt die „Allianz für denfreien Sonntag in Österreich“ dieMenschen in den Mittelpunkt, dieauch am Sonntag arbeiten müs-sen. Der Allianz gehören überfünfzig Organisationen aus Zivil-gesellschaft, Kirchen und Gewerk-schaften an. Fotoworkshop undAusstellung wurden von der Alli-anz, der Katholischen Sozialaka-demie Österreichs und vom Kardi-nal-König-Haus veranstaltet.Informationen: freiersonntag.at.

Essensausgabe im Caritas Rupert-Mayer-Haus für ältere Obdachlose, Wien; Foto: Gerhard Elitzer

Bis 20. Juni 2012:Montag bis Freitag,8 bis 20 Uhr, Kardinal-König-Haus,1130 Wien, Freier Eintritt.

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Am 17. April waren auf Einladung der Wiener Grünen und des Austrian Social Forums ungarische Oppositionelle zu Gast, um über die politische Entwicklung in

Ungarn zu berichten. Und die geht seit dem FIDESZ-Wahlsieg auf direktem Wege nach Rechtsaußen. Ein Bericht von Thomas Zarka und Markus Koza.

G u l a s c h fa s c h i s m u s ?

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er Einladung waren GaborScheiring, Abgeordneter und

Parlamentssprecher der LMP imUngarischen Parlament, Aron Ta-

nos von der Jugendliga Solidaritas), Ve-ra Zalka (Hungarian Social Forum) undMatyas Benyik (Vorsitzender von „AttacHungary“) gefolgt.

Die einleitenden Worte von MonikaVana, Gemeinderätin der Wiener Grü-nen und Hermann Dworczak wareninsbesondere bemerkenswert, da Moni-ka Vana eine grüne EU-Initiative fürein Vertragsverletzungsverfahren ge-gen Ungarn nach Artikel 7 des Lissa-bonvertrages (Verstoß gegen EU-Richt-linien) ankündigte und HermannDworczak diese Veranstaltung als Auf-takt einer „aktiven Vernetzung“ der un-garischen Opposition mit progressivenGruppierungen in Europa bezeichnete.

Zum ersten Punkt, dem Vertragsver-letzungsverfahren, sei angemerkt, dasses ausgerechnet Ungarn war, das alserstes EU-Mitgliedsland am 17. Dezem-ber 2007 den Vertrag von Lissabon

parlamentarisch beschloss (325 Ja-Stimmen, 5 Nein, 14 Enthaltungen).Insofern ist es bemerkenswert, dasssich nach nun vier Jahren, nachdemman sich offenbar nicht mehr daranerinnern will, was denn da abgestimmtwurde, sich nun dieser Vertrag gegenUngarn zu wenden droht.

ZUR POLITISCHEN SITUATIONParlamentswahlen in Ungarn, April

2010: Die national-konservative FI-DESZ gewinnt mit ihren Bündnispart-nern von der KDMP 68,12 Prozent derStimmen und damit 263 von 386Mandaten. Die bislang regierende sozi-aldemokratische MSZP muss schwereVerluste hinnehmen, erreicht 15,28 Pro-zent der Stimmen, 59 Sitze. Die rechts-extreme Jobbik liegt mit 12,18 Prozentund 47 Sitzen knapp dahinter. Auchwenn erstmals mit der LMP auch einerlinks-alternativen, grün-orientiertenPartei mit 7,44 Prozent und 16 Manda-ten in dieser Höhe überraschend der

Parlamentseinzug gelingt: Ungarn istmassiv nach rechts gerückt, die demo-kratische, parlamentarische Oppositionweitgehend marginalisiert. Viktor Or-bans FIDESZ hat damit die notwendige2/3-Mehrheit, um alle Verfassungsände-rungen durchzubringen. Und er wirddiese Mehrheit zu nutzen wissen. Or-bans Wahlsieg war nicht zuletzt einemrabiaten „Antisozialismus“ und der ka-tastrophalen sozialen und ökonomi-schen Lage als Folge der ökonomi-schen Transformation geschuldet (sie-he dazu den Beitrag von Gabor Schei-ring). Orban setzte auf die nationalisti-sche, „patriotische“ Karte, gegen die„kosmopolitischen“ Sozialisten und ih-re, in der MSZP-Ära groß gewordenen„Oligarchen“: Technokraten des Globa-lisierungsprozesses, Manager interna-tionaler, in Ungarn ansässiger Konzer-ne, Gewinner der Privatisierung, Profi-teure des EU-Beitritts.

Von der FIDESZ wurde den MSZP-Premiers Medgyessy und Gyurcsany da-bei auch ihre Vergangenheit als kom-munistische Funktionäre vorgeworfen:Medgyessy war stellvertretender Fi-nanzminister unter Kadar, GyurcsanySekretär der Jugendorganisation derKommunistischen Partei Ungarns. Inte-ressanterweise war allerdings auchausgerechnet Viktor Orban in seinerVergangenheit kommunistischer Spit-zenfunktionär, nämlich Vorsitzenderder kommunistischen Jugendorgani-sation KISZ.

Mit der absoluten Machtübernahmedurch FIDESZ war Orban nun auch inder realen politischen Lage, sein natio-nal-konservatives Projekt durchzuzie-hen. Mit einem neuen Mediengesetzwurde die Medienfreiheit empfindlich

Ungarische Oppositionelle zu Gast in Wien (v.l.n.r.): Julian Schmid (Übersetzung),Aron Tanos, Georg Prack (Moderation), Gabor Scheiring, Vera Zalka, Matyas Benyik.Foto: Gerhard Jordan

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und nachhaltig beschnitten, Arbeitneh-merInnenrechte wurden de facto abge-schafft, Arbeitslose zu Zwangsarbeitverpflichtet, Gewerkschaften hinsicht-lich ihrer Handlungsmöglichkeiten ent-machtet und entrechtet, die Unabhän-gigkeit der Gerichte und der Justiz ein-geschränkt.

„Das“ nationale Projekt schlechthinwar allerdings eine Verfassungsreform,ganz im Geiste des von FIDESZ be-schworenen und mythologisch über-zeichneten und verklärten „Ungarn-tums“: Der Passus „Republik“ wurdeaus dem Grundgesetz gestrichen, Un-garn heißt somit nur noch „Ungarn“und nicht mehr „Republik Ungarn“, da-zu passend die ungarische Krone indas Staatswappen eingefügt und zum„Symbol Ungarns“ und damit zum zen-tralen historischen Bezugspunkt er-klärt. Die Verbindung von Mann undFrau gilt künftig in Ungarn als einzige– in dieser Form ziemlich einzigartig –verfassungsmäßig verankerte, zulässigeForm der Ehe.

Trotz (oder gerade wegen?) des auto-ritären und chauvinistischen Kurseskommt die Politik von FIDESZ dabei beibreiten Bevölkerungsschichten durch-aus gut an, punktet Orban doch mitder „nationalistischen“ Karte – und„patriotische“ Appelle an das „Ungarn-tum“ gewürzt mit der entsprechendenDosis Rassismus, Antisemitismus undChauvinismus verfehlen ihr Ziel nicht.Das „nationale Trauma“ Trianon, alsUngarn nach dem ersten Weltkriegzwei Drittel seiner Fläche und ein Drit-tel seiner Bevölkerung verlor, sitzt tief,der „Opfermythos“ bleibt weitgehendunhinterfragt und wird von den herr-schenden politischen Eliten entspre-chend gehegt und gepflegt.

Wer verspricht, „Ehre“ und „Stolz“ Un-garns wiederherstellen, kommt gut anund kann auf breite Unterstützung zäh-len. Kritik aus dem europäischen Aus-land an seiner Politik wird von Orbanals unzulässige Einmischung abgetan,FIDESZ inszeniert sich als jene politi-sche Kraft, die Ungarn vor schädlichenEinflüssen von außen schützt. Das hatnatürlich Auswirkungen auf die ungari-sche Gesellschaft: Rassismus und Anti-semitismus sind inzwischen wieder sa-lonfähig geworden, Hetze gegen Romapolitischer und gesellschaftlicher All-tag. Gewerkschaften, linke Traditionenund linke Politikzugänge sind bezie-

hungsweise haben sich auch selbst inder Vergangenheit diskreditiert, die „an-tisozialistische“ Propaganda hat ihreWirkung nicht verfehlt. DemokratischeInstitutionen – wie eben eine Unab-hängige Justiz bzw. unabhängige Me-dien, BürgerInnen- und Freiheitsrechtehaben in einer Gesellschaft ohne demo-kratischen Hintergrund – nur wenig Un-terstützung zu erwarten. So weit zumpolitischen Zustand im Allgemeinen.Nun zu den Einschätzungen der gelade-nen Oppositionellen im Speziellen.

GABOR SCHEIRING, LMP:„FINALER KOLLAPS“Gabor Scheiring Abgeordneter der

LMP und Ökonom zieht eine vernich-tende Bilanz über den wirtschaftlichenTransformationsprozess von der realso-zialistischen Planwirtschaft zur Markt-wirtschaft: Der Transformationsprozesshabe schlichtweg in einer sozialen undökonomischen Katastrophe gemündet,so Scheiring. Er untermauert diese Be-hauptung auch mit den entsprechen-den volkswirtschaftlichen Kenndaten:•Das Preisniveau in Ungarn liege zwi-

schen 80 und 110 Prozent des EU-Durchschnitts, die Löhne lägen aller-dings nur bei 22 Prozent der EU-Ein-kommen – mit sinkender Tendenz.

•Hinsichtlich der Produktivität liegeUngarn mit 75 Prozent des EU-Durchschnitts zwar gar nicht soschlecht, die Produktivität interna-tionaler Konzerne in Ungarn liegeallerdings um das drei- bis vierfacheüber dem ungarischer Unterneh-mungen, was ungarische Betriebeim Vergleich zu ihren internationa-len Konkurrenten nur wenig wettbe-werbsfähig mache.

•Das Bruttoinlandsprodukt beläuftsich auf 65 Prozent des EU-Durch-schnitts, zwar sei die Wirtschaft ge-wachsen, allerdings habe es sich um„jobless growth“ – also Wachstum,das sich nicht in entsprechendemBeschäftigungswachstum niederge-schlagen habe – gehandelt.

•Die Erwerbsquote in Ungarn ist mit61,9 Prozent (2010) katastrophalgering und liegt deutlich unter demEU-Schnitt (EU-15: 74,6 Prozent, EU-27: 73,3 Prozent). Noch desaströserals im Ungarnschnitt stellt sich dieSituation in Ostungarn dar, mit Er-werbsquoten knapp an 50 Prozent.

Der Beitritt zur Europäischen Unionhabe sich angesichts des Produktivi-tätsrückstands der ungarischen Ökono-mie für die ungarische Bevölkerung alswirtschaftliches und soziales „Desas-ter“ dargestellt. Vom Transformations-prozess profitiert hätten die (alten) Eli-ten, die neuen MSZP-nahen „Oligar-chen“, als Technokraten des Moderni-sierungs- und Globalisierungsprozessesund Manager internationaler in Un-garn ansässiger Konzerne. Die „antiso-zialistische“ Kampagne der FIDESZwurde entsprechend als Kampagne ge-gen die sozialistischen Oligarchen ge-führt, gegen die Bevorzugung „interna-tionaler Investoren“ im Gegensatz zuungarischen Betrieben und ungari-schem Kapital.

Der von den Regierungen zuvor be-schrittene Weg der ökonomischenTransformation von der realsozialisti-schen Planwirtschaft zur global inte-grierten Marktwirtschaft wird zwarauch unter dem herrschenden FIDESZ-Regime konsequent weiterbeschritten– allerdings unter Bevorzugung der na-tionalen, FIDESZ-nahen „Oligarchen“und Eliten, unter besonderer Berück-sichtigung der Interessen nationalerKapitalfraktionen.

Vor diesem Hintergrund sind sowohlMaßnahmen im Bankenbereich (Ban-kensteuer, Zwangskonvertierung vonFremdwährungskrediten), die vor alleminternational agierende Bankhäusertreffen, Sondersteuern für ausländischeKonzerne bzw. Produkte (z.B. die ominö-se „Fettsteuer“ von der z.B. die ungari-sche Salami befreit ist) und die Einfüh-rung der Flat-Tax zu sehen – als auchder massive Abbau von Arbeitnehmer-Innenrechte, sowie die Frontal-Attackenauf Arbeitslose, Gewerkschaften undNGOs in Ungarn: Arbeit muss im Inte-resse der Wettbewerbsfähigkeit, derProduktivitätsentwicklung ungarischerUnternehmen und maximaler Verwert-barkeit, so billig, entrechtet und flexibeleinsetzbar sein, wie möglich.

Die Folgen dieser Wirtschafts- undSozialpolitik sind allerdings katastro-phal, wovon steigende Arbeitslosigkeitund wachsende Armut zeugen. Je kata-strophaler die ökonomische Situation,desto stärker, als Ablenkung vom allge-meinen Elend, die nationale Mobilisie-rung, desto autoritärer der politische

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Kurs. Regelrecht befeuert wird dieserweitere Ruck nach Rechts durch die of-fen rechtsextreme, rassistische und an-tisemitische Agitation der Partei Jobbikunter Gabor Vona, Gründer der parami-litärischen, faschistischen, inzwischenverbotenen Ungarischen Garde. DieJobbik positioniert sich als „antielitäre“Oppositionspartei gegen FIDESZ, umgleichzeitig gegen die ärmsten der Ge-sellschaft und die Arbeitslosen zu mo-bilisieren, so Scheiring.

Die LMP positioniere sich gegen FI-DESZ mit ihren Forderungen nach fai-ren Jobs, sowie nach einem grundle-gend neuen ökonomischen Modell, ori-entiert an einem beschäftigungswirk-samen, ökologisch und sozial verträgli-chen Wachstum. Soziale und wirt-schaftliche Plattformen, welche ent-sprechende Entwicklungen befördernsollen, unterstützen und anstoßen. In-ternationale Investoren müssten in re-gionale Ökonomien eingebettet sein.

Kritik kommt seitens der LMP aller-dings auch an den restriktiven EU-Vor-gaben: Der Fiskalpakt drohe die EU-Pe-ripherie – also die südeuropäischenund MOEL-Mitgliedsstaaten – regel-recht zu ersticken und aller budgetärenSpielräume zu berauben. Was diese Re-gionen allerdings bräuchten sei ein Re-gime, das wirtschaftliche wie sozialeEntwicklungen fördere – was der Fis-kalpakt allerdings verhindere.

MATYAS BENYIK: 4 MILLIONENUNGARN IN ARMUTDer Ökonom und Attac-Ungarn Vor-

sitzende Benyik setzte Seirings Beitragfort: Der ökonomische Transformations-prozess habe zur Verelendung breiterBevölkerungsschichten geführt und ins-besondere die Roma-Minderheit beson-ders schwer getroffen. 7 bis 10 Prozentder ungarischen Bevölkerung gehörenden Roma an: 700.000 bis eine MillionMenschen. Roma waren die ersten, dievom Zusammenbruch des Sozialismusund der folgenden wirtschaftlichenTransformation in aller Härte getroffenwurden. Sesshaft im ökonomisch ohne-hin eher unterentwickelten Ostungarn,beschäftigt als ungelernte ArbeiterIn-nen in der Industrie, schnellte die Ar-beitslosenrate im Zuge von Privatisie-rungs- und Rationalisierungsmaßnah-men, der Spezialisierung und der da-raus resultierenden Nachfrage nach

gut qualifizierten FacharbeiterInnensowie der Schließung von unrentablenFabriken, in die Höhe. Eine Reintegrati-on in den Arbeitsmarkt sei nicht mehrerfolgt – nicht zuletzt weil der größteTeil der Roma an der besonders struk-turschwachen slowakischen und serbi-schen Grenze leben, wo sie – nicht zu-letzt als Folge veränderter Machtver-hältnisse und der um sich greifendenökonomischen Krise – regelmäßig An-griffsziele der faschistischen Ungari-schen Garde wurden bzw. sind.

Armut ist allerdings bei weitem keinauf Roma begrenztes Phänomen – wasnicht weiter verwundert, bei dem be-stehenden Verhältnis zwischen Preisenund Löhnen. Während die RegierungOrban die Armutsrate in Ungarn mitelf Prozent, rund 1,2 Millionen Men-schen beziffert – was nicht über demEU-Durchschnitt liegt – gehen soziolo-gische Untersuchungen in Ungarn vonwesentlich höheren Armutsquoten aus:sie sprechen von knapp vierzig ProzentArmen – rund 4 Millionen Menschen.Mit Antritt der FIDESZ-Regierung istdabei die ohnehin schon hohe Armuts-rate unter sozialdemokratischen Regie-rungen (33 Prozent) noch einmal deut-lich gestiegen. Besonders dramatischdabei ist die wachsende Armut bei Kin-dern und PensionistInnen.

VERA ZALKA:GESPALTENES LANDDie Donau-Theiss-Linie teilt das Land

– nicht nur geografisch, sondern auchökonomisch und sozial – in West- undOstungarn, so Zalka. Ostungarn ist da-bei der weit rückständigere Teil undwurde im Zuge der ökonomischenTransformation wirtschaftlich wie sozi-al noch weiter abgehängt. Wirtschaftli-che Rückständigkeit bedeutet Arbeits-losigkeit und Armut, insbesondere Kin-der- und Altersarmut, wobei die Dra-matik kaum vorstellbar ist. Hier gibt esDörfer mit bis zu hundert Prozent Ar-beitslosigkeit, so Zalka, regelrechteRuinensiedlungen.

Die Politik habe nun zu entscheiden,welchen Gruppen aus den immer knap-per werdenden Mitteln Unterstützungzukommen sollte. Das führt zu un-glaublichen Härten. Inzwischen zurück-gekehrt: Hunger, so Vera Zalka, Unter-ernährung von Kindern (kürzlich fandin Ungarn ein „Hungermarsch“ von

fünfzig Betroffen – begleitet von hun-derten SympathisantInnen – aus demNordosten Ungarns nach Budapeststatt. Die Forderung: „Arbeit, Brot“).

Heute ist der Osten Hochburg vonJobbik, deren rassistische und antise-mitische Agitation hier auf fruchtbarenBoden fällt, während in Westungarndie Aversionen gegen das zunehmendverelende Ostungarn steigen. Die Spal-tung verläuft allerdings nicht nur zwi-schen Ost- und Westungarn – in Wirk-lichkeit ohnehin keine regionale, viel-mehr eine soziale und ökonomischeSpaltung, sondern auch unter denLohnabhängigen: Die Zahl der Min-destlohnbezieherInnen hat seit derRegierungsübernahme durch FIDESZrasant zugenommen und entsprechendauch die Einkommensunterschiede.Die Generation der „Babyboomer“ der1950er-Jahre geht demnächst in Pensi-on, nur, es ist kein Geld da. Und soplant FIDESZ – wie auch in Rest-Europa diskutiert wird – einfach dasPensionsalter zu erhöhen, das Problemalso aufzuschieben und stattdessen Al-tersarbeitslosigkeit in Kauf zu nehmen.

Die soziale und ökonomische Kluft inUngarn ist bereits enorm, die Politikvon FIDESZ hat sie vergrößert, droht sieweiter zu verschärfen und das politi-sche und gesellschaftliche Klima damitnoch mehr zu radikalisieren.

ARON TANOS: ZIVILGESELL-SCHAFTLICHER WIDERSTANDEs gibt allerdings auch Widerstand

gegen diese Entwicklungen – auchwenn die Zivilgesellschaft sich erst zuformieren beginnt und Orban mit sei-ner FIDESZ-Regierung, trotz weit ver-breiteter Unzufriedenheit, noch fest imSattel zu sitzen scheint. Aron Tanos (dt.„der Verdächtige“), Aktivist der Jugend-organisation „Solidaritas“, die heute inUngarn bereits an die sechstausendAktivistInnen zählt, berichtet davon,dass einmal mehr mit Facebook die Or-ganisation des Widerstandes begann.Ein nicht unwesentlicher Grund: Face-book-Mobilisierung kostet nichts, denndie Zivilgesellschaft in Ungarn ist nichtnur organisatorisch, sondern auch fi-nanziell schwach (Zitat von Tanos imVorfeld: „Und wenn ich ,schwach’ sage,entspricht das nicht eurer Vorstellungvon ,schwach’. Es ist viel schlimmer …“– was Tanos übrigens auch über die

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ungarischen Gewerkschaften sagt). AufFacebook entstand so die Gruppe „Mil-la“, „1.000.000 für Demokratie in Un-garn“, die unter anderem die Protestegegen das Mediengesetz organisierte.Aus „Milla“ entstand schließlich am1. Oktober 2011 „Solidaritas“. Mit EndeApril soll es an die Vernetzung der zar-ten, zivilgesellschaftlichen Pflänzchen,der fortschrittlichen Oppositionspartei-en und der Gewerkschaften gehen –um an einem „demokratischen RoundTable“ eine Allianz aller demokrati-schen Kräfte zu bilden. „Wir müssenagieren, wir haben keine Zeit über Un-terschiede zu diskutieren,“ so Tanosweiter. In einer zweiten Phase – mitden näher rückenden Wahlen – will„Solidaritas“ ExpertInnen zu Wort kom-men lassen, die alternative Wege ausder ungarischen Krise beschreiben sol-len. Durchaus möglich erscheint –wenn auch nicht unter Beteiligung von„Solidaritas“ – die Herausbildung einerneuen demokratischen Partei alsglaubwürdige Wahlkonkurrenz zu FI-DESZ (wobei die ExpertInnenfixierungnicht zuletzt vor dem Hintergrund tech-nokratischer „Expertenregierungen“ insüdeuropäischen Ländern, unproble-matisch erscheint, Anm.).

JOBBIK: BEI JUGEND POPULÄR,RABIAT ANTISEMITISCHDie größte Gefahr geht dabei – weil

sie massiv unter Jugendlichen wirbtund ihre paramilitärischen Vorfeldorga-nisationen starken jugendlichen Zulaufhaben – von Jobbik aus. Die ungari-sche Jugend droht an die extremeRechte verloren zu gehen, warnt Tanos,die demokratischen Kräfte müsstensich dringend was einfallen lassen.

Auch Tanos spricht den – geradeauch im Zuge der Wirtschaftskrise unddes von FIDESZ promoteten neu er-wachten ungarischen Nationalismus –dramatisch ansteigenden Antisemitis-mus an. Die Sündenbocksuche, wer fürdie tiefe ökonomische und gesell-schaftliche Krise in Ungarn verantwort-lich zeichne, hat längst begonnen. Dieextreme Rechte hat die „Schuldigen“auch schon gefunden – es ist „das Aus-land“, die Linken, die Roma, die Ar-beitslosen und natürlich die Juden.Jobbik kann dabei auf eine traurige,antisemitische Traditionen in Ungarnaufbauen (zur Erinnerung: während der

Horthyzeit wurden1922 die ersten an-tisemitischen Rassengesetze Europasbeschlossen), der Kampf gegen die Lin-ke, gegen den „Sozialismus“ wurdeauch mit antisemitischen Parolen ge-führt. Mit dem ideologischen Hinter-grund, linkes, fortschrittliches, liberalesGedankengut als „un-ungarisch“, alsnicht dem „ungarischen Geiste“ ent-sprechend, „von außen den Ungarnaufgezwungen“ zu diffamieren. DerJobbik-Vorsitzende kann ungestraftden Holocaust leugnen, auch im Parla-ment wird hemmungs- und weitgehendkonsequenzlos antisemitisch agitiert.Antisemitismus gewinnt bedrohlich an„Normalität“.

Ein Lichtblick: Am 15. April 2012 de-monstrierten über zehntausend Un-garn mit dem „Marsch des Lebens“ ge-gen Faschismus und Antisemitismusund gedachten der Opfer des Holo-caust. Kardinal Erdö nannte dabei ineinem Beitrag Antisemitismus als „un-vereinbar mit dem Christentum“.

Der radikale Abschied vom sozialisti-schen Erbe – bis zur konsequentenLeugnung dieses Teils ungarischer Ge-schichte – macht sich nicht nur in derVerfassung bemerkbar, sondern auchin der Bildungspolitik. War zu sozialisti-schen Zeiten das Bildungssystem gratisund sozial einigermaßen durchlässig,ist heute ein Studium kaum mehr leist-bar. Tanos nennt Zahlen: So gibt esheute 72.000 StudentInnen wenigerals noch vor einigen Jahren. Mit Aktio-nismus versucht etwa das Bildungs-netzwerk „HaHa“ auf den Bildungsnot-stand hinzuweisen. Die Folgen, die einderart repressives und ausgrenzendesBildungssystem für die wirtschaftlicheund gesellschaftliche Entwicklung mitsich bringt, sind jedenfalls absehbar.

AUSBLICKHinsichtlich der näheren ungarischen

Zukunft überwiegt Pessimismus – aller-dings mit einer geringen Portion Hoff-nung. „Die derzeitige Entwicklung istnur schwer aufzuhalten, weil so gutwie kein demokratisches Bewusstseinherrscht,“ fürchtet etwa Scheiring. Un-garn brauche einen Demokratisie-rungsprozess, der sei allerdings lang-wierig, eine demokratische Oppositionist erst im Entstehen, die Linke undfortschrittliche Ideen weitgehend des-avouiert. Die „totale Desillusionierung“

breiter Bevölkerungsschichten und derFall in eine tiefe Depression mit politi-scher Inaktivität tue ihr übriges dazu.

Auch strukturell sei ein kurzfristigerWandel schwierig: Das einmal mehrgeänderte, komplizierte Wahlrecht er-möglicht schon 2/3-Mehrheiten bei ei-nem Stimmenanteil von 45 Prozent. Ei-ne neue, glaubwürdige Oppositionmüsse überhaupt erst regionale Orga-nisationsstrukturen schaffen, um in ei-ner Wahlauseinandersetzung gegendie etablierte Großpartei der Rechten –FIDESZ – zu bestehen.

Tatsächlich erwarten sich die Opposi-tionellen Ungarns einiges vom begin-nenden zivilgesellschaftlichen Auf-bruch. Und was sich letztlich schwerabschätzen lässt: Werden die Desillu-sionierten und Frustrierten an dernächsten Wahl teilnehmen oder ein-fach zu Hause bleiben? Werden siemangels glaubwürdiger Alternativeselbst noch einmal FIDESZ die Stimmegeben? Gelingt es FIDESZ ihre treueAnhängerInnenschaft, deren Anzahlnicht zu unterschätzen ist, noch einmalmit der entsprechenden Dosis Patriotis-mus zu mobilisieren?

Eine gewisse Hoffnung setzen dieOppositionellen auf die EU. Da ist ein-mal das angestrebte Art. 7-Verfahren.Und ein EU-Mitgliedsland Ungarn ste-he unter permanenter Beobachtungund könne sich nicht alles leisten (wo-bei die aktuellen politischen und öko-nomischen Entwicklungen innerhalbder EU auch im Zeichen der Entdemo-kratisierung und einer autoritären Wirt-schaftspolitik stehen, Anm.).

Was den ungarischen Oppositionel-len jedenfalls ein zentrales Anliegenist: Die Vernetzung und Kooperationmit demokratischen Gruppierungen,Parteien und zivilgesellschaftlichen Ini-tiativen in den anderen EU-Staaten.Wir nehmen dieses Anliegen gerne auf.

Eine umfangreiche Linksammlung zuUngarn im Blog „diealternative.org/belve-deregasse“ im Anhang an diesen Artikel.

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euer wäre der Widerstandskämpferund Auschwitz-Überlebende Prof. Her-

mann Langbein (1912—1995) hundertJahre alt geworden. Am 16. April würdigtedie Arbeiterkammer-Oberösterreich den

Streiter für Demokratie und Menschenrechte miteinem Festakt, an dem dreihundert SchülerInnen undLehrerInnen teilnahmen.

Prof. Hermann Langbein ist als Chronist und Erfor-scher der Mordfabrik Auschwitz bekannt. Zu seinenBüchern gehören das Standardwerk „Menschen inAuschwitz“ und die autobiographische Dokumentati-on „Die Stärkeren“. Anfang der 1960er Jahre hatte ergroßen Anteil am Zustandekommen der FrankfurterAuschwitz-Prozesse. Er trug wesentlich zur Aufklä-rung über die NS-Verbrechen bei und initiierte dieZeitzeugenaktion, bei der Verfolgte des Hitler-Re-gimes in den Schulen berichteten.

In ihrer Festrede im Kongresssaal der AK-Linz sagteBundesministerin Gabriele Heinisch-Hosek, HermannLangbeins Botschaft sei hochaktuell. Jeder und jedeEinzelne trage Mitverantwortung für die Bekämpfungvon Rassismus und Rechtsextremismus. Dies gelte esbesonders der Jugend nahezubringen.

„Wir können das unrühmliche Kapitel des Faschismusnicht abschließen, weil seine Ideologie noch immer ei-ne Gefahr darstellt. Deshalb fördern wir die demokra-tiepolitische Bildung an Schulen“, betonte Arbeiter-kammer-Präsident Dr. Johann Kalliauer.

Univ.-Prof. Dr. Anton Pelinka nannte Hermann Lang-bein einen unbeugsamen Moralisten und ein Vorbild,das in seiner Humanität und Bescheidenheit nichtleicht zu erreichen sei.

Kurt Langbein erinnerte sich in sehr persönlichenWorten an seinen Vater: „Er hat nicht mit starrenRegeln erzogen, sondern mit Vertrauen und Zuver-sicht begleitet.“

Die oberösterreichische Arbeiterkammer erinnerte mit einem Festakt an den politischen Aufklärer

Prof. HERMANN LANGBEIN

Am Ende des Festaktes, der von der Gruppe Kohelet 3musikalisch umrahmt wurde, überreichten Bundes-ministerin Heinisch-Hosek und AK-Präsident Kalliau-er an fünf Schulklassen das Buch „Man muss darüberreden – Schüler fragen KZ-Häftlinge“.

Anschließend begann das Hermann-Langbein-Sym-posium, das bis 20. April LehrerInnen und Schüler-Innen hochwertige Referate und Diskussionen zuzeitgeschichtlichen Themen und ihren aktuellenBezügen bot.

Abends wurde, ebenfalls im Kongresssaal der AK-Linz, die neue Hermann-Langbein-Biographie „Zeitle-bens konsequent“ von der Autorin Dr.in Brigitte Halb-mayr und Univ.-Prof. Dr. Anton Pelinka präsentiert.