Anna –voll Rohr - von Marcel Huwyler · eine Lehre als Landwirtin. ... zum Melken.» Auf ihrem...

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SCHWEIZER ILLUSTRIERTE SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 38 39 Anna – voll Rohr Wenn sie Alphorn bläst, bleibt einem die Luft weg. Die 15-jährige ANNA RUDOLF VON ROHR aus Selzach SO ist ein Riesentalent. Und beweist, wie exotisch Urchiges klingen kann. Dampf ablassen Anna auf dem Weg zur Mehrzweck- halle Niedergösgen SO, wo sie beim Wettbewerb «Folklorenachwuchs» auftritt. Im Hintergrund dampft das Kernkraftwerk.

Transcript of Anna –voll Rohr - von Marcel Huwyler · eine Lehre als Landwirtin. ... zum Melken.» Auf ihrem...

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Anna – voll RohrWenn sie Alphorn bläst, bleibt einem die Luft weg.

Die 15-jährige ANNA RUDOLF VON ROHR aus Selzach SO ist ein Riesentalent. Und beweist,

wie exotisch Urchiges klingen kann.

Dampf ablassen Anna auf dem Weg zur Mehrzweck-halle Niedergösgen SO, wo sie beim Wettbewerb «Folklorenachwuchs»

auftritt. Im Hintergrund dampft das Kernkraftwerk.

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Fabrikareal statt Festwiese. Anna zaubert überall

HeimatklängeAsphaltierter Übungsraum Vor ihrem Auftritt beim «Folklore-

nachwuchs» spielt sich Anna auf dem Hinterhof einer Fabrik warm.

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Textile Schalldämpfer Bei schlechtem Wetter übt Anna im Keller. Mamas aufgehängte

Wäsche schluckt die lauten Töne.

Daheim in Selzach SOMutter Erna, 46, Vater René, 49.

Anna im Edelweiss-Hemd mit dem Familienhund.

Zukünftige Bäuerin Anna hilft auf dem Hof von Peter

Vögeli mit. Im Sommer beginnt sie eine Lehre als Landwirtin.

«Meine beste Schülerin»Seit fünf Jahren besucht Anna

den Alphornunterricht bei Ruedi Bauriedl in Bettlach SO.

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Der Folklorenachwuchs im

Wettstreit. Fair wie Schwinger

Backstage Anna kurz vor ihrem Finalauftritt,

hinter ihr wartet Handörgeler René Reichmuth von Diä Gächä.

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TEXT MARCEL HUWYLER FOTOS KURT REICHENBACH

Wer so heisst, braucht keinen Künstler-namen.

Anna Rudolf von Rohr. Anna ist 15 und spielt Alphorn.

Virtuos, furios – einfach grandios. Das ist der Final. «Folklore-

nachwuchs». Den ganzen Tag tra-ten junge Formationen auf, jetzt dürfen die zwölf besten nochmals aufspielen. Das Publikum im Saal applaudiert, Scheinwerfer blen-den, auf der Bühne ragen Mikro-fone in die Höhe, so zahlreich und dicht wie Jungtännchen in einer Baumschule. Radio SRF Musik-welle überträgt live, «willkomme dihei am Radio und do im Saal», es ist Samstagabend, 20 Uhr, bes-te Sendezeit.

Anna Rudolf von Rohr. Sie betritt die Bühne, Start-

nummer 9, «die isch s Zähni», raunt ein Zuschauer. Anna schielt scheu zur Fachjury, die auf einem Holzpodium hockt wie Jäger auf dem Hochsitz. Sie umfasst ihr Alphorn, schliesst die Augen und spielt. Ihr Finalstück. «Uf em Bettlestock». So atemberaubend schön, auf so hohem Niveau, wie sie das Stück interpretiert, müss-te es «Uf em Everest» heissen.

Ein paar Stunden vorher. Zehn Uhr am Morgen. Anna ist übel, die Autofahrt von ihrem Wohnort hierher plagt ihren Ma-gen. Begleitet wird sie von ihrer Mama, Erna Rudolf von Rohr, 46. Vater René, 49, hütet daheim den Hund (zum Final wird er dann doch noch eintreffen). Anna trägt eine Solothurner Tracht, man habe das gute Stück für hundert Franken auf einem Markt erstan-den, erzählt die Mama. Anna will sofort den Saal sehen, wo sie heute ihre Auftritte hat. «Doch,

ja, die Akustik ist gut.» Ein Ort, wo man gewinnen kann? Sie lacht, ist verlegen, windet sich, sagt: «Die anderen sind auch gut.» Im Laufe dieses Tages werden wir lernen, dass grandioses Alphorn-spiel wohl eine ähnlich delikate Herausforderung ist, wie Anna süffige Interview-Antworten zu entlocken.

«Folklorenachwuchs» ist so etwas wie die Junioren-Schwei-zer-Meisterschaft für Jodel, Alp-horn und Volksmusik. Das sind reizende Worte für die einen, Reiz-worte für die anderen. Kaum eine Musikszene wird von Unkundi -gen und Spöttern so gnadenlos in die Heile-Welt-Schublade ver-senkt wie die Musik fürs Volk. Fast könnte man meinen, die Organi-satoren wollten mit der Wahl des Austragungsortes trotzig einen Kontrapunkt setzen: Niedergös-gen SO, Industriegebiet, Mehr-zweckhalle, am Horizont dampft der Kühlturm des Kernkraftwerks Gösgen. Auch das ist Heimat. Ein Helfer am Dorfeingang stoppt je-des Auto und fragt: «Zum Trach-tenfest?» Nicht jeder kennt sich mit den Nuancen dieser Szene aus.

Anna stammt aus Thailand. Familie Rudolf von Rohr mit ih-ren zwei Kindern lebte mehrere Jahre nahe bei Bangkok, wo Vater René für eine Schweizer Firma ar-beitete. Anna ist drei Jahre alt, als sie von der Familie adoptiert und mit in die Schweiz genommen wird. Beim Wandern, im Muota-tal, hört die kleine Anna erstmals Alphornklänge. Da ist sie fünf. Fortan spricht das Kind von nichts anderem. Zu ihrem zehn-ten Geburtstag bekommt Anna eine Probelektion geschenkt bei Alphornmeister Ruedi Bauriedl.

Der 72-Jährige aus Bettlach ist Solist, Komponist, Juror und Lehrer. Noch heute funkeln seine Augen, wenn er erzählt, wie da-mals dieses kleine Mädchen mit

den schwarzen Zöpfen in seinem Übungskeller stand und partout Alphorn spielen wollte. Bauriedl lehrt Anna, wie man mit der Zun-ge saubere Töne anstösst, erklärt ihr das kindgerecht, «wie wenn du Brotbrösmeli auf der Lippe wegspuckst». Anna lernt schnell, sie hat Ehrgeiz, Willen «und eine Wahnsinnsbegabung», schwärmt Bauriedl, «so eine Schülerin hat-te ich noch nie».

Familie Rudolf von Rohr wohnt in einem Haus am Jurasüd-fuss, oberhalb Selzach, mit Blick auf die Aareebene. Bei Sonnen-schein spielt Anna am Waldrand, wenns regnet im Keller zwischen Hemden, Hosen und Leintüchern, die da an der Leine zum Trocknen hängen. Die Wäsche funktioniert wie ein Schalldämpfer, schluckt selbst brachialste Klänge. Etwa Annas Grund-C, den tiefsten Alphornton, der wie ein Dampf-schiffsignal dröhnt. Anna beherr-sche den perfekt, sagt Lehrer Bau-riedl, «so schön tief und rein – ich selber bringe den nie so hin».

In Annas Zimmer. Ein Plüsch-tier in Broccoli-Form, ein Kuhfell als Teppich, und auf einem Poster sind alle Viehrassen aufgelistet. Im Sommer beginnt Anna eine dreijährige Lehre zur Landwirtin. Eine ungewöhnliche Berufswahl, zumal die Eltern nichts mit Bau-ern zu tun haben, mal abgesehen von Mutter Erna, die als Imkerin 15 Bienenvölker hegt. Die Schnup-perlehre (nie war der Begriff zu-treffender) absolvierte Anna im Dorf auf dem Bauerngut Vögeli-hof. Wo sie seither mehrmals die Woche mithilft. Bauer Peter Vöge-li sagt, das Mädchen verstehe sich besonders mit dem Vieh sehr gut. Und Anna selber? Fährt am liebs-ten Traktor. «Mir gefällt die Arbeit in der Natur und mit den Tieren, und ich kann zupacken», sagt sie. Früher trug sie ihr Haar lang, jetzt hat sie es abgeschnitten: Beim

Hohes Gericht Mitten im Saal, auf einem Holz-podium, thront die Fachjury und urteilt über die Jungmusikanten.

«Wa meinsch?» Alphornexperte Peter Baumann (l.)

beurteilt mit einem Jury- Kollegen die Auftritte der Jungen.

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Duschen, nach der Stallarbeit, trockne kurzes Haar schneller, sagt Anna. Wer in der Alphorn-Szene mit (breitbeinig) gestande-nen Mannen mittun will, muss die Dinge unkompliziert anpacken.

Zu jung, zu gut. Bisher durfte Anna bei Alphornfesten zwar mitmachen, wurde aber nicht prämiert, das Reglement erlaubt dies erst ab dem 15. Altersjahr. «Dabei hätte sie früher schon Spitzenplätze belegt», meint Alp-hornlehrer Bauriedl. Vor weni -gen Wochen hatte Anna Geburts-tag, nun darf sie sich offiziell mit den Besten der Szene messen. Der «Folklorenachwuchs» ist da gewissermassen das Warmblasen für künftige grosse Festanlässe.

Zuerst allerdings muss Anna die Qualifikation überstehen. 27 For-mationen jodeln, blasen, örgeln, fiedeln und zäuerlen um einen der zwölf Finalplätze. Punkt 11.28 Uhr hat Anna auf der Bühne zu stehen und zwei Stücke zu blasen. Vorher spielt sie sich warm. Dazu braucht sie Ruhe und viel Platz. Da ist es ganz praktisch, dass die Mehr-zweckhalle mitten im Industrie-gebiet steht. Und so hallt kurz da-rauf Annas warmer Alphorn-sound im Hinterhof einer Fabrik für Spritzguss-Kunststoffteile.

Mit leerem Magen könne sie nicht spielen, sagt Anna. Wäh-rend sie noch einmal die Musik-noten ihrer beiden Qualifika tions-stücke studiert, knabbert sie an einem kalten Wienerli. Dann gehts um die Wurst. Runter in den Keller, vorbei an der Garde-robe des FC Azzurri, hinten hoch zum Bühneneingang. 11.28 Uhr. Anna spielt «Des Sennen Alltag» und «Vor Blüemlismatt». Virtuos, furios – einfach grandios.

Anna, wie wars?«Ich ha all Tön preicht.»Reicht das für den Final?«Frog d Jury.» (An der Medien-

arbeit muss sie noch feilen.)

Nun heisst es warten. Anna setzt sich ins Publikum zu ihrer Mutter. Auch Caspar Riedi ist da, er spielt mit Anna in der Alp-horngruppe Echo vom Jura. Der Mann ist 86. Das Mädchen sei fan-tastisch, phänomenal, ein Natur-talent, sagt er. «Ich spiele seit 37 Jahren Alphorn, aber so wie Anna bring ich das nie hin.»

Die Jury, sechs Experten, ta-xiert Tonkultur, musikalischen Ausdruck, Blastechnik (Treff-sicherheit, Beweglichkeit, Into-nation), Interpretation (Dynamik, Phrasierung, Artikulation, Me-trik, Rhythmik, Agogik, Tempo).

Das Warten macht zapplig. An-na und ihre Mutter gehen spazie-ren. Unterwegs kaufen sie Nüssli-salat, Annas Lieblingssalat, sie isst ihn nature, saucenlos.

Endlich. 17 Uhr. Die Jury ent-scheidet: Anna ist … im Final. Erfolg macht sie verlegen, ver-schämt verbirgt sie ihr Gesicht hinter den Haaren und wehrt dro-hende Interviewfragen geschickt ab, indem sie auf ihre Uhr deutet: «Jetzt wär auf dem Vögelihof Zeit zum Melken.» Auf ihrem Handy zeigt sie zwei Fotos: ihre Lieblings-kuh Winny, ihr Lieblingskalb Wanda. Mutter Erna sagt, sie selber höre SRF 3, die anderen Familien-mitglieder seien auch nicht grad Folklore-verrückt. «Erst Anna hat uns diese Musik nähergebracht.»

Dann – der Final. 20 Uhr. Vor Anna treten die Geschwister Buri auf, nach ihr Diä Gächä. Alle sind nervös. Man nickt sich zu, wünscht Glück, reicht sich die Hand. Fair wie Schwinger.

Anna auf der Bühne. 1,58 Me-ter wild entschlossene Zierlich-keit. Ihr Alphorn, Fichtenholz, mit Peddigrohr umwickelt, 3,47 Me ter lang, Marke Berna tone, jedes ein Unikat, «Nr. 742» steht auf Annas Schallbecher. Anna spielt. Anna zaubert. «Uf em Bettlestock». Alles wird zum Resonanzkörper, die Bühne, das Publikum, die ganze Mehrzweck halle Nieder-gösgen schwingt zu Annas Klän-gen. So exotisch kann Heimat klingen: erdige Töne, filigrane Spielereien, neckische Klangflirts, urchiger Groove, Freejazz und Alpsegen, spannend, entspannend. Anna Rudolf von Rohr. Voll Rohr. Wow.

Anna, wie wars?«De zwoitletscht Ton isch mir

abegheit.»Reicht das für den Sieg?«Einisch muesch z fride sii.»Anna wird Zweite. Gewinnt

aber den zusätzlich verliehenen Jury-Preis: einen TV-Auftritt, «Viva Volksmusik», die Sams-tagabend-Show von SRF Ende Januar. Anna ist verlegen, stolz, erleichtert, sie sagt «zufrieden». Eigentlich bekäme sie in zehn Tagen eine Zahnspange, man war-tet nun bis nach der TV-Sendung.

Anna, warum Alphorn?«Weil ich gern Alphorn höre.

Da ist es am einfachsten, wenn ich die Musik gleich selber mache.»

Anna erhält 1000 Franken Preisgeld, «für die musikalische Weiterentwicklung», empfiehlt die Jury. Anna spart das Geld, für einen Same Dorado 70, ihren Lieblingstraktor.

Mutterstolz Geschafft! Die Jury verkündet: Anna ist im Final. Erna Rudolf von Rohr herzt ihre Tochter.

Annas exotische Klänge:

Freejazz und Alpsegen

Jetzt gehts um die Wurst Während Anna noch einmal die

Noten studiert (Schwieriges hat sie leuchtfarbig markiert),

isst sie ein kaltes Wienerli.

Mit viel Luft und Talent Anna auf der Bühne. Überall

stehen Mikrofone für die Live-Übertragung im Radio.

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