archithese 3.12 - Der Bau der Gemeinschaft / Construction Community
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Leserdienst 108
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architheseDer Bau der Gemeinschaft – Ausstellung in Basel
Zur Vorgeschichte des Ersten Goetheanum
Bauten von Rudolf Steiner in der Umgebung des Goetheanum
Bauchronologie
Partizipation: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
Die Medialisierung des Goetheanum
Fotografische Dokumentation
Goethes Beitrag zur Architektur des Dornacher Hügels
Fotografien als bauhistorische und urbanistische Zeugnisse
Arcosanti und Paolo Soleri
Gigon/Guyer Prime Tower, Zürich
Esch Sintzel Fussgängerpassage in Chur
3.2012
Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur
International thematic review for architecture
Der Bau der Gemeinschaft
Constructing Community
4 archithese 3.2012
E D I T O R I A L
Der Bau der Gemeinschaft
In der Silvesternacht des Jahres 1922 brannte mit dem Ersten Goetheanum in
Dornach eines der ungewöhnlichsten Bauwerke seiner Zeit nieder. Der Grün-
dungsbau der anthroposophischen Bewegung war zerstört, noch bevor er tat-
sächlich fertiggestellt und offiziell eingeweiht werden konnte.
Historische Fotos sind die wesentlichen Zeugnisse, die heute noch einen an-
schaulichen Eindruck des hölzernen Doppelkuppelbaus auf dem Hügel über dem
damaligen Dorf vermitteln. Dazu kommen Pläne, Zeichnungen, Entwürfe, aber
auch schriftliche Zeugnisse und einzelne aus der Ruine geborgene Spolien.
Anhand von ausgewählten Materialien widmet sich das S AM Schweizerische
Architekturmuseum in Basel derzeit dem Ersten Goetheanum mit einer Ausstel-
lung unter dem Titel Der Bau der Gemeinschaft (bis 29. Juli 2012; kuratiert von
Hubertus Adam und Elena Kossovskaja). Die Schau versteht sich gleichsam als
archäologische Tiefenbohrung und als Versuch einer gedanklichen Rekonstruk-
tion.
Eines der Themen ist die fotografische Dokumentation des Gebäudes und ihre
Bedeutung für die Rezeption und Popularisierung dieses ersten anthroposophi-
schen Zentralbaus in Dornach. Stärker als das spätere Zweite Goetheanum wurde
das Erste Goetheanum als kollektiver Bau, als Bau von und für eine Gemeinschaft
errichtet. Dies ist ein zweites Thema der Ausstellung, bei welcher das S AM mit
dem Staatsarchiv Basel-Stadt, mit dem Rudolf Steiner Archiv, dem Archiv der
Kunstsammlung und dem Planarchiv am Goetheanum Dornach sowie dem Privat-
nachlass Wilhelm und Gertrud von Heydebrand-Osthoff in Arlesheim kooperiert.
archithese hat sich in der Vergangenheit immer wieder mit architekturhistori-
schen Fragestellungen auseinandergesetzt. Das vorliegende Heft ist in Koopera-
tion mit dem S AM entstanden; es greift die Themen der Ausstellung auf und führt
sie auf eigenständige Weise weiter. Wir glauben, dass Fragen der Partizipation
und des gemeinschaftlichen Bauens nichts an Aktualität verloren haben.
Hubertus Adam, Hannes Mayer
In eigener Sache: In Kooperation mit dem Staatsarchiv des Kantons Basel-Stadt
findet der Release dieses Heftes in den Räumlichkeiten des Staatsarchivs Basels
im Rahmen des Talks: Dokumente, Monumente? Das kulturelle Gedächtnis und
seine Orte statt.
Teilnehmer: Esther Baur (Staatsarchivarin Staatsarchiv Basel-Stadt), Walter
Kugler (Rudolf Steiner Archiv, Dornach), Hubertus Adam (Künstlerischer Leiter
S AM, Chefredaktor archithese). Anschliessend Apéro im Hof, offeriert von archi-
these.
Termin: Donnerstag, 21. Juni, 19 Uhr, im Staatsarchiv Basel-Stadt, Martins-
gasse 2, 4051 Basel.
Schnittmodell des
Ersten Goethe-
anum, 1913. Foto
des Atelier von
Heydebrand-Ost-
hoff
(Foto: Staatsarchiv Basel-Stadt, Nach-lass von Heyde-brand-Osthoff)
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12 archithese 3.2012
GIGON/GUYER: PRIME TOWER, ZÜRICH
Mit dem Prime Tower an der Hardbrücke
hat sich die Silhouette der Stadt Zürich
verändert. Hochhäuser sind zunächst von
Überlegungen maximaler ökonomischer
Präsenz bestimmt, doch Gigon/Guyer ist es
gelungen, daraus auch ästhetisch Kapital
zu schlagen.
Text: Hubertus Adam
Seitdem ich in Zürich wohne, sind mir die Hardau-
Hochhäuser von Max P. Kollbrunner zu einem Zei-
chen der Stadt geworden. Immer etwas dunkel,
immer ein wenig dräuend, aber in ihrer puren Form
reinste Geometrie melden sie mir, dass ich bald zu
Hause bin, wenn sie – reise ich mit der Eisenbahn
von Westen her an – in mein Gesichtsfeld geraten.
Nun haben die Hardau-Hochhäuser Konkurrenz
bekommen. Der Prime Tower ist das ziemliche
Gegenteil der Hardau-Hochhäuser. Es ist ein einzi-
ger Turm – nicht eine Vielzahl von ihnen; er steht
nicht in einem Wohngebiet, sondern an zentraler
Lage in Zürich-West; er dient nicht dem Wohnen,
sondern einer Reihe unterschiedlicher kommer-
zieller Nutzungen; er wirkt nicht dunkel, sondern
glitzernd, schimmernd, irisierend; und seine Form
ist nicht stereometrisch klar, sondern nach oben
hin differenzierend gegliedert, sodass er – je nach
Perspektive und Standort in der Stadt oder aus-
serhalb von ihr – unterschiedlich in Erscheinung
tritt. Immer aber unübersehbar. Auch wenn die 126
Höhenmeter sich im weltweiten Vergleich beschei-
den ausnehmen und der Stab des Staffelrennens
um den Schweizer Rekord in absehbarer Zeit an
den Roche-Tower in Basel übergeben wird: Für
Zürich, in dem dumpf-populistische Parteien auch
einmal ein – wenn auch kläglich gescheitertes –
Volksbegehren mit dem Postulat «Vierzig Meter
sind genug» lancieren können, ist der Prime Tower
tatsächlich hoch. So hoch, dass beim Blick aus
den obersten Geschossen, vor allem aus dem Bar-
Restaurant Clouds, ganz Zürich eine einzige Mo-
delleisenbahnanlage zu sein scheint, an welche
sich die Kulisse aus See und Bergen anschliesst.
1
A R C H I T E K T U R A K T U E L L
Zürichs Schwerpunkt verschiebt sich
1, 2, 3, 4, 5, 10, 15, 16 Bildstrecke Prime Tower (Fotos: Walter Mair)
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2
36 archithese 3.2012
Text: Hubertus Adam
In Absetzung von den als «materialistisch» kritisierten Ten-
denzen der Zeit entstanden im 19. Jahrhundert neue weltan-
schauliche Angebote. Helena Petrovna Blavatsky und Henry
Steel Olcott gründeten 1875 in New York die Theosophische
Gesellschaft, die auf der Idee einer kulturübergreifenden
universalen Bruderschaft der Menschen beruhte. Grundge-
danken der von der Theosophischen Gesellschaft vertrete-
nen Theosophie waren der gemeinsame esoterische Kern
aller Religionen sowie die Ideen von Karma und Reinkarna-
tion. Dabei verstand sich die Lehre – und hierin ganz Kind
des 19. Jahrhunderts – als empirische und wissenschaftli-
che Weltanschauung.
VON MÜNCHEN NACH DORNACH
Der Weg zum Ersten Goetheanum Im Jahr 1913 fiel die Entscheidung, den zentralen Bau der anthroposo-
phischen Bewegung nicht in München, sondern in Dornach zu errichten. Das bedeutete, das bestehende
Projekt nicht nur zu translozieren, sondern den neuen Gegebenheiten des Ortes anzupassen. Binnen Kurzem
veränderte es seine Gestalt – ein Formenwandel, der noch heute Rätsel aufgibt.
Theosophie und Anthroposophie
Blavatsky und Olcott übersiedelten nach Südindien, konver-
tierten zum Buddhismus und leiteten die Theosophische
Gesellschaft von Adyar bei Madras aus. Nach dem Tod Bla-
vatskys kam es 1891 zur Spaltung – in die von Olcott gelei-
tete Theosophische Gesellschaft Adyar (Adyar-TG) und die
Theosophische Gesellschaft in Amerika (TGinA), welche ih-
ren Hauptsitz in Lomaland bei San Diego in Kalifornien auf-
baute.
1902 bildet sich eine deutsche Sektion der Adyar-TG, als
deren Generalsekretär Rudolf Steiner (1861–1925) fungiert.
Noch während seines Studiums der Naturwissenschaften in
Wien hat er mit der Herausgabe der naturwissenschaftli-
chen Schriften von Goethe begonnen – eine Tätigkeit, für die
er 1890 nach Weimar übersiedelt. Neben einer neoplatoni-
schen, auf die in der Natur sich konkretisierende Ideenwelt
fokussierenden Interpretation Goethes prägen der Monis-
mus des Evolutionsbiologen Ernst Haeckel und die Philo-
sophie Friedrich Nietzsches seine Vorstellungswelt. 1897
verlässt Steiner Weimar und zieht nach Berlin, wo er sich
in Zirkeln der literarischen Bohème bewegt und als Redak-
teur und Herausgeber einer Literaturzeitschrift tätig ist,
zunehmend aber auch als Vortragsredner – vor Institutionen
der Arbeiterbildung, in Intellektuellenzirkeln wie dem
Giordano-Bruno-Bund oder den «Kommenden» und vor theo-
sophischen Gruppierungen.
Das Nebeneinander einer stärker von fernöstlichen Vor-
stellungen geprägten Auslegung der Theosophie, wie es von
der Zentrale in Adyar vertreten wird, und einer westlicheren
Interpretation des deutschen Ablegers, die von Traditionen
der christlichen Mystik und des deutschen Idealismus be-
stimmt ist, bildet ein latentes Konflitkpotenzial. Als die
Adyar-TG seit 1909 den Hindujungen Krishnamurti als
neuen Heiland aufbaut, ist der Keim für eine neue Spaltung
gelegt. 1912/1913 konstituiert sich die deutsche Sektion der
Adyar-TG neu als Anthroposophische Gesellschaft (AG).
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37
2
Zur Definition der Anthroposophie schreibt Steiner: «Unter
Anthroposophie verstehe ich eine wissenschaftliche Erfor-
schung der geistigen Welt, welche die Einseitigkeiten einer
bloßen Natur-Erkenntnis ebenso wie diejenigen der ge-
wöhnlichen Mystik durchschaut und die, bevor sie den Ver-
such macht, in die übersinnliche Welt einzudringen, in der
erkennenden Seele erst die im gewöhnlichen Bewusstsein
und in der gewöhnlichen Wissenschaft noch nicht tätigen
Kräfte entwickelt, welche ein solches Eindringen ermögli-
chen.»1 Weil Steiner die Anthroposophie als einen Erkennt-
nisweg versteht und nicht als dogmatische Lehre, ist das in
unzähligen Vorträgen, Aufsätzen und Büchern entwickelte
Gedankengebäude überaus komplex. Durch Imagination,
Inspiration und Intuition sollen die Fähigkeiten der Seele –
Denken, Fühlen, Wollen – weiterentwickelt werden, sodass
der Mensch eins wird mit den «welterschaffenden Wesen-
heiten» und Einblick in das Weltgedächtnis erhält.
Die praktische Umsetzung seiner damals noch Theoso-
phie genannten Lehre beginnt Steiner ab 1907: «Die Theo-
sophie kann man auch bauen: man kann sie bauen in der
Architektonik, in der Erziehung, in der sozialen Frage.»2 Mit
der Aufführung der Mysteriendramen in München (1910 bis
1913), der Ausbildung einer neuen, Eurythmie genannten
Bewegungskunst und dem programmatischen Bauwerk des
Ersten Goetheanum seit 1913 in Dornach schafft er vor dem
Ersten Weltkrieg eine Reihe von Möglichkeiten des ästheti-
schen Erlebens der Anthroposophie. Mit dem Bauvorhaben
in Dornach, das auch eine Anthroposophen-Kolonie umfasst,
verschiebt sich der Schwerpunkt von der ästhetischen zur
gesellschaftlichen Praxis. Die von Steiner seit 1917 entwi-
ckelte Idee der «sozialen Dreigliederung» wird besonders in
der als Epochenschwelle zu verstehenden Umbruchsituation
nach Ende des Ersten Weltkriegs diskutiert; 1919 entsteht
die erste Waldorfschule. In den Folgejahren gibt die Anthro-
posophie weitere Impulse, die bis heute bestehen – so die
anthroposophische Medizin mitsamt der Arzneimittelpro-
duktion Weleda und die biologisch-dynamische Landwirt-
schaft mit Produkten des Labels Demeter.
Das Münchner Projekt und seine Vorläufer
Tempel- und Kultbauvisionen erfreuten sich um 1900 in
reformerischen Kreisen grosser Beliebtheit. So trat auch
die Theosophin Mieta Waller 1908 an Steiners Sekretärin
Marie von Sivers mit der Idee heran, «dem Worte Rudolf
Steiners einen ‹Tempel› zu bauen»3 – eine Idee, die bei Stei-
ner selbst auf Reserviertheit stiess. Allerdings hatte er
die Notwendigkeit erkannt, die Versammlungsorte der theo-
sophischen Bewegung künstlerisch auszugestalten. Dies
war zum ersten Mal anlässlich des 4. Kongresses der Fö-
deration europäischer Sektionen der Theosophie 1907 in
München geschehen. Nach Skizzen Steiners hatte der Maler
Carl Stahl in den Kaim-Sälen in der Türkenstraße sieben ge-
malte Planetensäulen mit unterschiedlich gestalteten Ka-
pitellen installiert; hinzu kamen Rundmedaillons mit apo-
kalyptischen Siegeln, angefertigt von der Malerin Clara
Rettich.4
Die Gestaltung des Saals blieb nicht ohne Auswirkungen:
Der Student E. A. Karl Stockmeyer, selbst Teilnehmer des
Kongresses, hatte sich zunächst mit den Kapitell- und Sie-
gelmotiven beschäftigt und lud im August 1908 Rudolf Stei-
ner nach Malsch bei Karlsruhe ein, um Ratschläge für einen
«Modellbau» auf dem elterlichen Grundstück einzuholen.5
Steiner sprach von einer aus elliptischen Formen zusammen-
gesetzten Kuppel, die von zwei mal sieben Planetensäulen
getragen wird, welche den Umgang vom Zentralraum tren-
nen. Zunächst dachte Stockmeyer offenkundig an ein grös-
seres Gebäude; ausgeführt wurde es – möglicherweise auf-
grund der Intervention von Steiner – schliesslich als
(immerhin begehbare) Miniatur mit einer Säulenhöhe von
lediglich 87 Zentimetern. Die Grundsteinlegung ereignete
sich im April 1909, doch wurden die Arbeiten noch im Roh-
bauzustand eingestellt. Die finale Fertigstellung erfolgte
erst 1965 durch Albert von Baravalle.
Schon 1910 besuchte der Stuttgarter Architekt Carl
Schmid-Curtius, Partner des Büros Martz und Schmid, den
Modellbau in Malsch und realisierte gemeinsam mit Stock-
meyer einen ähnlichen, allerdings grösseren Säulensaal
im Keller des neu entstehenden und vom gleichen Büro eröff-
neten Stuttgarter Logenhauses an der Landhausstraße.6
Dieses wurde im Oktober 1911 offiziell eröffnet.
Zur gleichen Zeit plante Schmid-Curtius ein viel grösse-
res Projekt, nämlich den Johannesbau in München. Weil
Steiners Mysteriendramen bislang in angemieteten Theater-
sälen aufgeführt werden mussten, forderten theosophische
Kreise ein eigenes Gebäude. Rudolf Steiner selbst verfolgte
auch dieses Ziel nicht aktiv und fungierte im Johannesbau-
Verein, der im März 1911 gegründet wurde, um das Baupro-
jekt zu lancieren und zu begleiten, lediglich als Berater in
künstlerischer Hinsicht. Treibende Kraft hinter dem Münch-
ner – und später auch dem Dornacher – Projekt war die Lei-
terin des Münchner Zweigs der Theosophischen Gesell-
schaft, Sophie Stinde.
1 E.A. Karl Stock-
meyer: Modellbau
Malsch, 1909;
Längsschnitt
(Fotos 1–4, 14: Rudolf Steiner Archiv)
2 E.A. Karl Stock-
meyer: Modellbau
Malsch, 1909; Foto
nach Fertigstellung
durch Albert von
Baravalle (1965)
68 archithese 3.2012
Text: Elena Kossovskaja
Das Erste Goetheanum verstand Rudolf Steiner als Versuch
eines «Übergang[s] vom blossen geometrisch-mechanischen
Bauen zu dem Bauen in organischen Formen»1. Seinen Aus-
sagen zufolge sollte die Welt in diesem Gebäude nicht in
Begriffen und Ideen, sondern durch das lebendige Bild aus-
gedrückt werden. Dieses lebendige Bild – das «anschauliche
Propagandamittel» der anthroposophischen Bewegung –
wurde schon während der Entstehungszeit in Fotografien
dokumentiert. Nach dem Brand sollten diese Bilder an die
Stelle der vormaligen Realität treten.
Die Erfindung der Fotografie Mitte des 19. Jahrhunderts,
die Vereinfachung der Druckverfahren und die rasante Ent-
wicklung technischer Apparaturen führten um 1900 zu einer
bis heute andauernden Dominanz der visuellen Kultur. Foto-
ZWISCHEN DOKUMENTATION UND REPRÄSENTATION
Die Medialisierung des Goetheanum Rudolf Steiner besass zu dem Medium Fotografie ein ambivalentes
Verhältnis. Dennoch sind Fotografien die wichtigsten Zeugnisse des zerstörten Goetheanum und dienten
nicht zuletzt dessen postumer Popularisierung.
grafien erlaubten einen Einblick in fremde Kulturen und
ferne Städte; die Reproduktion von Kunstwerken erleich-
terte den Zugang zur Hochkultur. Populäre bebilderte Buch-
reihen, Illustrierte und Fotobände erzielten in den ersten
Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts grosse Erfolge beim brei-
ten Publikum. Dabei wurde die Fotografie, wenn auch zuerst
nur schwarz-weiss (die Farbfotografie verbreitete sich erst
in den Dreissigerjahren), als vermeintlich getreues Abbild
der sichtbaren Welt wahrgenommen.
Die Gegner des neuen Mediums befürchteten, der Realis-
mus des fotografischen Blicks ersetze in der allgemeinen
Wahrnehmung die Realität durch das Bild. So entstand eine
Diskussion, ob die Fotografie ein rein technisches Medium
und ein Hilfsmittel zur Dokumentation und Vermittlung von
Kunst und Wissenschaft sei, oder ob sie einen eigenen
1
69
1 Atelier von
Heydebrand-
Osthoff, Ansicht
des Goetheanum
von Norden
(Foto: Staatsarchiv Basel-Stadt)
2 Zeichung von
Rudolf Steiner,
Die Kabiren
(Foto: Rudolf Steiner Archiv, Dornach)
2
künstlerischen Wert besitze. Im Piktoralismus, einer kunst-
fotografischen Stilrichtung, die vom Impressionismus und
Symbolismus in der Malerei inspiriert war, diente zum Bei-
spiel die fotografische Aufnahme nur als Ausgangspunkt für
einen Bearbeitungsprozess, an dessen Ende ein stimmungs-
volles Bild stehen sollte. Dabei waren die Unschärfe der Bild-
konturen oder das neblige Licht keine Zufallsprodukte, son-
dern Resultat sorgfältiger manueller Nachbearbeitung. Für
eine dokumentarische Architekturfotografie, die für Archiv-
oder Unterrichtszwecke bestimmt war, sind dagegen die
technische Perfektion des Bildes, das günstige Licht und der
Detailreichtum von primärer Bedeutung.
Vom Wort zum Bild
Mit der fortschreitenden Popularisierung der Fotografie trat
zunehmend das Bild an die Stelle der Schrift. Visuelle
Anschaulichkeit wurde zum obersten Grundsatz einer durch
die Bilder neu geordneten physischen Welt. Das Bedürfnis
nach Anschaulichkeit zeigte sich auch in dem Wunsch
der Mitglieder der anthroposophischen Bewegung, die Idee
zur künstlerisch-plastischen Form werden zu lassen. Stei-
ner bezeichnete dieses Bedürfnis als «die innere Notwen-
digkeit […], durch andere Offenbarungs- und Mitteilungs-
mittel, als sie in den bloßen Gedanken und in den bloßen
Worten liegen, dasjenige vor die Seelen der Mitmenschen
heranzutragen, was mit dieser Geisteswissenschaft ge-
meint ist.»2
Die künstlerische anthroposophische Form habe einen
moralischen Auftrag zu erfüllen; sie müsse sich von den
überholten Stilen und Symbolen der Gegenwartskunst be-
freien, «deren Formen einer untergehenden Kultur angehö-
ren», weil sonst «unsere Arbeit mehr oder weniger doch das
Schicksal dessen treffen, was dem Untergange geweiht ist»,
bemerkte Steiner bei der Grundsteinlegung des Logenhau-
ses in Stuttgart 1911.3 Die neue entstehende Kultur der
künstlerischen Form sollte eine Heilung vom Bösen zum Gu-
ten bewirken: «Wenn die Ideen zu solchen Kunstwerken ein-
mal in der Kultur Nachfolger finden werden, dann werden
die Menschen, […] ihren Mitmenschen nicht mehr Unrecht
tun, denn sie werden von den künstlerischen Formen Liebe
lernen.»4
Durch Fotografie zum Bild geronnen, fügte sich diese
Form in die von den Bildmedien geprägte Kultur ein.
Technik im Dienste der Kunst
Das Verhältnis Steiners gegenüber den technischen Medien
blieb allerdings ambivalent. Er äusserte sich bejahend den
technischen Errungenschaften gegenüber, die «für die me-
chanische Verrichtung der Menschendienste in die Welt ein-
treten»5.Zur Anfrage einer Filmemacherin, einen Film über
die Waldorfschule und die Dreigliederung drehen zu dürfen,
sagte Steiner: «Wenn sie durch einen internationalen Film
auch beiträgt zum Bekanntwerden der Waldorfschule, so hat
man in der Zeit des öffentlichen Auftretens nichts dage-
gen.»6 Doch wenn das Mechanische in die Kunst eindringe,
das Spirituelle durch das Technische ersetzt werde, «wenn
die Menschheit also Enthusiasmus für so etwas, wofür das
Grammophon ein Ausdruck ist, zeigen würde, dann könnte
sie sich davor nicht mehr helfen. Da müßten ihr die Götter
helfen.»7
Auch bei der Wiedergabe der physischen Wirklichkeit
zeige sich das Medium Fotografie kontingent. Die Entste-
hungsgeschichte der Zeichnung der Kabiren illustriert Stei-
ners Einstellung hinsichtlich der Grenzen der Fotografie:
Für eine Inszenierung von Goethes Faust hatte er die drei
chthonischen Götterfiguren der Kabiren geschaffen. Einer
Anthroposophin gefielen die Plastiken so gut, dass sie Stei-
ner um eine Abbildung bat. Aber dieser entgegnete, «für
denjenigen, der plastisch-künstlerisches Gefühl hat, ist jede
Photographie einer Plastik eine Ertötung des eigentlichen
Kunstwerkes»8. Deswegen entschloss er sich, eine Schwarz-
Weiss-Zeichnung der Skulpturen anzufertigen, die schliess-
lich abfotografiert werden durfte.
Auch die Reproduktionen der farbigen Kuppelmalereien
des Goetheanum sollten nach Ansicht Steiners nicht dem
Illusionismus verfallen. Die Schwarz-Weiss-Fotografie ver-
weise geradezu auf die fehlende Farbe. Steiner sprach sich
gegen farbige Fotografien der Kuppelmalereien aus: Un-
künstlerisches Reproduzieren wäre nur ein Surrogat, eine
Vortäuschung der Wirklichkeit, ausser man würde versu-
chen, die Fotografien so gross wie die realen Kuppelmale-
reien anzufertigen.9
Fotografische Dokumentationsarbeit
Steiners Ambivalenz dem Medium Fotografie gegenüber
zum Trotz wurde der Bau des Ersten Goetheanum von ver-
schiedenen Personen dokumentiert – die wichtigsten waren
Gertrud und Wilhelm von Heydebrand, Max Benzinger und
Otto Rietmann.
Max Benzinger (1877–1949), am Bau mitbeteiligt, führte
ein Bau-Tagebuch, für welches er mit dem Einverständnis
90 archithese 3.2012
Text: Esther Baur, Daniel Hagmann
Das Erste Goetheanum ist Geschichte – von ihm zeugen nur
noch Bilder und Dokumente, unter anderem die Fotografien
von Gertrud von Heydebrand-Osthoff. Erhalten geblieben
sind diese Bilder dank einiger Archive wie dem Staatsarchiv
Basel-Stadt. In dessen Magazinen lagern Tausende einzigar-
tiger visueller Dokumente, die den Weg hierher als Bestand-
teil staatlicher Ablieferungen oder in Form sogenannter Pri-
vatarchive, die – wie der Name sagt – historisch wichtige
und wertvolle Nachlässe privater Herkunft sind, fanden. Der
fotografische Nachlass von Gertrud von Heydebrand-Ost-
hoff (1886–1973) ist eines dieser Privatarchive. Er wurde von
ihren Nachkommen im Staatsarchiv deponiert – mit dem
Ziel, die Materialien zu sichern und langfristig insbesondere
auch ausserhalb des engeren anthroposophischen Kontex-
tes zugänglich zu machen.
Gertrud von Heydebrand, Tochter aus gutbürgerlichem
Gelehrtenhaus, war ausgebildete Zeichenlehrerin und folgte
1914 der Aufforderung Rudolf Steiners, mit ihm von Mün-
chen nach Dornach zu ziehen. Sie hatte durch ihren Mann
Wilhelm Zugang zum inneren Kern der Theosophischen und
dann der Anthroposophischen Gesellschaft gefunden. Die
Eheleute wurden von Rudolf Steiner mit Bildhauerarbeiten
ARCHITEKTUR IM ARCHIV
Fotografien als bauhistorische und urbanistische Zeugnisse Das Fotoarchiv von Gertrud von
Heydebrand-Osthoff zählt zu den wichtigen Sammlungsbeständen des Staatsarchivs Basel-Stadt.
Bis in die Achtzigerjahre hinein galten Bildzeugnisse den übrigen Archivalien gegenüber als nicht
ebenbürtig. Das hat sich seither grundlegend gewandelt.
am Ersten Goetheanum und der fotografischen Dokumenta-
tion der Bauarbeiten betraut. Gertrud von Heydebrand war
als Kunstmalerin tätig und erlernte die Fototechnik autodi-
daktisch.
Den diesbezüglich spärlichen Aussagen Steiners und des
Ehepaars Heydebrand-Osthoff zufolge waren die Fotos ur-
sprünglich vor allem aufgenommen worden, um die Bauzeit
zu dokumentieren. Erst später, Jahre nach dem Brand des
Ersten Goetheanum, fanden sie öffentlichkeitswirksame
Verbreitung in der Publikation Der Baugedanke des Goethe-
anum (1932) von Rudolf Steiner sowie in Postkartenproduk-
tionen. Dadurch wurden die Fotografien von Gertrud von
Heydebrand-Osthoff zu einem kanonischen Bestandteil an-
throposophischer Memorialkultur (vgl. den Beitrag von
Elena Kossovskaja ab Seite 68).
Die 671 erhaltenen Glasnegative aus dem Nachlass Ger-
trud von Heydebrands sind für die Erforschung der anthro-
posophischen Architektur und ihrer sozialen und kulturellen
Prämissen im grösseren gesellschaftlichen Kontext der Ar-
chitektur- und Kulturgeschichte des frühen 20. Jahrhun-
derts zweifellos von grossem Wert. Möglich wird dies durch
die Kernaufgabe des Staatsarchivs: wertvolles historisches
Rohmaterial über seine physische Sicherung hinaus verfüg-
bar zu machen, einen möglichst freien und niederschwelli-
gen Zugang zu schaffen, es möglichst aktiv der Erforschung
zuzuführen.
Das Fotoarchiv Heydebrand-Osthoff ist nur einer von vie-
len Bildbeständen im Staatsarchiv Basel-Stadt. Der hiesige
Bildbestand umfasst ungefähr eine halbe Million Fotogra-
fien, Zeichnungen, Drucke und Stiche. Architektur ist darin
ein zentrales Motiv, und das war sie bereits bei der Grundle-
gung der Bildersammlung durch den ersten baselstädti-
schen Staatsarchivar 1899. Von einer homogenen, struktu-
rierten Überlieferung der Bilddokumente im Archiv kann
allerdings keine Rede sein, denn Fotografien und Bilder all-
gemein galten im Archiv zunächst als reine Ergänzung der
1 Das Erste Goethe-
anum von Ostnord-
ost mit Heizhaus,
circa 1920
(Foto: Gertrud von Heydebrand-Ost-hoff; Staatsarchiv Basel-Stadt, BSL 1023 1-2-22)
1
91
2 Der St.-Alban-
Schwibbogen war
ein kleines Stadttor
und Bestandteil
der inneren Basler
Stadtmauer;
1878 wurde er
abgerissen
(Foto: Adam Borbély Varady; Staatsar-chiv Basel-Stadt, Bild 2, 115)
2
3
4
«Vorstellung, die uns Urkunden und Akten vermitteln», wie
Staatsarchivar Paul Roth 1949 schrieb. Trotzdem wurden im
Staatsarchiv Basel-Stadt intensiv Bilder und Fotografien
(vorwiegend privater Herkunft) gesammelt und archiviert.
Im Allgemeinen galten sie bis in die Achtzigerjahre des
zwanzigsten Jahrhunderts den schriftlichen Archivalien
nicht als ebenbürtig – weder im Archiv selbst noch im Be-
wusstsein der Öffentlichkeit. In den Verordnungen und Ver-
einbarungen, welche die Ablieferung staatlicher Akten re-
gelten, tauchten Bildzeugnisse gar nicht erst auf.
Erst in den Achtzigerjahren setzte sich eine andere Ein-
schätzung hinsichtlich der Aussagekraft und kulturge-
schichtlichen Bedeutung audiovisueller Dokumente durch.
In diesem Sinne vollzogen auch die historischen Wissen-
schaften in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen visual
turn: Bilder werden nicht mehr ausschliesslich als Illustra-
tion verwendet, sondern auf ihr eigenes Erkenntnispotenzial
hin befragt. Im Staatsarchiv Basel-Stadt vollzog sich 1998
mit Inkrafttreten des neuen Archivgesetzes ein grundlegen-
der Wandel in der Bewertung audiovisueller Dokumente.
Seither unterstehen diese genau wie schriftliche Dokumente
der allgemeinen Anbietungs- und Ablieferungspflicht.
Als Ergänzung zum staatlichem Archivgut wird heute im
Staatsarchiv – der besonderen Bildtradition folgend – histo-
rische Fotografie so systematisch wie möglich übernom-
men. Einzelne Schenkungen beispielsweise bestehen aus
vielbändigen Alben mit Stadtansichten. Dazu kommen his-
torische Archive und Nachlässe von Berufsfotografen, die
aus eigener Initiative oder im Auftrag grosse Teile der Stadt
abbildeten. Charakteristisch für diese Fotografien vorwie-
gend aus dem späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert
ist, dass sie Architektur vor allem im Kontext erfassen. Foto-
grafiert oder skizziert wurde in der Regel nicht das einzelne
Bauwerk als ästhetisches Monument oder architektonische
Leistung, sondern die offensichtliche Veränderung des
Stadtbilds.
3 Neubau Wohn-
und Geschäftshaus
(Fritz Rickenba-
cher/Walter Bau-
mann) am Clara-
platz, 1953. Der
Neubau war
umstritten, weil er
den Abbruch der
barocken Schetty-
Häuser bedingte.
Im Vordergrund das
Gebäude des
Schweizerischen
Bankvereins, das
1954 ebenfalls
abgerissen wurde
(Foto: Hans Bertolf; Staatsarchiv Basel-Stadt, BSL 1013 1-488)
4 Strassen- und
Schienenarbeiten
am unteren Blu-
menrain, circa
1936. Im Zuge des
Neubaus des
Polizeiverwal-
tungsgebäudes
Spiegelhof (im
Hintergrund)
fanden grossflä-
chige Abbruch- und
Korrektionsarbei-
ten statt
(Foto: Alfred Kugler; Staatsarchiv Basel-Stadt, BSL 1012 898)
94 archithese 3.2012
ARCOSANTIStädtisches Labor oder Utopie
Mitten in der Wüste Arizonas entsteht seit 1970 eine neue Form des Zusammenlebens als Gegenmodell zur
Zersiedelung der Landschaft. Die Ideen des mittlerweile 92-jährigen italienischen Architekten Paolo Soleri
stellen sich heute, wo weniger als ein Zehntel tatsächlich gebaut wurde, als utopisches und gigantisches
Konzept heraus, das jedoch der Logik der ökologischen Bewegung der Achtzigerjahre folgt.
Text: Lilian Pfaff
Paolo Soleri, der 1919 in Turin geboren wurde, hat wie viele
seiner europäischen Kollegen bei Frank Lloyd Wright in des-
sen Architekturschule Taliesin West in Scottsdale von 1947
bis 1948 gearbeitet und sich deswegen letztlich in Arizona
niedergelassen.
Ein Zerwürfnis mit Wright führte zum schnellen Ende der
Studienzeit des damals fast ausschliesslich italienisch spre-
chenden und wegen der Hitze immer in Badehose gekleide-
ten Soleri. So wollte das Museum of Modern Art in New York
für eine Ausstellung einen Brückenentwurf des Studenten
Soleri und gleichzeitig einen von dessen Lehrer Wright zei-
gen. Soleris Zeichnung The Beast stiess dabei entgegen der-
jenigen seines Meisters auf grosses Interesse. Die Brücken
waren dabei nicht einfach nur Infrastrukturbauten, sondern
wurden zu alternativen Wohnräumen umfunktioniert, wie
es das historische Beispiel der Ponte Vecchio in Florenz
zeigt.1 Verschiedene Skizzen für einen Wettbewerb in Lu-
xemburg 1958 enthalten bereits alle für Soleri später rele-
vanten Elemente: Die Omega-Brücke sah terrassierte, ver-
dichtete Wohnanlagen vor – und die Campanula-Brücke
wuchs aus einer zellulären, multifunktionalen Struktur her-
aus, die nach oben auskragte und die Fahrbahnen der Auto-
bahn enthielt. Geprägt von Wright, aber auch Buckminster
1
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Fuller, baute Soleri 1949 ein halb unterirdisch liegendes
Dome House in der Wüste für eine Bauherrin, deren Tochter
er später heiratete. Nach einem Umweg zurück nach Italien,
wo er die Keramikfabrik Vietri sul Mare (1951–1954) reali-
sierte, deren Fassade aus gebrannten Fliesen besteht, liess
er sich in Scottsdale nieder und gründete 1955 Cosanti, sei-
nen Wohn- und Arbeitsort. Diese ebenfalls als Architektur-
ausbildungsstätte gedachte Anlage finanziert sich über die
Herstellung von Keramik- und Bronzeglocken, mit deren Pro-
duktion er während seines Italienaufenthaltes vertraut
wurde, während Soleris Architektur weitgehend theoretisch
und konzeptuell blieb. Er realisierte noch ein Open-Air-The-
ater in Santa Fe und arbeitete seit 1970 ausschliesslich an
seiner Stadtutopie Arcosanti, etwa 110 Kilometer von Scotts-
dale entfernt.
Bauen in der Wüste Arizonas
Das Auto als neue Wahrnehmungsmaschine mitsamt den
Autobahnen als einschneidende monumentale Anlagen
spielen bei der Bebauung der Wüste und der Entstehung von
Arcosanti eine wichtige Rolle – man denke hier auch an
Kevin Lynchs Analyse The Image of the City (1960) oder noch
expliziter The View from the Road (1964). Dies zeigte sich
schon zu Beginn des Jahrhunderts mit Frank Lloyd Wrights
urbanistischer Vision für die Stadt der Zukunft, in der er die
Agglomeration und das Auto als Fortbewegungsmittel ver-
herrlichte. An diesem Konzept der Broadacre City arbeitete
Wright über zwanzig Jahre in seiner privaten Schule Ta-
liesin West. In seinem bereits 1932 erschienenen Buch Dis-
appearing City waren die wesentlichen Merkmale bereits
zusammengefasst und wurden dann später weiter aus-
formuliert. Die Idee bestand darin, jedem Bürger ein acre
(4000 Quadratmeter) Land zu geben, auf dem er sich ein
Haus bauen konnte. Die verschiedenen Parzellen waren alle
über Autobahnen verbunden, und eine kleine Belegschaft
von Architekten sollte für die Gebäudeerstellung im Sinne
von Wrights Usonian Houses zuständig sein. Fussgänger
konnten sich nur innerhalb des einen acre ungehindert be-
wegen, ansonsten war sämtlicher Transport vom Auto ab-
hängig. Diese Vision, wie sie heute die Realität der Agglome-
ration aller grosser amerikanischer Städte ist, ging von der
Faszination des Autos (und Wrights eigener Vorliebe für
schöne Autos, von denen er gleich mehrere besass) aus und
stellte ein Gegenmodell zur europäischen verdichteten Stadt
dar. Neben John Lautner half auch Paolo Soleri mit, die Ideen
Wrights in zahlreichen grossformatigen Zeichnungen und
einem riesigen städtebaulichen Modell von 3,7 × 3,7 Metern
umzusetzen.
Obwohl sowohl Frank Lloyd Wright als auch Paolo Soleri
kulturell ehrliche Architektur bauen wollten, die dem Klima
und dem Ort angemessen ist, könnte ihr Ansatz unterschied-
licher nicht sein. Frank Lloyd Wright schickte gemäss Be-
richten jeden Studenten erst einmal für drei Wochen in die
Wüste, damit er dort einen Unterschlupf baue und der extre-
men Hitze sowie der Kälte während der Nacht trotze. Der
Architekturtheoretiker Reyner Banham beschrieb in seinem
Buch Scenes in America Deserta die Bedeutung und den Ein-
fluss Frank Lloyd Wrights nach dem Zweiten Weltkrieg in
Italien. Paolo Soleri «has turned out to be the opposite of
Frank Lloyd Wright in practically every way one can ima-
gine».2
Soleri verband in Arcosanti ökologische Fragen, wie man
in der Wüste und den Weiten des Südwestens Amerikas lebt,
mit urbanistischen Problemen und entwarf gleichsam ein
Gegenmodell zur Broadacre City.
Arcology und Arcosanti
In seinem Manifest Arcology: Cities in the Image of Man
(1969) beschreibt Soleri seine Vorstellungen von Architektur
und Ökologie. Der Titel bildet sich aus den Wörtern «Ar-
chitecture» und «Ecology» und zielt primär auf ein Wohnen
in dichten Strukturen. Dies, um die Ressourcen zu schonen
und kurze Fuss- und Transportwege zu ermöglichen. Die
multifunktionale Anlage dient als Wohn- und Arbeitsort,
umfasst aber auch kulturelle Einrichtungen, Bildungsinsti-
tutionen und Versorgung. Soleri formuliert prägnant: «Arco-
logy is in short, an efficient plumbing system for contem-
porary society.»3
Durch das kompakte Bauen in die Höhe könne man die
Verschwendung der natürlichen Ressourcen ebenso verrin-
gern wie die Umweltverschmutzung. In seinem Manifest
finden sich zahlreiche Punkte, die das gesamte Weltbild von
Soleri umfassen. So spricht er sich gegen die soziale Segre-
gation aus und versteht öffentliche Räume als Kinderspiel-
plätze.
Anstatt die Erde mit Broadacre Cities zu überziehen, for-
dert er, die Menschen in grossen Wohntürmen anzusiedeln
und damit die umgebende Landschaft unbebaut zu lassen.
Er vertrat damit letztlich weiterhin ein europäisches Stadt-
modell. Ausserdem bewunderte er die Felsenunterkünfte
der Ureinwohner Amerikas, wie beispielsweise in Mesa
Verde, wo auch die runden Höfe über den Kivagruben (für
religiöse Zusammenkünfte und Rituale) an italienische
Plätze erinnern. Soleris Ziel besteht darin, diese Felswoh-
nungen in neu gebaute, gewaltige Strukturen zu übersetzen.
In seinen zahlreichen grossformatigen Zeichnungen für Ar-
cosanti übersteigt die Stockwerksanzahl die Dreihundert-
Meter-Marke bei Weitem. Wie ein Modell beweist, sollten
anfangs, gegen 1970, in der alternativen städtischen Anlage
fünfundzwanzigtausend Menschen untergebracht werden.
Die Zahlen variieren jedoch je nach Quelle und verändern
sich im Laufe der Zeit. So wird einmal von drei-, ein anderes
Mal von fünftausend Menschen gesprochen. Soleri geht von
einer Bebauung für fünftausend Menschen aus. Heute leben
in der Wüste maximal 150 Personen – meist Studenten oder
Aussteiger –, die hier hängen geblieben sind und für einen
Minimallohn arbeiten.
Wie Banham schon 1982, also zwölf Jahre nach Baube-
ginn, schrieb, fühlt man sich bei dem Besuch der bisher er-
stellten Gebäude abseits des Interstate Freeways I-17, Exit
262, wie in einem Lager in römischen Ruinen oder in einem
verfallenen Filmset.4 Dennoch wird auch heute noch an der
1 Paolo Soleri mit
Mitarbeitern und
Bewohnern in der
Keramik-Apsis von
Arcosanti, Mitte
der Siebzigerjahre
(Foto: Ivan Pintar)