archithese 2.15 – Architektur und Soziologie

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archithese Architektursoziologie Eine junge Disziplin mit neuen Sichtweisen Projekte mit sozialem Mehrwert Herzog & de Meuron: Arena do Morro, Natal Müller Sigrist: Genossenschaft Kalkbreite, Zürich Nutzerinteressen als Entwurfspotenzial Partizipation zwischen politischer Agenda und Lifestyle Etablierter 1970 er-Jahre-Diskurs ? Von der Spaziergangswissenschaft zum inklusiven Design Soziale Interaktion gestalten Transdisziplinäre Suche nach urbanen Qualitäten 2.2015 April Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur International thematic review for architecture Architektur und Soziologie

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architheseArchitektursoziologieEine junge Disziplin mit neuen Sichtweisen

Projekte mit sozialem MehrwertHerzog & de Meuron: Arena do Morro, NatalMüller Sigrist: Genossenschaft Kalkbreite, Zürich

Nutzerinteressen als EntwurfspotenzialPartizipation zwischen politischer Agenda und Lifestyle

Etablierter 1970 er-Jahre-Diskurs ?Von der Spaziergangswissenschaft zum inklusiven Design

Soziale Interaktion gestaltenTransdisziplinäre Suche nach urbanen Qualitäten

2.2015 April

Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

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Architektur und Soziologie

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archithese 2.2015 April 45 . Jahrgang

Titelbild: Joël Tettamanti

4 Editorial

A R C H I T E K T U R U N D S O Z I O L O G I E

10 In welcher Gesellschaft leben wir ?

Architektonische Modi der kollektiven Existenz

Heike Delitz

18 Für eine transdisziplinäre

Erforschung der urbanen Wirklichkeit

Christian Schmid im Gespräch mit

Jørg Himmelreich und Andrea Wiegelmann

26 Das Gebaute als handelndes Objekt ?

Was kann Architektursoziologie

für die Architektur leisten ?

Stephanie Kernich

32 Alle unter einem Dach

Herzog & de Meuron, Arena do Morro, Natal / Brasilien

Gustavo Hiriart

40 Vom Gemeinschaftstraum zum Wunschraum

Zur synergetischen Partizipation der jungen

Zürcher Genossenschaftsprojekte

Andreas Hofer und Margarete von Lupin

46 Crossbenching ?

Critical reflection on the practice of participation

Markus Miessen

52 Urbanity in a Box

Müller Sigrist Architekten,

Housing and commercial project Kalkbreite, Zurich

Suzanne Song

60 Geld regiert den Raum

Über das räumliche und architektonische

Potenzial alternativer Währungen

Stefanie B. Overbeck

66 Die Stadt der Unbekannten

Die Organisation des Nebeneinanders

Dirk Baecker

72 Wie Spazieren Wissen schafft

Über die Spaziergangswissenschaft

nach Lucius und Annemarie Burckhardt

Reto Bürgin und Aline Schoch

80 Direkter Urbanismus

Städtische Planung als offener Prozess

Barbara Holub und Paul Rajakovics

88 Ideologiekritik der modernen Architektur

Die Bauten der Nachkriegszeit

im Kreuzfeuer der Disziplinen

Angelika Schnell

96 Die Stadt, der Mensch und das Design

Zum sozialen Planungsverständnis

von Lucius Burckhardt

Matthias Drilling und Stephanie Weiss

R U B R I K E N

102 Im Gespräch. 8 Positionen zur

Schweizer Architektur

Rezension von Constanze Nobs und

Andrea Wiegelmann

104 Premium Brands Online

105 Neues aus der Industrie

112 Vorschau und Impressum

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2 archithese 4.2015

architheseInternationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

International thematic review for architecture

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4 archithese 2.2015

E D I T O R I A L

Architektur und Soziologie

Architektinnen und Architekten mögen mit ihren Bauten, Entwürfen oder Texten nach einem

Mehrwert für die Gesellschaft suchen. Die Klassiker von Lefebvre, Habermas oder Latour

gehören noch immer zu den vielgelesenen Standardtexten. Doch was genau wissen die bei-

den Disziplinen Architektur und Soziologie heute tatsächlich voneinander ? Gibt es Schnitt-

stellen und gemeinsame Projekte ? Kennen Architekturschaffende die Theorien und Frage-

stellungen, die aktuell in der Soziologie diskutiert werden ? Wie betrachtet und wertet diese

die Gesellschaft und wie gewichtet sie die Rolle der Architektur für die Gemeinschaft ?

Mit dieser Ausgabe zeigt die archithese alte und neue Schnittstellen zwischen Architek-

tur und Soziologie, zeigt Ergebnisse und Potenziale und rückt damit einmal mehr die Archi-

tektur der Gesellschaft ins Zentrum. Damit thematisieren wir, was selbstverständlich

scheint, dies in der neoliberalen Wirtschaftsordnung jedoch nicht ist. Ein Architekt sollte

über die Bedürfnisse und das Zusammenleben der Gesellschaft nachdenken und mit jedem

Projekt nach dem bestmöglichen Beitrag für die Gemeinschaft suchen. Ein Rückblick zeigt

aber, dass der Diskurs zwischen Architektur und Soziologie mit der Postmoderne abgenom-

men hat. Im Zuge der Autonomen Architektur trat die Suche nach der Verortung in der Ge-

schichte für die meisten Gestalter in den Vordergrund. Zunehmend gewann auch das globale

( Stadt- ) Marketing und somit die Stararchitektur an Bedeutung. In den 1980 er Jahren löste

der Immobilienmarkt den Sozialstaat ab, der Marketingberater ersetzte den Soziologen.

Hier deutet sich jedoch eine Wende an. Beide Disziplinen interessieren sich zunehmend

( wieder ) füreinander. Jedoch kann bisher nur von einer Annäherung gesprochen werden

und noch nicht von einem gemeinsamen Diskurs. Die Architektursoziologie formiert sich

aktuell zu einer eigenen Gruppe innerhalb der Soziologie. Sie interessiert sich für Phänome-

nalität, Materialien und Ausdruck des Gebauten. Parallel stossen auch Stadtsoziologen und

Geografen in die Diskussion vor. Städte werden als Abbild und bestimmendes Gefäss für die

Gesellschaft untersucht. Auch wenn deren Definition im westlichen Kulturkreis zunehmend

diffizil erscheint und dem multiparadigmatischen Ideal sogar abträglich ist: Seit der Jahr-

tausendwende wagt sich die Soziologie wieder an die Kritik von Lebensformen und fragt

nach deren Einflüssen und Anforderungen an die zeitgenössische Architektur. Der Fokus

liegt allerdings auf empirischen Untersuchungen und nicht darin, einen aktuellen Stand der

Gesellschaft zu definieren und nach Übertragungen in die gebaute Umwelt zu suchen. Doch

genau hier liegt ein grosses Potenzial.

Aufseiten der Architektur zeigen aktuell mehrere Genossenschaften, dass es lohnt, die

Bedürfnisse der Zielgruppen ernst zu nehmen. Die Kalkbreite in Zürich sticht als Beispiel für

Alternativen zum Real Estate-Mainstream hervor und macht Mut, vermehrt über partizipa-

tive Planungsprozesse nachzudenken. Engagierte Projekte etablierter Büros beweisen, dass

es möglich ist, durch die Architektur einen gesellschaftlichen Mehrwert zu schaffen. Die

Arena do Morro in Brasilien beispielsweise von Herzog & de Meuron zeigt, dass Architektur

nicht trotz, sondern gerade wegen ihres sozialen Anspruchs eine konzeptionelle Tiefe und

eine kontextuelle Verortung erfahren kann.

Dass heute zunehmend transdisziplinäre Zusammenarbeiten gesucht und Soziologen im-

mer häufiger als Teammitglieder bei der Planung grösserer Überbauungen angefragt werden,

macht deutlich: Das Feld für neue fruchtbare Kooperationen ist eröffnet. Wir möchten inspi-

rieren und motivieren, den Diskurs über den Beitrag der Architektur zu einem qualitätsvollen

Miteinander in den Fokus zu rücken.

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K L I N K E R K R E AT I O N

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18 archithese 2.2015

FÜR EINE TRANSDISZIPLINÄRE ERFORSCHUNG DER URBANEN WIRKLICHKEITChristian Schmid im Gespräch mit Jørg Himmelreich und Andrea Wiegelmann Wenn Architekten

und Soziologen voneinander profitieren wollen, dann durch den direkten Austausch, die alltägliche

Zusammenarbeit an konkreten Fragestellungen. Christian Schmid plädiert im Gespräch mit archithese

für eine transdisziplinäre Stadt- und Architekturforschung.

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1 Probe 1: Idaplatz in Zürich. ( Foto © Le Calvados )

Jørg Himmelreich: Wir stellen in Architektur, Planung und

Politik ein wachsendes Interesse an soziologischen Frage-

stellungen fest und sehen parallel in der Soziologie ein Be-

dürfnis, sich mehr mit den Wechselwirkungen von Raum

und Stadt und den Nutzern auseinanderzusetzen. Neue

Publikationen über Lucius Burckhardt und die Präsenta-

tion seiner Arbeiten im Schweizer Pavillon auf der Archi-

tekturbiennale in Venedig im letzten Jahr [ siehe dazu die

Texte von Philip Ursprung, Ueli Mäder und das Interview

mit Herzog & de Meuron in: archithese 5.2014, S. 64 – 73 ]

sind für uns zwei Symptome dieses Interesses. Wann gab

es in der Geschichte Überschneidungen, Kollaborationen

oder Konflikte zwischen Soziologie und Architektur ?

Christian Schmid: Zunächst müssen wir verschiedene

Aspekte der Architektursoziologie voneinander unterschei-

den: Es gibt die Architektursoziologie im engeren Sinne, die

Architektur als Disziplin und Berufsfeld thematisiert und die

Rolle der Architektur innerhalb der Gesellschaft untersucht.

In einem weiteren Sinne analysiert die Architektursoziolo-

gie die gesellschaftlichen Bedingungen und Konsequenzen

des Bauens und der gebauten Umwelt und verbindet sich

hier mit den Raumwissenschaften und der Stadtforschung.

Und dann gibt es auch die Ebene der Zusammenarbeit in

architektonischen und städtebaulichen Fragen, wo sich Ar-

chitektur und Sozialwissenschaften in gemeinsamen Pro-

jekten finden. Ich unterrichte seit 2001 Soziologie am Depar-

tement Architektur der ETH Zürich, mehrere Jahre davon

gemeinsam mit Christina Schumacher. Was wir in der Do-

zentur Soziologie mit den Studierenden bis heute machen,

ist keine Architektursoziologie im engeren Sinne, sondern

das Anwenden von sozialwissenschaftlichen Theorien,

Methoden und Verfahren auf das Feld von Architektur und

Städtebau.

Lucius Burckhardt war mein Vorvorvorgänger am Depar-

tement Architektur. Er hat sich als Soziologe intensiv mit

dem Bauen und dem städtischen Alltag auseinandergesetzt

und auch mit Architekten zusammengearbeitet – und zwar

sehr erfolgreich. Er wurde von den Architekten respektiert.

Seine Schüler Jacques Herzog und Pierre de Meuron waren

so beeindruckt, dass sie, wie angesprochen, Burckhardts

Arbeiten auf der Architekturbiennale 2014 in Venedig ge-

zeigt haben.

Andrea Wiegelmann: Seit wann genau setzen sich Soziolo-

gen mit der Stadt, der Architektur oder allgemein dem

Raum auseinander ?

Schon die Klassiker der Soziologie beschäftigten sich mit

der Frage des Raumes und wichtige stadtsoziologische

Texte, die bis heute gerne zitiert werden, gibt es ebenfalls

bereits aus den Anfängen der Soziologie, zum Beispiel von

Georg Simmel und Max Weber. Ein erster Höhepunkt der

Stadtsoziologie kam in den 1920 er und 1930 er Jahren mit

der Chicago School of Sociology, die eine ethnografische

Stadtforschung begründete, unter anderem mit Robert

E. Park, Ernest Burgess und auch dem Geografen Roderick

McKenzie [ siehe auch: Stephanie Weiss / Matthias Drilling,

« Die Stadt, der Mensch und das Design », S. 96 – 101 ]. In den

1970 er Jahren kam dann die Blüte der kritischen Stadtfor-

schung in der Soziologie und der Geografie, mit den Leitfi-

guren Henri Lefebvre, Manuel Castells und David Harvey.

Die 1990 er Jahre wurden vor allem von der Erforschung der

Globalisierung und der Global Cities, der Gentrifizierung

und der neuen Entwicklungen in der urbanen Peripherie

geprägt, wobei unterschiedlichste sozialwissenschaftliche

Disziplinen beteiligt waren. Heute sind es vor allem die

postkolonialen Ansätze in der Stadtforschung und die Frage

der planetaren Urbanisierung, die die aktuelle Debatte be-

einflussen. Alle diese Ansätze haben in die Architektur aus-

gestrahlt, doch bis heute bleibt die sozialwissenschaftliche

Forschung für viele Architektinnen und Architekten eine

weitgehend unbekannte Welt. Das geht so weit, dass viele

beim Begriff der Chicago School nicht etwa an die Anfänge

der empirischen Stadtforschung denken, sondern an die

Architektur der 1890er Jahre, mit den Arbeiten von Louis

Sullivan, Daniel Burnham und anderen.

Moderne Architektur und der moderne Städtebau haben

sich aber durchaus mit soziologischen Fragen beschäftigt

und waren offen gegenüber soziologischen Ansätzen. So

gab es beispielsweise im Frankreich der 1960er und 1970er

Jahre grosse inhaltliche Auseinandersetzungen um soziolo-

gische Fragen in Architektur und Städtebau, und beim Bau

der villes nouvelles spielten Soziologinnen und Soziologen

durchaus eine wichtige Rolle. Ich selber arbeite stark mit

den Theorien von Henri Lefebvre. Er hat intensiv mit Archi-

tekten zusammengearbeitet, mehrfach auch mit Architek-

turteams an Wettbewerben teilgenommen und versucht, So-

ziologie als Mittel einzusetzen, um einen Städtebau und

eine Architektur zu ermöglichen, die von den alltäglichen

Bedürfnissen der Menschen ausgehen. Auch in der Schweiz

reicht die Zusammenarbeit von Soziologie und Architektur

weit zurück, wie das berühmte Buch achtung: Die Schweiz

von 1955 zeigt, das Lucius Burckhardt zusammen mit Mar-

kus Kutter und Max Frisch publiziert hat.1

AW: Lefebvres wichtige Schriften stammen aus den 1960er

und 1970er Jahren. In dieser Zeit wurden die – mitunter

kritischen – Stimmen der Soziologen in der Architekturde-

batte besonders stark wahrgenommen.

Dass man zu dieser Zeit viel über Soziologie in der Archi-

tektur sprach, hatte mit dem gesellschaftlichen Umbruch

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26 archithese 2.2015

Autorin: Stephanie Kernich

Was ist unter Architektursoziologie zu verstehen ?

Die Feststellung, dass Architektur nicht einfach nur das

Abbild einer Gesellschaft ist, sondern eine « durchdringen-

de baukörperliche Gestalt der Gesellschaft » 1 darstellt,

führt uns bereits ins Zentrum der Architektursoziologie.

Unsere Umwelt zeigt in ihren sehr unterschiedlichen Aus-

formungen wie Städten, Industriegebieten, Vororten oder

Dörfern sehr wirkungsvoll, womit sich eine Gesellschaft

und deren Individuen baulich umgeben, wie sie damit leben

und darin ( inter- ) agieren. Dies manifestiert sich etwa dar-

in, wie über Architektur diskutiert wird – beispielsweise

wenn ein Neubau in einem Stadtquartier mit vorwiegend

älterem Baubestand realisiert wird: Es ergeben sich spon-

tane Gespräche auf der Strasse; man wird angesprochen,

wenn man beim Betrachten des Neubaus beobachtet wird.

Im Vergleich zu stadtsoziologischen Forschungsthemen

richtet sich der architektursoziologische Blick jedoch nicht

ausschliesslich auf die Menschen und deren in der Regel

vorwiegend städtische Lebensumwelt. Architektursozio-

logie hat sich vor allem zum Ziel gesetzt, soziologische

Grundlagen zum Verhältnis des Architektonischen zum

Sozialen und umgekehrt des Sozialen zum Architektoni-

schen zu erarbeiten.

Zur Konzentration auf das Wesentliche der Architekturso-

ziologie kann mit Joachim Fischer festgehalten werden,

dass es bei Architektur immer um ‹soziale Dimensionen›

geht. « Architektur ist ( somit ) brisant und penetrant wie

das Soziale selbst.» 2 Daher schreiben Joachim Fischer und

Heike Delitz der Architektur zu Recht ein grosses gesell-

schaftsdiagnostisches und gesellschaftstheoretisches Po-

tenzial zu. [ Siehe auch: Heike Delitz, « In welcher Gesell-

schaft leben wir ? », S. 10 – 17. ] Das gilt es in der

architektursoziologischen Forschung zu fokussieren: die

Architektur in der ihr eigenen « Gestalt, Phänomenalität,

Materialität und Expressivität » .3

Exkurs: Stadt- oder Raumsoziologie ist nicht

Architektursoziologie ( aber Teil davon )

Verallgemeinernd und abkürzend können die Themenfelder

der Stadtsoziologie mit « soziale Differenzierung und Isola-

tion, der ‹ Segregation › in der Grossstadt [ … ], Interaktionen,

Lebensstilen, Vergesellschaftungsmodi ‹ in › der Stadt » 4

zusammengefasst werden.

Als Anfänge der Stadtsoziologie gelten in erster Linie

die sozialökonomischen Studien der Chicagoer Schule 5, die

als eine der ersten die gesellschaftlichen Entwicklungen in

DAS GEBAUTE ALS HANDELNDES OBJEKT ? Architektur wirkt – wie zahllose andere Objekte auch – biografisch prägend. Anders als ein Kleidungsstück oder

ein Auto ist sie jedoch als gebautes Objekt manifest und erreicht damit eine ganz andere Präsenz. Die Architektursoziologie

kann dabei helfen, die Dimensionen des Sozialen, die der Architektur innewohnen, aufzuzeigen, zu entschlüsseln und

damit eine Brücke der Verständigung zwischen Architektur und Gesellschaft zu bilden.

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den Städten veranschaulichten. Stadtspezifischere Unter-

suchungen, die sich auf das städtische Leben und die Stadt

selbst beziehungsweise deren Stadtteile bezogen, waren

erst später Forschungsgegenstand. Als einer der wichtigs-

ten Vertreter der soziologischen Stadtforschung gilt das

Team des Forschungsprogramms « The City». 6 Besonders

das Zonenmodell von Ernest W. Burgess ( erstmals 1925

publiziert ) war hier wegweisend. Dieses Modell beschreibt

« in idealtypischer Weise den Wachstumsprozess von Städ-

ten unter starkem externen Druck ». 7

In den 1960 er und 1970 er Jahren gab es zwar Schnitt-

punkte und gemeinsame Interessensgebiete von Architek-

ten und Soziologen. Diese bezogen sich jedoch aus damali-

ger soziologischer Perspektive weiterhin auf das Leben in

der Stadt.

Neben Aspekten der Stadtvermarktung waren es in den

1970 er Jahren – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Öl-

krise – ökologische Fragestellungen, die in Bezug auf Stadt-

planung und Stadtentwicklung sowohl bei Quartierentwick-

lungsfragen als auch bei Aufwertungs- und Partizipations-

projekten zum Tragen kamen. In beiden Punkten lag es in

der Natur der Sache, dass eine Verknüpfung von Stadtent-

wicklungsthemen mit parteipolitischen Grabenkämpfen

häufig nicht vermieden werden konnte. So wurde beispiels-

weise 1973 das Grossprojekt einer U- und S-Bahn für die

Stadt Zürich nach einem intensiven Abstimmungskampf

von der Bevölkerung von Kanton und Stadt Zürich abgelehnt.

Im Vorfeld der Abstimmung wurden damals neue Begriffe

wie ‹ Wohnlichkeit ›, ‹ Lebensqualität › und ‹ Umweltschutz ›

ins Feld geführt.8 Zum anderen kam vermehrt die Kritik an

der « im Dienste des Kommerz stehenden Stadtplanung » 9

auf. So entbrannten beispielsweise in Deutschland Mitte

der 1970er Jahre hitzige Diskussionen über die « restaura-

tive Stadtgestaltung »10 des Frankfurter Römerbergs.11

Die damalige Annäherung der Disziplinen Architektur

und Soziologie hatte allerdings nicht nachhaltig Bestand:

Rückblickend muss vor allem aufseiten der Soziologie eine

gewisse ‹ Betriebsblindheit › und ein Hang zu dogmatischem

Auftreten und Denken festgestellt werden. In dieser Zeit

Die Bilder dieser Reihe entstanden im Jahr 2004 entlang der Badener- / Zürcher- strasse zwischen Zürich und Dietikon im Rahmen eines Projekts der Gruppe autodidaktischer Fotografen und Fotogra-finnen ( GAF ). Ziel war, den Blick für die gebaute Umgebung zu schärfen und zu entdecken, welche Elemente den Charakter eines Ortes ausmachen. Die hier gezeigten Aufnahmen aus Projekt Nr. 43 stammen von: Andrea Helbling ( Dozentin ), Sonja Casty, Yonca Even Guggenbühl, Wolf D. Herold und Rudolf Michel.

machte das Fachgebiet Soziologie nicht selten Führungs-

ansprüche gegenüber anderen geistes- und sozialwissen-

schaftlichen Disziplinen wie beispielsweise der Politikwis-

senschaft oder der Philosophie geltend. Unter anderem

deshalb wurden in der Disziplin Soziologie ganz andere,

stark politisierte Kämpfe ausgefochten und schier endlose

Grundsatzdebatten aneinandergereiht. Ohne die zum Teil

sehr fruchtbare interdisziplinäre Zusammenarbeit der oben

genannten Epoche herabsetzen zu wollen, ist festzustellen,

dass gerade in Anbetracht der aktuellen gesellschaftlichen

Herausforderungen die Soziologie der Architektur etwas

schuldig bleibt. Zu viele Differenzierungen, zu starke Spe-

zialisierungen und auch zum Teil intransparente, immer auf

gleiche Weise angewandte Verfahren im Fach Soziologie

erschweren für Nichtsoziologen den Zugang erheblich.

Neuere Untersuchungen zum Thema Stadtsoziologie –

vor allem diejenigen, die ihr Interesse auf raumsoziologische

Konzeptionen richten – vermeiden den Begriff ‹ Architektur ›

und beschäftigen sich mit der von Helmuth Berking und

Martina Löw so genannten « Eigenlogik von Städten ».12

Diese ist zwar soziologisch betrachtet durchaus bedeu-

tungsvoll, wenn sie sich auf mögliche Vergesellschaftungs-

formen in den beiden von Löw verglichenen Städten Berlin

und München bezieht, jedoch dominiert in Löws Analyse

das nach aussen transportierte Image der beiden ausge-

wählten Städte und damit indirekt die Marketingkampag-

nen der Werbebeauftragten. Die architektonische Gestalt

der beiden Städte selbst wird nicht angemessen behandelt.13

Diese raumsoziologischen Konzeptionen sollen jedoch hier

nicht weiter ausgeführt werden, da sie sich ganz eigene

Schwerpunkte setzen. Generell kann mit Ueli Mäder fest-

gehalten werden, dass die aktuelle Raum-Debatte durch

eine « dialektische Dynamik zwischen Raum und Gesell-

schaft » 14 gekennzeichnet ist.

Was ist das Besondere an der Architektursoziologie ?

Gebaute Umwelt – manifestiert durch Baukörper – ist immer

auch die «Gestalt einer Gesellschaft » und bringt sowohl

deren Besonderheiten als auch deren Alltäglichkeiten zur

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CROSSBENCHING?Welcome to Harmonistan ! Over the last decade, the term “ participation ” has become increas-

ingly overused. When everyone has been turned into a participant, the often uncritical, innocent and

romantic use of the term has become frightening. Supported by a repeatedly nostalgic veneer

of worthiness, phony solidarity and political correctness, participation has become the default of politi-

cians withdrawing from responsibility. Rather than breading the next generation of consensual

facilitators and mediators, this text argues for conflict as an enabling, instead of disabling, force. It calls

for a format of conflictual participation – no longer a process by which others are invited ‘ in ’, but

a means of acting without mandate, as uninvited irritant: a forced entry into fields of knowledge that

arguably benefit from exterior thinking. Sometimes, democracy has to be avoided at all costs.

1 Signage and Smoke Machine developed for Consensus Bar by Studio Miessen for Witte de With, Rotterdam ( © Witte de With Center for Contemporary Art )

2 Crossbenchers in the House of Lords ( © House of Lords, London )

Author: Markus Miessen

In Representations of the Intellectual, Edward Said intro-

duces the public role of the intellectual as outsider, as an

amateur and disturber of the status quo. In his view, one task

of the intellectual is to break down stereotypes and reduc-

tive categories that limit human thought and communica-

tion.1 Said speaks about intellectuals as figures whose public

performance can neither be predicted nor reduced to a fixed

dogma or party line. He clearly distinguishes between the

notion of the intellectual and that of the insider: “Insiders

promote special interests, but intellectuals should be the

ones to question patriotic nationalism, corporate thinking

and a sense of class, racial or gender privilege.” 2 For Said, an

ideal intellectual works as an exile and marginal, as an am-

ateur, and as the author of a language that tries to speak the

truth to power, rather than an expert who provides objective

advice for pay. This disinterested notion of what one could

call the ‘ uninvited outsider ’ is, in the context of this text, the

most relevant of Said’s writings. It puts forward the claim

that universality always comes hand in hand with risk tak-

ing. There are no rules. There are “no gods to be worshipped

and looked to for unwavering guidance.” 3 By questioning the

default mode of operation, which is clearly that of the spe-

cialist, the insider, the one with an interested agenda, he

writes of intellectuals as those who always speak to an au-

dience, and by doing so, represent themselves to themselves.

This mode of practice is based on the idea that one operates

according to an idea that one has of one’s practice, which

brings with it the intellectual duty of independence from ex-

ternal pressures. In underlining the role of the outsider, Said

exposes the need to – at times – belong to a set and network

of social authorities in order to directly effect change. This

spirit of productive and targeted opposition, rather than ac-

commodation, is the driving force behind such a practice. To

understand when to be part of something and when to be

outside of it, to strategically align in order to make crucial

decisions, which will otherwise be made by others ( most

likely with a less ethically developed horizon ).

Said, however, also illustrates that the role of the outsider

is a lonely one, and that it involves what Foucault calls “ a

relentless erudition ”: “ There is something fundamentally

unsettling about intellectuals who have neither offices to

protect nor territory to consolidate and guard.” 4 The unin-

vited outsider is someone who has a background within a

particular ( taught ) discipline, but ventures out of his or her

milieu and immediate professional context, using a set of

soft skills required elsewhere. He or she then applies them

to found situations and problematics. According to Said, this

person ( also as an individual ) has a specific public role in

society that cannot be reduced to a faceless professional; it

is precisely the fact that one is operating without one’s own

professional boundaries that one can start to articulate con-

cerns, views and attitudes that go beyond the benefit of the

individual or the particular. It seems that there is a benefit

to professional boundaries, expertise and specific knowl-

edge. However, one could argue that specific sets of parasitic

knowledge can most generatively, surprisingly, and produc-

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URBANITY IN A BOXMüller Sigrist Architekten : Kalkbreite, Zurich The Kalkbreite cooperative has transformed a tram

parking lot in Zurich’s inner city into a bustling new center of neighborhood life, thereby creating ein neues Stück

Stadt, a new part of the city. It was initiated by an engaged group of citizens who envisioned the innovative

mixed use of the site, which includes commercial businesses, affordable housing and retention of the transport

infrastructure program – all in one package. The building design optimizes the organization of its complex

programs into a hybrid perimeter block building in which shops and cafés that enliven the street level wrap around

the tram hall and the apartment block above encloses a nuanced and domestically scaled yet publicly

accessible courtyard built onto the roof of the tram parking garage. The Kalkbreite project performs on several

urban, spatial and social levels, producing an exemplary project in the process.

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Autor: Suzanne Song

Earmarked for affordable housing by the district since 1975,

the fenced-in tram parking lot had remained a neighborhood

dead zone between Langstrasse and Lochergut for decades.

When the city approved construction for track upgrades, a

group of about fifty neighborhood citizens participated in a

2006 public workshop that initiated the political steering

process for a new use for the parcel. They formed the Kalk-

breite cooperative, envisioning a self-sufficient complex that

covers an entire city block and incorporates tram parking

with a mix of 40 percent commercial and 60 percent living

area. The bottom-up initiative started at the district level,

garnered support from the city administration and in 2007

won the bid for building rights for the city-owned parcel.

Their use rights extend through 2070 and are then renewa-

ble for another 30 years. After Müller Sigrist Architekten

won the open architectural competition in 2009, the coop

directors spent over two years gathering a mix of commer-

cial members that include a multifaceted array of trendy

cafés, restaurants, bars, a health food store, a modern an-

tique furniture shop, and a cinema. The mezzanine and

lower floors contain studios, office spaces, medical practices

and a daycare center. The complex, where almost 500 people

now live and work, has revitalized the neighborhood block

since its opening in August 2014.

The building form optimizes its programs. The perimeter

block typology is used to surround the tram infrastructure

with a small-scaled commercial program which fosters

neighborhood street activity.1 The apartment block that sits

atop the commercial spaces serves to reduce noise from the

heavily trafficked thoroughfares that bound the site, pro-

tecting the courtyard. Each cluster apartment is laid out

with access to a double-height common area with a kitchen-

ette and a balcony that is oriented toward the quiet inner

courtyard. Along the sunken rail tracks to the southwest,

where noise protection is less critical, four stories of the

block are carved away in steps to offer many benefits: pro-

vide access to roof terraces, ease the load spanning the tram

hall, optimize evening sun exposure to the courtyard and its

large windows, and grant views over the city and to the dis-

tant Uetliberg.

The interior organization optimizes social interaction. An

entry hall at the courtyard level is the juncture of inter-

change between the public and residents. It houses the re-

ception desk, where member events are organized and com-

mercial guesthouse rooms are booked, and it connects to the

Rue Intérieure, a generous 2.5 meters wide internal street

that replaces corridors found in typical housing. As a circu-

lation concept of interwoven organizational structures that

establish physical and social connections for the coopera-

tive community of over 250 inhabitants, it cascades diago-

nally in section over five floors to connect private and shared

coop spaces, some of which are rented externally. The flexi-

ble configuration of apartments accommodates sixty differ-

ent dwelling types with shared rooms that spatialize new

ways of living, including live /work studios and communal

apartment clusters for up to fifty people. These target a di-

verse population that includes elderly and disabled persons,

varied family structures, and large, loosely related house-

holds of individuals who share a kitchen and hired cook.

There is already a waiting list for the so-called jokers – tem-

porary-use rooms with private bathrooms – that account for

changing needs by providing extra space ( to accommodate

growing teens, grandparents, or separated partners, for ex-

ample ), indicating the demand for flexible living situations.

1 View over Zurich-Wiedikon train station, a 1920s tram depot, Kalkbreite and Lochergut ( photos 1, 13: Joël Tettamanti )

2 Section

3 8.5-room duplex apartment ( photos 3, 4, 7: Volker Schopp )

4 Communal cafeteria

3 4

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DIE STADT DER UNBEKANNTEN Bekannt und unbekannt, innen und aussen Zwei einfache Unterscheidungen definieren die urbane Architektur.

Ein kultiviertes Miteinander von Fremden war in den vermutlich ersten 300 000 Jahren der Menschheit ausgeschlossen.

Fremde erschlug man, um nicht Gefahr zu laufen, von ihnen erschlagen zu werden. Die soziale Funktion der Stadt

besteht also darin, Unbekannte miteinander leben zu lassen, ein Verhalten zu ermöglichen, das unter Bedingungen als

normal und vertraut gelten kann, die ausschliesslich das Produkt einer alles andere als selbstverständlichen

sozialen Evolution sind.

Autor: Dirk Baecker

Architektur als Medium und Symbol des Sozialen

Die Soziologie der Architektur, so Heike Delitz, betrachtet

die Architektur in Hoch- und Städtebau als Medium und

Symbol des Sozialen 1.[ Siehe auch: Heike Delitz, « In welcher

Gesellschaft leben wir ? », S. 10 – 17. ] Verschiedene Formen

der Vergesellschaftung – etwa die Familie, die Schule, die

Kirche, das Büro, das Theater, das Stadion, das Kranken-

haus, das Gefängnis – sind darauf angewiesen, Räume vor-

zufinden, in denen die jeweilige soziale Interaktion stattfin-

den und von anderen Möglichkeiten unterschieden werden

kann. Die Soziologie spricht von Medien und nicht einfach

von Räumen, weil es diese Räume auszeichnet, nicht als

Konstante, sondern als Variable betrachtet zu werden. Dazu

müssen die Räume in ihre verschiedenen Bestandteile zer-

legt ( analysiert ) und in anderen Kombinationen wieder zu-

sammengesetzt ( synthetisiert ) werden können. Die Organi-

sation des Nebeneinanders, um mit der Soziologin Martina

Löw zu sprechen, ist nicht fix, sondern in allen ihren Dimen-

sionen variierbar, wenn auch nicht nach Belieben.2 Einen

Medienbegriff, der diesem Verständnis zuarbeitet, hat der

Psychologe Fritz Heider [ 1896 – 1988 ] bereits 1926 im An-

schluss an gestalttheoretische Überlegungen formuliert, in-

dem er das Medium als lose gekoppelte Menge von Elemen-

ten vom Ding als fest gekoppelte Menge von Elementen un-

terscheidet.3 Typischerweise verwandelt der Blick eines

Architekten Räume beliebigen Zuschnitts in alternative

Möglichkeiten ihrer Gestaltung. Die Dinglichkeit des Raums

wird aufgelöst und zum Medium der Veränderung des

Raums. Dies gilt für architektonische und innenarchitekto-

nische Eingriffe ebenso wie für städteplanerische. Der Ar-

chitekt sieht einen Raum – und gestaltet ihn um.

Dies allerdings, wie gesagt, nicht beliebig. Die Architektur

ist ein « schweres Kommunikationsmedium », so der Sozio-

loge Joachim Fischer,4 in dem nicht nur auf die Gegebenheit

der Physik und Statik, sondern auch auf das Mass des Men-

schen und die Ordnung der Gesellschaft Rücksicht genom-

men werden muss. Das betrifft vordergründig wirtschaftli-

che und politische Gegebenheiten ebenso wie Präferenzen

für Privatheit und Öffentlichkeit. Weitergehend jedoch auch

Formen der Selbstfindung, Strategien der Individualisie-

rung sowie Möglichkeiten der Begegnung und der Abschot-

tung.

Deswegen ergänzt Delitz ihre Bestimmung der Architek-

tur als Medium des Sozialen um die Definition von Architek-

tur auch als Symbol des Sozialen. Jedes einzelne Element der

Architektur, von der Schwelle über die Tür und das Zimmer

bis zur Strasse, dem Haus und dem Fluchtpunkt symbolisiert

bestimmte Möglichkeiten des Handelns und Erlebens, die

mithilfe dieser Symbole sowohl markiert als auch voneinan-

der abgegrenzt werden. Von Symbolen spricht man frei nach

Jurij Lotman immer dann, wenn die Verknüpfung bestimm-

ter Handlungen mit bestimmten Orten nahegelegt, aber

nicht erzwungen wird.5 So symbolisiert die Schwelle sowohl

die Möglichkeit des Zutritts als auch der Abweisung, lässt

jedoch offen, welche der Möglichkeiten gewählt und ob das

Symbol überhaupt wahrgenommen wird. Soziologen neigen

ebenso wie Architekten dazu, das Symbolwissen als ein im-

plizites, eher in Praktiken und Einstellungen als in bewuss-

ter Reflexion verkörpertes Wissen anzunehmen. So können

sie auch dann auf Wirkung schliessen, wenn die Akteure von

ihrer Orientierung nichts wissen. Doch muss schon wegen

der Vielfalt möglicher und sich in jedem Moment widerspre-

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1 Poller im öffent- lichen Raum als Symbol der Ambi-guität von Durch-lässigkeit und Abweisung. Philipp Goll ( Hg. ), Helmut Höge, Pollerfor-schung. Siegen: 2010 ( Fotos: Helmut Höge )

1

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