archithese 4.06 - CAAD / CAAO

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archithese 33 Episoden über Architektur und Information Eine Positionierung des CAAD Computertechnologie – ein Plädoyer für offene Standards Lars Spuybroek und der flexible Schinkel Innovative Technologie, traditionelle Arbeitsteilung Handwerk im Computerzeitalter Die Programmierte Wand – ein Forschungsbericht An den Grenzen der Standardisierung Computerspiele und ihr Einfluss auf die Stadtplanung Vers un mode de production non-standard Computing and alternative design proposals Digital Morphogenesis – a paradigmatic shift huggen_berger Schulhauserweiterung, Uetikon David Chipperfield Literaturmuseum, Marbach 4.2006 Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur Revue thématique d’architecture CAAD CAAO

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archithese33 Episoden über Architektur und Information

Eine Positionierung des CAAD

Computertechnologie – ein Plädoyer für offene Standards

Lars Spuybroek und der flexible Schinkel

Innovative Technologie, traditionelle Arbeitsteilung

Handwerk im Computerzeitalter

Die Programmierte Wand – ein Forschungsbericht

An den Grenzen der Standardisierung

Computerspiele und ihr Einfluss auf die Stadtplanung

Vers un mode de production non-standard

Computing and alternative design proposals

Digital Morphogenesis – a paradigmatic shift

huggen_berger Schulhauserweiterung, Uetikon

David Chipperfield Literaturmuseum, Marbach

4.2006

Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

Revue thématique d’architecture

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Leserdienst 156

000_Umschlag 14.7.2006 7:44 Uhr Seite 1

2 archithese 4.2006

E D I T O R I A L

CAAD

Die digitale Revolution hat die Welt verändert und mit ihr die Architektur. Oder zu-

mindest die Architekten: Schwankten Studierende im ersten Semester noch vor ei-

nem Jahrzehnt zwischen kabelgeführter Mayline und einfachem T-Lineal – und

entschieden sich mehrheitlich vorerst für das günstige T-Lineal –, tragen heute alle

einen Laptop unter dem Arm, der mit ungleich höheren Anschaffungskosten ver-

bunden ist. Ohne CAAD (Computer Aided Architectural Design) geht in heutigen

Architekturbüros gar nichts mehr. Mit seiner Hilfe werden Pläne und Visualisie-

rungen gezeichnet, Kraftverläufe und Temperaturschwankungen simuliert, Licht-

situationen getestet, Kosten berechnet und Offerten erstellt. Die Kommunikation

zwischen den am Bau Beteiligten hat sich beschleunigt, die Zusammenarbeit ist

intensiver geworden. Dies bedeutet eine Befreiung von undankbarer Knochenar-

beit und die Möglichkeit, sich auf andere Dinge zu konzentrieren – aber auch, wie

Stefan Jauslins Essay in diesem Heft herausstreicht, eine neue Abhängigkeit der

Architektinnen und Architekten von Softwareherstellern, die verständlicherweise

wenig Interesse daran haben, die Situation zu entschärfen.

Doch inwiefern hat die Digitalisierung des architektonischen Alltags die Archi-

tektur selbst verändert? Sind neoorganische Blobs wirklich das letzte Wort? Wer in

diesem Heft jene spektakulären Bilder sucht, die man im Zusammenhang mit

CAAD zu sehen gewohnt ist, findet statt dessen Texte von Bernard Cache, Neil

Leach und Peter Szalapaj – in den jeweiligen Orginalsprachen – sowie eine Posi-

tionierung des CAAD von Ludger Hovestadt. Hier soll es nicht primär darum gehen,

wilde Formen zu zeigen, die ohne Computer nicht realisierbar gewesen wären.

Vielmehr werden neue Möglichkeiten von Entwurf und Planung untersucht. In

einem Interview legt Lars Spuybroek seine Idee einer neuen Architektur der Kon-

tinuität dar. Der Beitrag von Fabio Gramazio und Mathias Kohler lässt erahnen, was

geschieht, wenn Architektur nicht mehr gezeichnet, sondern programmiert wird –

als Beispiel dient ein Industrieroboter, der mauern kann. Reto Durrer zeigt ein Pro-

jekt für anpassbare städtische Abfallcontainer, welches das Potenzial, aber auch

die Grenzen des parametrischen Entwerfens illustriert.

Mit Mass Customization beschäftigt sich auch Oliver Fritz, der vor allem die Um-

setzung in die Praxis thematisiert: Genaue Planung vorausgesetzt, gibt es heute

dank computerunterstützter Bauproduktion (Computerized Numerical Control )

keinen Preisunterschied mehr zwischen Standard- und Ausnahmeelementen. Dies

beschert der Vorfabrikation ungeahnte neue Möglichkeiten, die nicht zuletzt auch

das konventionelle Berufsbild des Architekten in Frage stellen – zumal sich in der

engen Zusammenarbeit mit Spezialisten und ausführenden Firmen auch die Kom-

petenzbereiche zwischen den Beteiligten verschieben müssten.

Für eine neue Art der Kooperation plädiert auch der Ingenieur Mutsuru Sasaki,

der mittels digitaler Technologie komplexe Tragkonstruktionen für Toyo Ito und an-

dere international tätige Architekturbüros entwirft – obschon sich seiner Meinung

nach, wie er in einem Beitrag von Marco Rossi erläutert, die Art und Weise der

Zusammenarbeit trotz neuer technischer Werkzeuge bisher kaum verändert habe.

Eine ungewöhnliche Perspektive eröffnen schliesslich Friedrich von Borries,

Matthias Böttger und Steffen P. Walz hinsichtlich der Anwendung von Computer-

spielen in der Stadtplanung.

Redaktion

NOX / Lars Spuy-broek: Son-O-House, Son enBreugel, Nieder-lande, 2000–2004Modellstudie

001-009_Editorial.qxp 13.7.2006 14:09 Uhr Seite 2

14 archithese 4.2006

INNOVATIVE TECHNOLOGIE,TRADITIONELLE ARBEITSTEILUNG

Zum Verhältnis von Architekt und Ingenieur Der Ingenieur

Mutsuru Sasaki zeichnet für die Tragkonstruktion vieler wichtiger

Projekte der zeitgenössischen japanischen Architektur verant-

wortlich. Mit den von ihm entwickelten Entwurfstechniken für stati-

sche Strukturen ist es möglich, die Tragkonstruktion frei geformter

Bauten am Computer zu optimieren. Ein Beispiel ist das vor einigen

Monaten fertig gestellte I-Project von Toyo Ito auf der künstlichen

Island City vor Fukuoka. Sasaki vertritt indes die Ansicht, dass sich

die Zusammenarbeit zwischen Architekt und Ingenieur trotz neuer

digitaler Werkzeuge nicht wesentlich verändert habe.

1

Text: Marco Rossi

In europäischen Medien werden die Japaner immer wieder

als technikverrückt dargestellt. Diese Verallgemeinerung

greift zu kurz; und doch scheinen die neuesten, schnellsten

und kleinsten elektronischen Kommunikations- und Arbeits-

geräte in Japan eine grosse Anziehungskraft auszuüben. Zu-

sehends werden Funktionen von Computern auf kleinen por-

tablen Geräten verfügbar. Neuere Mobiltelefone beispiels-

weise sind mit GPS ausgerüstet und zeigen den jeweiligen

Standort sehr genau an – mit dieser Ortsbestimmung lässt

sich auf dem Mobiltelefon dann auch gleich nach Läden oder

Infrastrukturen in der näheren Umgebung suchen und direkt

auf deren Webseiten zugreifen.

Auch fällt es deutlich einfacher in elektronischer Form als

von Hand japanisch zu schreiben: Werden normalerweise ne-

ben zwei japanischen Silbenschriften Tausende von Schrift-

zeichen verwendet, die ursprünglich aus dem Chinesischen

stammen, wird am Computer oder Mobiltelefon ein Wort so

geschrieben, wie man es ausspricht – in römischen Buchsta-

ben oder in einer der beiden Silbenschriften. Am unteren

Rand des Displays erscheinen sofort ein oder mehrere dieser

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Aussprache entsprechende Schriftzeichen, das gewünschte

Zeichen wird ausgewählt und in den zu schreibenden Text

eingefügt. Dabei genügt es, die Zeichen passiv wieder zu er-

kennen; auswendig schreiben können muss man sie nicht

mehr.

In japanischen Architekturbüros kommen Computer als

hilfreiche Arbeitswerkzeuge zum Einsatz, gerade in den dicht

bebauten Städten. Die meisten Büros konzentrieren sich in

oder um Tokio, an möglichst zentraler, guter Adresse. Wegen

der hohen Bodenpreise sind die einzelnen Arbeitsplätze dort

oft sehr klein; dies bestimmt mit, bis zu welcher Grösse reale

Modelle gebaut werden können. Hier haben die auf Compu-

tern darstellbaren 3D-Modellierungen neue Möglichkeiten er-

öffnet, neuen Raum geschaffen.

Organische Formen, rational betrachtet

Mutsuru Sasaki zählt seit Jahren zu den wichtigsten japani-

schen Ingenieuren. Seine Zusammenarbeit mit Toyo Ito an

der Mediathek in Sendai war insofern wegweisend, als dort

die Tragstruktur das orthogonale System verlässt. Seit etwa

sechs Jahren widmet sich Sasaki nun vermehrt frei geformten

Tragwerken. Ein aktuelles Beispiel ist seine Kooperation mit

Sanaa (Kazuyo Sejima + Ryue Nishizawa) beim Learning Cen-

ter der Ecole Polytechnique Fédérale Lausanne.

Sechs Projekte von Sasaki, die in Zusammenarbeit mit

Toyo Ito, Sanaa beziehungsweise Arata Isozaki entstanden

sind, wurden im Sommer 2005 in der Ausstellung flux struc-

ture in der Gallery MA in Tokio präsentiert. Die ausgestellten

Projekte zeigen, wie es Mutsuru Sasaki und vor ihm bereits

Toyo Ito formuliert haben, einen Weg von less is more zu more

is more. Sucht Ito seit einigen Jahren nach einer immer freie-

ren, von der Natur inspirierten Formensprache, so teilt Sasaki

dieses Interesse. Als Ingenieur hat er indes den Anspruch,

auch diese freien, organischen und fliessenden Formen in ra-

tionaler Weise zu behandeln. In den Worten Sasakis müssten

daher die traditionellen, empirisch basierten Methoden für

den Entwurf von Tragkonstruktionen durch mathematisch

basierte ersetzt werden, bei denen sich Mechanik (Rationa-

lität) und Ästhetik (Sensibilität) vereinen. Sasaki ist faszi-

niert von Antoni Gaudí und Heinz Isler, die in ausführlichen

Experimenten das Tragverhalten von Kuppeln oder Schalen

anhand von Modellen studierten.

In seinem Buch Flux Structure schreibt Sasaki: «I won-

dered if a computer could be used for the application of ma-

thematically based mechanical theory to generate structural

shapes for the shape analysis of a real structural design –

wherein it clearly becomes a nonlinear problem.»1 Mit seinem

Team arbeitet er an diversen Methoden, dank denen sich

neue, freie und statisch sinnvolle Formen am Computer ent-

wickeln lassen. Diese Methoden erlauben es zudem, das Trag-

verhalten höchst komplexer Gebäudeformen am Computer

rechnerisch zu kontrollieren und zu optimieren. Im Folgenden

soll exemplarisch der Entstehungsprozess des I-Project von

Toyo Ito in Fukuoka vorgestellt werden, dessen Realisierung

durch eine von Sasaki entwickelte Methode ermöglicht

wurde.

Frei gekrümmte Oberflächen

Beim I-Project handelt es sich um eine Parkgestaltung von

Toyo Ito auf einer künstlich aufgeschütteten Insel in der

Bucht von Fukuoka im Südwesten Japans. Auf Grund der

Nähe zum kontinentalen Festland sind dort vermehrte Wa-

rentransporte und Geschäftsbeziehungen zwischen China,

Korea und Japan zu erwarten. Um eine noch grössere Raum-

knappheit innerhalb der Stadt Fukuoka zu vermeiden, trieben

der Staat, die Stadt Fukuoka und private Investoren die Auf-

schüttung der 400 Hektar grossen Island City voran. Künftig

werden dort Wohn- und Geschäftsbauten entstehen, in deren

Mitte eine Parklandschaft zum öffentlichen Raum werden

soll. Den für die Gestaltung dieses Freiraums ausgeschriebe-

nen Wettbewerb gewann Toyo Ito. Während die Insel noch

kaum bebaut ist, wurde der Park im Herbst 2005 fertig ge-

stellt und im Frühjahr 2006 offiziell eröffnet. Der Entwurf

besteht aus einer künstlichen Topografie von Mulden und

Hügeln, die einen nierenförmigen Teich einfassen. Als auf-

fallendstes bauliches Element heben sich drei Hügel von der

Insel ab, unter denen sich drei Räume für Ausstellungen oder

Gewächshäuser für Pflanzen befinden.

Die formale Idee der Architekten war bereits ausgeprägt,

als die Zusammenarbeit mit Sasaki einsetzte: eine ondulie-

rende Acht, deren innere und äussere Flächen sich an zwei

Stellen verdrehen. Es handelt sich um eine kontinuierliche,

frei gekurvte Schale aus Stahlbeton mit einer maximalen

Länge von 190 Metern, einer maximalen Breite von 50 Metern

und einer Dicke von 40 Zentimetern. «An undulating helical

shape in which the outer surface and the inner surface were

reversed in two places, this is an extremely complex structu-

ral shape with an overall topological continuity between out-

side and inside», so Sasaki. «In this case, Toyo Ito had strong

preferences for particular shapes, so we began by having him

somehow make a physical model of the desired shape, to

which we then applied slight modifications in the areas that

1+2 Modell undLuftaufnahme(beide Bilder aus: ElCroquis, Toyo Ito2001 2005, Nr. 123,S. 294–295)

2

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20 archithese 4.2006

FLEXIBLER SCHINKEL

Material kommt vor der Technik, und die Technik kommt vor

der Idee. Ich führe keine neuen Ideen ein, die interessieren

mich nicht. Aber ich habe neue Techniken eingeführt: Bei al-

len handelt es sich um digitale Prozesse und Prozeduren, und

ich bin überzeugt, dass die Arbeit mit Regeln und Prozessen

uns befähigen wird, mehr architektonische Formen zu erzeu-

gen als uns bisher bekannt sind. So betrachtet ist meine Po-

sition eine Umkehrung: Wir werden Neues haben, wenn wir

das Subjekt soweit wie möglich ausschalten. Wir werden

Neues haben, wenn wir den Maschinen mehr überlassen.

Alte Probleme, neue Instrumente

Der Einsatz digitaler Technologien in Architektur und

Stadtplanung wird generell mit so genannten freien For-

men assoziiert – meist mit neo-organischen Blobs. Im Buch

NOX: Machining Architecture postulieren Sie indes etwas

ganz anderes. Sie definieren topologische Architektur als

eine Architektur der Variation, die durch eine inhärente Sys-

tematik kontrolliert wird. Gemäss dieser Definition sind in

der topologischen Architektur die Beziehungen zwischen

den einzelnen Elementen gegeben, und die Elemente sind

Produkte dieser Beziehungen. Die Form ist also nicht frei

im Sinne von «anything goes», sie ist nicht beliebig, son-

dern das Ergebnis eines streng reglementierten Prozesses.

Genau, Blobs machen mich wahnsinnig. Das ist die schwächs-

te Form der Architektur, das ist Skulpturalismus. Irgendwie

besteht da ein riesiges Missverständnis. Ich versuche, das in

der Semper’schen Terminologie zu erklären. Im Allgemeinen

wird eine Architektur der «Freiform» mit dem Modellieren

von Lehm oder mit dem Aushöhlen von Stein, mit Stereotomie

assoziiert. In Gegensatz dazu ist meine Arbeit absolut tekto-

nisch, nicht skulptural. Der Punkt ist, dass die meisten Kriti-

ker, wenn sie Tektonik hören, Fugen und Nähte in einer nicht

kontinuierlichen Geometrie erwarten. Im Zusammenhang mit

Skulpturalismus dagegen erwarten sie Glätte in einer konti-

In den letzten zehn Jahren hat der Einfluss digitaler Tech-

nologien auf die Architektur stark zugenommen. Dennoch

werden auch heute die meisten Entwürfe auf konventio-

nelle Art und Weise generiert, und der Computer wird le-

diglich eingesetzt, um die Realisierung des Gebäudes zu

ermöglichen – als Zeichnungsinstrument für Pläne und Per-

spektiven, als Rechner für bauphysikalische Simulationen,

bei der Kostenkalkulation, bei der Herstellung vorfabrizier-

ter Einzelteile oder bei der Koordination verschiedener am

Bau beteiligter Spezialisten. In Ihrer Arbeit ist der Compu-

ter jedoch viel mehr als das, er prägt den ganzen Ent-

wurfsprozess. Wie würden Sie die Rolle des Architekten in

diesem Kontext definieren?

Wie Darwin Gott aus der Evolutionstheorie ausgeklammert

hat, möchte auch ich das schaffende Subjekt aus dem Ent-

wurfsprozess heraushalten. Ich bin gegen Kreationismus, so-

wohl bei natürlichen Formen als auch in der Architektur. Es

ist mir bewusst, dass dies ein extremistischer Standpunkt ist

– und um ehrlich zu sein, äussere ich diese Sicht eher als Theo-

retiker denn als Entwerfer.

Auf der anderen Seite gilt es zum Beispiel in Bezug auf

architektonische Typologien überhaupt nicht als extrem, son-

dern als allgemein akzeptierte Meinung, dass die Architektur

mit dem in den Typen verkörperten kollektiven Gedächtnis

operiert und dass ein bestimmter Typus nur durch Kontext

und Ort differenziert wird. Aber eine solche Haltung wird nie

ein evolutionäres Formkonzept zulassen, denke ich; sie wird

nie erlauben, dass neue Typen entwickelt oder erfunden wer-

den, ausser durch Zufall.

Ich dagegen bin der Meinung, dass die Differenzierung

der Form, die in der Biologie «Morphogenese» und im Inge-

nieurwesen «Formfindung» genannt wird, ein weitgehend

materieller Prozess ist, der den Regeln der Interaktion folgt.

Auf Deutsch ist «Formfindung» ein Gegensatz zu «Formge-

bung». Oder in Gottfried Sempers Worten ausgedrückt: Das

Lars Spuybroek im Gespräch mit Judit Solt Lars Spuybroek leitet das Architekturbüro NOX in Rotter-

dam, das seit den Neunzigerjahren das Verhältnis von Architektur und digitalen Technologien erforscht.

Im Gespräch thematisiert er ein neues Verständnis des Architekten als Entwerfer, Gottfried Sempers

Bekleidungsprinzip im Computerzeitalter und die Frage, wie der Einsatz des Computers zu einer neuen,

auf Kontinuität basierenden Architektur jenseits aller vordergründig glatten Blobs führen könnte.

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1 Son-O-House, Sonen Breugel, Nieder-lande, 2000–2004

Kunstwerk imöffentlichen Bereichfür den Industrie-schap Ekkersrijt, inZusammenarbeitmit dem Komponis-ten Edwin van derHeide

An der Autobahnzwischen Son enBreugel und Eindho-ven liegt ein grosserIndustriepark miteinem Bereich fürdie IT- und Neue-Medien-Branche.Das Kunstwerk solldie Identität diesesGebiets stärken – alstechnologischesStatement und alsRaum, wo sichMenschen zwanglostreffen und entspan-nen können. DieKonstruktionermöglicht es, Tönein einer musikali-schen Struktur zuhören und sich auchan der Kompositionzu beteiligen. Sie istInstrument, Partiturund Studio in einem.23 strategischplatzierte Sensorenbeeinflussen die

Musik indirekt.Dieses Klangsystem,komponiert undprogrammiert vomKlangkünstler Edwinvan der Heide,basiert auf Moiré-Effekten bei denInterferenzen engverwandter Fre-quenzen. DerBesucher beeinflusstden Klang nichtdirekt, wie dies beiinteraktiver Kunstoft der Fall ist,sondern die Echt-zeit-Kompositionselbst, welche dieKlänge generiert.Die Partitur ist eineevolutionäreErinnerungsland-schaft, die sich mitdem Verhalten derKörper im Raumentwickelt.

Architektur:NOX/Lars Spuy-broek, Rotterdam;Projektteam: ChrisSeung-woo Yoo,Josef Glas, LudovicaTramontin, KrisMun, Josef Glas,Geri Stavreva, NicolaLammers

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32 archithese 4.2006

Text: Fabio Gramazio und Matthias Kohler

Die digitale Fabrikation erlaubt es, am Computer beschrie-

bene Bauteile direkt maschinell zu fertigen. Sie macht es

möglich, Entwurfsinformationen in Form von Daten und Pro-

zeduren mit der gebauten Architektur zusammenzuführen.

Dadurch verändern sich die Produktionsbedingungen im

Bauwesen. Wie jeder technologische Innovationsschub in der

Architektur erweitert auch die digitale Revolution nicht nur

das Spektrum an Möglichkeiten, sondern sie begründet durch

ihre spezifischen Gesetzmässigkeiten auch ihre eigene Äs-

thetik. Im Rahmen der Assistenzprofessur an der ETH Zürich

sollen die Möglichkeiten des direkten Ineinandergreifens von

Daten und Material und die daraus entstehenden wechsel-

seitigen Beziehungen zwischen Entwurf und Herstellungs-

methoden untersucht werden. Wir definieren für diesen Pro-

zess den Begriff der «Informierung von Architektur».

Um diese neuen Produktionsbedingungen zu untersu-

chen, haben wir im letzten Herbst eine im Architekturkontext

weltweit einzigartige Fertigungseinrichtung auf der Basis ei-

nes Industrieroboters aufgebaut. Dieser bewegt sich auf ei-

ner linearen Achse und hat eine Reichweite von drei Metern.

DIE INFORMIERUNGVON ARCHITEKTUR

Die Programmierte Wand – ein Forschungsbericht Eine neuartige Fertigungseinrichtung an der ETH Zürich ermöglicht

es, das Potenzial der digitalen Fabrikation zu erforschen: Ein entsprechend angepasster Industrieroboter demonstriert die

additive Fertigung von nicht standardisierten Bauteilen am Beispiel von Backsteinmauern.

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Dadurch ist er in der Lage, Bauteile im Massstab eins zu eins

bis zu einer Länge von acht Metern zu erstellen. Der For-

schungsschwerpunkt liegt in der additiven Fabrikation von

nicht standardisierten Bauteilen.

Additive Fabrikation könnte vereinfacht als dreidimensio-

nales Druckverfahren für Bauteile beschrieben werden. Diese

Herstellungstechnik produziert keinen Abfall, weil das Bau-

material genau dort abgelegt wird, wo es gebraucht wird.

Durch das gezielte Einweben von Information ist eine Kont-

rolle der funktionalen Eigenschaften bis in das Innere des

Bauteils möglich. Architektur kann also bis auf die Ebene des

Materials «informiert» werden. Das Interessante und Nach-

haltige an diesem Prinzip ist die grundsätzliche Verwandt-

schaft mit den meist additiven Konstruktions- und Materiali-

sierungsprinzipien gebauter Architektur.

Im März dieses Jahres wurde das Potenzial dieses Ansat-

zes erstmals getestet. Im Rahmen des vierwöchigen Diplom-

wahlfachs «Die Programmierte Wand» erhielten Studierende

der Architektur die Aufgabe, eine reale Backsteinwand von

drei Metern Länge und zwei Metern Höhe mit dem Roboter zu

gestalten. Jedem klassischen Mauerwerkverband liegt im

Prinzip ein einfacher Algorithmus zu Grunde. Die Studieren-

den konnten daraus Kriterien für den Aufbau, die Standfes-

tigkeit und die Verbundwirkung einer Backsteinwand ablei-

ten und aus diesen Kriterien die Regeln für die Programmie-

rung ihres Entwurfs herleiten. Da es für den Roboter – im

Unterschied zum Maurer – keine Rolle spielt, mit welchem

Winkel er einen Backstein ablegt, konnten die Studierenden

diesen neuen Freiheitsgrad in ihrer Entwurfsstrategie krea-

tiv nutzen. Die aus diesem Prozess entstandenen gebauten

Wände beinhalten sowohl die archaische Präsenz des Mate-

rials als auch die differenzierten Eigenschaften ihrer proze-

duralen Gestaltung. Durch die Anreicherung mit Information

entstand aus einem altbekannten, bewährten Element der

Bauindustrie ein neues, in dieser Form unbekanntes archi-

tektonisches Bauteil.

Autoren: Fabio Gramazio und Matthias Kohlersind Inhaber des Architekturbüros Gramazio &Kohler in Zürich. Seit Oktober 2005 bauen sie amDepartement Architektur der ETH Zürich dieAssistenzprofessur für Architektur und DigitaleFabrikation auf.

Projektteam «Die Programmierte Wand»:Professur: Fabio Gramazio, Matthias Kohler;Assistenz: Tobias Bonwetsch, Daniel Kobel,Michael Lyrenmann; Studierende: MatthiasBühler, Michael Knauss, Leonard Kocan, SilvanOesterle, Gonçalo Manteigas, Dominik Sigg;Industriepartner: Keller AG Ziegeleien

Roboter im Einsatzund verschiedeneErgebnisse(Fotos: Architekturund Digitale Fabri-kation, ETH Zürich)

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34 archithese 4.2006

Parametrisches Entwerfen am Beispiel städtischer Abfallcontainer Wenn sich das Objekt dem System unter-

ordnet, anstatt dass sich das System dem Objekt anpassen muss, wird eine Optimierung auf beiden Seiten mög-

lich. Neue Generationen von Stadtmöblierung demonstrieren, wie Serien von standortspezifisch variablen Objek-

ten eingesetzt werden können.

AN DEN GRENZENDER STANDARDISIERUNG

1

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1 Aufsicht desparametrischen 3D-Modells

2 Kunststoffmo-delle von Contai-nern im Massstab1:10, hergestellt mit einer CNC-Milling-Maschine.Die Formen wurdenmit dem assozia-tiven Entwurf aufGrund von Para-metern verschiede-ner Standorte in der Innenstadt vonRotterdam generiert

Text: Reto Durrer

Der erste einheitliche Abfallcontainer wurde 1875 zur Ent-

sorgung der Asche von Heizungen in London eingeführt, was

eine effiziente Organisation der städtischen Müllabfuhr er-

möglichte. Seither hat er sich laufend modernisiert und ist –

entsprechend der gestiegenen Abfallproduktion unserer

postindustriellen Gesellschaft – für das Funktionieren der

Städte immer bedeutender geworden. In vielen europäischen

Städten werden heute Sammel- und Recyclingcontainer für

Haushaltsmüll im öffentlichen Raum installiert: Anstatt

Säcke in den Strassen zu deponieren, bringen die Städter Ab-

fall, Altpapier und Altglas unabhängig vom Fahrplan der

Sammelfahrzeuge zur nächsten Entsorgungsstelle in der

Nachbarschaft. Das Abfallmanagement der Stadt Rotterdam

beispielsweise, das weltweit zu den effizientesten gehört,

platziert Container innerhalb einer Reichweite von 70 Metern

ab jeder Wohnungstür. Somit verteilen sich in der städtischen

Landschaft ca. 5000 Objekte, die in verschiedenen Systemen

wie Netzwerk, Mechanismus, Identifikation, Betrieb und

Unterhalt funktionieren. Was der heutige Container indes im-

mer noch mit dem historischen Londoner dustbin gemeinsam

hat, ist die Idee der Standardisierung.

Neuere und immer grössere Modelle, die in einen Schacht

im Boden eingelassen sind, bieten mehr Kapazität und neh-

men weniger Platz im Strassenraum in Anspruch. Da sie

jedoch zu einem Zeitpunkt eingeführt werden, zu dem die In-

frastruktur in den Strassen und im Erdreich bereits sehr dicht

ist, lassen sie sich mit ihren festen Abmessungen nur selten

ideal platzieren. Besonders in Altstadtzentren ist es schwie-

rig, den optimalen Standort zu realisieren, der zum Beispiel

nahe beim Eingang eines Supermarktes liegen würde. Häufig

müssen anstelle der bevorzugten Untergrundcontainer meh-

rere kleinere, überirdische Modelle platziert werden – oder

der Standort wird um die Ecke verlegt, wo der Recyclingcon-

tainer schlechter frequentiert wird. Ein weiteres Problem ist

die Auslastung. Während einzelne Behälter schnell überfüllt

sind, bleiben andere praktisch unbenutzt: Im Durchschnitt

sind die Container zum Zeitpunkt ihrer Entleerung nur halb

voll. Da die städtischen Betriebe aber nicht die Container,

sondern nur den Fahrplan variieren können, lässt sich die Ef-

fizienz des Entsorgungssystems nur noch bedingt optimieren.

Umkehrung des Prinzips

Die Einführung von individuell anpassbaren Containern als

eine standortspezifische Serie von Objekten würde dieses

Prinzip umkehren. Auf diese Weise könnten die ideale Route

und der Fahrplan der Sammelfahrzeuge festgelegt und der

ideale Standort für die Container zuerst bestimmt werden;

dann würden die Container so angepasst, dass sie den je-

weiligen räumlichen und betrieblichen Anforderungen ent-

sprechen.

Für das Design, die Anpassung und die Herstellung ent-

sprechender Objekte stellen sich anspruchsvolle, aber lös-

bare Probleme. Interessant und ökonomisch realistisch wird

die Anfertigung der erforderlichen Anzahl von Unikaten

durch die Technologie des assoziativen Designs, verlinkt mit 2

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56 archithese 4.2006

Computing and alternative design proposals The design process in architecture is changing

in response to the pervasive influence of digital technologies, and increasingly so because of

their role in the exploration of alternative design proposals. This represents a move away from

their traditional role in the presentation of completed design schemes. Digital representations

are central not only to form generation and structural analysis, but also to the integration of

fabrication and construction directly with the earlier design stages. It is becoming increasingly

feasible to develop a rapid succession of distinct digital models, some of which in turn generate

prototypical physical counterparts, in early design stages. These can be tested and evaluated

with respect to a range of analytical criteria, and the results of these analyses can affect further

model development thus forming a cyclical process of 3D digital model generation.

DIGITAL REALITY

curvilinear form, but also to resolve the structural issues aris-

ing from that form.

Early computer-aided design (CAD) systems allowed the

expression of the rectilinearity and orthogonality often found

in modernist architecture. More recent developments in digi-

tal representations of curved surfaces, however, have enabled

support for more sculptural approaches. Digital technologies

in contemporary architecture are therefore becoming more

neutral in terms of the range of visual design expressions that

they offer. Designers can now focus on exploiting computing

environments for the purposes of digital exploration rather

than for mere presentation.

Some digital technologies allow designers to re-connect

with the material aspects of traditional design processes in

the form of sketches and physical models. This material con-

nection is sometimes referred to as an associative architec-

ture,1 and is concerned with the relationships between geo-

metric control points in CAD modelling environments and the

computer numerically controlled (CNC) instructions needed

to fabricate components. Support for digital exploration is bas-

ed upon a combination of factors which include developments

Text: Peter Szalapaj

The process of exploration of design ideas involves the reso-

lution of tangible design criteria such as topography, form,

structure, and environmental control. Historically, this pro-

cess has included different ways of thinking about structural

and constructional systems. Movements such as Art Nouveau

at the end of the 19th century, for example, emphasised deco-

rative aspects. In 1908, Adolf Loos famously associated orna-

mentation with crime. The subsequent Bauhaus approach in

the 1920s attempted to avoid the use of decorative features,

and instead focused on construction systems with internal

structural frames allowing flexible plan and facade arrange-

ments. In the latter case, therefore, structure determines

form. This approach was refined by many modernist archi-

tects including Gerrit Rietveld and Le Corbusier. Charles

Eames aimed to design affordable housing through the use of

prefabricated standardised parts. In 1959, ten years after the

Eames House, Frank Lloyd Wright adopted a sculptural ap-

proach to the design of the Guggenheim Museum in New

York. More recently, in Frank O. Gehry’s architecture, digital

technologies have been used not only to represent proposed

056-061_Szalapaj 13.7.2006 13:23 Uhr Seite 56

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in digitisation and digital sketching technologies;2 the ana-

lysis of digital models using integrated simulation software;3

the ability to express parametric relationships.4 The interac-

tion with physical models is supported through rapid proto-

typing5 and digital fabrication technologies.6

Sketching

Developments in digital sketching technology, combined

with the direct manipulation of 3D digital models, represent

an important trend in the digital input of design schemes. Im-

mediacy of digital sketch modelling is achieved at the ex-

pense of technical detail and textural information so that spa-

tial design concepts become the focus of attention. The trans-

lation of sketches into a digital format is a process that needs

to be repeated when design proposals change. Imprecise and

intuitive forms of digital input support and stimulate design-

ers’ creativity. The emphasis on expression and communica-

tion allows fast exploration of design alternatives.

Frank O. Gehry’s design process has been well documen-

ted,7 and typically begins with consultations with clients,

sketching and physical modelling. When a proposal is ready

to be taken further, the corresponding physical model (often

made from polystyrene) is digitised in 3D, and then further

developed as a digital model.

Suggestions for more direct methods of digital sketching,

exploiting the customisation of graphical input devices, have

been made.8 Customisation allows users to associate mean-

ings with data that has been digitally captured. The idea of

digital sketch modelling, in which the role of digital tech-

niques is to support and preserve key sketch design ideas as

they evolve and develop, is an important research issue.

CAD / CAM

Rapid prototyping technology allows designers to create

rough design models through what is essentially a digital

sketch modelling process. Digitally produced prototypes can

form the basis for later fabrication processes. The structural

system on the Eden project in Cornwall, UK, for example,

used prefabricated hexagonal components as the primary

structural elements (archithese 6.2002). Geodesic forms are

particularly suited to the fabrication of modular components

that map onto their geometries. A series of intersecting

1 From digitalpresentation todigital exploration

2 Biome structure –Nicholas Grimshaw& Partners andAntony Hunt: EdenProject, Bodelva,1996–2001

2

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