archithese 3.13 - Weak materiality / Eine Schwäche für Materialität

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archithese Fadenkonstruktionen: armes Material, starkes Medium Do Ho Suhs genähte Räume Von ant farm bis Hüpfburg Textile Schalungen Heinz Islers Eis-Versuche Die Hauträume von Heidi Bucher Zur Bedeutung von Bewehrungsplänen ProtoRobotic FOAMing The (risky) craft of digital making Material: Oberfläche oder strukturbestimmender «Stoff» Über Putz Bautraditionen in Himachal Pradesh, Indien Digitales Prototyping: Leadenhall Building von RSHP Digitale Fabrikation und Denkmalpflege Sandstein-3-D-Druck von Michael Hansmeyer Renzo Piano Building Workshop: The Shard, London Caruso St John Architects: Erweiterung des Sir John Soane’s Museum, London 3.2013 Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur International thematic review for architecture Weak materiality – Eine Schwäche für Materialität

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architheseFadenkonstruktionen: armes Material, starkes Medium

Do Ho Suhs genähte Räume

Von ant farm bis Hüpfburg

Textile Schalungen

Heinz Islers Eis-Versuche

Die Hauträume von Heidi Bucher

Zur Bedeutung von Bewehrungsplänen

ProtoRobotic FOAMing

The (risky) craft of digital making

Material: Oberfläche oder strukturbestimmender «Stoff»

Über Putz

Bautraditionen in Himachal Pradesh, Indien

Digitales Prototyping: Leadenhall Building von RSHP

Digitale Fabrikation und Denkmalpflege

Sandstein-3-D-Druck von Michael Hansmeyer

Renzo Piano Building Workshop: The Shard, London

Caruso St John Architects: Erweiterung des Sir John Soane’s

Museum, London

3.2013

Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

International thematic review for architecture

Weak materiality – Eine Schwäche für Materialität

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E D I T O R I A L

Weak Materiality – Eine Schwäche für Materialität

Als im Spätsommer vergangenen Jahres der Titel für das vorliegende Heft festge-

legt wurde, war der Redaktion bereits bewusst, dass mit dem deutsch-englischen

Wortspiel, der Verschiebung von der sinngemässen Übersetzung «a soft spot for

architecture» hin zu «weak materiality», ein Titel gewählt worden war, dem ein

Heft allein über Materialität nicht gerecht werden konnte. Dies half einer Wieder-

holung des «klassischen» Diskurses über Materialität vorzubeugen, wie er sich

zum Beispiel in der Ausgabe der Zeitschrift Daidalos unter dem Titel «Magie der

Werkstoffe» (Juni 1995) abbildete und wie er in den vergangenen drei Jahrzehnten

besonders die Deutschschweizer Architektur auszeichnete.

Während die Schweiz das Material und seine Beschaffenheit erkundete, wandte

sich der weltweite Diskurs dem Immateriellen zu. Es war die Entdeckung des

Cyberspace als virtuellen Raum aus Bits, welche die Fantasien beflügelte. Den-

noch blieb die Sehnsucht des Architekten nach Greifbarem auch in Zeiten der di-

gitalen Körper- und Schwerelosigkeit bestehen. Der Wille, die virtuellen Visionen

zu realisieren, trieb die Entwicklungen voran. So verschob sich über die Jahre der

Schwerpunkt vom Raum (space) zum Material: Seither wandelt das neue Feld der

digitalen Fabrikation die schwache, unbestimmte Materialität des Digitalen zu

einer neuartigen, starken und physischen Materialität um.

Auf der Suche nach Referenzen für die neuen Produktionsmethoden beginnt

auch bei der Einschätzung realer Phänomene das vermeintlich Schwache seine

Stärken auszuspielen. So zum Beispiel, wenn die Falte eines Tuchs durch seine

Härtung, sei es durch Gefrieren oder Betonieren, zu einer Optimierung des Trag-

systems führt. War das Schwache früher nur durch Experimente zu erkunden –

hier wäre Heinz Isler als einer der Protagonisten zu erwähnen –, so erlauben die

digitalen Werkzeuge für Analyse und Herstellung dem Ingenieur und Architekten

unerwartete Stärken zu entdecken, welche unser ästhetisches Empfinden für rich-

tig und falsch zu verändern beginnen.

Dennoch bleibt der technische Fortschritt im vorliegenden Heft nicht unhinter-

fragt, wird dem digital manufacturing das Handwerk gegenübergestellt. Dabei

geht es weniger um ein Für oder Wider als um eine gegenseitige Befruchtung. Die

Sandstein-3-D-Drucke von Michael Hansmeyer, welche unter Anleitung eines Kir-

chenrestaurators behandelt werden, zeigen, wie sich in einer post-digitalen Ära

Disziplinen und Strömungen neu zusammenfügen. Dass dies gelingen kann, be-

dingt den Schutz und Erhalt des überlieferten Wissens, bedingt die Pflege der

zumeist oral oder durch direkte Beobachtung tradierten Fertigkeiten der Mate-

rialbearbeitung. Dies hat in den aufstrebenden Länder Asiens besondere Bedeu-

tung, denn die Geschwindigkeit der Industrialisierung treibt einen Kulturwandel

an, der das schwache Wissen unter Druck setzt.

Wie im Leben, so hat es auch im Editorial das wahrlich Schwache schwer und

kommt entsprechend zum Schluss. Doch inwieweit muss das Schwache zwingen-

derweise erstarken, um Eingang in die Architektur zu finden? Eine sehr persönli-

che Antwort mögen die Hauträume der Künstlerin Heidi Bucher geben, eine ver-

gnügliche Antwort die Integration der Hüpfburg in den Kanon der Architektur.

Die Redaktion

4 archithese 3.2013

Zum Thema: archithese ist Partner der internationalen Kon-

ferenz Fabricate, welche vom 14. bis 15. Februar 2014 an der

ETH Zürich stattfindet. Der Call for Work ist noch bis zum

30. Juni 2013 offen. www.fabricate 2014.org

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10 archithese 3.2013

A R C H I T E K T U R A K T U E L L

Vertical Sublime oder Festung der Einsamkeit

Zur offiziellen Eröffnung von The Shard im Mai 2012

war auch der Duke of York, Prinz Andrew, zugegen.

Bis 2011 pflegte er als Abgesandter der englischen

Handelskammer enge Kontakte zu den Arabischen

Staaten, sah sich dann jedoch durch Freundschaf-

ten zu zweifelhaften Figuren wie Jeffrey Epstein ge-

zwungen, sein Mandat niederzulegen. Während

Andrew bei den Feierlichkeiten für das neue Wahr-

zeichen Londons begeistert schwärmte, war sein

Bruder Charles über den neuen Wolkenkratzer we-

nig erfreut. Seit den Achtzigerjahren führt er als ers-

ter Kritiker des Commonwealth einen medialen Feld-

zug gegen die Bauten der Nachkriegsmoderne und

die Hochhausbauten in der City of London; er sieht

sich als Verfechter von «Merry Old England». Im Fall

von The Shard war er allerdings machtlos; an ande-

rem Ort jedoch konnte seine polemische Kritik an

der zeitgenössischen Architektur kombiniert mit kö-

niglichen Kontakten ein weiteres Prestigeprojekt von

Qatari Diar massgeblich beeinflussen: Für die Chel-

sea Barracks überzeugte Charles 2009 den königli-

chen Immobilienentwickler, sich vom verantwortli-

chen Architekten Richard Rogers loszusagen und

stattdessen ein Projekt zu verfolgen, das an die

RENZO PIANO BUILDING WORKSHOP:

THE SHARD, LONDON, 2013

In London wurde das höchste Gebäude in

Europa fertiggestellt und bringt den fernen

Glanz und die abstrakte Dimension der

Türme aus den Vereinigten Arabischen Emi-

raten in die Realität der englischen Metro-

pole. Wie einst Seiferts Centre Point oder

später Fosters Gherkin definiert das Bau-

werk das visuelle Zentrum der Stadt neu und

verlagert es in einem historischen Akt auf

die Südseite der Themse.

Autor: Florian Dreher

Rechtzeitig zu Beginn der Olympischen Spiele in

London im Sommer 2012 wurde das Prestigeprojekt

The Shard (deutsch «die Scherbe») des italienischen

Architekten Renzo Piano in Zusammenarbeit mit

Broadway Malyan Architects, der Investorengruppe

Sellar Property Group sowie dem Haupteigentümer

Qatari Diar fertiggestellt. So konnte es während des

spektakulären Eröffnungszeremoniells mit einer

nächtlichen Speedbootfahrt von David Beckham

auf der Themse prachtvoll in Szene gesetzt werden.

traditionellen Vorstellungen des Prinzen angeglichen

wurde (siehe archithese 5’2009). Wie hätte wohl die

Vision von Prinz Charles für The Shard ausgesehen?

Ritter mit Glaslanze

Das Hochhausprojekt Shard ist Bestandteil jener

Hochhausdiskussion, die in London seit der Nach-

kriegszeit bis heute geführt wird. Waren es in den

Fünfziger- und Sechzigerjahren noch die Tower

Blocks, an denen sich die Gemüter erhitzten, galt

es sich in den Achtzigerjahren zwischen den hori-

zontal ausgerichteten Superblocks der «Ground-

scraper» und den vertikalen Landmarks der

Skyscraper zu entscheiden. Mit dem London Plan

von 2002 zur Festlegung potenzieller Hochhauss-

tandorte wurden Leitlinien formuliert, die neben der

Einhaltung wichtiger Sichtbezüge (sogenannte

conservation areas und strategic corridors) zu his-

torischen Monumenten wie St Paul’s Cathedral

auch sogenannte Abwägungszonen für Einzelob-

jekte oder Cluster wie Canary Wharf vorsahen

(consultation areas). Vehementer Befürworter und

federführend in der politischen Diskussion für

die Errichtung zahlreicher Hochhäuser war Ken

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der neuen Schienenhochtrasse des Thameslink-

Projektes, das den Ausbau der London Bridge

Station miteinschliesst, weichen. Für den 2012 be-

gonnenen Umbau des Bahnhofs selbst wurde das

Büro von Nicholas Grimshaw beauftragt, welches

bereits 1993 das durch den Umzug nach King’s

Cross vakante International Terminal der Waterloo

Station für den Eurostar als einen der Höhepunkte

englischer Hightech-Architektur realisiert hatte.

Der aktuelle Entwurf für die London Bridge Sta-

tion mit voraussichtlicher Fertigstellung im Jahr

2018 sieht eine Vielzahl wellenförmiger Gleisüber-

dachungen vor, die im Gesamtbild eine topogra-

fisch gestaltete Dachlandschaft ergeben und sich

formal stärker an Grimshaws Entwurf für den Bahn-

hof Amsterdam Bijlmer (2007) als am Waterloo Ter-

minal orientieren. Dabei positioniert sich Renzo

Pianos angrenzendes Hochhaus The Shard als

vertikaler Wellenbrecher und lässt einige Wellenfor-

mationen zur Herausbildung des zukünftigen

Haupteingangs der London Bridge Station hervor-

wogen.

Bevor jedoch die Vision des 1,5 Milliarden Pfund

schweren vibrant London Bridge Quarter Realität

werden konnte, musste der von TP Bennet Ar-

chitects errichtete Southwark Tower – zur Zeit sei-

ner Fertigstellung 1970 ein technisch Massstäbe

setzendes Gebäude – sowie das fünf Jahre ältere

New London Bridge House mit seinem elegant

skulpturalen Eingangsgeschoss von Richard Seifert

weichen. Dies sind weitere Beispiele für das frag-

würdige Schicksal, welches seit geraumer Zeit den

Bauten der Nachkriegsarchitektur widerfährt. Der

dritte Turm des ursprünglichen London-Bridge-Tri-

os – der Guy’s Tower, einst mit 143 Meter und einem

markanten Betonauditorium als Bekrönung des Be-

tonkerns die dominierende Figur des Boroughs –

blieb aufgrund seiner Nutzung als Krankenhaus

einzig vom Abriss verschont und wird derzeit von

Penoyre & Prasad umgebaut wie auch seiner bruta-

listischen Ursprungsästhetik entkleidet.

Nach Fertigstellung des neuen Quartiers ist der

einstige Riese zum kleinen Mann verkommen, und

The Shard zieht als weit sichtbares Zeichen nun die

grösste Aufmerksamkeit auf sich. Zur Rettung der

1 Luftansicht über die Themse mit Simulation der London Bridge Station und neuem Quartier (Fotos 1+6: © Sellar Group)

2 Ensemble des London Bridge Quarter: The Shard und The Place mit dem benachbarten Guy’s Tower Hospital (Foto: © Lumberjack)

Ehre könnte allein das Bild des stumpigen Ritters

mit der glänzenden Lanze für den Guy’s Tower her-

beigezogen werden. Teil der neuen Anlage ist auch

noch ein eher beschauliches Bürohaus mit der ein-

fachen Titulierung The Place, das den Seifert-Bau

ersetzt. The Place stammt ebenfalls aus der Feder

von Piano und gehört mit The Shard zu den ersten

beiden Projekten seines Büros Renzo Piano Buil-

ding Workshop (RPBW) für London; sie wurden

jedoch erst nach dem Folgeauftrag des Bürokom-

Livingstone, der langjährige ehemalige Labour-

Bürgermeister und Erzfeind von Margaret Thatcher.

Im entscheidenden Jahr 2000 – mit Olympiabe-

werbung und Vorstellung des damals noch «Lon-

don Bridge Tower» genannten Projektes – nahm

Livingstone nach einer kleinen Unterbrechung als

Kapitän der Greater London Authority die Ruder

und damit die Geschicke der Stadt wieder in die

Hand und setzte seine Politik zum Umbau der

Metropole an der Themse fort. Für ihn waren die

Hochhäuser eine wirtschaftliche Notwendigkeit für

den Finanzstandort London, um ausreichend

Büroflächen zu bieten. Das erhoffte Resultat sin-

kender Mieten erwies sich im Nachhinein jedoch

als Trugschluss. Die ikonenhaften Grossprojekte

waren gleichsam Ausdruck eines neuen Selbst-

bewusstseins, das – einhergehend mit der New-

Labour-Politik Tony Blairs – seine Formulierung in

«Cool Britannia» fand und für eine mit New York um

die Krone der Weltstadt konkurrierende Metropole

notwendig erschien. Dieser Aufschwung und die

dafür benötigten Investitionen in die Infrastruktur

schienen nur möglich, indem die Finanzierung von

der öffentlichen Hand auf die Privatwirtschaft um-

gelegt wurde. Public Private Partnerships und das

Anlocken von Investoren wurden zum Signal der

Akzeptanz des Marktes und kennzeichneten die

«neue» Auffassung in der Labour-Partei. So kann

auch das Projekt The Shard nicht alleinstehend be-

trachtet werden, sondern muss im Kontext der

Strategie für die Modernisierung der London Bridge

Station und die städtebauliche Neuarrondierung

des südlich der Themse gelegenen Areals im

Borough of Southwark gelesen werden. Das Areal

liegt in einem recht zentrumsnahen Teil der Stadt,

der seit dem Anschluss an die Jubilee Line 1999

sowohl kulturell wie wirtschaftlich verstärkt in den

Fokus geriet. Ein Wandel, der sich in der Entwick-

lung des Borough Market auf der gegenüberlie-

genden Seite der London Bridge Station zum

hochpreisigen Delikatessenmarkt abbildet. Dieser

Aufstieg bewahrte den Marktplatz, der einer der

ältesten Londons ist, allerdings nicht vor einer

grossräumigen Amputation. Zahlreiche rahmende,

mitunter denkmalgeschützte Gebäude mussten

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FADENKONSTRUKTIONENVom armen Material zum starken Medium Weben, knüpfen, stricken, häkeln – was aus Fäden gewonnen wird, trägt

zumeist die Signatur des Kunsthandwerklichen oder des Designs. Doch gibt es auch die arachnischen Künstler, die einzelne

Fäden ziehen oder flächige Muster aufhängen, die dreidimensionale Raumnetze aufspannen und kokonartige Innenaus­

kleidungen erstellen. Die Moderne hat eine Ästhetik des Fadens hervorgebracht, die raffinierte Wechselspiele zwischen Bild,

Objekt, Installation und Architektur inszeniert.

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Autor: Gunnar Schmidt

Trickle up

Seit Mitte der 2000er­Jahre hat sich eine neue Form der

Street Art etabliert, die nicht mehr mit Farbe die Flächen der

Stadt gestaltend oder verunstaltend annektiert, sondern mit

Strickfäden einzelne Stadtobjekte verkleidet und auf neue

Weise sichtbar macht. Die Einstrickungen von Skulpturen,

Bäumen oder Verkehrzeichen sowie das Aufspannen von

Fadenarrangements durch die Strickguerilla folgen der in

den Fünfzigerjahren von den Situationisten propagierten

Strategie des Détournement: In der Öffentlichkeit vorfind­

bare Machtsymbole oder (un)ästhetische Behauptungen

werden durch Überformung, Umgestaltung oder Verfrem­

dung parodistisch angegriffen.1 Da Wolle und Stricken das

Signum des Gemütlichen und Hausbackenen anhaftet, wird

das Pathos monumentalisierter Semantiken durch Vernied­

lichung erniedrigt und zuweilen entwürdigt. Unabhängig

vom jeweiligen Motiv zur Intervention, illustriert der haus­

fraulich­handwerkliche Umgang mit dem Wollfaden einen

generellen Kulturwandel, den Peter Sloterdijk als «Vermas­

sung der vormaligen Avantgardequalitäten und die Überset­

zung von einst pathetischer Kreativität in alltägliche Mani­

pulation von Materialien und Zeichen durch die Angehörigen

einer weltumspannenden Design­Zivilisation» bezeichnet.2

Die naive Freude an der Pulloverisierung der Stadtdinge ist

jedoch nur die eine Seite einer Kultur, die auf der Suche nach

materialer Expressivität ist. Entgegen der Sloterdijk’schen

trickle-down­Diagnose haben Künstler das Fadenmaterial

sublimiert und variationsreich für künstlerische Praktiken

benutzt. Die enorme Plastizität von Fadenmaterialien

zwischen reduktiver Linearität und chaotischer Überfülle,

zwischen angestrengter Aufgespanntheit und schlaffer An­

tiform, zwischen verschwindender Beiläufigkeit und farben­

prächtigem Expressionismus birgt das Reservoir für Raum­

verfügungen, welche die Disziplingrenzen zwischen Kunst,

Design und Architektur durchlässig machen. Das kulturelle

Trickle­up transformiert das schwache Material in ein star­

kes Ausdrucksmedium.

Ästhetik des Leichten: Linien im Raum

Albrecht Dürers Holzstich Der Zeichner der Laute, der als

letzte Illustration in seinem Lehrbuch Underweysung der

Messung, mit dem Zirckel und Richtscheyt, in Linien, Ebenen

unnd gantzen corporen (1525) publiziert wurde, zeigt eine

Methode zur perspektivischen Darstellung. Dieses Bild kann

1 Paule Vézelay, Lines in Space No. 34, Draht und Garn auf Karton in Holzrahmen, 1954 (© Tate, London 2013)

2 Fred Sandback, Untitled (Trape- zoid), rotbrauner Acrylgarn, 2002 (© Akira Ikeda Gallery/Berlin)

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als Urszene der späteren Fadenkünste betrachtet werden:

Zwar wird der Faden ausschliesslich zweckhaft als prakti­

sches Werkzeug dargestellt, doch gewinnt er seine Dignität

nicht nur durch den Kontext der Kunstproduktion, er wird in

der Repräsentation mittels des gestalterischen Grund­

elements Linie dargestellt. Linie, Faden, Fläche – das sind

die grundlegenden Parameter, die vierhundert Jahre später

die englische Künstlerin Paule Vézelay (Pseudonym von Mar­

jorie Watson­Williams) dazu brachten, das zweidimensio­

nale Bild aufzubrechen und die Räumlichkeit zu erschlies­

sen. Vézelay kann als Pionierin im Bereich ästhetischer

Fadenexperimente betrachtet werden, denn bereits 1935

beginnt sie mit ihrer Serie der Lines in Space, die sie bis in

die Sechzigerjahre fortsetzt. 1964 schreibt sie über die An­

fänge ihrer Werkgruppe: «I knew that any untrained hand

guided by borrowed knowledge could, with a minimum of

practice, make lines upon a twodimensional surface in such

a way that they create an illusion of three­dimensional space,

but was there any reason why artists should continue to con­

fine Living Lines to a two­dimensional surface while ordi­

nary lines outside the Realm of Art enjoyed freedom in

Space?»3 Anstatt Linien mit dem Stift zu ziehen, montiert

Vézelay schwarze und weisse Baumwollfäden an den Innen­

seiten des Bilderrahmens und spannt diese über den weis­

sen Leinwandgrund. Die materiellen Vektoren erzeugen

durch ihre Überkreuzungen einerseits einen Eindruck von

Dynamik, andererseits wird die Spatialität durch die auf die

Leinwand projizierten Schatten forciert. Der spatio­geomet­

rische Konkretismus der «lebenden Linien» verabschiedete

den illusionistischen Perspektivismus lebensweltlicher

Räumlichkeit zugunsten einer ästhetischen Eigenwelt, die

zum Träger eines utopischen Hoffnungskerns werden und

eine «neue Realität» zur Ahnung bringen sollte. Vézelay

gehörte in den Dreissigerjahren zur Gruppe der Abstraction­

Création, die das avantgardistische Ansinnen einer ästheti­

schen Weltveränderung verfolgte. Im Kontext der Faden­

künste ist jedoch vor allem der neue formale Ansatz der Lines

in Space herauszustellen, denn mit ihm werden Erfindungen

vorbereitet, die bereits im Dürer­Holzschnitt angelegt sind

und in der Folge von einer Reihe Künstlern realisiert werden.

Innerhalb des Vézelay’schen Tableaus ist die scheinbar mar­

ginale Funk tionsänderung des Bilderrahmens von zentraler

Bedeutung für die Bilderfindung. Georg Simmel hat in einem

kurzen Essay die konventionelle Funktion des Bilderrah­

mens dahingehend bestimmt, das Bild als eigensinnige äs­

thetische Entität von der Umwelt abzugrenzen. Die Bildwelt

fällt gleichsam nach innen zu, der Rahmen macht aus ihr eine

«Insel».4 Indem Vézelay ihre Fäden am Rahmen fixiert, be­

zieht sie diesen in die Bildwelt mit ein und unterminiert sub­

til die Geschlossenheit. Die Grenze wird zum Teil des Bildes.

Wie schon bei Dürer der Faden durch den Bilderrahmen läuft

und auf dramatische Weise die zweite Dimension durch­

stösst, so drängen auch die Fäden bei Vézelay virtuell nach

aussen. Es ist nur ein kleiner Schritt, die Rahmengrenzen

durch Wände, Decken oder Böden zu ersetzen, um vom For­

mat «Bild» zum Format «Raum» zu wechseln. Mit der Ver­

grösserung in das anthropomorphe Mass erfolgt gleichwohl

ein entscheidender ästhetischer Wandel: Aus der ikonogra­

fisch fundierten Visualität erwächst ein Milieu, in dem der

Betrachter sich in einen bewegenden, körperlichen Vektor

(griech. Fahrer) verwandelt; er wird zu jemandem, der etwas

er-fährt.

Der amerikanische Minimalist Fred Sandback ist nicht

der einzige, doch konsequenteste Künstler, der in der zwei­

ten Hälfte der Sechzigerjahre den Impuls aus den Dreissi­

gern aufnimmt und ein Œuvre aus räumlichen Bildwerken

mittels farbiger Acrylfäden erarbeitet.5 So setzt er vertikale,

horizontale und diagonale Linien in den Raum, meist aber

Konturen, die imaginäre Flächen oder Volumina andeuten.

Die Strenge der Setzungen folgt nicht dem Dynamismus der

Vorgängerin, Sandbacks Objekte sind Statements der Entlee­

rung, Skulpturen, die auf ein Mindestmass an Visualität re­

duziert sind. Sandback hat mehrfach die Hinwendung zum

Faden als künstlerisches Material damit begründet, dass

ihm die Oberfläche und das Dekorative in der Skulptur ein

Ärgernis war, weil er darin ein Verschliessen wahrnahm.

Weder das Illustrative, noch der Illusionismus oder der Sinn

sollten Vorrang vor der Form haben; wichtiger war die Situa­

tivität, aus der eine Erfahrung folgen sollte. Zwar verweigern

sich die Fadenkonfigurationen nicht der meditativen Be­

trachtung, doch befreit von jedwedem Sockel bieten sie sich

vor allem für eine Durchquerung an: «Ich wollte etwas ma­

chen, was keine abgegrenzte ästhetische Situation war, son­

dern etwas, das fest im alltäglichen, fußgängerischen Raum

blieb.»6 Die Skulpturen beinhalten die Aufforderung, nicht

3 Tomás Saraceno, Galaxies Forming along Filaments, like Droplets along the Strands of a Spider’s Web, 2009 (© Studio Tomás Saraceno, Foto: Alessandro Coco)

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GANZHEITLICHKEIT DES SEINSDie Eis-Versuche von Heinz Isler Der Schweizer Bauingenieur Heinz Isler (1926–2009) gehört mit

seinen über 1400 geplanten und realisierten Bauwerken zusammen mit Robert Maillart, Othmar

Ammann und Christian Menn zu den wichtigsten Schweizer Bauingenieuren des 20. Jahrhunderts.

International bekannt wurde er durch seine in dünnwandigem Beton ausgeführten expressiven

Schalentragwerke wie der Raststätte Deitingen Süd oder dem Gartencenter Wyss in Zuchwil. Diese

resultierten aus seinen experimentellen, physischen Formfindungsmethoden, wovon seine Eis-

Versuche einen weniger bekannten, jedoch für das Verständnis von Isler umso bedeutenderen Teil

darstellen.

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Autor: Toni Kotnik

Mit wenigen Ausnahmen basieren Islers Schalenbauten auf

der präzisen experimentellen Umsetzung von drei zwischen

1954 und 1958 beobachteten natürlichen Prozessen der

Formbildung: die eingespannte Membran unter Luftdruck,

entstanden aus der Betrachtung eines Kopfkissens, die

Hängeform, resultierend aus durchnässtem Jutegewebe,

welches über einem Armierungsgitter hing, und die Fliess-

methode, inspiriert durch herausquellenden Polyurethan-

schaum aus einem Quadratrohr.1 Aufbauend auf diesen Be-

obachtungen formulierte Isler seine grundlegende These,

dass effiziente Schalenformen sich nicht aus der damals im

Ingenieurwesen üblichen Anwendung von mathematischen

Formeln ergeben, sondern sich direkt aus den Erscheinungs-

formen der Naturgesetze entwickeln lassen.

Es waren dieses Verständnis von der Natur als wohlwol-

lende Lehrmeisterin und der spielerische Trieb zum Experi-

mentieren und Beobachten, welche den Ausgangspunkt

bildeten für Islers jahrzehntelange Beschäftigung mit Eis

während der Wintermonate im Garten seines Privathauses

in Zuzwil bei Bern. Erste Versuche führte er 1955 im Rahmen

der Validierung seiner Entdeckung der Hängeformen durch.

Hierzu besprühte er mit einer Rebenspritze ein grosses, aus

Gärtnergaze erzeugtes Hängemodell und liess es gefrieren.

Nach Umdrehen der gefrorenen Gaze zeigte sich, dass durch

die Hängeformen dünnwandige Schalen mit effizienter Trag-

wirkung erzeugt werden können.

Wie Isler richtig folgerte, ist die Effizienz der so erzeugten

Schalen in der Form begründet: «Es ist ausserordentlich in-

struktiv zu sehen, wie aus der schwingenden, beweglichen

Perlenwand plötzlich ein hartes tragfähiges Gebilde wird, im

Moment da die einzelnen Eisperlen mit ihren Nachbarn

schubfest zusammenwachsen. Voraussetzung ist natürlich,

dass die nur wenige Millimeter dünne Eisschale an jeder

Stelle hinreichende – wenn möglich doppelte – Krümmung

aufweist. Wo sie eben ist, besitzt sie nur kleine Biegesteifig-

keit und bricht sofort.»2 Für Isler stellten die in den folgenden

Jahren durchgeführten Eisversuche ein technisches Expe-

rimentierfeld dar, aus dem er Rückschlüsse auf das Verhalten

von Baumaterialien wie Beton ziehen konnte. Mit beson-

derem Interesse beobachtete er insbesondere den Schmelz-

vorgang, weil dabei sowohl die Eisschichten in minimaler

Dicke als auch Kriechvorgänge im Zeitraffertempo sichtbar

wurden.3

Isler dokumentierte seine Experimente in zahlreichen Fo-

tografien und in stichwortartigen Notizen, häufig auf losen

Blattsammlungen oder Karteikarten. Vereinzelt hat er bei

Experimenten über Wetterdaten akribisch Buch geführt, den

Versuchsaufbau skizziert und die verwendeten Materialien

und Werkzeuge aufgelistet. Eine systematische Zusammen-

stellung der gewonnenen Erkenntnisse, oder eine Veröffent-

lichung im Rahmen seiner zahlreichen Vorträge oder Publi-

kationen hat Isler jedoch stets vermieden. Seine Experimente

in Eis hatten so von Anbeginn den Charakter einer privaten

Konversation mit der Natur.

Phänomenologie des Eises

Mit dem Erfolg von Islers ersten gebauten Schalen und dem

gesteigerten Auftragsvolumen in seinem Ingenieurbüro ka-

men die Eisversuche ab Ende der Fünfzigerjahre zum Erlie-

gen und wurden erst ab Mitte der Siebziger wiederaufge-

nommen. In dieser Phase löste sich Isler von den Hängeformen

und erprobte neue Formvarianten basierend auf eingespann-

ten Membranen, pneumatischen Formen, Faltungsstruktu-

ren und räumlichen Netzen, bis hin zu skulpturalen Objekten

wie Eisblumen. Häufig durch Beleuchtung in Szene gesetzt,

entwickelten sich die winterlichen Bauten zu lokalen Attrak-

tionen, die Besucher anlockten und über welche in Zeitun-

gen und Rundfunk berichtet wurde. Keine dieser Methoden

der Formgenerierung war jedoch von grösserer Bedeutung

1 Heinz Isler beim Aufbau eines Versuchsbaus (1977) (Fotos: Heinz Isler Archiv, gta Archiv, ETH Zürich)

2 Eingespannte Membran (1978), gefaltete Zeltstruk­tur (1980), Raum­fachwerk (1985) «die Nonnen» (1979), «Eisblume» (1985), «Weih­nachtsdorf» (1980)

3 Eisbildung an besprühtem Baum (1979)

4 Transparenz, Verdichtung und Akkumulation von Eis (1980)

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WEICHEN DER ARCHITEKTURDie Raumhäutungen von Heidi Bucher In den Siebziger- und Achtzigerjahren wurde die Künstlerin Heidi Bucher

(1926–1993) durch ihre raumumfassenden Latexhäutungen von Innenräumen bekannt. Dabei begriff sie Räume als Träger

von Erinnerungsspuren und Emotionen – die es abzuziehen und zu befreien galt: ein Transformationsprozess der

stabilen Innenräume zu fragilen Raumhäuten. Welche Fragen wirft die Arbeit von Heidi Bucher für die Architektur auf?

Autoren: Julia Höck und Hannes Mayer

Heidi Bucher wurde 1926 im schweizerischen Winterthur

geboren und wuchs dort in einem gutbürgerlichen Eltern-

haus auf. Nach der Schule in Teufen besuchte sie in den Vier-

zigerjahren die Modefachklasse an der Züricher Kunstgewer-

beschule und war unter anderem Schülerin bei Johannes

Itten und Max Bill. Mit abstrakten Collagen und Illustratio-

nen startete Heidi Bucher nach dem Krieg ihre künstlerische

Laufbahn. Ende der Sechzigerjahre zog sie mit ihrem dama-

ligen Ehemann, dem Bildhauer Carl Bucher, und den gemein-

samen Kindern Indigo und Mayo zuerst nach Kanada und

schliesslich nach Kalifornien. Dort entstanden ihre ersten

dreidimensionalen Arbeiten, darunter die Bodyshells (1972)

– tragbare, grossformatige Schaumstoffobjekte. Der dazuge-

hörige Film zeigt, wie die ganze Familie einen eigentümli-

chen Tanz der skulpturalen Hüllen am Strand von Venice

Beach aufführt. Diese elastischen Schaumstoffumhüllungen

waren erste Recherchen Heidi Buchers zur Grenze zwischen

Körpern und deren Umgebung und spiegelten damit einen

Trend der damaligen Avantgarde-Kunstszene wider, die sich

verstärkt Installationen, Happenings und Performances zu-

wandte.1

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Vergangenhäute

Nach der Rückkehr in die Schweiz bezog Heidi Bucher eine

alte Metzgerei mit Ladenräumen an der Weinbergstrasse in

Zürich. Den Kühlraum im Untergeschoss nutzte sie als Ate-

lier und nannte ihn «Borg», eine eigene Wortkreation, die

dessen Gefühl der Geborgenheit ausdrücken sollte.2 Im Borg

begann sie neue Werkstoffe zu erkunden und entdeckte Na-

turlatex für ihre Arbeiten. Sie fing an, verschiedenste private

Alltagsgegenstände, Decken, Kissen, Kleidung bis hin zu

Möbeln einzubalsamieren und sicherte so die Spuren indivi-

dueller Gegenstandsgeschichten. Später fanden im Borg

Buchers erste Latexhäutungen statt – der Hautabzug ganzer

Innenräume stellt für sie ihren persönlichen künstlerischen

Durchbruch dar. Fortan «schälte sich [die Künstlerin] durch

die Häuser ihrer Vergangenheit»3. Es folgten die Häutungen

Herrenzimmer ihres Elternhauses (1977–1979) und Ahnen-

haus (1980–1982) – die Obermühle in Winterthur als ehema-

liges Haus ihrer Grosseltern väterlicherseits –, welche sich

an der eigenen Biografie abarbeiteten. Andere historisch

aufgeladene Gebäude wurden ebenfalls gehäutet, wie das

Hotel Grande Albergo in Brissago (1987), das Bellevue (1988),

eine psychiatrische Heilanstalt in Kreuzlingen am Bodensee,

oder die Villa Bleuler in Zürich (1991), in der sich heute das

Schweizerische Institut für Kunstgeschichte befindet.

«Ich sehe die Villa zum ersten Mal von der Terrasse aus.

Nun gehe ich in das Haus hinein. Ich schaue die Wände an,

die Türen, die Fenster, die Decken und die Böden. Ich berühre

sie. Ich betrachte sie lange. Ich muss allem näherkommen. Ich

komme, wir kommen noch zur rechten Zeit, mit Gaze. Wir

bekleben die Räume und lauschen. Wir betrachten die Ober-

fläche und beschichten sie. Wir hüllen und enthüllen.»4

Mit feinen Gazestoff und dickflüssigem, milchigem Natur-

latex arbeiteten die Künstlerin und ihre Helfer sorgfältig den

Räumlichkeiten und all ihren Struktur- und Materialunter-

schieden entlang.

Nach Verfestigung des Materials folgte die Häutung, wel-

che die technische Sorgfalt des Auftrags aufkündigt. Bucher

zerrte unter erheblichem körperlichen Einsatz die Häute von

ihrem Untergrund, denn es galt, die eigenen Spannungen zu

überwinden: «Das Abreissen der Häute ist Ablösung von der

Vergangenheit, von geprägter Materie, von Konventionen

und anderen Zwängen», schrieb Bucher über diesen Akt der

Materialbefreiung, und Armin Wildermuth verweist im Hin-

blick auf das Werk auf das bereits im Jugendstil beliebte

Symbol der Libelle, jenes schillernde hautartige Wesen, das

seine alte Hülle in Metamorphosen abwirft.5 «Der gehäutete

Raum ist transparent. Die Häute sind weich, dünn und

leicht.»6 Um diese Erscheinung zu verstärken, rieb Bucher

die Latexhäute mit Perlmuttpigment ein, um ihnen eine

irisierende und schwer zu fassende Licht- und Material-

wirkung zu verleihen.7 Aufgestellt und alleingestellt in der

Natur oder vom Kran hängend, frei in der Luft schwebend

zeigte sich die Empfindlichkeit dieser Oberflächen, die sich

vom Untergrund und im Denken Buchers von der Geschichte

emanzipiert haben – auf sich allein gestellt sind sie schwach

und fragil.

Festung und Schwächung

1990 goss die britische Künstlerin Rachel Whiteread das

Zimmer eines Londoner Terrace House in Beton ab (Ghost),

1993 wurde sie mit dem Abguss eines ganzen Haus weltbe-

kannt (House). Whiteread reduzierte die baufälligen «Scha-

lungen» bewusst um Details und strebte nach einem festen,

formalen Ausdruck. Die im Vergleich zu Bucher gegenläufige

Metamorphose hin zur Festigkeit erfreute sich in den vergan-

genen Jahren auch in der Architektur grosser Beliebtheit

und schien eine ideale Strategie, um mediale Aufmerksam-

1 Hautraum (Ahnenhaus), installiert im Garten, ca. 1982, Verbleib unbekannt (© The Estate of Heidi Bucher 2013)

2 Innenansicht Ahnenhaus (Boden), Arbeitsprozess, ca. 1980–1982 (Foto: Vladimir Spacek © The Estate of Heidi Bucher 2013)

2

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68 archithese 3.2013

PUTZEine vielfältige Gebäudehülle Putz als alltäglicher und einer der wohl am häufigsten angewendeten Baustoffe ist ein

Material des Hintergrundes. Ganze Städte, Dörfer und Vorstadtsiedlungen sind verputzt. Putz hat sich bewährt, ist praktisch

und kostengünstig. Die verputzte Aussenwärmedämmung gehört heute längst zum Standard des alltäglichen Bauens und

ist aus der Baupraxis nicht mehr wegzudenken. Bei genauerer Betrachtung lassen sich jedoch schnell grosse Unterschiede in

der Oberflächenbearbeitung einzelner Putze feststellen: Putze sind vielfältiger, als sie auf den ersten Blick zu sein scheinen.

Zwar sind sie ein alltäglicher, doch aber auch ganz besonderer Baustoff.

1

Autoren: Hartmut Göhler und Pinar Gönül

Zusammensetzung von Putzen

Putz ist kein natürlich vorkommendes Material. Ein Putzmör-

tel entsteht erst durch die Mischung von Zuschlagstoffen,

Bindemitteln, Wasser und weiteren Zuschlägen.

Den Hauptbestandteil bilden Zuschlagstoffe wie Sande

und Kiese, die neben den Bindemitteln die besonderen Ei-

genschaften von Putzen wie Dichte, Porosität, Druckfestig-

keit sowie Witterungs- und Frostbeständigkeit bestimmen.

Zudem beeinflussen sie die Oberflächenstruktur, Farbe und

Haptik eines Putzes: Zuschlagstoffe wie beispielsweise

Trass und Puzzolanerde sind hydraulisch wirksam, schwar-

zer Basalt, Schiefer oder farbiger Quarzsand sind farbge-

bend.

Die Zuschlagstoffe wurden früher aus den lokalen Sand-

und Kiesgruben oder am nächstgelegenen Flussufer, See

oder Gebirge gewonnen. Rein äusserlich unterscheiden sich

die Sande zunächst kaum, erst beim Zerreiben zwischen den

Fingern zeigen sich im noch ungewaschenen Zustand grosse

Unterschiede in Textur und Beschaffenheit. Konsistenz,

Kornoberflächen, Korngrössen, Dichte und die Farbgebung

der verschiedenen Sande erzeugen später unterschiedliche

Oberflächenstrukturen.

Für den Erhärtungsprozess des Putzes sind Bindemittel

wie Kalkhydrat, hydraulische oder hochhydraulische Kalke

und Zemente oder Kalkzemente verantwortlich, die je nach

Einsatz verschiedene Festigkeiten des Putzes erzeugen

können.

Eine Besonderheit ist noch immer die Verwendung von

Kalk als Bindemittel: Lokale Kalksteingruben liefern unter-

schiedliche Kalksteinsorten wie Dolomit- oder Jurakalk,

Marmorkalk, Muschelkalk und Kreide. Jede dieser Kalkstein-

arten besitzt eine besondere Materialeigenschaft und Farb-

gebung und beeinflusst damit unmittelbar die Anwen-

dungsmöglichkeiten und die Farbgestaltung eines Putzes.

Die dritte Stoffgruppe bilden die Zuschläge, durch deren

Zugabe die Putzmischung vor allem farblich beeinflusst wer-

den kann: natürliche oder künstliche Pigmente, Steinsplitter

aus Marmor, Ziegelsplitter und farbiger Kies sorgen für eine

spezielle Farbgebung; Glas, Muschel- und Perlmuttanteile

sowie Glimmer geben der Putzoberfläche durch Lichtreflexi-

onen Glanz. Je nach Anwendung kann das «einfache Mate-

rial» Putz somit nobilitiert werden. Besonders bei Wasch-

und Kratzputzen, deren «Putzinneres» durch subtraktive

Bearbeitung sichtbar gemacht wird, können Zuschläge die

Oberfläche beleben. Zuschläge können zudem auch Kunst-

stoff- oder Pflanzenfasern sein, die den Putzen als «Beweh-

rung» und Rissverhinderer beigegeben werden.

Jede Putzrezeptur ist eine eigene Kombination aus Zu-

schlagstoffen, Bindemitteln und weiteren Zuschlägen und

erzeugt einen anderen Putz. Die Besonderheit des Putzes,

Page 13: archithese 3.13 - Weak materiality / Eine Schwäche für Materialität

69

2–6

den Mörtel mit verschiedenen natürlichen Rohstoffen «anzu-

machen» und ihn handwerklich zu bearbeiten, hat daher zu

einer einzigartigen Vielfalt an Putzen und Putzoberflächen

geführt.

Regionaler Baustoff

In Abhängigkeit von natürlichen Kalk- und Sandvorkommen

waren Putze traditionell regionale Baustoffe. Sie entstanden

durch das Zusammenspiel von lokalen Rohstoffen und Witte-

rungsverhältnissen sowie das Wissen über Techniken wie

der des Kalkbrennens. Durch die industrielle Herstellung von

hydraulischen Bindemitteln wie Zement und Kalkzement-

putzen sowie den durch die Bahntechnik möglichen Trans-

port von Baustoffen über lange Distanzen fand eine «Entre-

gionalisierung» der Putze statt. Die industriell hergestellten

Putze egalisieren heute alle Eigenschaften eines ehemals

regionalen Putzmörtels: Zuschlagstoffe werden in Sieblini-

enkurven standardisiert, künstliche Pigmente und Zusatz-

stoffe homogenisieren die Materialeigenschaften. Putze

werden heute mehrheitlich als fertige Sackware geliefert und

ihre Zusammensetzung ist, von Regionen unabhängig, stan-

dardisiert. Neben mineralischen Putzen kommen organische

Putze heute vor allem in Form von verputzten Aussenwärme-

dämmungen zur Anwendung.

Verarbeitung von Putzen am Beispiel der Kalkputze

Durch die Zugabe von Wasser werden die Bestandteile des

Putzes zu einem verarbeitungsfähigen Putzmörtel «ange-

macht». Das Wasser setzt im Bindemittel Kalk einen Hydra-

tationsprozess in Gang, der auch als «Kreislauf des Kalks»

bekannt ist. Natürlicher Kalkstein wird in einem Brandofen

gebrannt, CO2 und Wasser werden dabei ausgetrieben. Das

Produkt ist Branntkalk, welcher durch Zugabe von Wasser

und unter Freisetzung von Wärme zu Löschkalk aufbereitet

wird. Es entsteht eine pastöse Löschkalkmasse, die mit der

Zugabe von Sand, weiteren Zuschlagstoffen und Wasser zu

einem verarbeitungsfähigen Putzmörtel wird. Beim Aushär-

ten des Putzmörtels (Hydratation) und der erneuten Auf-

nahme von CO2 (Karbonatisierung) entsteht wieder ein Kalk-

steinkonglomerat. Damit ist am Ende dieses Prozesses

chemisch wieder Kalkstein entstanden – Kalkputzfassaden

können somit als hauchdünne Steinfassaden verstanden

werden.

So wie das Löschen des Kalkes früher durch den Hand-

werker auf der Baustelle geschah, lag auch die Verarbeitung

des Putzes damals in der Hand des örtlichen Handwerkers.

Er bestimmte neben der Zusammensetzung des Putzes auch

die richtige Menge «Anmachwasser». Das «Anmachen» des

Putzes geschieht üblicherweise auf der Baustelle. In hand-

werklicher Manier werden dort die Bestandteile Kalk und

Sand im Verhältnis 1:3 unter Hinzufügen von Anmachwasser

zu Kalkmörtel vermengt.

Industriell hergestellte Fertigmörtel werden ebenfalls mit

Wasser angemacht und anschliessend, oftmals maschinell,

aufgetragen. Die Mischung erfolgt nach den Angaben der

Putzhersteller und lässt daher kaum Raum für Variationen.

1 Baustellenein­richtung Kalkputz (Foto: Hans-Jörg Walter)

2 Lehmsand (Fotos 2–6: Ursula Ochsenbein)

3 Sand

4 Sand

5 Perlmut

6 Glimmer