Beeler-Port - Zum Stellenwert Der GWL Von 1794 Aus Der Sicht Von 1804 - 1997

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Zum Stellenwert der Grundlage aus der Sicht von 1804. Eine Interpretation des Wechsels von analytisch-synthetischer und genetischer Methode in § 5 der Grundlage lose! Beeler-Port (Luzem) Mit dem Untertitel meines Beitrags möchte ich auf ein Spezialproblem hin- weisen: es gibt im praktischen Teil der Grundlage der gesamten Wissen- schajtslehre [=GWL] eine Stelle, an der Fichte ankündigt, er verlasse die bis- herige analytisch-synthetische Methode, um eine ganz bestimmte Einsicht auf >genetische< Weise zu erlangen; doch bereits im folgenden Kapitel 6) kehrt er zur analytisch-synthetischen Methode zurück, an der er nun bis zum Schluß des Textes auch festhält. Zur Lösung dieses methodischen Problems werde ich die späteren Darstellungen der Wissenschaftslehre [= WL] aus dem Jahre 1804 hinzuziehen: sie ermöglichen nicht nur eine deutlichere Sicht des Problems und seiner Lösung, sondern sie erlauben es auch, den Stellenwert der GWL in Fichtes Gesamtsystem der Philosophie auf eine für die Fichte-Forschung eher ungewohnte Weise zu bestimmen. Gemeinhin werden methodische Probleme und Themen nicht sehr ge- schätzt, weil man sich lieber den Inhalten zuwendet. In der WL Fichtes hat es aber eine ganz besondere Bewandtnis mit der Methode: Als Lehre vom Wis- sen in einem höchsten, absoluten Sinn unternimmt sie den scheinbar unmögli- chen Versuch, das Wissen selbst zu wissen. Ein solches Unternehmen kann nur gelingen, wenn man sich über den eingeschlagenen Weg fortwährend Rechenschaft gibt. Deshalb betont Fichte in seiner gewohnten Radikalität, daß

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Fichte

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  • Zum Stellenwert der Grundlageaus der Sicht von 1804.

    Eine Interpretation des Wechselsvon analytisch-synthetischer und genetischer Methode

    in 5 der Grundlage

    lose! Beeler-Port (Luzem)

    Mit dem Untertitel meines Beitrags mchte ich auf ein Spezialproblem hin-weisen: es gibt im praktischen Teil der Grundlage der gesamten Wissen-schajtslehre [=GWL] eine Stelle, an der Fichte ankndigt, er verlasse die bis-herige analytisch-synthetische Methode, um eine ganz bestimmte Einsicht auf>genetische< Weise zu erlangen; doch bereits im folgenden Kapitel ( 6) kehrter zur analytisch-synthetischen Methode zurck, an der er nun bis zum Schludes Textes auch festhlt. Zur Lsung dieses methodischen Problems werde ichdie spteren Darstellungen der Wissenschaftslehre [= WL] aus dem Jahre 1804hinzuziehen: sie ermglichen nicht nur eine deutlichere Sicht des Problemsund seiner Lsung, sondern sie erlauben es auch, den Stellenwert der GWL inFichtes Gesamtsystem der Philosophie auf eine fr die Fichte-Forschung eherungewohnte Weise zu bestimmen.

    Gemeinhin werden methodische Probleme und Themen nicht sehr ge-schtzt, weil man sich lieber den Inhalten zuwendet. In der WL Fichtes hat esaber eine ganz besondere Bewandtnis mit der Methode: Als Lehre vom Wis-sen in einem hchsten, absoluten Sinn unternimmt sie den scheinbar unmgli-chen Versuch, das Wissen selbst zu wissen. Ein solches Unternehmen kannnur gelingen, wenn man sich ber den eingeschlagenen Weg fortwhrendRechenschaft gibt. Deshalb betont Fichte in seiner gewohnten Radikalitt, da

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    auf das rechte Verstndnis der Methode in dieser Wissenschaft [sc. der WL]alles ankomme. 1

    Aus einer solchen methodischen Perspektive ergibt sich auch meine Pro-blemstellung: Worin liegt zum einen die Notwendigkeit des Methodenwech-sels in 5 und wie wird dadurch das Resultat beeinflut? Kann ein strenger.philosophischer Deduktionsgang, wie ihn die GWL zweifellos darstellt, ber-haupt die Methode wechseln, ohne dabei seine Konsistenz zu verlieren? Undwie ist zum andern dieser Wechsel der Methode aus der Sicht der spterenDarstellungen der WL von 1804 zu beurteilen, von denen Fichte ja behaupte-te, da sie im Gegensatz zu den frheren vollendet seien? Lassen sich darausauch Konsequenzen fr das Verhltnis der GWL zu den spteren Darstellun-gen der WL ziehen?2 - Zur Beantwortung dieser Fragen vertrete ich hierzwei Thesen:

    These 1. Was Fichte in 5 der GWL als genetischen Beweis bezeichnet,entspricht nicht jener genetischen Methode, die er spter in den Darstellungender WL von 1804 strikte anwandte; vielmehr verbleibt die Methode der GWLauch in 5 analytisch-synthetisch, obschon Fichte etwas anderes behauptet.

    These 2. Methodisch wie inhaltlich gesehen ist die GWL im Gegensatz zur>allgemeinen WL< nichts anderes als eine >Grundlage< der WL und insofernein Teil ihrer Deduktionen, wodurch sie sich inhaltlich wie methodisch vonden spteren Darstellungen unterscheidet.

    1. Zur Stellung der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre

    a) Arbeitshypothese

    Am Schlu der WL 041 unterscheidet Fichte unter seinen Hrerinnen und H-rern solche, von denen er durchaus verstanden wurde, und andere. die durchden Vortrag wenigstens soweit vorbereitet seien, einer spteren Wiederholungmit mehr Nutzen zu folgen. Den ersteren traut Fichte zu, da sie sich nun

    1. Vgl. [Erste] Einleitung, in: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschafts/ehre(1797): GA 114, 204 (= SW I, 445).

    2. Mit dieser Fragestellung folge ich einer Empfehlung von M. Brggen, die GWL nicht frmehr als eine >Grundlage< zu nehmen, die unter ungnstigen Umstnden entstanden und publi-ziert wurde und ein Torso des spteren Systems geblieben sei~ deshalb solle man die GWLnicht zum Ausgangspunkt einer Untersuchung nehmen, sondern sie vom spteren System derWL her erschlieen (vgl. Fichtes Wissenschafts/ehre. Das System in den seit 1801102 entstan-denen Fassungen, Hamburg 1979, 5).

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    berall in der Philosophie zurecht finden wrden und zwar ohne alle fremdeBeihlfe oder - falls noch ntig - durch die Lektre der Kantischen Kri-tiken, u. meiner [sc. Fichtes] W. L. N. S. [= WL-Nachschrift] .3 Im Gegensatzzu den Herausgebern der GA, die sich nicht festlegen wollen, auf welche sei-ner Schriften sich Fichte hier bezieht,4 vertrete ich die A~ffassung, da Fichtenichts anderes meinen kann als die GWL, die ja den Untertitel als Hand-schrift fr seine Zuhrer trgt und zwar im Sinn einer gedruckten Nach-schrift zu Hnden der Hrer.5 Den erfolgreichen Absolventen seiner erstenneuen Darstellung von 1804 empfiehlt Fichte als Fortsetzung der WL alsoKants Kritik der reinen Vernunft, die Kritik der praktischen Vernunft und dieKritik der Urteilskraft sowie die eigene GWL, die ja gerade 1802 neu aufge-legt wurde.

    Wie aus einem Lehrplan Fichtes von 1804 hervorgeht, erwartet er von denerfolgreichen Teilnehmerinnen und Teilnehmern seiner Vorlesung, da sie inder Lage seien, die Ableitung der WL aus dem hchsten Prinzip selbstndigzu vollziehen.6 Wenn er ihnen dabei als Orientierungshilfe Kants Kritiken undseine eigene GWL empfiehlt, so mu die GWL didaktisch und systematischgesehen eine Fortsetzung der WL 041 sein, die sich von ihr nicht nur durchdie Inhalte, sondern wahrscheinlich auch durch die Methode unterscheidet.Nach der Konzeption von 1804 steigt die WL mit Hilfe der genetischen Me-thode bis zur absoluten Genesis auf und sodann analytisch-synthetisch alsDeduktion dieses hchsten Prinzips wieder ab.

    Daraus ergibt sich folgende Arbeitshypothese: Bei der GWL handelt es sich- systematisch gesehen - nicht um den Aufstieg der WL, wie er z. Bo inden Darstellungen von 1804 vorgetragen wird, sondern um den Beginn derDeduktionen aus dem hchsten Prinzip; und dementsprechend ist die Methodeder GWL nicht genetisch, sondern analytisch-synthetisch.

    3. Vgl. Erste Wissenschaftslehre von 1804 [=WL 04 1]: GA 1117, 234 (=Erstausgabe, hrsg. v.H. Gliwitzky, Stuttgart 1969 [=EA], 188 f.).

    4. Es ist nicht klar, falls N. S. Abkrzung fr Nachschrift sein sollte, ob die Nachschriftdieses Ersten Vortrags der WL von 1804 [sc. der WL 041] gemeint ist, oder die einer frherenVorlesung (ebd., 235 Anm. 5).

    5. Vgl. den Hinweis Fichtes in der Vorrede zur 1. Aufl. der GWL: [ ... ] weil sie fr meineZuhrer, wo ich durch den mndlichen Vortrag nachhelfen konnte, in einzelnen Bogen, so wie ichfr meine Vorlesung eines bedurfte, erscheinen mute (GA 1/2, 252 [=SW I, 87]).

    6. Vgl. Fichtes Brief vom 18. Juni 1804 an [Franz Xaver von Moshanun?]: Ihre Einrichtung[sc. der Philosophen-Schulen] mu diese seyn, da zuerst ein Theil der wissenschaftlichen Ph.,mit steter Hinweisung auf die dabei ausgebte Kunst, vorgetragen werde; sodann der Lehrling diebrigen Probleme selbst lse, und Rechenschaft ber den genommenen Gang ablege (GA II1I5,241).

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    b) Thesen aus der Fichte-Forschung

    Die Idee, da es sich bei der GWl.l nicht um eine eigentliche oder vollstndi-ge WL handle, ist nicht neu. Bereits 1965 hat R. Lauth betont, da die GWLkeine Wissenschaftslehre im strikten Wortsinne Fichtes sei, sondern eben- eine Grundlage.? Nach seiner Interpretation besteht der Weg der WLzunchst aus einer Reduktion mit dem Ziel, das Prinzip des >reinen< Wis-sens [zu] erreichen; dieses Prinzip werde sodann auf die vier Wissensstand-punkte angewandt. Bis 1804 habe Fichte um die Vollendung der Transzen-dentalphilosophie in ihrem hchsten Prinzip gerungen: in der GWL von1794 nannte er dieses Prinzip noch Ich und erst zehn Jahre spter sah erein, da der hchste Einheitspunkt der WL nicht das Selbstbewutsein inseiner Immanenz, sondern das Selbstbewutsein als Erscheinung des Abso-luten sei. 8 Insofern ist die GWL fr R. Lauth nur untergeordneter [und un-vollendeter] Teil dessen, was nach Fichtes Systemkonzeption [von 1804] not-wendig am Ende der [vollstndig] durchgefhrten Grundlegung der WLsteht.9

    Dieser Interpretation schliet sich auch J. Widmann an, wenn er folgendedrei Hauptrnornente unterscheidet, in denen die WL vennittelt werde: 10 alsGWL habe sie die >Phnomenologie< des Bewutseins zu liefern, indern siedie Gesamtheit seiner fundamentalen >Tathandlungen< [... ] aufzeigt; auf die-ser Grundlage habe die WL das Verhltnis der >Erscheinung< zum >Absolu-ten< zu bestimmen (philosophia prima) und schlielich die Prinzipien zurErmittlung der materialen Disziplinen der Wissenschaft aufzuweisen. Dem-entsprechend sind auch fr J. Widmann die spteren Darstellungen der WLein ergnzender Ausbau der GWL auf der Suche nach einer optimalen Ver-mittlungsfonn. 11

    7. Vgl. R. Lauth: 1. G. Fichtes Gesamtidee der Philosophie, in: ders.: Zur Idee der Tran-szendentalphilosophie, Mnchen/Salzburg 1965, 96.

    8. Vgl. ebd., 97-99.9. Vgl. ebd., 102. - Vgl. auch das Schema der Gesamtidee von Fichtes Philosophie (ebd.,

    123), wo die eigentliche WL in drei Punkte eingeteilt wird: a. Grundlage, b. Lehre des Verhlt-nisses der Erscheinung zum Absoluten, c. materiale Disziplinen. - Auch in seinem jngstenBeitrag zur Problematik hlt R. Lauth an dieser Stellung der GWL innerhalb des Gesamtsystemsfest, wenn er auch nachweist, da die GWL als Grundlage der WL noch unvollstndig sei: vgl.Die Frage der Vollstndigkeit der WL im Zeitraum von 1793 -1796, in: ders.: VernnftigeDurchdringung der Wirklichkeit. Fichte und sein Umkreis, Neuried 1994, 119 f.

    10. Vgl. J. Widmann: Johann Gottlieb Fichte. Einfhrung in seine Philosophie, Berlin 1982,26-29.

    11. Vgl. ebd., 35. - An anderer Stelle nennt J. Widmann zwei Ergnzungen, deren dieWL im Anschlu an die GWL noch bedrfe: eine stringentere Vermittlung der mit der GWL

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    Gegenber solchen Interpretationen lt sich mit Jrg-Peter Mittmann kri-tisch fragen, welchen Wert die Neuauflage der GWL im Jahre 1802 beim da-maligen Stand von Fichtes Bearbeitung der WL noch haben sollte: unterstelltdie Forschung, die doch vom rigide[n] Anspruch [Fichtes] auf wissenschaft-liche Seriositt wissen sollte, Fichte mit einer solchen Interpretation derGWL nicht die willentliche Weiterverbreitung einer Schrift, die hinter demneuerrungenen Erkenntnishorizont ihres Verfassers zurckbleibt?12 J.-P. Mitt-mann stellt deshalb die Forderung auf, alle weiteren Systemversuche Fich-tes mit der GWL in Einklang zu bringen oder deren theoretische Defi-zienz nachzuweisen.

    Gegenber diesen Interpretationen der GWL im Sinne eines ersten Anlaufs,der in spteren Darstellungen der WL gem der These von der >verndertenLehre< verbessert wurde, mache ich hier einen anderen Vorschlag: Man ver-suche es doch einmal, ob wir die gestellten Probleme nicht damit besser l-sen, da wir annehmen, die GWL sei keine Vorstufe, sondern - systematischgesehen - eine Fortsetzung der spteren Darstellungen der WL.

    c) Der Methodenwechsel in 5 der GWL als mglicher Einwand

    Meine Arbeitshypothese sttzte sich bisher auf eine uerung Fichtes amSchlu der WL 041. Da die Methode der GWL tatschlich - wie behauptet- analytisch-synthetisch ist, lt sich am Text leicht verifizieren: Fichte re-flektiert explizit ber die analytisch-synthetische Methode und wendet dieseab 4 auch auf eine eindrckliche Weise an. 13

    Dieses methodische Vorgehen wird allerdings im 5 der GWL unterbro-chen, wo Fichte zur genetischen Methode wechselt. Dieser Methodenwechselstellt einen mglichen Einwand gegen meine obige Arbeitshypothese dar, denich nun in drei Schritten beantworte: zunchst werde ich Fichtes methodischeKonzeption der WL im Jahre 1804 vorstellen (2.)~ auf diesem !-Iintergrundanalysiere ich sodann den Methodenwechsel in 5 der GWL (3.), um schlie-lich das methodische Vorgehen Fichtes aus der Sicht der spteren Darstellun-gen der WL beurteilen zu knnen (4.).

    erschlossenen Inhalte und eine Ergnzung dieser Inhalte um die dort fehlende >hchste Synthe-sis< der Interpersonalitt (vgl. ebd., 65 f.).

    12. Vgl. hier und zum folgenden Jrg-Peter Mittmann: Das Prinzip der Selbstgewiheit.Fichte und die Entwicklung der nachkantischen Grundsatzphilosophie, Bodenheim 1993,77.

    13. Vgl. GWL: GA 112,283-285 und 285 ff. (=SW I, 123-125 und 125 ff.).

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    2. Zur methodischen Konzeption der Wissenschaftslehre im Jahre 1804

    Um die methodische Konzeption der WL zu erlutern, habe ich die Darstel-lungen von 1804 ausgewhlt, weil Fichte zum einen gerade 1804 das Endeseiner dreieinhalbjhrigen Arbeit an der WL bekannt gab,14 und weil er zumandern zwei Jahre zuvor die GWL ein zweites Mal auflegen lie. Durch diesezeitliche Nhe von zweiter Auflage der GWL und Vollendung der Darstellungder WL wird die Frage nach ihrem Verhltnis besonders drngend.

    Die Methode einer Untersuchung hat sich nach ihrem Gegenstand und Zielzu richten. Fr den ersten Vortrag der WL von 1804 kndigt Fichte diesesZiel folgendermaen an: Er wolle eine vollstndige Lsung des Rthsels derWelt und des Bewutseyns geben. 15 Denn die WL werde diese Unterschei-dung von Welt und Bewutsein bzw. von Objekt und Subjekt als die ur-sprnglichste Spaltung des absoluten Wissens nachweisen und daraus allesMannigfaltige in der Erscheinung erklren. Eine solche Erklrung geschiehtals Ableitung der Mannigfaltigkeit in all ihren prinzipiell mglichen Modifi-kationen und mu auf eine rechtliche und gegrndete Weise, nmlich nacheinem bestimmten Prinzip erfolgen. 16 Bevor diese Ableitung beginnen kann,hat die WL jenes Prinzip aufzustellen, so da in ihrem Geschft grundstz-lich zwei Arbeitsgnge zu unterscheiden sind: im ersten sucht sie das Prinzipund im zweiten leitet sie daraus die Mannigfaltigkeit ab. Diese beiden Ar-beitsgnge hat Fichte in seinen Darstellungen von 1804 Auf~~tieg und Ab-stieg genannt. 17

    Der Aufstieg der WL beginnt beinl gewhnLichen Denken, in dem sich dieHrer anfnglich befinden. Um die WL daran anzuknpfen, werden die Hreraufgefordert, einen bestimmten Gedanken zu vollziehen.' Als Resultat ergibtsich die Einsicht in diesen bestimmten Sachverhalt.

    14. Vgl. dazu Fichtes Pro memoria an das Knigliche Kabinett in Berlin vom 3. Januar1804: Es ist, seit kurzem auch in seiner uern Form vollendet, ein System vorhanden, welchesvon sich rhmt, da es, in sich selber rein abgeschloen, unvernderlich, und unmittelbar evidentist (GA II1I5, 222).

    15. Vgl. die Ankndigung der WL 041 VOln 3. Januar 1804, in: GA I/8. 17. - Auf dieseAnkndigung bezieht sich Fichte nicht nur in der WL 041 (vgl. GA II/7. 70 [=EA 4]), sondernauch noch in der Zweiten Wissenschaftslehre von 1804 [=WL 042] (vgl. GA 1118, 308 [=SW X,251 ]).

    16. Vgl. WL 042: GA 1118, 260 (=SW X, 223).17. Vgl. ebd., 270 (=SW X, 229): da daher, nur in deIn genau abgesteckten Bezirke. unse-

    re gegenwrtige Untersuchung [... ] aufsteigend verfhrt, weil sie ihr Princip noch sucht. - Undvgl. ebd., 132 (=SW X, 157): Wiederum aber steigt nur die in ihrem Princip genetische [... ] W.-L. herab zu dem Mannigfaltigen.

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    Wie kommen nun die Hrer von einem solchen faktischen Ausgangspunktje weiter oder hher? Wenn sie einmal eingesehen haben, da}J sich eine Sacheauf eine bestimmte Weise verhlt, so bleiben sie trotz noch so scharfer Beob-achtung allemal bei diesem Faktum stehen; denn faktisch bleibt faktisch.'~

    Aus diesem Dilemma fhrt die WL mit Hilfe ihrer spezifischen Methodeheraus. Zunchst reflektiert sie analytisch verdeutlichend auf das bisherigeDenken der Hrer selbst und erhlt eine Klarheit ber das eigene Tun. Hherim philosophischen Sinn gelangen die Hrer jedoch erst, wenn sie die FraKede iure stellen: Was setzte das eigene vorherige Tun und Denken seiner Mg-lichkeit oder seinem Prinzip nach voraus ?19 Die Reflexion geht also nichtmehr auf den Inhalt des zuvor eingesehenen Sachverhalts, sondern auf dasVerfahren, das die Hrer anwenden muten, um ihn einzusehen. Hher ge-langt die WL also deshalb, weil sie eine Einsicht in das Vernunftgesetz erhlt.von dem die Hrer in ihrem ersten Vollziehen der faktischen Einsicht mecha-nisch geleitet wurden. Auf diese Weise befreien sie sich vom unmittelbarenZwang jener Faktizitt und erreichen eine Einsicht in ihr Prinzip. Eine solchehhere Einsicht nennt Fichte einegenetische Evidenz, weil sie eine Antwortauf die Frage nach der Genesis, nach dem Entstehen oder Werden der erstenfaktischen Einsicht gibt.20

    Ein solches methodisches Verfahren mu auch Rechenschaft ber sein ei-genes Tun ablegen. Deshalb haben sich die Hrer wiederum darauf zu besin-nen, da sie selbst es doch waren, die jene Genesis eingesehen haben: in die-ser Hinsicht ist also jene genetische Evidenz selbst ein Faktum. das aufgrundeines anderen Prinzips mglich wurde. Durch eine solche erneute Reflexionauf das eigene Verfahren wird das anfngliche Aufsteigen vom ersten Faktumzu seiner Genesis weiter getrieben, bis es zu einer zweiten Genesis gelangt.die auch jenes zweite Faktum erklrt. Der Aufstieg der WL besteht mithin auseiner ganzen Reihe solcher faktisch-genetischer Einsichten.

    Im Rahmen dieses Beitrags komme ich sogleich auf den neuralKischenPunkt eines solchen Aufstiegs zu sprechen, nrrllich auf dessen Ende. Daswissenschaftliche Grundgesetz der WL, stets zur hheren Genesis aufzustei-gen, enthlt nmlich auch ein Kriterium fr das Ende dieses Aufstiegs: 21 derfaktisch-genetische Gang wird solange fortzusetzen sein. bis alle Einsichtenberwunden sind, die sich als blo relativ erweisen, und die WL zu einer

    18. Vgl. Dritte Wissenschaftslehre von 1804: GA 11/7,312.19. Vgl. WL 04 1: GA 11/7,99 (=EA 36).20. Vgl. WL 042: GA 11/8,77-79 (=SW X, 128 f.).21. Vgl. ebd., 178 (=SW X, 180).

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    absoluten Genesis gelangt ist.22 Dieser Punkt ist dann erreicht, wenn sichder Wissenschaftslehrer und seine Hrer ganz in diese Genesis verlieren, ohneda zwischen ihnen und ihrer genetischen Einsicht noch eine Disjunktionmglich wre.

    Diese ausgezeichnete Stelle im Gang der WL bezeichnet Fichte 1804 sehranschaulich als den Inversions Punkt, nmlich als jenen hchsten Punkt, andem der aufsteigende Gang nicht nur vollendet, sondern auch zum Abstieggewendet wird.23 Au diesem besonderen Punkt sehen die Hrer ihr eigenesWerden, den Ursprung ihres eigenen Tuns ein - und zwar genetisch, d. h. indiesem Werden und Tun selbst. Hier findet sich mithin eine absolute Refle-xion, die Subjekt und Objekt ursprnglich und genetisch vereinigt. DieserInversionspunkt ist aber nicht nur die hchste Einheit, sondern aus ihm musich auch die erste Spaltung ergeben, nmlich eben diejenige in BewuJ3tseinund Welt bzw. in Ich und Nicht-Ich. 24

    Zu diesem methodischen Konzept Fichtes passen seine Bemerkungen inder WL 042 ber die Spitze der Deduktion: An den Anfang der Ableitungstelle die WL das reine Ich, das gerade dadurch >rein< sei, da es nicht wiedas empirische Ich eines einzelnen Individuums faktisch gefunden, sonderngenetisch erzeugt werde und nur deshalb als Prinzip der WL dienen knne.Fichte betont in diesem Zusammenhang, da es sich bei diesem reinen Ich umdie Spitze nicht der WL selbst, sondern ihrer Deduktionen handle, weil dieErzeugung hher liegen wird, als das Erzeugte.25 Somit wrde die Erzeugungdes reinen Ich noch zur Aufgabe des aufsteigenden Ganges der WL gehren,whrend das reine Ich als erzeugtes am Anfang des Abstiegs stnde.

    Der absteigende Gang selbst wird durch ein analytisch-synthetisches Ver-fahren bestimmt, das aus dem hchsten Prinzip der WL die Grundunterschie-de aller mglichen Erscheinungsformen der Mannigfaltigkeit entfaltet. Dabeisind folgende Momente konstitutiv: der Inversionspunkt steht am Anfang die-ses absteigenden Ganges und ergibt die ursprngliche Spaltung in Subjekt undObjekt bzw. in Ich und Nicht-Ich; die Analyse ermittelt im jeweils hchstenPrinzip weitere Disjunktionen; und die Synthese vereinigt schlielich jene Dis-junktionen und bringt sie in eine systematische Ordnung. Ein solches analy-tisch-synthetisches Verfahren erfolgt nach dem Schema der Fnffachheit, weiljede Analyse zugleich Synthese ist und umgekehrt. - In den noch erhaltenen

    22. Vgl. ebd., 76 (=SW X, 128).23. Vgl. WL 041: GA 11/7, 211 (=EA 161).24. Vgl. ebd., 70 (=EA 4).25. Vgl. WL 042: GA 11/8,202-204 (=SW X, 194).

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    Texten der WL von 1804 wird ein solcher methodischer Abstieg leider nurskizziert,- da ihn Fichte aus Zeitmangel nicht mehr vortragen konnte. 26

    Diese beiden Verfahren des aufsteigenden und absteigenden Ganges ma-chen im Jahre 1804 das aus, was ich die methodische Konzeption der WLnenne. Auf diesem Hintergrund werde ich nun den Methodenwechsel in 5der GWL interpretieren.

    3. Analyse des Methodenwechsels in 5 der GWL

    a) Der Ort des Methodenwechsels innerhalb des Systems der GWL

    Aus den drei Grundstzen in den 1- 3 (Tathandlung, Entgegensetzung desNicht-Ich sowie Teilbarkeitsetzung von Ich und Nicht-Ich) ergibt sich die be-kannte Grundsynthesis der GWL: Das Ich sowohl als das Nicht-Ich, sind,beide durch das Ich und im Ich, gesetzt, als durcheinander gegenseitig be-schrnkbar.27 Diese Grundsynthesis ist der Ausgangspunkt fr den analy-tisch-synthetischen Gang der GWL: in ihr werden nun Widersprche ermitteltund wiederum vereinigt. Als erstes ergibt sich der Widerspruch zwischentheoretischem Grundsatz (das Ich sezt sich selbst, als beschrnkt durch dasNicht-Ich) und praktischem Grundsatz (das Ich sezt das Nicht-Ich, als be-schrnkt durch das Ich).28 Beide Grundstze werden solange auf die in ihnenenthaltenen Widersprche hin analysiert, bis ein unhintergehbares Faktumgefunden wird (die Einbildungskraft bzw. das Streben). Von diesen beidenFakten ausgehend wird der methodische Gang nun umgekehrt und in einerDeduktion der Vorstellung bzw. des Handeins wiederum in den theoretischenbzw. praktischen Grundsatz zurckgefhrt.

    Trotz dieser Rckfhrung des Ganges in den theoretischen und praktischenGrundsatz, die als Beweis fr die Vollstndigkeit der analysierten Elementegelten soll, bleiben noch zwei Probleme ungelst: 1. Wie kann die Einheitvon theoretischem und praktischem Ich selbst verbrgt werden? 2. Wie kn-nen theoretisches und praktisches Ich bzw. theoretischer und praktischerGrundsatz mit der Tathandlung des absoluten Ich ( 1) vereinbart werden?

    26. Vgl. z.B. WL 041: GA 11/7, 234 (=EA 188) oder auch WL 042: GA 11/8,420 (=SW X,314).

    27. GWL 1/2, 285 (=SW I, 125). - Vgl. auch die Formulierung der Grundsynthesis in 3der GWL: Ich j'etze im Ich dem theilbaren Ich ein theilbares Nicht-Ich entgegen (ebd., 272[=SW I, 110]).

    28. Vgl. GWL 1/2, 285 (=SW I, 125 f.).

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    Gesucht wird m. a. W. der Vereinigungspunkt von absolutem~ praktischemund intelligentem Ich. Thematisiert und erreicht wird dieser Vereinigungs-punkt im Text der GWL bereits am Ende von 5. - Es fragt sich allerdings.wie dies mglich ist.

    b) Die analytisch-synthetische Methode der GWL

    Alles, was in das Gebiet der WL gehrt, mu sich analytisch-synthetisch ausjener Grundsynthesis von 3 entwickeln lassen. Die Mglichkeit des analy-tisch-synthetischen Verfahrens selbst wurde bereits durch den Grundsatz desGegensetzens ( 2) und des Grundes ( 3) begrndet. Alle Gegenstze, dieaufgesucht werden, setzen eine ursprnglich nothwendige antithetische Hand-lung des Ich voraus. Die Reflexion, die solche Handlungen aufstellt. istselbst analytisch. 29 Und vereinigt werden jene Entgegengesetzten durch eineaufzustellende ursprngliche Handlung des Bewutseins. Auf diese Weise istder Zusammenhang von analytischem und synthetischem Verfahren in derGWL zu deuten: Die Handlungen, welche aufgestellt werden, sind svnthe-tisch; die Reflexion aber, welche sie aufstellt, ist analytisch. 30

    Dieses analytisch-synthetische Verfahren ergibt im theoretischen und prak-tischen Teil der GWL eine strenge und notwendige Ordnung. die bis zurRckfhrung des Strebens in den praktischen Grundsatz auch befolgt wird.Allerdings treten in diesem letzten Teil der GWL verschiedene methodischeProbleme auf, von denen hier drei kurz zu errtern sind:

    1. Fichte macht eine Abkrzung im methodischen Gang: anstatt wie imtheoretischen Teil vom entsprechenden Grundsatz auszugehen und ihn gemder analytisch-synthetischen Methode auf seine Widersprche hin zu untersu-chen, greift Fichte in 5 sogleich die Hauptantithesis zwischen dem I. unddem 11. Teil, d. h. zwischen dem absoluten und intelligenten Ich auf und zeigtauf einem krzeren Weg, wie dieser Widerspruch nur durch die Annahmeeines praktischen Vermgens des Ich gelst werden kann~31 dementsprechendbeginnt die Argumentation von 5 sogleich mit dem Gegensatz zwischen ab-solutem Ich und theoretischem Ich. 32 Wie eine Rekonstruktion des normalenanalytisch-synthetischen Wegs zeigt, kann man aber auch vom praktischen

    29. Vgl. dazu Fichtes Erluterung: Nerrllich entgegengesetzte MerkmahJe. die in einembestinuuten Begriff=A enthalten sind. als entgegengesetzt durch Reflexion zum deutlichen Be-wutsein erheben, heit, den Begriff A analysieren (GWL: GA 1/2, 284 [= SW I. J23]).

    30. GWL: GA 1/2, 283 f. (=SW I, 123 f.).31. Vgl. GWL: GA 1/2, 385 f. (=SW I, 247 f.).32. Vgl. ebd., 386 f. (=SW I, 248 f.).

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    Grundsatz ausgehen und trotzdem zum selben Resultat wie Fichte gelangen,nmlich zum Begriff des Strebens?3

    2. Darberhinaus vertauscht Fichte zwei argumentati ve Teile im methodi-schen Gang: anstatt wie im theoretischen Teil das ursprngliche Faktum nunin den Ausgangssatz, d. h. hier in den praktischen Grundsatz zurckzufhren,greift Fichte in 5 vor, indem er sogleich den Vereinigungspunkt von absolu-tem, praktischem und intelligentem Ich aufstellt.34 Damit mu er das Resultatder spter ausgefhrten Deduktion des Handeins (6-11) bereits vorausset-zen. - Methodisch gesehen wre diese Umstellung nicht ntig gewesen:Fichte htte den Vereinigungspunkt von absolutem, praktischem und intelli-gentem Ich auch am Schlu seiner Darstellung entwickeln knnen: vermutlichlie er sich von didaktischen Erwgungen leiten?5

    3. Fr die Interpretation des zur Diskussion stehenden Methodenwechselsist diese Umstellung sogar erschwerend. Denn an dieser Stelle in 5 kann dieNotwendigkeit eines solchen Wechsels noch nicht einsichtig sein~ vielmehrfhrt Fichte den Argumentationsgang der GWL scheinbar ohne Grund miteiner genetischen Methode weiter. Verstndlich wird dieser Methodenwech-sel erst dann, wenn gezeigt werden kann, da die analytisch-synthetische Me-thode zu einem Punkt gelangt ist, an dem der Gang auf die bisherige Art undWeise nicht mehr weiterkommt. Systematisch gesehen ist dieser Punkt er-reicht, wenn im theoretischen und praktischen Grundsatz smtliche Wider-sprche vereinigt sind und die Einheit dieser beiden Grundstze selbst zurDiskussion steht. Im Text der GWL wird dieser Punkt bereits am Ende von 5dargestellt. - Dies soll nun gezeigt werden.

    33. Fichte selbst empfiehlt eine solche Rekonstruktion, weil es sich bei diesem (Um-)Wegum eine einfache und grndliche Methode handle (vgl. ebd., 385 f. [=SW I, 247]). Hilfreichkann dazu das Konzept sein, das Fichte noch in der 1. Aufl. seiner Einleitungsschrift Ueber denBegriff der Wissenschaftslehre (1794) [=BWL] in 8 gegeben hat (vgl. GA 1/2, 150 f.), weil esfrher als der 5 der GWL entstanden ist.

    34. Vgl. GA 1/2, 404 f. (=SW I, 271 f.).35. Da 11 der GWL zwar der Schlu des Textes, aber nicht der Schlu des dargestellten

    Systems ist, mu als Inkonsequenz Fichtes in seiner Darstellung der GWL hetrachtet werden. diein der Forschung manchmal bersehen wird. So findet sich z. B. am Ende von II kein Zu-stand der Wechselbestimmung des Ich durch sich selbst, wie dies W. H. Schrader in seinemAufsatz Philosophie als System - Reinhold und Fichte (in: Erneuerung der Transzendental-philosophie im Anschlu an Kant und Fichte, FS R. Lauth, Stuttgart-Bad Cannstatt 1979, 343 f.)behauptet; vielmehr ergibt sich dort nur ein Trieb nach Wechselbestimmung (GWL: GA 1/2,449 [=SW I, 326]), was eben nur zum praktischen Grundsatz von 4 und nicht zur Tathandlungvon 1 fhrt.

  • 346 loser Beeler-Port

    c) Zur Notwendigkeit des Methodenwechsels in 5 der GWL

    Nach der Rckfhrung des Strebens in den praktischen Grundsatz ( 11) blei-ben noch - wie bereits dargestellt - zwei Probleme ungelst: Wie hngender theoretische und der praktische Grundsatz sowohl in sich als auch mitdem absoluten ersten Grundsatz ( 1) zusammen? Oder anders ausgedrckt:Wie ist der Vereinigungspunkt von theoretischem, praktischem und absolutemIch zu erklren? Fichte lst dieses Problem methodisch gesehen in zweiSchritten:

    1. Nachdem das Faktum des Strebens in den praktischen Grundsatz zurck-gefhrt wurde, ist nun noch der Gegensatz zwischen theoretischem und prakti-schem Grundsatz zu vereinigen. Wird dies mit Hilfe der analytisch-syntheti-schen Methode versucht, so landet die Argumentation wieder in derjenigenvon 5, wo Fichte den ersten Widerspruch im praktischen Grundsatz (=diesog. Hauptantithese) vereinigt hat: das (absolute) Ich setzt unmittelbar dasNicht-Ich und setzt dadurch mittelbar das (intelligente) Ich, das hier vomNicht-Ich abhngig ist; denn der theoretische Grundsatz wird ja durch denpraktischen Grundsatz erklrt (=Primat der praktischen Vemunft):36 das Nicht-Ich aber wird nicht durch das absolute Ich bestimmt, sondern durch das teil-bare Ich, d. h. hier durch das praktische Ich.

    2. Aber bisher ist noch nicht erklrt, wie das absolute Ich berhaupt prak-tisch werden kann, sondern nur, da es praktisch werden mujl, wenn die Ein-heit des Bewutseins gewahrt bleiben soll. Und hier zeigt sich nun das eigent-liche methodische Problem: Die analytisch-synthetische Methode fhrt bei derVereinigung von theoretischem und praktischem Grundsatz wieder in denpraktischen Grundsatz zurck - und dreht sich von nun an im Kreise, d.h.sie kommt zu nichts Neuem mehr! Deshalb kann die gestellte Aufgabe, jenevorausgesetzte Einheit von absolutem, praktischem und intelligentem Ich zuerklren, mit der analytisch-synthetischen Methode nicht mehr gelst werden.Vielmehr ist hier nun ein Wechsel der Methode notwendig.

    d) Analyse des genetischen Beweisganges in 5 der GWL

    Die bisherige analytisch-synthetische Methode bediente sich eines apagogi-schen Beweisverfahrens, d. h. die gefundene Lsung eines Widerspruchs be-

    36. Vgl. GWL: GA 112, 399 und 424 (=SW I, 263 f. und 294 f.).

  • Zum Stellenwert der Grundlage aus der Sicht von 1804 347

    grndet sich jeweils dadurch, da gezeigt wird, wie die Annahme des Gegen-teils dazu zwingen wrde, die Identitt des Ich aufzuheben.37

    Demzufolge mte ein Wechsel der Methode dieses negative Beweisver-fahren in ein positives verwandeln: die geforderte Einsicht darf sich nicht da-durch glaubwrdig machen, da sie sich auf hhere Prinzipien beruft, de-nen ansonsten widersprochen wrde, sondern sie mu sich von diesen hhe-ren Principien selbst eigentlich deduciren lassen, so da man einsieht, wiesie im menschlichen Geist entstehe. Dies nennt Fichte im 5 der GWL ei-nen direkten undgenetischen Erweis. 38

    Der genetische Beweis selbst ist relativ kurz. Sein Ausgangspunkt ist dieForderung von 1: das Ich ist sich selbst gleich, insofern es sich selbstschlechthin setzt, und deshalb ist im Ich nichts verschieden. Wenn doch etwasVerschiedenes im Ich sein soll, so mu es zwar durch das Nicht-Ich gesetztsein ( 2); die Bedingung der Mglichkeit eines solchen fremden Einflussesmu aber im absoluten Ich selbst gegrndet sein.. Es mu m. a. W. schon ur-sprnglich im Ich selbst eine Verschiedenheit sein, die im absoluten Ich ge-grndet ist. Die Ausgangsfrage fr den genetischen Beweis lautet deshalb:Wie kann das Ich etwas Fremdartiges in sich selbst antreffen?39

    Die Antwort ergibt sich aus der berlegung, da das Fremdartige im Ich ingewisser Rcksicht diesem Ich auch gleichartig sein msse. Da das Ich inseiner Thtigkeit besteht, mu also auch das Fremdartige eine Ttigkeit desIch sein, die allerdings - bildlich gesprochen - eine andere Richtunghat: nicht ins Unendliche hinaus, sondern ins Ich zurck.40 Mit dieser Antwortstellen sich allerdings drei weitere Fragen:

    1. Wie kommt das Ich zu dieser Richtung seiner Ttigkeit nach Qu:en insUnendliche? - Die Antwort lautet: Einerseits setzt sich das Ich selbstschlechthin und insofern geht seine Ttigkeit in sich selbst zurck (= zentri-petale Richtung); andererseits soll sich das Ich - transzendental ausgedrckt- fr sich selbst setzen, und insofern hat es ein Prinzip in sich, ber sichselbst zu reflektieren (= zentrifugale Richtung in die Unendlichkeit hin-aus).41

    37. Vgl. GWL: GA 1/2, 404 (=SW I, 270 f.).38. Vgl. ebd. (=SW I, 271).39. Vgl. ebd., 405 (=SW I, 271 f.) - Vgl. dazu auch W. Janke: Fichte. Sein und Reflexion

    - Grundlagen der kritischen Vernunft, Berlin 1970, 192 f.: Der Widerspruch habe sich in dasabsolute Ich selbst verlagert, aus dem bisher alle Widersprche erklrt wurden.

    40. Vgl. GWL: GA 1/2, 405 f. (=SW I, 272 f.).41. VgL ebd., 406 f. (=SW I, 273 f.).

  • 348 Josef Beeler-Port

    2. Wie kann das Ich diese beiden Richtungen unterscheiden? - Die Ant-wort lautet: Indem sie jeweils auf ein Drittes bezogen werden, nmlich auf dieForderung, das Ich soll die Unendlichkeit ausfllen. Also wird in der Refle-xion eine zentrifugale Richtung angetroffen, wenn sie jener Forderung desabsoluten Ich entspricht; und es wird in ihr eine zentripetale Richtung ange-troffen, wenn sie jener Forderung widerstreitet.42

    3. Warum wird die nach innen zurckgetriebene Richtung als fremdartigangesehen? - Die Antwort lautet: Weil sie aus einem Prinzip abgeleitet wird,das der Forderung des Ich entgegengesetzt ist.43

    Damit ist die Ausgangsfrage, wie das Ich etwas Fremdartiges in sich selbstantreffen knne, bereits beantwortet: Nur weil das Ich als Ich, d. h. aufgrundseiner Reflexion, ursprnglich mit sich selbst in Wechselwirkung steht, ist einEinflu von auen mglich.44 Seine Entstehung hat das Fremdartige also derReflexion des Ich zu verdanken. Und insofern lt sich nun auch der Vereini-gungspunkt zwischen dem absoluten, praktischen und intelligenten Wesen desIch erklren: die Idee des schlechthin gesetzten, unendlichen Ich (absolutesIch) fordert, da das Ich alle Realitt in sich fasse und die Unendlichkeit aus-flle; auf dieser Idee grndet auch die Reflexion, die mit der Idee in die Un-endlichkeit hinausgeht (praktisches Ich) und so eine Reihe des Idealen bildet;wenn die Reflexion auf den Ansto trifft und das Ich sein Herausgehen alsbeschrnkt erfhrt, so entsteht dadurch die Reihe des Wirklichen (theoreti-sches Ich).45

    Diese drei Ttigkeiten des Ich bilden also zusammen eine organische undunabtrennbare Einheit. Und in dieser Einsicht ihrer lTnabtrennbarkeit bestehtder Vereinigungspunkt von absolutem, praktischem und theoretischem Ich.Auf diese Weise hat die Argumentation wieder in den ersten Grundsatz ( 1)zurckgefhrt und damit auch die Vollstndigkeit des Systems bewiesen(q. e. d.).46

    42. Vgl. ebd., 407 f. (=SW I, 275 f.).43. Vgl. ebd., 408 (=SW I, 276).44. Vgl. ebd., 408 f. (=SW 1,276).45. Vgl. ebd., 409 f. (=SW I, 277).46. Bereits im BWL entwirft Fichte das System der GWL am Modell eines Kreises: ais posi-

    tives Merkmal fr die Erschpfung des aufgestellten Grundsatzes msse gelten, da der Grund-satz, von welchem wir ausgegangen wren, [zugleich auch] das letzte Resultat sey (vgl.BWL: GA 1/2, 131 [=SW I, 59]), d.h. da der Argumentationsgang der GWL am Ende wieder indie Tathandlung des 1 zurckfhrt (- wobei eben zu beachten ist, da das Ende des Textesnicht das Ende des Systems ist).

  • Zum Stellenwert der Grundlage aus der Sicht von 1804

    4. Vergleich der beiden genetischen Beweisverfahren

    349

    Der soeben dargestellte Beweis in 5 der GWL heit zu Recht genetisch,insofern er zeigt, wie bzw. nach welchem Grundgesetz das Streben (alsGrundbegriff des praktischen Teils) entsteht und wie der Vereinigungspunktzwischen absolutem, praktischem und intelligentem Ich eine organische Ein-heit bildet. Mit dieser Einsicht in das Zusammenspiel der drei Ttigkeiten desIch wird zugleich auch die Voraussetzung der analytisch-synthetischen Metho-de bzw. des apagogischen Beweisverfahrens gesichert, nmlich die ursprng-liche Einheit und Identitt des Ich.

    Allerdings erinnert die Argumentationsweise dieses genetischen Beweisesdoch allzu sehr an das frhere analytisch-synthetische Verfahren. So gehtFichte wiederum von einem Widerspruch aus (>im Ich ist nichts verschiedenund doch gibt es Verschiedenheit im Ichdas Ich steht als Ich ur-sprnglich mit sich selbst in WechselwirkunggenetischengenetischenGrundlage< fr die weiteren Deduktionen der materialen Disziplinendarstellt. Systematisch gesehen ist die GWL von 1794 also tatschlich eineFortsetzung der erst spter entstandenen Darstellungen der WL. Und aus die-sem Grund konnte Fichte im Jahr 1802 nicht nur die GWL ein zweites Malauflegen, sondern auch zur gleichen Zeit die Verffentlichung einer neuenDarstellung der WL ankndigen, ohne da er sich damit widersprochen ht-te.48

    Auch fr eine solche Interpretation der GWL gibt es in der Fichte-For-schung bereits Anstze. So macht M. Gueroult darauf aufmerksam, da Fich-tes Deduktion des ersten Prinzips, die im 1 der GWL nur wenige Seiten um-fasse, in der Darstellung der WL von 1801/02 bedeutend umfangreicher werdeund in der WL 042 schlielich das ganze Werk einnehme.49 Ebenso zeigt W.Janke, da das absolute Ich der GWL nicht dem absoluten Wissen der WL01/02 und der WL 042 als hchstem Prinzip entspreche.50 Auch aus dieserSicht knnten Fichtes sptere Darstellungen der WL als Suche nach demhchsten Prinzip interpretiert werden, die die GWL als >Grundlage< nicht ent-behrlich machen, sondern in einer anderen Hinsicht vertiefen wrden.

    Im vorliegenden Beitrag habe ich versucht, diesen systematischen Stellen-wert der GWL als Fortsetzung der spteren Darstellungen der WL methodischzu begrnden - ganz im Sinne der eingangs zitierten Bemerkung Fichtes,da sich in der WL alles an der Methode entscheide.

    48. Vgl. die Vorrede zu"r 2. Aufl. der GWL: GA 1/2, 461 (=SW I, 85).49. Vgl. M. Gueroult: L'Evolution et La Structure de La Doctrine de la Science chez Fichte,

    Torne 1, Paris 1930, 171 und 174.50. Vgl. W. Janke: a.a.O., 207-221.